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Eine Kellnerin

Von der Ahnung erfüllt, daß er Schottland nie wiedersehn werde, schrieb Stevenson in der Vorrede zu ›Catriona‹: ›Ich sehe, wie eine Vision, die Jugend meines Vaters und seines Vaters und den ganzen Strom des Lebens, das sich dort oben im Norden ergießt, vom Klange des Lachens und von Tränen begleitet; er wird auch mich zu guter Letzt, gleichsam in einer plötzlich hereinbrechenden Überschwemmung, an diese äußersten Inseln spülen. Und ich bewundere die Romantik des Schicksals und neige vor ihr das Haupt.‹

Liest sich die Stelle nicht, als wäre sie unter dem Druck einer fieberhaften Erregung entstanden, als ob Stevenson noch beim Schreiben seinem Gedanken nachjagte? Darum erinnert sie an eine Motte, die nach dem Lichte flattert. Aber so vag der Satz auch ist, er enthält einige hübsche Wendungen, und man wird ihn sich merken, obschon vielleicht nicht in seiner ursprünglichen Form. Das ›Lachen und die Tränen‹ und die ›plötzlich hereinbrechende Überschwemmung‹ wird man vergessen; dafür wird sich ein schlichterer Ausdruck in unserm Gedächtnis bilden. Das Gefühl, das Stevenson äußern wollte, sickert nur in den Worten ›Romantik des Schicksals – äußerste Inseln‹ durch. Wer empfindet sein Schicksal nicht als Romantik? Wer wundert sich nicht über das äußerste Eiland, an das ihn sein Schicksal einmal wirft? Giacomo Cenci, der auf Befehl des Papstes lebendig geschunden werden sollte, staunte gewiß über die Romantik des Schicksals, das ihn auf sein äußerstes Eiland legte, ein erhöhtes Brett, so daß der Scherge die Haut seines Körpers wie eine Schürze bequem aufrollen konnte. Und ein Hase, den ich einmal in Regent Street ein Tamburin schlagen sah, blickte mich so sehnsüchtig an, daß ich davon überzeugt bin, er staunte auf eine entfernte Art über die Romantik des Schicksals, das ihn aus dem Wald geholt und an sein äußerstes Eiland geworfen hatte – in diesem Fall: ein Karren. Doch keines dieser beiden sonderbaren Beispiele für die Romantik des Schicksals dünkt mich so wundervoll wie das Los eines versonnenen irischen Mädchens, das ich in einem gewissen äußersten Café des Quartier latin den Studenten Getränke servieren sah. Auch sie hat zweifellos über das Schicksal gestaunt, das sie ausgestoßen und es so gefügt hatte, daß sie im Tabaksqualm sterben solle, während sie Studenten Getränke brachte und zu jeder Unterhaltung bereit war, die sie von ihr verlangten.

Gervex, Mademoiselle D'Avary und ich waren nach dem Theater, um uns ein halbes Stündchen zu zerstreun, in dies Café gegangen. Ich war der Ansicht, das Lokal sei für Mademoiselle D'Avary zu unfein, aber Gervex meinte, wir würden schon eine stille Ecke finden, und wir hatten uns zufällig eine ausgesucht, wo ein schmächtiges, zartes Mädchen bediente, ein Mädchen von einer Mattigkeit, einer Schwäche und von einer Grazie umwittert, die mich fesselte und rührte. Ihre Wangen waren dünn, und in den dunkelgrauen Augen lag etwas Sehnsüchtiges wie in einer Zeichnung von Rossetti; ihr gewelltes braunes Haar fiel über die Schläfe und war, bis tief in den Nacken hängend, nach der Mode Rossettis aufgesteckt. Die beiden Frauen sahen sich an: die eine gesund und reich, die andre arm und leidend; es war nicht schwer, die Gedanken zu erraten, die ihnen durch den Kopf zogen. Sie hatten sich gewiß voller Staunen die Frage vorgelegt, warum das Leben sie so verschiedene Wege hatte wandeln lassen.

Doch ich muß zuerst erzählen, wer Mademoiselle D'Avary war und wie ich zu ihrer Bekanntschaft kam. Ich war zu Tortoni gegangen, einem früher berühmten Café an der Ecke der Rue Taitbout, ins Stammlokal Rossinis. Als Rossini seine fünfzigtausend Francs jährlich verdiente, soll er gesagt haben: ›Jetzt bin ich mit der Musik fertig, sie hat ihre Schuldigkeit getan – jetzt esse ich jeden Tag bei Tortoni.‹ Noch zu meiner Zeit gaben sich bei Tortoni Künstler und Literaten ein Rendezvous, um fünf Uhr war alles da. Zu Tortoni führte mich mein erster Gang in Paris. Wenn man da gesehn wurde, war es bald bekannt, daß man in Paris war. Tortoni war eine Art Annonce.

Dort hatte ich auch einen jungen Mann entdeckt, einen meiner ältesten Freunde, einen begabten Maler – ein Bild von ihm war im Luxembourg –, einen von den Frauen angeschwärmten Mann. Gervex (er war es) hatte mich bei der Hand genommen und mir mit ungestümer Redseligkeit auseinandergesetzt, ich sei die Person, die er suche; er habe von meiner Ankunft gehört und mich in allen Cafés von der Madeleine bis Tortoni gesucht, und zwar wolle er mich zum Essen einladen, damit ich die Bekanntschaft Mademoiselle D'Avarys mache; wir sollten sie in der Rue des Capucines abholen. Ich schreibe den Namen der Straße auf, nicht weil es für meine kleine Geschichte von Belang ist, wo sie wohnte, sondern weil der Name suggestiv wirkt. Wer Paris liebt, hört die Straßennamen gern; sie sind für Pariser Leben ebenso bezeichnend wie die lange Stufenflucht, die sich dicht an den gestrichenen Wänden emporzieht, wie die braun gestrichenen Türen auf den Treppenabsätzen und der Klingelzug. Auch Mademoiselle D'Avary ist dafür bezeichnend, denn sie war Schauspielerin am Palais Royal. Nicht minder charakteristisch dafür war mein Freund; er gehörte zu denen, die sich etwas darauf einbilden, daß sie kein Geld für die Weiber ausgeben, deren Lebensauffassung sich in dem Satz ausprägt: ›Hat sie Lust, ins Atelier zu kommen, wenn man mit der Arbeit fertig ist, nous pouvons faire la fête ensemble.‹ Doch so viel sich zugunsten dieses Standpunkts vorbringen läßt, und man kann viel dafür anführen: ich hatte gedacht, als ich mich bewundernd in ihrem Salon umsah – einem Salon mit Bronzen aus dem sechzehnten Jahrhundert, Meißener Porzellan-Figuren, Etageren voll Silberzierat, drei Zeichnungen von Boucher (Boucher aus drei Perioden: ein französischer Boucher, ein flämischer Boucher und ein italienischer Boucher) – ich hatte gedacht, er hätte die Bemerkung unterdrücken können, ich solle ja nicht glauben, irgend einer von diesen Gegenständen sei ein Geschenk von ihm, und hatte gehofft, er werde, als sie hereintrat, nicht sagen, das Armband, das sie da anhabe, sei nicht von ihm. Es schien mir einen ziemlich schlechten Geschmack zu verraten, sie daran zu erinnern, daß er keine Geschenke mache, denn seine Bemerkung warf auf ihre gute Laune einen Schatten; ich konnte es ihr ansehn: bei dem Vorschlag, auszugehn und mit ihm zu speisen, war sie nicht so heiter wie vorher.

Wir dinierten bei Foyot, in einem altmodischen Restaurant, noch unberührt von dem Geschmack der Neuzeit, der weiß und gold gestrichene Wände, elektrische Tischlampen und Tafelmusik bevorzugt. Nach dem Essen gingen wir in ein Theater dicht beim Odéon und sahen ein Stück, in dem Schäfer von flüsternden Bächlein miteinander sprachen und sich um ein untreues Weib abmurksten. Trotzdem darin die Weinlese, festliche Aufzüge, Erntewagen, Lieder in bunter Reihenfolge vorkamen, ließ es uns kalt. In den Zwischenakten stattete Gervex in verschiedenen Teilen des Hauses Besuche ab und stellte es Mademoiselle D'Avary anheim, sich mit mir anzufreunden. Ich bin herzensgern bereit, neben dem Wagen herzugehn, in dem Amor ein Liebespärchen spazieren fährt. Als das Stück zu Ende war, sagte er: »Allons boirs un bock«, und wir kehrten in einem Studentencafé ein – einem Café mit Tapeten und Tischen aus Eichenholz, altmodischen Krügen, in dem die Kellnerinnen Brusttücher aus dem achtzehnten Jahrhundert trugen, wo ein Student gelegentlich ein hohes Bierglas zwischen die Zähne nahm, es auf einen Zug lehrte und Hals über Kopf hinauseilte, ohne auch nur den Mund zu verziehn. Mademoiselle D'Avarys elegante Schönheit lenkte die wilden Blicke aller anwesenden Studenten auf sich. Sie trug ein Kleid mit eingewebten Blumen, und unter dem großen Hut quoll ihr Haar, schwarz wie die Nacht, hervor. Ihre südliche Hautfarbe war reich getönt, gelb und dunkelgrün, da wo sich das Haar im Nacken lichtete; die Schultern glitten in üppiger Andeutung in das Spitzenmieder herab. Es gewährte einen besondern Reiz, ihre reife Schönheit mit der blassen, dem Verfall geweihten Schönheit der Kellnerin zu vergleichen. Mademoiselle D'Avary saß, den Fächer weit über ihren Busen gebreitet, mit leise geöffnetem Mund da, so daß die kleinen Zähne zwischen den roten Lippen hervorleuchteten. Die Kellnerin saß da, ihre magern Arme auf den Tisch gestützt, und beteiligte sich in allerliebster Weise an der Unterhaltung, wobei sie nur mit einem Blick verriet, daß sie wußte: sie war gescheitert und Mademoiselle D'Avary hatte es im Leben zu etwas gebracht. Erst nach einiger Zeit hörte das Ohr einen schwachen Dialektanflug heraus, einen Dialekt, der sich schwer lokalisieren ließ. Einmal fiel mir eine südliche Betonung auf, dann wieder eine im Norden übliche; schließlich vernahm ich einen unverfälscht englischen Klang bei ihr und sagte:

»Sie sind ja aus England.«

»Ich bin aus Irland. Meine Heimat ist Dublin.«

Und indem ich mir ein Mädchen vorstellte, das in seinen starren Dubliner Bräuchen groß geworden, das die Romantik des Schicksals aber an dies äußerste Café gespült hatte, fragte ich sie, wieso sie sich dahin verlaufen habe. Sie erzählte mir, schon mit sechzehn Jahren sei sie aus Dublin fort und vor sechs Jahren nach Paris gekommen, um sich eine Stelle als Kinderfräulein zu suchen. Sie sei mit den Kindern meistens in den Luxembourg-Garten gegangen und habe mit ihnen englisch gesprochen. Eines Tages habe sich ein Student neben sie auf die Bank gesetzt ... Der Rest der Geschichte ist leicht zu erraten. Er hatte kein Geld, sie auszuhalten, und so mußte sie in dieses Café gehn, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

»Es paßt mir hier gar nicht, aber was soll ich machen? Man muß doch leben. Der Tabaksqualm reizt mich so zum Husten.« Ich wandte den Blick nicht von ihr, und sie muß geahnt haben, was mir durch den Sinn zog, denn sie erzählte mir, ihr einer Lungenflügel sei dahin. Wir unterhielten uns davon, wie sie wieder gesund werden könne, wenn sie nach dem Süden ginge, und sie sagte, der Arzt habe ihr dazu geraten.

Da ich sah, daß Gervex und Mademoiselle D'Avary in ein Gespräch vertieft waren, beugte ich mich vor und widmete meine ganze Aufmerksamkeit diesem versonnenen irischen Mädchen, das in seiner Schwindsucht so interessant war; sie hatte ein rotes Brusttuch um, und die dünnen Arme kamen in den weiten Faltenärmeln zum Vorschein. Ich mußte ihr etwas zu trinken anbieten; so war es des Ortes der Brauch. Sie sagte, Trinken sei ihr schädlich, aber wenn sie es abschlage, bekomme sie Unannehmlichkeiten; es sei mir vielleicht einerlei, statt dessen für sie eine Scheibe Rindfleisch zu bezahlen. Rohes Fleisch sei ihr verordnet. Ich brauche nur die Augen zu schließen und sehe sie wieder, wie sie in die Ecke des Cafés ging, sich ein Stück Fleisch abschnitt und es wegstellte. Sie sagte, sie werde es noch vor dem Schlafengehn essen, also in zwei bis drei Stunden. Während ich mit ihr sprach, malte ich mir ein Häuschen im Süden aus inmitten von Oliven und Orangenbäumen, sah ein offenes Fenster, durch das die würzige Luft hereinströmt, und dieses Mädchen daran sitzen.

»Ich möchte Sie gern mit in den Süden nehmen und Sie pflegen.«

»Das bekämen Sie wohl bald über. Ich könnte Ihnen auch nur sehr wenig zum Ersatz für Ihre Freundlichkeit bieten. Der Arzt hat mir jeden Verkehr verboten.«

Wir müssen eine ganze Zeit geplaudert haben, denn es war wie das Erwachen aus einem Traum, als Gervex und Mademoiselle D'Avary sich zum Aufbruch rüsteten. Da er sah, wie ich mich für das Mädchen interessierte, sagte er lachend zu Mademoiselle D'Avary, der Anstand erfordere es, mich mit meiner neuen Freundin allein zu lassen. Seine Neckerei verstimmte; und obgleich ich gern noch geblieben wäre, folgte ich ihnen auf die Straße hinaus, wo der Mond hellstrahlend über dem Luxembourg-Garten stand. Wie ich schon vorhin sagte: ich bin herzensgern bereit, neben dem Wagen herzugehn, in dem Amor ein Liebespärchen spazieren fährt; doch es ist traurig, wenn man sich um Mitternacht allein auf dem Pflaster befindet. Anstatt ins Café zurückzukehren, wanderte ich weiter, mit meinen Gedanken bei dem Mädchen, das ich kennen gelernt, und ihrem sichern Tod, denn in dem Café konnte sie es nicht mehr lange aushalten. Wir alle denken gern um Mitternacht bei Mondschein nach, wenn die Stadt wie ein schwarzer italienischer Kupferstich aussieht, und von selbst kommen uns Verse, während wir den rauschenden Fluß betrachten. Nicht nur die Idee zu einem Gedicht kam mir in dieser Nacht, sondern auf dem Pont Neuf begannen die Worte zusammenzuklingen, und eh ich zu Bett ging, brachte ich noch die ersten Zeilen zu Papier. Am nächsten Morgen schrieb ich weiter, und ich brauchte einen ganzen Tag zu den folgenden Versen:

›Wir sind allein. Hör zu – ein Weilchen nur!
Vernimm den Grund, warum dein müdes Lächeln
und deiner Stimme Flötenklang so hold,
und wodurch meine Liebe tiefer ist.
als dir je Liebe ward von Männern. Sie
hat deiner Augen Weichheit nur gelockt,
die köstlich graue, oder deine schlanke
Gestalt: so eine Grille, wie sie arglos
Verliebten stets als Vorwand dient; – mich lockt
das nicht. Ich will versuchen, es zu sagen.
Hör zu! Ich sehe gern die Sonne sinken
am hoffnungslosen Horoskop der Stunden,
wenn melancholisch still der Himmel wird
in ruhigem Farbenspiel, wie ein Choral
in sanfter Töne Harmonie; so soll
dein Leben wie ein wonniges Phantom
dem Blick entgleiten, und dein Tod soll sein
wie eines linden Abends heitre Schwermut ...
Gönn mir die letzten Stunden! Meine Liebe
ist des Geschenkes wert – ich bitt um sie.
Hab ich bis jetzt auch nie geliebt, mich dünkt,
dich könnt ich lieben; aus dem Wissen, daß
die Zeit so kurz, erwuchs' ein zärtlich Mitleid,
ein Schmerz, der adelt, eine Seligkeit,
ein Reiz hoch über aller andern Liebe.
Jetzt hat der Tod den Arm nach dir gereckt
und heischt als seine Braut dich. Meine Seele
(kann sein) mißdeutet ihre Leidenschaft;
vielleicht ist's Liebe nicht, doch wie ein Veilchen
dich welken sehn, wie eine freundliche
Erinn'rung, wär ein seltsam köstliches
Vergnügen, das weit außer dem Bereich
des Durchschnittsmenschen. Hör mir zu! Ich will
dir auf dem Land, wo Korn- und Weizenfelder
in gelben Ebnen rauschend sich erstrecken,
wo wald'ge Hügel, dichtbelaubte Wege,
für unsern Honigmond ein Häuschen suchen.
Von Heckenrosen-Grün umrankt sind Tür
und Fenster, die zum schattigen Garten führen,
wo wir an sonn'gen Frühherbstabenden
allein spazieren werden; jeden Abend
ein kürz'res Stück, bis zum Orangenbaum
am Gartenende dir zu weit. Du ruhst
von Zeit zu Zeit und lehnst an meine Brust
dein schlaffes Lilienantlitz. Später dann
trag ich aufs Sofa an der Fensterbank
den matten Leib, daß du den letzten Rest
des saum'gen Abendglastes trinken kannst,
wenn Blütenduft die Lüfte schwellt; derweil
wird meine Seele mannigfach von Schmerzen
zerrissen werden. Wie ein blauer Tag,
der holder wird, da er entschwindet, und
geruhige Heiterkeit und Farbenfülle
gewinnt, je mehr die ernste Nacht hereinschleicht,
wirst du auf ewig süß entschlafen; ich
werd einen Tag und eine Nacht dein Antlitz
mit großen Tränen netzen und alsdann
dich unter rosenroter Stätte bergen.
Dort darf ich Bände voll Gedichte träumen,
dir widmen, und ich seh ein Glück darin,
zu wissen, daß du niedrigen Begierden
fortan entrückt bist, wie der schöne Stern,
der an dem Abendzelt des Himmels steht.
Der Tod raubt wenig nur; dein Tod hat mir geschenkt
geläuterten Besitz und tiefen Frieden,
der niemals ird'scher Leidenschaft beschieden.‹

Selbstverständlich keine gute Dichtung, aber Verse, die sich hören lassen können. In der drittletzten Zeile stören die sechs Füße; um sie zu beseitigen, wäre der Schluß etwa so zu modeln:

Der Tod raubt wenig nur; ich dank dir, Tod,
für die Erinn'rung und die reine Liebe,
die unerwidert blieb.

Und indem ich die letzten Verszeilen vor mich hin murmelte, eilte ich ins Café am Luxembourg-Garten. Ich sann darüber nach, ob ich wohl den Mut fände, das Mädchen aufzufordern, mit mir nach dem Süden zu kommen und dort zu leben. Ich ahnte, daß ich es unterlassen würde, – die Idee war für mich verlockender als die Tat; denn die Seele eines Dichters ist nicht die Seele einer Florence Nightingale. Das versonnene irische Mädchen tat mir leid, und ich eilte zu ihr, ich wußte selbst nicht, warum; sicher nicht, um ihr das Gedicht zu zeigen – der Gedanke schon wäre unerträglich. Oft machte ich unterwegs Halt und legte mir die Frage vor, warum ich hinginge, zu welchem Zweck. Ohne in meinem Herzen eine Antwort darauf zu finden, stürzte ich weiter mit dem dunkeln Gefühl, daß ich mein eignes Herz auf die Probe stellte. Ich wollte wissen, ob es zu einem Opfer fähig sei. Ich setzte mich an einen ihrer Tische und wartete, aber sie kam nicht. Da fragte ich den Studenten neben mir, ob er das Mädchen kenne, das an diesen Tischen in der Regel bediene. Er bejahte es und erzählte mir von ihrer Krankheit. Ihr Zustand sei hoffnungslos, nur eine Bluttransfusion könne sie retten; sie sei fast blutleer. Er beschrieb, wie man dem Arm eines gesunden Menschen Blut entnehmen und einem fast Blutlosen in die Adern einführen könne. Doch während er sprach, flimmerte es mir vor den Augen, und seine Stimme drang nicht mehr zu mir; ich hörte jemand sagen: »Sie sind sehr blaß«, und er bestellte mir einen Cognac.

Der Süden konnte sie auch nicht retten, tatsächlich nichts mehr; und ich ging, an sie denkend, nach Hause.

Zwanzig Jahre sind verstrichen. Wieder denke ich an sie. Armes, kleines, irisches Mädchen! Von einer plötzlich hereinbrechenden Überschwemmung zuletzt an ein äußerstes Café gespült. Armes Knochenhäufchen! Und ich neige das Haupt und bewundre die Romantik des Schicksals, das es so fügte, daß ich, der sie nur einmal gesehn, der letzte sein sollte, der sich ihrer erinnert. Vielleicht hätte ich sie vergessen, wäre es nicht zufällig gekommen, daß ich ein Gedicht auf sie machte – ein Gedicht, das ich ihr jetzt zueigne und ihrem namenlosen Andenken widme.


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