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Stramm aufgerichtet, den Kopf leicht zurückgeworfen und sich mit der Hand auf den Arm eines Soldaten vom fünfundsiebzigsten Regiment stützend, schritt der Mann einher.
Vor ihnen lagen die hohen, mit achtstöckigen Häusern besetzten Hügel der Rhone und Saone; sie sind von freundlichen Gärten umgeben, zu denen Treppen hinaufführen, während die Abgründe durch leichte Brücken überspannt sind. Sie alle überragt und beherrscht die Kirche von Fourbières; ein ziemlich neues und geschmackloses Gebäude, das an jene Art von Talmiburgen erinnert, wie sie die Engländer auf den Felsenklippen über dem Strande der Modebäder zu errichten pflegen. Es war an jenem Tage sehr kalt, hell leuchtete die Sonne, die Luft war durchsichtig klar. Alles hatte ein heiter, festtägliches Aussehen.
»Lyon ist schön!« begann der kleine Soldat im Plauderton.
»Ich weiß es nicht«, sagte der Mann. »Ich bin aus Romans.«
»Ist es wirklich wahr, daß Sie jetzt nichts, gar, gar nichts mehr sehen? Sind Sie nie früher hier gewesen? Sind Sie wirklich vollständig blind?«
Und wie fast alle Landbewohner und auch viele Arbeiter das gern tun, so wiederholte er seine Frage, um sie noch eindringlicher zu machen:
»Sehen Sie wirklich nichts? Nicht die Häuser dort, die Schiffe da unten und die Pferde? Sehen Sie von all dem nichts?«
»Nein«, sagte der Mann kurz.
Der Soldat wurde ganz traurig. Er fühlte sich von jenem mit ein wenig Verlegenheit gemischten Mitleid erfüllt, das man für Menschen empfindet, denen man nicht zu helfen vermag und deren ganzes Unglück man kaum begreift, da es unmöglich ist, sich ganz in ihre Lage zu versetzen. So schritten sie jetzt lange Zeit, ohne miteinander zu sprechen, des Wegs einher.
»Wir sind am Ziele, hier ist das Hospital«, sagte endlich der Soldat.
Und er atmete sichtlich erleichtert tief auf.
Als der Soldat stillestand, hemmte auch der andere seine Schritte. Der Soldat wandte sich dann gleich an den Pförtner. Das Schweigen seines Gefährten hatte schwer auf ihm gelastet.
»Hier ist er«, erklärte der Soldat dem Pförtner. »Der Mann ist ganz allein mit der Eisenbahn angekommen. Das heißt, bis Vaise hat man ihn eskortiert, dort jedoch sind seine Begleiter zurückgeblieben, ich weiß nicht aus welchem Grunde. Als man Lyon gerufen hat, ist er ausgestiegen, aber er ist dann, ohne sich nur zu rühren, vor dem Waggon stehengeblieben.
Das einzige, was er sagte, war: ›Ich habe einen Aufnahmeschein für das Militärhospital.‹
Sie sind blind. Man wird Sie also führen. Da ich mich gerade auf dem Perron befand, hat der Adjutant mich herangewinkt und mich beauftragt, den Mann hierher zu führen.«
»Es ist gut«, sagte der Pförtner.
Der Mann war völlig gleichmütig, stumm und unbeweglich auf dem Platze stehengeblieben, wo sein Führer ihn gelassen hatte.
»Ihr Reisepaß? Der Brief des Militärarztes?« Er gehorchte und zog die Papiere aus seiner Tasche.
»Also Sie heißen Dieutegard! Das ist ja ein ganz eigentümlicher, drolliger Name.«
Keine Antwort. Der Pförtner fuhr fort:
»Sie sind ja wohl blind, aber doch nicht stumm? Es kann Ihren Augen doch nicht wehe tun, wenn Sie den Mund aufmachen wollten!«
Dann ließ er den Mann durch einen herbeigerufenen Krankenwärter auf die erste Etage bringen. Das Volk hegt ein unendliches Mitleid mit den Blinden, und das war wohl auch der Grund, weshalb dieser Krankenwärter überaus zart und sorgsam mit seinem Pflegebefohlenen umging.
»… Dieutegard vom achtundsiebzigsten Regiment,« sagte der Militärarzt. »Ich weiß, um was es sich handelt! Mein Kollege in Romans hat mir darüber Mitteilung gemacht. Dieser Mann ist ein Anarchist und ein Simulant. Bringt mir den Augenspiegel.«
Der Militärarzt war ein noch ziemlich junger Mann, dessen Gesicht einen ungewöhnlich intelligenten Ausdruck trug, der auf eine starke Willenskraft und Logik den Gedanken schließen ließ.
Er liebte seinen Beruf, der ihm stets neu und interessant erschien.
»Sie haben einem anarchistischen Klub angehört«, sagte er. »Schon einige Tage vor der Ziehung sind Sie nicht in der Spinnerei von Maguabos, in der Sie beschäftigt waren, zur Arbeit erschienen, und zwar unter dem Vorwande, plötzlich, ganz plötzlich erblindet zu sein. Blind geworden – von heute auf morgen? Ich muß gestehen, daß mir das höchst unwahrscheinlich vorkommt! In Romans hatte man keinen Augenspiegel. Das ist der Grund, weshalb der dortige Militärarzt Sie hierhin schickt. Sie sind Anarchist, Sie wollen nicht dienen – und simulieren nun eine plötzliche Erblindung. Wenigstens hat man Sie im Verdachte, daß dies der Fall sei. Aber wir werden der Sache gleich auf den Grund gehen.«
Er sprach mit völlig unpersönlicher, leidenschaftsloser Festigkeit. War es nicht das gute Recht dieses Mannes zu lügen? Es handelte sich nur darum, ihn selbst davon zu überzeugen, daß er log. Dies zu tun, war die Pflicht des Doktor Roger.
»Wenn Sie«, so fuhr er fort, »wenigstens eine nur teilweise Trübung Ihres Sehvermögens vorgegeben hätten, das ließe sich verstehen. Aber so etwas! … Nun erzählen Sie mir mal, wie das denn so plötzlich gekommen ist?«
»Ich war mit Freunden auf der Straße von Saint-Etienne«, antwortete Dieutegard langsam und seine Worte wie eine auswendig gelernte Sache hersagend. »Die Sonne brannte sehr heiß. Da war mir plötzlich, als ob mich ein Blitzstrahl getroffen hätte und als ob mein Augenlicht jäh verlöscht sei. Ich bin auf einen Steinhaufen gefallen und habe meinem Kameraden gesagt: ›Ich kann nicht mehr sehen‹.«
Roger ließ ihn sprechen, ohne Notiz von ihm zu nehmen, er schien ganz davon in Anspruch genommen zu sein, den Augenspiegel aufzustellen. Dann aber wandte er sich plötzlich jäh um und streckte den gabelförmig gekrümmten Mittel- und Zeigefinger ganz unerwartet dem Manne ins Gesicht, ganz dicht vor die Augen, kaum einen Zentimeter vor die weitgeöffneten Augendeckel. Es ist dies ein sehr altes, aber viel bewährtes Mittel, simulierte Blindheit zu entlarven.
Aber der Mann zuckte nicht einmal mit den Wimpern.
»Teufel auch,« sagte der Arzt, »Sie sind stark … Verdunkeln Sie das Zimmer vollständig«, gebot er dann einem Krankenwärter.
Der Krankenwärter schloß die Türe und die Fensterladen und zog außerdem noch dicke grüne Vorhänge vor die Fenster. Es herrschte nun eine künstliche, traurige Nacht in dem Zimmer. Der Augenspiegel wurde erhellt und nun schleuderte der Arzt plötzlich einen blendenden Lichtstrahl auf die beiden Pupillen. Diese Strahlen sind von außerordentlicher Intensität: wer es je versucht, stramm in die Laterne einer Lokomotive oder eines Automobils zu blicken, kann sich einen ungefähren Begriff davon machen. Dieutegard aber blinzelte nicht einmal mit den Lidern.
»Gut gemacht«, sagte Doktor Roger in neckischem Tone. »Sie haben sich lange daraus eingeübt, nicht wahr? Nur, daß man doch nicht gleich immer an alles denkt. Ihre Pupillen reagieren gegen das Licht. Wenn ein Mensch einige Sekunden in absoluter Dunkelheit verweilt hat und dann plötzlich ein blendendes Licht seine Augen trifft, dann ziehen sich seine Pupillen zusammen.«Man kann dies ebensowenig verhindern, wie man einer Mimose verbieten könnte, bei einer rauhen Berührung die Blätter zusammenzuziehen. Die Natur will es so. Dies war der Grund, weshalb der Arzt triumphierte.
»Ihre Augen sind vollständig intakt, auch nicht der Schatten einer Verletzung ist daran sichtbar. Sie sind durchaus diensttauglich, mein Freund.«
»Ich kann wirklich nicht dafür, daß es Krankheiten gibt, die die Ärzte nicht zu erkennen vermögen«, antwortete Dieutegard mit vollkommenstem Gleichmuts. »Ich wiederhole Ihnen, daß ich nicht sehen kann.«
»Das ist ungefähr ebenso, als wenn Sie mir erzählen wollten, daß Sie keine Beine haben. Ich sehe, daß Sie nicht blind sind … Genug!«
*
Nachdem der Soldat Dieutegard dienstfähig erklärt und endgültig eingestellt worden war, diktierte man ihm zuerst dreißig Tage Arrest zu, weil er, um sich seiner Militärpflicht zu entziehen, ein Leiden simuliert hatte. Dreißig Tage und dreißig lange Nächte verbrachte er in einer zwei Meter breiten und vier Meter langen Zelle, in der sich kein anderes Möbel befand, als eine an der Wand befestigte hölzerne Pritsche. Luft kam herein – aber kein Licht, und selbst am hellen Mittag herrschte tiefe Dämmerung darin. Seine Mahlzeiten, und was für Mahlzeiten, in dem Düster eines militärischen Gefängnisses einnehmen zu müssen, wenn man Augen zu sehen hat, gehört zu den unerträglichsten Leiden, über die die Gefangenen klagen. Dieutegard verlor allen Appetit. Aber das war kein genügender Beweis dafür, daß er wirklich ein Simulant sei. Das ließ sich durch den Mangel an aller Bewegung erklären, vielleicht auch durch den Widerwillen vor der ihm gereichten Nahrung. Um den Gefangenen etwas frische Luft zukommen zu lassen, ist es Sitte, sie zu gewissen, sehr harten Arbeiten heranzuziehen. Sie müssen Steine schleppen, Lasten tragen. Der Sträfling verharrte in seinem Verhalten: er könne nichts sehen, sagte er, und deshalb sei es ihm unmöglich zu arbeiten. Die Unteroffiziere und die Aufseher, deren Obhut er vertraut, gingen unerwartet ganz dicht auf ihn zu und suchten ihn auf allerlei Art jäh zu erschrecken. Aber er zuckte mit keiner Wimper, ließ sie gewähren, ohne im geringsten davon berührt zu werden. Seines blassen, bartlosen Gesichtes wegen, das nicht verfehlte, einen gewissen Eindruck auf seine Umgebung zu machen, nannten einige ihn »Napoleon«, und in Anbetracht der Komödie, die zu spielen man ihn anklagte, hatten andere ihm den Namen »der Hanswurst« gegeben. Endlich vereinigte man die beiden Spitznamen in einem Ausdruck. Der passive Widerstand »Napoleon, des Hanswursts« triumphierte über das Mißtrauen, mit dem man ihm begegnete. Man überließ ihn sich selber. Wenn er wirklich blind war, so litt er ja nicht in dem dunkeln Loch. War er es nicht, so hatte er nur, was er verdiente.
Am einunddreißigsten Morgen seiner Gefangenschaft öffnete sich die Pforte seines Gefängnisses und zwei Soldaten führten ihn auf das Fort Lamotte.
Mit stolz erhobenem Haupte, starr dreinblickenden Augen, schritt er zwischen seinen Wächtern durch die Vorstadt la Guillotière. Die Nacht war regnerisch gewesen und der Weg ziemlich schmutzig. Er trat mit seinen Füßen mitten in die Kotpfützen.
»Wenn du wie alle andern Leute, anstatt vor dich hinzustarren, auf deinen Weg blicken wolltest, würdest du dich nicht so schmutzig machen.«
»Aber ich bin doch blind«, antwortete Dieutegard.
»Ach was! Du tust doch nur so! Wenn du nur zur Erde blicken wolltest, würdest du schon die Löcher und Pfützen des Weges vermeiden: Füße und Augen verstehen sich ganz gut! Senke doch deinen Kopf ein wenig, dann wirst du dich davon überzeugen.«
»Soll ich den Kopf senken, um sehen zu können?« wiederholte Dieutegard in spöttischem Tone.
»Nun ja, gewiß doch, du närrischer Kauz! Und wenn du es jetzt nicht willst, so tue es wenigstens gleich. Das ist ein Rat, den ich dir nur deiner selbst willen gebe.«
Der zweite Soldat lachte höhnisch. Er wußte, was man vorbereitet hatte. Dieutegard verharrte in hochmütigem Schweigen, ohne von den Worten seines Begleiters Notiz zu nehmen. Es war, als ob er völlig geistesabwesend sei.
Endlich hatte man das Ziel dieses langen Weges erreicht.
Das Fort Lamotte ist einst erbaut worden, um Lyon gegen den möglichen Angriff einer fremden Armee zu schützen. Später betrachtete man es als eine Zitadelle, deren Hauptbestimmung es war, die große Vorstadt la Guillotière in Schach zu halten, eine Vorstadt, in der es damals, wie noch jetzt nur allzuoft, zu ernsten Unruhen kam, da sie von einer schwierigen und gewalttätigen Bevölkerung bewohnt wird. Diese Vorstadt war und wird noch heute von Kasernen umgeben, in denen zur Zeit ein Infanterieregiment und ein Bataillon Jäger zu Fuß untergebracht ist. Die Bastionen und Wälle sind nicht zerstört worden. Sie dienen dazu, die militärische Besatzung von der sie umgebenden und sozusagen belagernden Bevölkerung zu schützen. Die Luft ist dort übrigens sehr rein. Sehr tiefe Gräben machen die Überwachung außerordentlich leicht, die Soldaten sind dort vor jeder Versuchung geschützt. Man wagt es wohl, um ein paar fröhlicher Stunden halber über eine Mauer zu klettern, aber über einen mehr als zehn Meter hohen Wall …
Die Soldaten können auf diesen Abhängen nur ihren Träumereien nachhängen! Und das ist besser – für sie sowohl wie für die Gesellschaft.
Dieutegard durchschritt das Gitter, ohne den dort stationierten Posten zu grüßen. Seine Wächter machten ihm Vorwürfe darüber; diese einfachen Soldaten empfanden eine gewisse Unruhe, vielleicht weil sie sich für ihren Schützling verantwortlich fühlten und selbst bestraft zu werden fürchteten, wenn er etwas verschulden würde. Sofort entschuldigte sich der Blinde und legte grüßend die Hand an sein Käppi. Man hatte den ersten Hof überschritten, wo sich die Kasernen der Jäger befinden; hinter diesem Hofe fällt das Terrain plötzlich ab und es befindet sich dort ein jäh sich herabsenkender Abhang. Vor der Kaserne des fünfundsiebzigsten Linienregimentes stand Doktor Roger in lebhaftestem Gespräch mit einigen Offizieren. Es waren auch ziemlich viel Unteroffiziere dort versammelt, die offenbar alle in erregter Stimmung waren.
»Jedenfalls spielt er seine Rolle ganz ausgezeichnet«, sagte einer von ihnen.
»Sie wissen, meine Herren,« sagte Doktor Roger, »daß ich ganz entschieden gegen ein so brutales Experiment protestiere.«
»Protestieren Sie so viel Sie wollen«, sagte ein Hauptmann. »Sie haben jetzt nichts mehr mit dem Manne zu schaffen, er ist in meine Kompagnie eingestellt worden, und – Sie haben selbst erklärt, daß er nicht blind sei, also …«
»Aber wenn ich mich nun dennoch geirrt haben sollte«, sagte Roger.
»Wenn Sie sich geirrt haben, so ist das Ihre Sache, das geht mich nichts an. Ich habe in meine Register eintragen lassen, daß ein Mensch bei mir eingetreten ist, der sehr wohl sieht, aber mit dreißig Tagen Gefängnis bestraft worden ist, weil er Blindheit simuliert hat. Ich denke doch, daß das eine genügende Probe gewesen ist! Folglich bin ich es jetzt, der dem Soldaten Dieutegard Vorschriften zu geben und Befehle zu erteilen hat … Sind die nötigen Vorbereitungen getroffen«, wandte er sich an einen der Unteroffiziere.
»Ja, Herr Hauptmann. Es gilt jetzt nur noch den Mann über die kleine, hinter der Kantine herführende Treppe auf den Wall und von dort auf den schmalen Fußpfad zu führen. Er ist kaum zehn Meter lang, dieser Fußsteig, und er endet direkt vor dem tiefen Graben, der vor der nordwestlichen Kaserne liegt.«
»Und … haben Sie auch wirklich alle Vorsichtsmaßregeln getroffen?« fragte der Arzt. »Sie wissen doch, daß es sich um eine sehr ernste Sache handelt.«
»Ernst?« meinte der Hauptmann. »Sie glauben wohl, daß er den Fall in die Zeitungen bringen könne?«
»Nein!« sagte der Arzt. »Dann müßte ich mich sehr in ihm täuschen. Es ist ja wohl möglich, daß er ein Anarchist ist, aber keinesfalls ist er ein Denunziant!«
»Und auch kein Schwätzer, der aus der Schule plaudern würde?«
»Auch das nicht. Wenn er das gewollt, hätte …
Übrigens, wollen Sie, daß ich Ihnen die Wahrheit sage? Dieser Mann ist mir durchaus sympathisch.«
Der Kommandant Lecamus war auch da. Er war ein starker, etwas phlegmatischer Herr, der sehr viel las. Er war so schwer, daß er kaum ein Pferd finden konnte, das ihn tragen konnte; man erwartete allgemein, daß er in allernächster Zeit seinen Abschied nehmen würde.
»Ein Simulant, meinen Sie? Nun, freilich, wenn Sie ihn einer solchen Probe unterwerfen, geschieht dies ja nur, weil Sie ihn für einen Simulanten halten! Und Sie sagen, daß dieser Mensch Ihnen sympathisch sei?«
Doktor Roger wagte es nicht, auf diese Frage zu antworten. Er suchte sogar sich seiner eignen Überzeugung zu entschlagen, da er vom ärztlichen Standpunkte aus sich sagen mußte, daß dieser Mann ihn wirklich belogen habe. Nach dem Resultat der Untersuchung mit dem Augenspiegel waren seine immer wiederholten Worte: »Ich kann nichts sehen« beinahe ein Hohn auf die Wissenschaft, und ganz gewiß war, daß alle ärztlichen Autoritäten das Urteil Doktor Rogers bestätigten und Dieutegard als Simulanten erklären würden Der Mann selbst stand unbeweglich, völlig gleichgültig und hocherhobenen Hauptes da! Ausdruckslos starrten seine Augen vor sich hin, indessen schimmerte ein seltsamer Glanz darin. Mit seinem tiefbleichen, traurigen und mageren Gesicht, den fest zusammengezogenen Brauen, dem schwarzen Haar, seinem gleichzeitig herrischen, tragischen und närrischen Aussehen rechtfertigte er durchaus den Spitznamen, den man ihm gegeben, er glich zugleich Bonaparte und einem Pierrot.
»Napoleon, der Hanswurst«, sagte Lecamus. »Nicht wahr, das ist ja wohl der Spitzname, den seine Kameraden ihm beigelegt haben? Er paßt wirklich außerordentlich!«
Er blickte um sich.
»Wie schön ist der Blick, den man von hier aus hat.«
Es gibt kaum etwas, was sich dem Gedächtnis fester einprägt wie eine schöne Landschaft, die gleichzeitig durch irgendein Geschehnis auf die Seele einwirkt. Es gibt Leute, die sich nur eines solchen Maimorgens erinnern können, an dem sie einst eine Frauenstimme im Garten singen hörten. Und um die Erinnerung an gewisse Blumen, Bäume, an fließendes Wasser oder noch unbedeutendere Dinge in ihrem bilderarmen Gehirn festzuhalten, muß irgendein unvorhergesehenes Geschehnis ihre trockene Seele erwärmt und eindrucksfähig gemacht haben. Lecamus hatte kaum gesprochen, als fast alle Umstehenden erbleichten. Sie hatten plötzlich und mit einem Blicke erkannt, welch furchtbarer Prüfung man Dieutegard zu unterwerfen beschlossen hatte. Alle fühlten sich tief beunruhigt.
Sie sahen den kleinen nackten Fußweg, das niedergetretene Gras des Walles, den in Drillich gekleideten, von zwei Soldaten bewachten Mann. Dann fiel plötzlich die Schutzwehr vor dem am Ende des Fußpfades befindlichen Abgrunde herab und das entsetzte Auge tauchte in eine Untiefe, in deren Grunde sich eine schmutzige, große Wasserlache befand, in welcher Steine, allerlei Unrat und ekelhafte Dinge umherlagen und die von dürftigem filzigem Graswuchs umgeben war. Von dort senkt sich ein Pfad langsam in die Ebene herab, und es öffnete sich ein weiter, herrlicher Blick in das Land. Zwischen grünen Wiesen und Feldern leuchteten rote Schieferdächer, freundlich ländliche Wohnhäuser hervor, die, von Kastanienbäumen umgeben, das Aussehen von Kinderspielzeug hatten. Ganz in der Ferne, von zartem Nebel umhüllt, ernst und still glitten die Wogen der Rhone unter den leuchtenden Strahlen der Sonne dahin. »Wie schön ist dieser Blick«, hatte Lecamus gesagt. Ach ja, er hatte recht, es war hier schön, wunderbar schön – aber wie durch einen Zauberbann gefesselt, kehrte aller Auge doch immer wieder zu diesem schrecklich tiefen Graben mit seiner im Grunde befindlichen gelben verseuchten Wasserlache, den darin liegenden Steinen, Konservenbüchsen und all dem Unrat zurück.
»Dieutegard,« befahl der Hauptmann, »marschieren Sie gradeaus.«
Es war ja nur natürlich, daß der Blinde den Kopf dem Sprechenden zuwandte. Unwillkürlich folgte sein Körper der Richtung des Kopfes und er tat ein paar ihn von dem Walle ableitende Schritte.
»In des Teufels Namen, gradeaus marschieren sollen Sie.«
Im Grunde des Grabens schimmerte die Wasserlache, die dareingeworfenen alten Konservenbüchsen und die Steine in unerträglichem Glanze.
»Gradeaus gehen sollen Sie!«
Die beiden neben ihm gehenden Soldaten leiteten blassen Antlitzes und mit etwas linkischer Gebärde Dieutegard in die Mitte des schmalen Fußpfades zurück. Und nun ging er, wie ihm befohlen, stramm voran. Seine weißen Zähne schimmerten zwischen den aufgeworfenen Lippen. Einen Augenblick schien es, als husche ein Ausdruck des Entsetzens über sein bleiches Antlitz – ein Ausdruck auf diesem kalten, wie versteinerten Gesichte, das so lange kein Zeichen seelischer Erregung gezeigt hatte. Es war, als ob ein steinernes Bild für einen Moment zum Leben erwacht sei … Dann schritt er voran. Zehn Meter, das ist kein sehr langer Weg, selbst der zögernde Fuß eines Blinden legt ihn mit zwölf oder fünfzehn Schritten zurück.
… Eins, zwei, drei, vier … Im Vorwärtsschreiten hatte Dieutegards Gesicht wieder das gewohnte ausdruckslose, beinahe versteinerte Aussehen gewonnen.
»Genug!« schrie Lecamus, der dem Ersticken nahe war: »Haltet ihn zurück, es ist ein Idiot!«
Vierzehn, fünfzehn … beim fünfzehnten Schritte stand Dieutegard unmittelbar über dem Abgrunde, er verschwand darin, ohne auch nur einen Schrei ausgestoßen zu haben, in wildem, verzweifeltem Schweigen. Alles lief herbei.
»Das Netz ist durchaus solid«, sagte der Hauptmann zu Doktor Roger. »Es ist nicht das geringste zu befürchten.«
Aber beide Herren liefen wie alle andern schnell heran. Die Schießscharten der Kaserne öffnen sich bis tief auf den Wall hinab. Man hatte starke eiserne Haken darin angebracht, zwischen denen ein sehr großes und festes Netz ausgespannt worden war. Wie in einem Zirkus war es gemacht, wie der Sergeant sagte. Dieutegard lag völlig unversehrt und ruhig wie immer auf dem Netze, in dem er aufgefangen worden.
*
Einige Minuten später befanden sich der Arzt und Dieutegard ganz allein und ohne Zeugen in dem Bureau des Feldwebels. Der Arzt vermochte sein Zittern nicht zu verbergen, denn der Nervenschock, den er empfangen hatte, war offenbar mächtiger wie der, den sein Patient erlitten. Dieutegard saß vollständig ruhig auf einem Stuhle vor ihm und lächelte ihm mit gefaltenen Händen freundlich zu. Der Kommandant Lecamus hatte ihn dringend aufgefordert, doch eine kleine Herzstärkung, ein Glas Rum, Kognak, Wein, was er nur wolle, zu sich zu nehmen. Aber der Mann hatte alles in höflicher, aber sehr entschiedenem Tone abgewiesen.
»Hören Sie mich«, sagte der Arzt. »Man hat Sie soeben einer sehr grausamen Prüfung unterworfen. Sie werden an ihrer Härte erkennen, daß es die letzte gewesen ist. Ich habe es geschehen lassen, weil ich die Wahrheit wissen wollte, weil es mein Beruf, meine Pflicht, meine Leidenschaft ist, sie zu erforschen. Ich werde jetzt bei dem Kommissariat den Antrag stellen, daß Sie dienstunfähig erklärt und sofort entlassen werden. Sie wissen, daß dies lediglich eine Form ist und daß man ohne jeden weitern Widerspruch meinen Antrag annehmen wird. Hier ist mein Rapport, ich hatte ihn vorbereitet. Ich unterzeichne ihn in Ihrer Gegenwart. Indessen möchte ich vorher noch eine Frage an Sie stellen. Man hat Sie mit peinlicher Strenge überwacht, mit einer Härte, die beinahe an Grausamkeit grenzt. Man hat Sie einer furchtbaren Prüfung unterworfen, ich erkenne das an. Nun aber – – wollen Sie mir glauben? Wollen Sie meinem Worte unbedingt vertrauen, mir vollen Glauben schenken?«
Dieutegard dachte einen Augenblick nach und sagte dann einfach:
»Ja, ich glaube Ihrem Worte.«
»Ich war davon überzeugt«, fuhr der Arzt mit gleicher Einfachheit fort. »Ich schwöre Ihnen also hiermit, daß, wie immer auch die Antwort auf meine Frage lauten wird, sie nicht den geringsten Einfluß auf meinen Rapport haben wird. In zwei Tagen werden Sie um die Mittagszeit endgültig entlassen werden. Aber ich möchte wissen, ob die Wissenschaft im Unrecht ist, ob die Merkmale, die mich glauben machten, daß Ihre Blindheit simuliert sei, mich getäuscht haben. Werden Sie mir antworten?«
»Ja«, nickte der Mann dem Arzte zu.
»So frage ich Sie auf Ehre und Gewissen, ob Sie wirklich blind sind?«
Da erhob sich Dieutegard. Ein unsäglich stolzes, sieghaftes Lächeln verklärte seine Züge. Fest und bestimmt schritt er auf den ein paar Schritte von ihm entfernt stehenden Tisch des Feldwebels zu und ergriff ein kleines, blau gebundenes Buch, das der Arzt sofort erkannte: es war die »Theorie des inneren Dienstes der Infanterietruppe«. Er öffnete das Buch und las ohne zu zögern mit kalter Stimme die erste Seite herunter:
»Allgemeine Regeln über die Subordination.
Da die Hauptstärke der Armee in einer strengen Disziplin besteht, ist es durchaus notwendig, daß die Untergebenen ihren Vorgesetzten zu jeder Zeit vollen Gehorsam leisten; die Befehle der Vorgesetzten müssen buchstäblich, ohne Zögern und Murren, ausgeführt werden. Der Vorgesetzte ist für sie verantwortlich. Dem Soldaten bleibt allerdings das Recht der Beschwerde, aber nur, nachdem er strikten Gehorsam geleistet hat.«
»Genug«, sagte Doktor Roger.
»Jeder Soldat«, fuhr Dieutegard unbeirrt fort, »ist verpflichtet, den Offizieren der Landarmee und der Marine, gleichviel welcher Waffe und welchem Korps er selbst angehört, unter allen Umständen bei Tage wie bei Nacht die schuldige Ehrfurcht zu bezeugen.«
Der Blinde – der Pseudoblinde, dessen bleiches Antlitz einen beinahe beleidigend-überlegenen Ausdruck angenommen hatte, wollte fortfahren zu lesen; aber Doktor Roger unterbrach ihn mit einer stolzen Handbewegung.
»Es war nicht Ihr Vorgesetzter, der diese Frage an Sie stellte,« sagte der Arzt, »es war ein Mensch, wie Sie es sind, der Ihnen sein Wort daraus gegeben hat, sich niemals wieder Ihres Geständnisses zu erinnern. Sie dürfen es ihm nicht zu schwer machen, sein Wort zu halten, weil – – weil das feige wäre.«
Da perlten plötzlich heiße Tränen aus Dieutegards Augen.
»Ich bitte Sie um Verzeihung«, sagte er sanft und mit veränderter, aufrichtig und tieftraurig klingender Stimme, der Stimme eines fühlenden Menschen. »Es ist eine Schwäche, der ich nicht nachgeben durfte, aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, von Ihnen für feige gehalten zu werden! … Sehen Sie, die Möglichkeit, daß das Netz reißen würde, war doch da. Sie haben dennoch das grausame Experiment riskiert oder doch geduldet, daß man es riskiere. Aber Sie waren beinahe sicher, daß das Netz nicht reißen würde. Mit mir ist es dieselbe Sache. Wenn alle in Frankreich so handeln wollten, wie ich es getan, so würde das allerdings eine Gefahr für den Staat bedeuten. Aber dieses Risiko erscheint mir so wenig wahrscheinlich, daß ich mich berechtigt fühle, keine Notiz davon zu nehmen. Und dann, wenn es mir gelungen ist, mich dem Militärdienste zu entziehen, so geschah dies, indem ich mein Leben dafür einsetzte.«
»Ach,« sagte Doktor Roger ein wenig ironisch, »das zeugt allerdings von hohem Mut! Wenn aber das Ereignis, dessen mögliches Eintreffen Sie leugnen, eintreffen sollte, dann werden Ihre Landsleute Ihr Leben und das Ihrer Gesinnungsgenossen vor dem Feinde zu verteidigen haben. Und dabei werden Sie mir zugeben müssen, daß Frankreich heute das einzige Land ist, in dem die Gesetze und die Sitten es gestatten, alles zu sagen, alles zu denken, alles zu schreiben! Das einzige Land, in dem man, ohne sein Amt zu verlieren und vor Hunger umkommen zu müssen, Gott leugnen kann – nicht nur in langatmigen, gelehrten Büchern, die kein Mensch liest, sondern in jeder beliebigen für einen Sou erhältlichen Zeitung! Das einzige Land, in dem, wer immer dazu sich berufen fühlt, es ungestraft versuchen kann, die gedankenlose Herde des Volkes, die keines eigenen Gedanken fähig ist, aufzuwiegeln und zu bestimmen, die Gesetze zu mißachten, die Obrigkeit abzuschaffen! – Ja, wahrhaftig, Frankreich ist das einzige Land, in dem man alle angreifen und schmähen darf: Richter und Obrigkeit, Juden und Christen, unsre Vorfahren und unsre Nachkommen, Fremde und Söhne des Landes, Arme und Reiche, jene harmlosen Schwärmer, die von der glücklichen Zukunft allgemeiner Gleichheit träumen, und die wegemüden Pilger, die ermattet am Rande des Weges niedersinken und nichts andres als Ruhe begehren! – Man darf sie schmähen, ohne dabei irgendetwas anderes zu riskieren – als daß man vielleicht dekoriert wird! Ach ja, ein schönes Vaterland und doch das einzig wahre Vaterland für den Anarchisten. Sollte es Ihnen wirklich gleichgültig sein, wenn es unterginge? Wohin würden Sie nachher gehen?«
»Aber«, sagte Dieutegard, »wenn es so ist, wie Sie sagen, wie kommen Sie dazu, ein solches Vaterland zu verteidigen?«
»Warum?« sagte Roger. »Nun wohl, eben deshalb! Damit Frankreich im ganzen Weltall zerrüttet und zerstört, was faul und unhaltbar geworden. Und vor allem um der Wahrheiten, der möglichen Wahrheiten willen, die in diesem Siedekessel brodeln. Weil wir die Hüter einer Retorte sind, aus der vielleicht nichts – vielleicht aber der Stein der Weisen hervorgehen wird. Und dann – vielleicht auch deshalb, weil Frankreich doch immer das Land bleibt, wo die am wenigsten niedrige und am wenigsten platte Denkungsart herrscht.«
»Und wenn nun meine Handlungsweise auch eine Ingredienz zu Ihrer Retorte wäre?«, fragte Dieutegard.
Aber Doktor Roger antwortete ihm nicht.
Einen Augenblick, einen kurzen Augenblick nur, standen diese beiden Männer sich gegenüber und in beiden tauchte der Wunsch auf, sich auszusprechen, dem tiefen Zweifel Ausdruck zu verleihen, den die Argumente des Gegners stets in einer gerechten Seele erwecken. Aber sie beide schwiegen, derselbe Gedankengang fesselte ihre Zunge: Wozu konnte es nützen? Wenn man zu einer Partei geschworen hat, muß man zu seiner Partei stehen. Sonst ist man ein Nichts – ein Dilettant, und wozu ist ein solcher nütze? –