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Die Insel der Leprakranken

»Die nicht bestraften Leute dürfen an Land gehen.«

Noch einmal ertönte das Glöckchen auf der Brücke. Die Unteroffiziere wiederholten die Erlaubnis und ließen dann etwa dreißig Marineinfanteristen in strammer Haltung an sich vorbeiziehen. Alle diese Leute trugen den weißen, mit kupfernen Knöpfen besetzten Dolman und den ebenso weißen Tropenhelm, der mit einem Anker, der Insignie ihrer Waffe, geschmückt war.

Wie ein schwarzer Fleck vor der hinten aufgehenden Sonne lag die Insel Zanzibar vor uns, die von den französischen Schiffern, die nach Tamatare fahren, als Verproviantierungsplatz benutzt wird. Der frische, von Osten wehende Morgenwind trug uns die Düfte des Landes zu, ein Chaos von tausend Düften, die sich miteinander vermischten. Es war zur Zeit der Ebbe, und der Geruch der am Strande zurückgebliebenen zerbrochenen Muscheln, toten Fische, der an den Wurzelbäumen hängenden Austern, die sich öffneten um Atem zu holen, vermischte sich mit dem köstlichen Duft der großen Orangengärten, der Pomeranzen- und Zitronenbäume. Dazu kam dann noch der scharfe Geruch der Pfefferbäume, der den Hals austrocknet und zu Kopf steigt. Ekelerregende und wieder berückend süße Düfte, die aber alle das Herz höher schlagen machen, weil sie dem Seefahrer Kunde bringen von dem nahen Lande, von der Mutter Erde, die das wahre Element des Menschen ist, von der alles nährenden, gütigen Erde, auf der es Häuser, Bäume … und Frauen gibt.

Als ich gerade im Begriff war, in eins der Boote zu steigen, um mich an Land zu begeben, suchten meine Augen Barnavaux – meinen Freund Barnavaux, der dreimal Sergeant geworden und der ebenso oft kassiert wurde; zweimal, weil er sich gegen die Disziplin vergangen hatte und einmal wegen unwürdigen Betragens. Barnavaux, der so viel von der Welt gesehen hat, daß er genug davon bekommen hat, und der nun so weise ist, daß er einfach schläft, wenn er nicht im Dienste ist – ausgenommen die Stunden, wenn er etwas zu trinken hat! Barnavaux, der alles weiß, der wie ich, allen Lastern gefrönt hat und kein Geheimnis daraus macht; Barnavaux, der nie etwas höheres sein wird, als ein gewöhnlicher Soldat; Barnavaux, den ich trotz alle und alledem lieber habe als irgend jemand anders, weil er alles, was man fühlt und sieht, alles was geschieht und was man träumt, zu erzählen weiß wie kein andrer in einer Sprache zu mir redet, die nur die seine ist. Er wird in den Seiten dieses Buches öfter vor euch auftauchen, wie er in den verschiedensten Ländern oft vor mir erschienen ist. Barnavaux hat keine Lebensgeschichte, weil ein Soldat eben keine Lebensgeschichte hat. Er kann nur Geschichten erleben und erzählen. Er ist eines Tages geboren und wird eines Tages sterben: das ist alles. Selbst das, was er tut und vollbringt, steht außerhalb des Zusammenhangs mit seinem innern Sein. Er ist das willenlose Werkzeug einer höheren Macht, er handelt, ohne den Sinn seiner Handlung zu verstehen. Habt ihr je einen großen Vogel, einen Adler oder einen Geier sich plötzlich über dem Spiegel eines Sees erheben sehen? Nur ein paar Augenblicke schwebt er sichtbar dahin, dann zieht er immer höhere Kreise und ist bald unsern Augen ganz entschwunden. Dennoch: jedesmal wenn ihr jener Landschaft gedenkt, des Sees, der Berge und Felsen, dann wird auch immer wieder die Erinnerung an diesen Vogel in euch auftauchen. Genau so geht es mir mit Barnavaux. Denkt ferner an das Zeichen, das der Maler an den Rand seines Bildes setzt: es ist ganz klein, ist ein Nichts, und dennoch gibt es dem Werke Bedeutung – es würde nicht sein, was es ist, ohne dieses kleine Zeichen.

Barnavaux hatte sich auf einen Haufen Taue gesetzt, der am Ende des Vorderdecks lag. Einer seiner Füße war nackt, der andere steckte in einem ausgetretenen Leinenschuh. Seine Drillichjacke stand auf der Brust weit offen und zeigte seine braune Haut. Der starken Sonne wegen trug er wohl einen Helm, aber es war ein Helm zweiter Garnitur, eine traurige abgegriffene Reliquie, auf der man deutlich die Spuren seiner Finger erkannte, die mit Kreide zu überstreichen er nicht für der Mühe wert gehalten hatte.

»Barnavaux,« sagte ich zu ihm, »sind Sie bestraft worden?«

Er warf mir einen melancholischen Blick zu und antwortete:

»Nein, nein, ich bin nicht bestraft worden. Nur: ich mag nicht an Land. Ich will nicht nach Zanzibar gehen, das ist's!«

Vor uns lag die Reede, die aus Holz und Eisen hergestellten Molen, der große Palast des Sultans, den die Engländer später verbrannt haben, um diesem Souverän klarzumachen, daß die Pflichten eines von Englands beschützten Fürsten darin bestehen, sich nicht mit Regierungssorgen zu beschäftigen. Fast unmittelbar an die Molen schlossen sich rechts die Gärten an, die terrassenförmig herab bis zum Meere führten; noch weiter schweifte der Blick über das flache Land, in dem sich hier und dort Affenbrotbäume erhoben, deren ungeschickt dicken Stämme beinahe so aussahen wie riesengroße Runkelrüben, in die ein spielendes Kind Äste eingesteckt hat. Der Affenbrotbaum ist »der Baum der Neger« und er hat sehr viel Ähnlichkeit mit einem solchen: er sieht grob, dumm und dickbäuchig aus, wie ein reicher Neger. Aus der Ferne vernahm man die Klänge eines mechanischen Klaviers, dessen Kurbel aus dem Kai unablässig in Bewegung gesetzt wurde. Bald ertönten kriegerische, dann wieder sentimentale Weisen oder auch ordinäre Gassenhauer zu uns herüber – alles für zwei Sous. Aber den Männern, die solange Gefangene der engen Schiffswände gewesen und die nun endlich ein paar Stunden köstlicher Freiheit genossen, erzählten sie von den Bars, den Frauen, von all den wilden, üppigen Freuden, die des Seemanns in der Hafenstadt harren.

Ich wiederholte:

»Aber Barnavaux, das ist ja nicht möglich, du wirst dennoch an Land gehen, nicht wahr?«

»Nein,« antwortete er hartnäckig, »nein. Ich kenne das alles. Danke. Ich bleibe hier.«

Dann aber fuhr er fort:

»Ja, was ist denn da weiter los? Man trinkt, es gibt dort kleine schwarze Mädchen, Wallachinnen, Japanerinnen und Hindus. Ich kenne das alles, ich habe meiner Zeit zu viel davon gesehen und – es hat niemals ein gutes Ende genommen.«

Es war ganz klar, daß es die Erinnerung früherer Erlebnisse war, die ihn beunruhigte. Ich bemerkte, daß er, der sonst so gern aus seiner Vergangenheit erzählte, nur mit Widerwillen jener Ereignisse gedachte und nicht gern davon sprechen mochte.

»Barnavaux,« sagte ich zu ihm, »mir geht es wie dir, ich habe auch keine Lust an Land zu gehen. Ich will dir Gesellschaft leisten, Aber nicht wahr, du wirst mir erzählen, was dir einst hier begegnet ist?«

Widerwillig nur und stockend begann Barnavaux seine Erzählung, es war beinahe, als fürchte er sich zu reden; jedenfalls war es das erstemal in seinem Leben, daß ich Barnavaux zögernd und ängstlich gesehen habe.

»… Da war ein gewisser Mann, namens Ranaive und ein kleines Mädchen, sie hieß Chetty …«

»Aber nein,« unterbrach er sich rauh, »so kann ich's nicht erzählen. Wissen Sie, was die Lepra bedeutet?«

»Die Lepra?«

»Nun ja. Sie wissen es natürlich nicht. Sie meinen, daß dies eine Krankheit sei, die einer früheren Zeit angehöre und die jetzt nicht mehr existiere. Aber Sie irren sich. In Europa gibt es wohl kaum noch Leprakranke, aber Afrika, Australien, Asien sind voll davon. Und wenn die Europäer in die Länder kommen, in denen wir uns jetzt befinden, so sind sie der Gefahr, von der Lepra ergriffen zu werden, ausgesetzt, wie jeder Eingeborene. Wenn man davon angesteckt ist, so merkt man es im Anfang kaum; es zeigen sich ganz leichte, beinahe unsichtbare und wie ein Eichenblatt gezeichnete Flecken in der Handfläche, allmählich nehmen diese zu, ihre Farbe wird intensiver und bald verspürt man ein unerträgliches Nagen und Zerren in den Gelenken der Arme, Knie und Finger. Sehr bald verbreiten sich die Flecken, steigen bis unter die Haare empor, bedecken die Stirn, das ganze Gesicht schwillt an, während die Haut gleichzeitig zusammenschrumpft. Der Mund tritt hervor und sieht wie eine häßliche Tierschnauze aus, die Ohren stehen starr vom Kopfe ab und man sieht Männer und Frauen, die Löwen gleichen. Sie können es mir glauben, sie gleichen wirklichen Löwen, ihr Aussehen ist gleichzeitig ein wildes und majestätisches. Und sie sind dem sicheren Tode geweiht.

»Ihr Tod aber ist ein grauenhafter, denn sie sterben sehr langsam nur, und Glied für Glied: zuerst fallen ihnen die Finger ab, dann die Hände, dann lösen sich die Arme aus den Gelenken, so geht es weiter. Ich habe mich oft gefragt, was wohl von einem Leprakranken zu begraben übrigbleibt, wenn er endlich seinem Elend erlegen ist? Die Lepra ist die älteste Krankheit der Welt und sie ist die einzige, die über die ganze Erde verbreitet ist. Es gibt noch andre tödliche Krankheiten wie in Europa die Blattern und die Schwindsucht, die man hierzulande nicht kennt. In Amerika ist das gelbe Fieber sehr verbreitet und die Schwarzen Afrikas sterben an der Schlafkrankheit. Aber die Lepra ist überall gewesen. Es ist, als ob sie zu jener Zeit, von der die Bibel erzählt, als die ersten Menschenstämme sich getrennt und Babel verlassen, von dieser über die ganze Erde geschleppt worden sei.«

»Barnavaux,« sagte ich ganz betroffen, »von wem hast du diesen Gedanken?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er, selbst erstaunt. »Es kommt mir so vor, als könne es gar nicht anders gewesen sein.«

Während er still und in sich versunken wie träumend dasaß, wanderte mein Gesicht zurück bis zu jener primitiven Zeit der Völkerwanderung, als die Menschen nur aus Stein gebildete Waffen kannten, zu jener Zeit, wo sich die Stämme der Menschen über die Erde verbreiteten und überallhin die schrecklichste aller Krankheiten mit sich schleppten, diese grauenerregende Lepra, deren Spuren sich an den Gebeinen der ältesten Gräber deutlich nachweisen lassen. Später haben sich dann die Rassen geschieden und jede führte den Fluch einer besonderen Krankheit mit sich – jetzt aber, wo die großen Schiffe die Menschen zueinander tragen und die Rassen sich wieder untereinander mischen, taucht auch überall eine Mischung dieser Plagen auf und die bei uns schon halb vergessene Lepra fordert wieder ihre Opfer.

»Nun wohl,« fuhr Barnavaux endlich fort, »es mag jetzt schon zehn Jahre her sein, ich war damals ein noch ganz junger Soldat. Man hatte mich nach Zanzibar geschickt, um Maulesel in Empfang zu nehmen, die man dort zuweilen stationieren läßt, um sie an das veränderte Klima zu gewöhnen, ehe man sie an die Madagaskarküste und nach Tananariva schickte. Nun, wenn ein Soldat in Zanzibar ist, dann will er sich auch amüsieren, das ist ganz natürlich, da er einem ungewissen Schicksal entgegensieht und stets auf seinen Tod gefaßt sein muß. Es ist ja schließlich gleichviel, wo und wie man stirbt: in den Laufgräben der Eisenbahnen, die die Engländer in Uganda bauen, in den Bergwerken Transvaals, in den deutschen Besitzungen, wo es nichts als Fieber, Flußpferde und deutsche Offiziere gibt, die sehr vornehm sind und sehr viel trinken – oder ob man in Madagaskar selbst stirbt, wo so viele unserer Kameraden ihr Leben gelassen haben! Aber darum macht der junge Soldat sich keine Sorgen, er genießt sein Leben, amüsiert sich in den Bars und mit den Frauen, von denen alle Straßen erfüllt sind, junge und hübsche Frauen aller Rassen und Nationen, die aus allen Ländern der Welt hier zusammenkommen. Ranaive und ich verstanden einander und wir machten oft gemeinsame Vergnügungspartien.

»Sie haben Ranaive nicht gekannt und Sie werden ihn auch niemals kennenlernen. Warum nicht, das sollen Sie gleich erfahren, obgleich es möglich ist, daß der arme Kerl heute noch nicht ganz tot ist. Er war ein guter Junge. Meine Schwester würde ich ihm zwar nicht gerne zur Frau gegeben haben, aber er war darum doch ein guter Junge. Seine Mutter war eine Malegassin, sein Vater ein Halbweißer, oder wahrscheinlich ein Viertelneger von der Insel Mauritius, man weiß das nicht genau, da niemand ihn gesehen hat, selbst Ranaive nicht. Er verdiente seinen Lebensunterhalt damit, daß er die Töchter der Stammältesten in den Wäldern von Madagaskar und von Mosambik heiratete. Das ist ein ganz gutes Geschäft, wenn man Waren hat. Man läßt dann einen Teil dieser Waren bei seinem Schwiegervater, der es übernimmt, sie vorteilhaft zu verkaufen und dann zieht man weiter, um die Tochter eines andern Stammältesten zu heiraten und dasselbe Geschäft auszuführen. Wenn man so ungefähr zehnmal oder öfter geheiratet hat, kann man sich zurückziehen und den Rest der Waren und seine Frauen den verschiedenen Schwiegervätern zur Verfügung stellen. Man hat Reichtümer erworben und man hat sich dabei nicht übermäßig angestrengt. Ich denke, daß es das Geschäft seines Vaters gewesen, das Ranaive eine gewisse Keckheit gegeben. Er genierte sich Frauen gegenüber nicht im geringsten, ging immer gleich aufs Ziel los. Er war wirklich recht mutig – viel mutiger als ich es bin …«

»Und das will doch wirklich etwas heißen«, warf ich höflich ein.

Barnavaux fühlte sich offenbar geschmeichelt, er fuhr fort:

»In der Straße der Silberhändler lebte ein kleines Chettymädchen, es war sehr hübsch, wie die Hindumädchen – alle sind – es war vielleicht noch hübscher wie die andern, weil in ihren Adern einige Tropfen portugiesischen Blutes flossen: ich glaube, daß vor langen Zeiten die Portugiesen einen Teil Indiens besessen haben. In Erinnerung dieser längst vergangenen Geschichten nannte sie sich ›Da Silva‹, wie eine große Dame. Sie war allerdings nicht besser als all die andern, aber sie war stolzer, weil sie weißes Blut in sich hatte und vor allem, weil Ranaive nicht nach ihrem Geschmacke war. So etwas kann dem Besten passieren und ich meine, sobald der Mann merkt, daß ein Mädchen ihn nicht mag, sollte er sie nicht weiter bedrängen. Aber ich glaube, daß Ranaive das doch eines Abends getan hat …«

Ich nickte Barnavaux verständnisvoll zu.

»Und niemals,« fuhr Barnavaux fort, »niemals in meinem Leben habe ich solch eine Ohrfeige gesehen, wie sie Ranaive erhalten hat! Das ist nicht zum Lachen, denn Sie dürfen schon glauben, daß eine Ohrfeige in Zanzibar etwas ganz andres ist als in Paris unter gleichberechtigten Menschen, wo so etwas nicht viel bedeutet.«

In Zanzibar gilt der Weiße für ein bevorzugtes, beinahe höheres Wesen, und Ranaive wurde einem Weißen gleich geachtet. Deshalb wurde das Fräulein Draupaddy – so hieß die Kleine – von dem englischen Gerichtshof dazu verurteilt, fünf Pfund Sterling zu bezahlen, oder, falls sie das nicht wollte, für einen Monat in das Gefängnis zu wandern.

Ach, ich sehe sie immer noch vor mir, die hübsche Kleine, wie sie sich weigerte, die Buße zu bezahlen, weil sie sich nicht schuldig fühle und sich nur verteidigt und gerächt habe. Ich sehe ihre runden Schultern, ihr mit Goldblumen gesticktes, violett reflektierendes Jäckchen und zwischen diesem und dem Lendenschurz den schmalen Streifen ihrer bronzefarbenen Haut! Ich werde niemals vergessen, wie die ganze zierliche Gestalt unter der ihr zugefügten Beleidigung bebte und welch haßerfüllten, rachsüchtigen Blick sie auf Ranaive schleuderte. – Ich zog ihn beiseite und sagte:

»Alter, wie wäre es, wenn du hier fortgingst?«

Er fragte dagegen:

»Wohin und um was zu beginnen?«

»Wohin du willst. Zu deinen Damen in Madagaskar oder nach Mosambik. Aber bleibe nicht hier. Ich glaube ganz gewiß, daß diese Affäre noch nicht zu Ende gespielt hat.«

Er zuckte nur mit den Schultern.

Als Draupaddy einen Monat später ihren Platz hinter der Bar wieder einnahm, erschien sie so ruhig, daß ich anfangs glaubte, mich in ihr getäuscht zu haben. Sie ignorierte Ranaive vollkommen, das war alles. Noch erstaunter waren wir, als sie, nachdem sie kaum ein paar Tage aus dem Gefängnisse entlassen war, eine legitime Ehe einging, und zwar mit einem Lepradetektiv.«

»Einem Lepradetektiv, was meinst du damit?«

»Das ist eine Erfindung der Engländer. Glauben Sie, daß man ruhig leben könne, wenn man immer fürchten muß, daß die Lepra neben einen herschleicht, die Lepra, die schon in ihren ersten Anfängen und wenn sie noch nicht sichtbar ist, dennoch so gefährlich ist, daß man durch einen Händedruck, durch die Berührung eines Treppengeländers, durch das Glas, aus dem man trinkt, angesteckt werden kann? Wenn diese furchtbare Krankheit weiter vorangeschritten ist, wenn dem davon Ergriffenen die Glieder abfallen, dann ist die Gefahr der Ansteckung nicht mehr so groß, weil man auf hundert Schritt Entfernung ihre entstellten Gesichter erkennt und vor ihnen fliehen kann. Aber ganz im Anfang, wenn sich kaum jene kleinen rosa Flecken und unbedeutenden Zeichen in der Handfläche bilden, die in den meisten Fällen kaum Beunruhigung hervorrufen und selten richtig erkannt werden – in dem Anfangsstadium der Krankheit, da ist die Gefahr der Ansteckung unberechenbar.

Verstehen Sie jetzt? Nun, es gibt eben Sachverständige, die die Lepra in ihren ersten Anfängen zu erkennen wissen: sie haben ein Auge dafür. Deshalb stellen die Engländer sie als Detektivs für die Lepraverdächtigen an. Sie treiben sich überall umher, sie sind auf den Märkten und in den Verkaufsbuden zu finden, sie plaudern überall, sie halten sich vor den Geschäftsräumen und Schreibstuben auf, sie sind bei den Frauen: überall suchen sie ihre Beute. Wenn die Weißen, die wirklich Weißen, von ihnen denunziert werden, so können sie sich immer noch durch ein Attest ihres Arztes und durch ihre schnelle Abreise nach Europa retten. Aber die Eingeborenen und die Mestizen … man deportiert die Lepraverdächtigen sofort auf eine in den Seychellen gelegene Insel. Ein Polizeischiff führt sie dahin – und dann sieht man sie niemals wieder … Erraten Sie den Schluß meiner traurigen Geschichte?«

»Was,« sagte ich, »Ranaive? …«

»Nun ja, der Lepradetektiv hat ihn verdächtigt, er ist ihm zur Beute geworden.«

»Aber hatte er wirklich die Lepra?«

»Der?« antwortete Barnavaux beinahe feierlich. »Er war so gesund, wie ich es bin, das kann ich beschwören. Aber jetzt natürlich, nachdem er solange dort gewesen, jetzt ist er unrettbar verloren. Jetzt werden Sie verstehen, weshalb Zanzibar mir verleidet ist.«

Er saß ganz still und in sich versunken da und ließ dies traurige Erlebnis an seinem Geiste vorüberziehen. Seine Moral war nicht die eines Priesters oder einer Jungfrau – dennoch hatte er eine schöne Seele. Wenn er eine Generalbeichte hätte ablegen sollen, würde er vielleicht Dinge verraten haben, vor denen ihr zittern würdet. Aber dieser kalte Racheakt einer jungen und schönen Frau erfüllte selbst ihn mit Grauen.

»Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, wie der Verbannungsort der Leprakranken auf den Karten heißt, es ist die Insel Félicité. Sie muß eine schöne Hölle sein. –«


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