Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Gedachtes

Einem Freunde, der mir schrieb, es sei eigentlich unnütz, zu schaffen, da doch alles dem Nichts verfalle, antwortete ich heute: »Teilen Sie die geschaffenen Werke in zwei Hälften; die eine Hälfte, die nur von der Welt der Erscheinung handelt, verfällt dem Nichts, wie alles, was nur Erscheinung bleibt, so auch die Menschen.

Die andere Hälfte, in der der göttliche Funke glüht, verfällt nicht dem Nichts; sie hat sich eingereiht in den Akkord der großen Symphonie, die im Grunde der Dinge tönt, die die wahren Künstlerseelen von fern in ihren Träumen ahnen, und die sie hören werden, wenn die Form zerbrochen ist, und sie es erreicht haben, nicht wieder erscheinen zu müssen. Die Inder haben das alles schon gewußt.

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Ich sprach mit einer Bekannten über den Glauben. Sie meinte, er müsse bewußte, gewollte Überzeugung sein. Dann ist es aber nicht Glaube, sondern Wissen. Glaube ist gerade die Macht des Gemüts, die etwas, allem Wissen, allem Wollen zum Trotz, festhält. So gibt es den Glauben an einen Menschen, selbst wenn wir ihn augenblicklich auf falschen Wegen wandeln sehen, so gibt es den Glauben an eine metaphysische Welt, trotzdem jede dogmatische Vorstellung zerstört ist; so gibt es den Glauben an ein Ideal, ungeachtet der Ideallosigkeit der uns umgebenden Welt. Der Glaube ist das Spontanste, Unzerstörbarste in dem Gemüt, das gläubig angelegt ist. Er wirft nur die Formen ab, die vor der Kritik der Vernunft nicht Stich halten, während gerade diejenigen, die sich an diese Formen anklammern und meinen, dadurch den Glauben festzuhalten, keinen mehr haben, wohingegen das gläubige Gemüt hinter jedem verlassenen Horizont einen neuen, weiteren, mit neuen lichteren Sonnen aufleuchten sieht.

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Man kann vernünftig denken, daß das Diesseits alles sei. Freilich kommt es nur auf uns an, daß es viel sei, indem wir das kurze Leben mit reichem Inhalt füllen. Wir haben dann immer noch vor jenen, mit denen wir das Schicksal der Vernichtung zu teilen hätten, das voraus, daß wir Götterfreuden im Streben und Werden genossen haben, wo jene stumpf vorübergingen, oder den ungelöschten Durst am Vergänglichen stillen wollten.

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Wir sind ja nicht am Ende des Wissens angelangt; und das ist unser Trost und sicheres Bewußtsein, daß die Entwicklung des Lebens unendlich ist, daß der Tod nichts ist, als der Übergang in neue Formen des Daseins, daß die Atome, die einst eine Dichterstirn, ein begeistertes Herz bildeten, vielleicht in einer duftenden Blüte wieder erscheinen, und ihre Wanderung von da wieder in neue Menschenformen fortsetzen, und daß die herrlichen Gedanken, die jener Stirn entsprangen, die Liebe, die jenes Herz zu tröstenden Taten des Mitleids trieb, eingeflochten sind in die Unsterblichkeit des Lebensquells, der, von Mensch zu Mensch und von Geschlecht zu Geschlecht fortzeugend, das Gute, Große, Schöne weckt. Daneben freilich tragen wir den Schmerz der Endlichkeit, der Notwendigkeit, der unerbittlichen Göttin, die wir schweigend verehren, und gegen die es nur Gehorsam gibt, während auf der anderen Seite Freiheit ist, das heißt: Freiheit, das Vollendete zu wollen und das Mögliche zu erreichen.

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Ein Bibelausspruch, der gegen die Lehre vom Fegefeuer und die katholischen Zwischenstationen spricht, ist doch der, daß Christus am Kreuz zu dem Schacher sagt: heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein! Der war aber doch ein Sünder und konnte demnach noch nicht vorbereitet sein, sich Gott zu nahen.

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Da es Spiegelungen der Existenz gibt, in denen der Wille zum Leben nicht mehr störend eintritt, in denen das objektiv Schöne beinah in völliger Idealität vor uns steht, dürfen wir uns da nicht mit Recht der Hoffnung hingeben, daß einst, wenn der Kampf mit dem wilden Tiger ausgekämpft ist, uns das Glück des leidenlosen, objektiven Anschauens und Begreifens zuteil werden wird? Vielleicht liegt der Zweifel nur in dem Verwechseln von Subjektivität, d. h. Egoismus, und Individualität. Je höher, je reiner diese ist, je mehr ist sie fähig, sich dem Objektiven hinzugeben. Je subjektiver, d. h. je gebundener im Willen, je getrübter ist die Fähigkeit zur Selbsterlösung, und mithin zum idealen Glück. Ein Werk des Genius spricht dies deutlichst aus. Wer fühlte es nicht vor der Himmelfahrt der Maria von Tizian, in der Pinakothek zu Venedig, daß hier die Seligkeit der Erlösung vom Willen wirklich dargestellt ist? Da ist keine Leinwand mehr, da sind keine Farben. Da ist eine reine, große Individualität, die überwunden hat, und nun Freiheit atmend aufsteigt in das universelle Dasein, in das Glück der idealen Existenz. Ihr nach sehnt sich in stürmischem Drang, was noch unten weilt im elementaren, unruhvollen Kampf.

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Jedes tiefe innerliche Leben klingt mit einem Mollakkord aus, wie die ahnungsvolle Poesie der Völker es im Volksliede ausspricht.

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Die einzige Aufforderung, zu der der Gedanke an den Tod uns führen sollte, wäre die, das Leben mit dem höchsten Inhalt zu füllen, jedem Augenblick den edelsten Wert zu verleihen.

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Es ist das Schicksal aller tiefen Naturen, zuletzt mit sich selbst allein zu bleiben, d. h. mit dem, was das Universelle in uns ist, und deshalb ist es keine traurige Einsamkeit, sondern die Rückkehr in die ewige Einheit des Daseins, und damit in den wahren endlichen Frieden, dasselbe, was die christliche Anschauung »Frieden in Gott haben« nennt.

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Wenn wir es auch wissen, bei dem Tode geliebter Menschen, daß die eigentliche Realität dieser Erscheinung zurückgekehrt ist in die ewige Einheit ihres Ursprungs, so bleibt der Schmerz der Trennung für das Herz doch derselbe unheilbare, denn das Wesen der Liebe ist es, die unendliche Gegenwart, die unendliche Betätigung ihrer selbst zu bedürfen.

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Wenn das Christentum die früheren Religionen mit umfaßt, diese gleichsam sein Johannes der Täufer sind, so ist damit schon der allmähliche Entwicklungsgang des religiösen Bewußtseins angedeutet und der Nimbus einer ein für allemal gegebenen Religion zerstört. Wenn Plato schon die idealen Keime des Christentums in sich trug, wie ich eben las, so beweist dies nur, daß tiefe Denker schon vor der Erscheinung Christi die idealen Menschheitsgedanken hatten, und daß Christus eigentlich nur mit der Tat bewies, was theoretische Denker schon vor ihm ausgesprochen hatten. Da also die Religionen sich entwickeln, so ist das Absolute nicht in ihnen.

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»Als Kinder in das Paradies eingehen«, sagt der Talmud. Wie unsäglich schön.

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Ich fuhr mit einer Bekannten, von Frankreich nach Italien zurückkehrend, über den Gotthard, und wir sprachen über die Bedeutung der Stelle aus Faust: »Wenn hohe Geisterkraft die Elemente an sich heran gerafft« usw. – Je höher wir aber kamen, je mehr verstummte das Gespräch, denn die elementare, die Zauberwelt Faustens, umfing uns in Wirklichkeit und lockte die Phantasie in eine Tätigkeit hinein, die keine Worte hatte. Das irdische Leben mit seinem bunten Schein war wie verschwunden; ringsum starrten eisbedeckte Riesen; eine einst vielleicht gewesene Schöpfung schien zurückgesunken in den traumlosen Schlaf des Chaos. Wolken und Nebel kämpften, Form und Fels verhüllend, mit unsichtbaren Gewalten; Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Man wußte nicht mehr, in welcher Region man dahinsauste, vom Dampf, wie von einer gestaltlosen, unterirdischen Macht getragen. Es war so phantastisch, wie ich selten etwas gesehen hatte, und plötzlich fuhr man nun ein in die alte ewige Nacht des Urschoßes der Dinge, aus dem auf den geheimnisvollen Wink eines Erzeugers einst blühendes Leben hervorstieg. Ich dachte, was wohl ein Geschlecht geworden wäre, das sein Dasein in solcher Nacht hätte vollbringen müssen, ein Nibelungengeschlecht, das das freudige Licht nie geschaut hätte? Was hätten solche Gehirne hervorgebracht? – Da – plötzlich, nach kaum fünfundzwanzig Minuten, brausen wir hervor aus dem Höllenschlund, und sonnenbeglänzte Gipfel lachen uns an, rötlich glühen die Berge, braungoldig schimmert das Laub, das noch herbstlich die Bäume bedeckt – kurz: es ist Italien, und in mir ruft es: »Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben!«

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Das Leben erreicht zuweilen einen Punkt, wo in der Seele nur noch Schweigen ist, wo wir darauf verzichten, noch gegen das Schicksal zu kämpfen, und das Haupt beugen.

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Es gibt Tage, wo wir besonders unter dem Bann der großen Lebenstragödie stehen und uns nicht freimachen können von dem Druck, den das uns unbekannte Fatum, das die Erdenlose regiert, auf uns ausübt.

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Die Natur ist mitleidslos; um so mehr ist das Mitleid das wahrhaft Ethische, das Bewußte im Gegensatz zu dem Unbewußten.

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An einem schwülen Sciroccotag in Villa Mattei:

Schwer liegt wie Blei auf der Welt
Der schwüle südliche Luftstrom,
Hüllet in Nebel die Fern',
Die sanfte Form des Gebirges;
Scheint's doch, als seufze Natur
Ob schmählicher sündlicher Taten,
Und als rief's durch das All:
Erlöse uns endlich vom Bösen!

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Zuweilen breitet sich von allen Seiten wie ein schwarzer Schleier über das ganze Leben: dann geht es wie in der Natur: eine Blütezeit ist vorüber und kehrt nicht mehr zurück. Doch der Frühling kommt wieder, und die Bäume und die Pflanzen grünen und blühen wieder; dieselben Arten erscheinen aufs neue, nur die individuelle Form hat sich geändert.

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Schön leiden zu sehen, welch ein erhebender, rührender, trostreicher Anblick! Häßlich leiden zu sehen, wie unendlich betrübend! Es gibt dem Mitleid einen Zusatz von Geringschätzung für die unausgebildete Seele.

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Ja, so ist es! Die besten Wesen werden immer trauriger, je weiter das Leben vorrückt, weil sie mehr und mehr die unendliche Eitelkeit des Ganzen »l'infinita vanità del tutto«, wie Leopardi sagt, begreifen. Dafür gibt es keine Hilfe. Das Leben der Großen zeigt uns, mit wenigen Ausnahmen, immer dasselbe Schauspiel: die Überzeugung, die sich langsam aus der Erfahrung entwickelt, daß auch die schönsten Werke, die Schöpfungen der erhabensten Begeisterung, nur selige Träume großer Seelen sind und von der Menge unverstanden bleiben, und daß die ideale Reform, die der Genius vollziehen will, wenn sie stattfindet, den Stempel der Vulgarität erhält, den ihr die Berührung mit der Wirklichkeit der Welt aufdrückt. Der idealste Ausdruck, den die Kunst jemals für diese unausbleibliche Traurigkeit gefunden hat, ist der in dem Christuskopf auf dem Abendmahl des Leonardo da Vinci, jene sanfte Bitterkeit auf dem edeln Antlitz, die sagt: »Keiner hat mich verstanden, und einer hat mich verraten!«

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Wer große Schicksale und Schmerzen wahrhaft durchlebt hat und dadurch geläutert und vertieft ist, bei dem wird die edle Scham immer mehr hervortreten, seinen Schmerz vor profanen Augen zu verhüllen, denn der Schmerz hat seine Schamhaftigkeit wie die Liebe. Die weltlichen Menschen, denen es Bedürfnis ist, auch selbst ihre Leiden und Schmerzen an die große Glocke zu hängen, fühlen sich dadurch getroffen und nennen das Kälte, während es doch nur der edle Stolz ist, der sein Allerheiligstes vor Entweihung bewahrt. Denn ist es nicht Entweihung, wenn das innerste Leben der Seele auf offenem Markte bloßgestellt wird?

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Das ganze Leben wird nach und nach Erinnerung, und es ist seltsam, diese innere Welt zu sehen, die mit so vielen geliebten Bildern bevölkert ist, die da ihre Unsterblichkeit gefunden haben, während ihre irdische Erscheinung verschwunden ist, gerade wie das Licht der Sterne, das uns noch zukommt, wenn die Himmelskörper selbst längst zerstört sind.

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Könnte ich wünschen, noch einmal in das Leben zurückzukehren, so wäre es, um noch mehr zu lernen, zu erkennen. In dem Geheimnis dieser Sehnsucht liegt eigentlich der Schwerpunkt des ganzen Lebens und wie eine tröstende Verheißung, daß diese unsichtbaren Flügel der Seele, die Sehnsucht nach Erkenntnis heißen, uns irgendwo an schöne Gestade tragen.

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Das Leben selbst ist des Lebens Zweck. Gelebt zu haben ist unsere Aufgabe. Wie hoch oder wie niedrig man die versteht, ist eines jeden Sache.

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In der Art, die Dinge zu verstehen und aufzufassen, verraten die Menschen am meisten ihre Individualität.

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Die Gewißheit, daß wir das eigentliche Wesen der Dinge erst erleben werden, wenn wir dieses Traumkleid abgestreift haben, wird immer größer in mir und damit die Freudigkeit. Dieses Leben ist zu erbärmlich bedingt, um dem Geistgebornen alles zu sein. Das Leiden kann allerdings bis zu einem gewissen Grad aufgehoben werden durch die Erkenntnis, aber doch nur deshalb, weil wir fühlen, daß etwas in uns ist, was über die Erscheinung hinausgeht. Die Welt wird auch dazu zurückkommen. Das wird das neue Ideal sein, schöner, großartiger, verklärter als das christliche; es wird dem Geiste neue Flügel geben, um schon hier, in diesem Purgatorio, neue Himmel zu entdecken.

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»Bedenken Sie, daß vom Baume der Erkenntnis essen, nichts weiter sagt, als sich zum Kampf für dieses Leben geschickt machen,« schrieb mir heute mein 91 Jahre alter Freund. Wie schön in wenigen Worten die ganze Allegorie der Genesis erklärt!

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Es ist ja wahr, daß das Leben traurig genug ist, und daß die Mehrzahl der Menschen nicht viel taugt! Aber wenn ich einen jungen begabten Mann sagen höre: »Für Neuerungen unter den Menschen, den sogenannten Fortschritt, habe ich nie Begeisterung empfunden, weil das Pack immer gleich erbärmlich bleibt, wie hohe Stelzen man ihm auch verleihen mag« – dann möchte ich immer sagen: sieh doch einmal von der Mehrzahl weg auf die Guten und Bedeutenden, die es doch auch gibt und die beweisen, was möglich ist. In jedem Fall aber, selbst wenn alle Dämonen wären, und man fühlte in sich die Macht des Guten und das Streben nach dem Ideal, so müßte man den Mut haben, der einzige Engel unter Teufeln zu sein.

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Gestern abend hatte ich eine heftige Diskussion mit U . . . Das ist das Unglück der Menschen, die sich einseitig mit den Naturwissenschaften beschäftigen, daß sie den philosophischen Gedanken gar nicht verstehen. Sie sehen immer nur das Greifbare, das Experiment, also das Einzelne, nie aber, wie der Philosoph, den Zusammenhang der Dinge, die ewige Kausalität. Der Streit entspann sich, indem U. behauptete, das Objekt habe seine vollständige Realität auch ohne das erkennende Subjekt, und die Ansicht Berkeleys, daß ohne dieses das Objekt gar nicht existiere, sei vollkommener Unsinn. Er führte mir als Beweis das Mammut an, das man kürzlich in Sibirien, im Eise fast frisch erhalten, ausgegraben hatte, und das da also existiert habe, ohne daß das erkennende Subjekt etwas davon gewußt hätte. Vergebens wandte ich ihm ein, daß das Mammut jetzt erst anfange, Objekt zu sein, nachdem das erkennende Subjekt es wahrgenommen habe, und daß es vorher im Eise so gut wie nicht da war. Er ging so weit, die Wirklichkeit der Welt zu behaupten, wenn auch in alle Ewigkeit nichts als Stein und Pflanze, und kein erkennendes Subjekt da wären.

Doch verstummte er endlich, als ich ihn daran erinnerte, daß er selbst zugestanden habe, in einer früheren Diskussion, daß der Materialismus à la Carl Vogt, Büchner usw. ein völlig überwundener Standpunkt sei, und daß die Naturforschung jetzt die untrennbare Einheit von Kraft und Stoff anerkenne. Dann gab ich ihm meine Ansicht in der herrlichen Fassung Goethes:

  1. Was wär der Schein, wenn er nicht Wesen hätte? Das Wesen wär es, wenn es nicht erschien? die eigentlich schon die ganze Lösung der Frage enthält. Sie ist der tiefsinnige Untergrund des wundervollen, philosophischen Mythus von der Menschwerdung Gottes, denn wenn das erkennende Subjekt Gott nicht Objekt wurde, sich selbst gegenständlich, so existierte es nicht für das Bewußtsein, wäre also tot, gleich nichts. Das Wesen muß erscheinen, um zu sein, sonst wäre es nicht. Beide sind identisch.
  2. Was wär der Stoff, wenn ihm nicht die schaffende Kraft innewohnte, in ewig neuen Kombinationen und Gebilden sich selbst zum Objekt zu machen, und was wär die Kraft, wenn sie im Leeren wohnte und den Stoff nicht hätte, um darin wirksam zu sein? Alles Werdende wäre ja dann die alte Schöpfung aus dem Nichts. Also auch Kraft und Stoff sind identisch. Die Kraft entspringt dem Subjekt, das sich den Stoff gegenständlich macht. Eins ohne das andere wäre nichts.
  3. Endlich: Das Subjekt selbst wäre nicht, wenn es sich nicht zugleich Objekt würde, indem es sich erkennt als den Leib, als die Glieder, als den denkenden, fühlenden Menschen. Ebenso wäre das Objekt nicht, und wenn es Ewigkeiten dauerte, käme das Subjekt nicht, das es erkennt. Das wäre die Welt, über die das erlösende »Es werde Licht« nicht ausgesprochen wäre, das Chaos, das Nichtsein, der Tod.

Wie tiefsinnig ist auch hier der Mythos! Wie begriffen jene wunderbaren dichtenden Denker der Vorzeit das Geheimnis des Daseins! Wie ganz wußten sie, daß Gott selbst sich gegenständlich werden mußte, um Gott zu sein.

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Schon als ganz junges Mädchen dachte ich dasselbe, noch ehe ich irgendeinen Philosophen gelesen hatte. Immer mit Fragen über das Wesen der Welt beschäftigt, sagte ich mir: Ja, Gott mußte schaffen, sich selbst gegenständlich werden, sonst blieb er sich selbst unbewußt. Somit ist das Subjekt das wahre a priori, ohne es wäre keine objektive Welt, aber es muß auch das Anschauen, das Vorstellen haben, sonst wäre es selbst gleich Null.

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Die Basis aller Toleranz sollte die Betrachtung sein, daß die verschiedenen Anschauungen desselben Objekts für die verschiedenen Subjekte, denen sie angehören, jedesmal wahr sind, wie dies z. B. bei allen Religionen der Fall ist.

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Ohne den idealen Genuß, der uns weit vom Tier, vom blinden Zufall und vom bloßen Nützlichkeitsprinzip scheidet, ist das Leben gemein.

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Jedes rechte Leben findet auch seine Erfüllung, trotz dem Unersetzlichen, was verloren geht.

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Wie kann die wunderschöne Legende der Weihnacht entstanden sein? Nicht durch die Apostel, die erst im Mannesalter zu Jesus kamen, nicht durch Maria oder die Hirten, die noch zu naiv und dem natürlichen Vorgang der Geburt zu nahe waren, um darüber zu dichten. Wahrscheinlich fühlte, im Anwachsen des Mythos, der sich nach und nach um die Person des Messias bildete, ein von Jesus begeisterter Gläubiger sich hingerissen, schon den Eintritt des Gottessohnes in die Welt mit allen Wundern himmlischer Teilnahme zu schmücken, wie es schon frühere Religionen mit ihren Stiftern getan. Denn der Mensch liebt es, das Unbegreifliche des Genius mit Wundern zu umgeben, während doch der Genius selbst das Wunder ist.

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Es gibt Dinge in der Natur, deren Anblick beinah auf uns wirkt, wie ein großes Ereignis, die uns befreien von der Last der persönlichen Existenz, indem sie uns dem Unendlichen, dem universellen Dasein vereinen. So ist das Meer.

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Die Flamme des Geistes ist ein wohltätiges, stärkendes Licht, wenn sie im freien Äther der Erkenntnis, ungetrübt von irdischer Sorge, brennen kann. Aber sie wird zum verzehrenden Brand, wenn die Angst um das materielle Dasein sie schürt und nährt. Die Monumente setzt der schöpferische Genius sich selbst; daß er frei sei, sie sich zu setzen, müßte die Sorge seiner Zeitgenossen sein.

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Eine Bekannte frug mich heute: »Glauben Sie, daß die Leidenschaft wirklich nötig ist, große Dinge zu schaffen?« Ich sagte ihr: »Ja, die Leidenschaft für die großen Dinge ist nötig, um sie zu schaffen, aber nicht die persönliche Leidenschaft, die immer egoistisch und exklusiv ist, außer wenn sie zur Leidenschaft für die großen Dinge führt.«

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Die unegoistische Liebe ist ein arger Tyrann; sie zwingt uns mit unwiderstehlicher Gewalt zu immer neuen Opfern; dem Glück kann man entsagen, dem Mit–leiden nicht.

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Die meisten Menschen lieben uns mehr um das, was wir tun, als um das, was wir sind.

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Etwas zu sein ist das beste Mittel gegen das etwas scheinen zu wollen.

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Das Herz schließt endlich seine Pforten zu. Es ist ein Pantheon, in dem schon alle Nischen mit geliebten und verehrten Bildern besetzt sind; für neue ist kein Raum mehr da.

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Der reifende Geist kann einsam sein, und in der Einsamkeit die Fülle des Daseins genießen. Das Herz kann nur selig sein, wenn es das Leben einzelner geliebter und verehrter Menschen oder das von Tausenden schmücken kann. Das wäre auch die wahrhaft schöne und berechtigte Seite des Herrschertums: die Macht zu beglücken, und gerade an dieser Möglichkeit scheitert der Wille. Welch arger Widerspruch! Man müßte an der menschlichen Natur verzweifeln, wenn es nicht gerade ein Beweis wäre, daß keiner ein allmächtiger Gott sein soll unter Menschen, und daß nur Gleichberechtigte eine vernünftige menschliche Einheit bilden können.

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Freundschaft ist persönliche Sympathie ohne Beimischung von Leidenschaft, und daher unegoistisch. Die Definition des Aristoteles: »Freundschaft ist, wenn man alles tut, was der andere will, ohne an sich selbst zu denken«, scheint mir nicht vollständig. In der Freundschaft ist die Erkenntnis tätiger als der Wille; in der Liebe ist es umgekehrt; daher ist in der Freundschaft Ruhe, in der Liebe Unruhe.

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O Stille, Gesegnete! Du, die du allein würdige Stimmungen erzeugst.

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Gewisse Kranke wollen mit großer Rücksicht behandelt sein, man muß Schwächen in ihnen schonen und nicht glauben, sie könnten sie überwinden. Daß sie es nicht können, ist eben ein Teil ihrer Krankheit. Besonders können manche Kranke es nicht ertragen, daß man an ihrer Krankheit zweifelt, da sie sich selbst für kränker halten als alle anderen. Aber auch zartfühlenden Naturen ist dies, wenngleich aus anderen Gründen, empfindlich, da sie andere nicht gern mit der Erzählung ihrer Leiden plagen und doch den Anforderungen, die man an Gesunde macht, nicht genügen können.

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Dem Freigeist kann man keine Gebote vorschreiben, sonst ist er ja nicht mehr Freigeist. Er erkennt auch Gesetze an, aber im Geiste des Solon, die sich mit steigender Erkenntnis ändern und verbessern lassen.

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Man vergleiche die Gesichter von Savonarola und Luther. In ihnen spricht sich schon der ganze Unterschied der deutschen und italienischen Reformation aus. Der südliche Reformator bleibt Fanatiker, quand même; Luther bleibt derb, schlicht, energisch, aber nicht fanatisch.

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Das Verbot des Vaters der Schwanenjungfrauen an seine Frau, nicht zu fragen, wer er sei, ebenso das Verbot Lohengrins, sind sie nicht verwandt mit dem Verbot im Paradies, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen? Nur nicht erkennen, besonders die Frau nicht, von alten Zeiten her. Wer ist der Neidische, der es verwehrt? Ein Mann.

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Der Idealist allein hat den Glauben, der Berge versetzen kann, weil in ihm der Wille schon auf seine Verneinung gerichtet, sich mit aller Kraft auf die Verwirklichung des Ideals wendet, und ihm den Mut gibt, auszuharren, bis er sein Ziel erreicht. Er hat daher vielleicht weniger innere Kämpfe, als andere, weil ihm sein Weg unabänderlich vorgezeichnet ist. Er leidet aber tiefere Schmerzen durch den Widerstand der ideallosen Welt.

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Gregorovius sagt einmal, die großartigste aller Legenden sei die von Moses, der von der Höhe aus unten das gelobte Land erblickt, und dann stirbt. Alle Idealisten erleben diese Legende; der Geist führt sie auf die Höhe, wo sie ihr Land der Verheißung erblicken, aber erreichen tun sie es nicht.

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Im Jahre 382 nach Christi schrieb der heilige Augustin: »Nihilisti apellantur quia nihil credunt et nihil docent.« (Nihilisten genannt, weil sie nichts glaubten und nichts lehrten.) Er sprach von einer Gesellschaft, deren Zweck Verneinung und Vernichtung alles Bestehenden war. Also ist auch das nichts Neues, nur das Dynamit ist ein moderner Zusatz.

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Die Greuel der Reaktion in Neapel nach 1799 sind so abscheulich, daß sie allein schon ein jüngstes Gericht verdienten, und keine Flammen der Hölle heiß genug wären für solche Unmenschen, wie König Ferdinand, Maria Carolina, Acton und Genossen. Die Vernichtung wäre ein zu großes Glück für solche Wesen. Die müssen braten in ewiger Qual!


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