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Madame Schwabe hatte ein schönes Haus mit Garten in London genommen, und dahin begaben wir uns zunächst. Ich sagte ihr nun, welche Aufforderung von seiten Herzens an mich ergangen und wie die alte Liebe zu dem Kinde, das ich von so frühem Alter an gepflegt und behütet, wieder alles andere in mir überwiege und mich bestimme, Herzens Vorschlag anzunehmen. Sie war sehr betrübt darüber, denn sie hatte gehofft, ich würde bei ihr bleiben. Ich war ihr persönlich sehr zugetan und schätzte ihre edlen Bestrebungen, ihren unermüdlichen Eifer für das Wohl anderer und für gemeinnützige Zwecke, ihre wirkliche Aufopferungsfähigkeit. Aber zunächst war mir das alles, ihre Tätigkeit sowohl wie die Verhältnisse, in denen sie lebte, zu geräuschvoll, zu sehr mit Äußerlichkeiten verbunden, die meinem innersten Wesen widerstrebten. Dann aber hatte ich längst eingesehen, daß zwischen ihren Kindern und mir kein wirklich fruchtbringendes Verhältnis entstehen konnte. Der Same, den ich säen wollte, konnte da unmöglich aufgehen. Alle diese Kinder waren durch ihre Erziehung und ihr Naturell vorbereitet, sehr nützliche, angenehme, allgemein beliebte Mitglieder der reicheren Klasse, der sie angehörten, zu sein. Was hatte ich da zu tun? Die gingen unabänderlich ihren Weg – die breite, wohlgeebnete Straße der in dieser Welt komfortabel eingerichteten Menschheit. Ich konnte nur denen etwas sein, nur die richtig leiten, die den schmalen Pfad der Einsamen auf Erden gehn, die mehr nach den Sternen sehen, als nach den Kronleuchtern eines Ballsaals, die den Offenbarungen des Genius mehr vertrauen als der offiziellen Moral der Welt. Madame Schwabe schlug mir vor, Olga fürerst zu holen und sie in ihrem Hause einige Zeit bei mir zu behalten, um zu sehen, ob sich nicht ein gemeinsames Leben organisieren ließe. Ich fuhr also aufs Land hinaus, wo Herzen noch wohnte, ward freundlichst empfangen, erhielt Erlaubnis, Olga mitzunehmen, und fuhr mit ihr in die Stadt zurück. Dieses liebe Kind war so glücklich, bei mir zu sein, freute sich so seelenvoll über jeden kleinsten Umstand dieses Erlebnisses, das wie ein Unerwartetes, Verheißungsvolles in ihr Leben trat, daß es mich innigst rührte. Ich fühlte, daß das Schicksal uns beide einander zugewiesen und mir die heilige Aufgabe der Mutter im höchsten ethischen Sinn an einem Wesen vorbehalten habe, das von vornherein das Herz gefangen nahm durch den Zauber, den die Natur ihm mitgegeben, das ich bereits so sehr geliebt und um das ich schon so viel tiefen Schmerz gelitten hatte. Von da an stand mein Entschluß fest, dieser Aufgabe die letzte Kraft meines Lebens zu weihen und sie der höchsten Auffassung des mütterlichen Berufs gemäß zu erfüllen. Es sollte mir vom Schicksal gegeben werden, auch diesen Teil meines Lebensprogramms, um das ich so viel gekämpft, so viel geopfert hatte, erfüllen zu können. Daß die Frau um ihrer heiligsten Überzeugung willen einen ebenso treuen Kampf kämpfen und um ihretwillen die Schranken der Verhältnisse durchbrechen könne, so gut wie der Mann – diese meine Ansicht war nicht Theorie geblieben, ich hatte sie verwirklicht. Daß ferner die Frau auf sich selbst ruhen und sich eine ehrenhafte Stellung durch Arbeit und achtunggebietendes Leben erwerben könne – auch hierin war ich meinen ausgesprochenen Grundsätzen treu geblieben. Zum zweitenmal legte es endlich das Schicksal in meine Hand, das beim erstenmal unterbrochene Werk in der Familie der freien Wahl fortzusetzen, und zwar nun speziell das mütterliche. So durfte ich auch hier beweisen, daß auch die unverheiratete Frau den ausschließlich sogenannten weiblichen Beruf, die Walterin des häuslichen Lebens, die Mutter aufblühender Jugend zu sein, erfüllen kann – daß daher keineswegs wie bisher der Gedanke an die Ehe den jungen Gemütern eingepflanzt und als das Ziel des Lebens für die Frau von klein auf hingestellt zu werden braucht. Diese unheilvolle Ansicht, die die meisten Mütter noch vertreten, muß aufgehoben werden. Das Mädchen muß, so gut wie der Knabe, von vornherein die größtmögliche Entwicklung seiner Fähigkeiten, das Streben, aus sich selbst ein möglichst vollendetes Wesen zu machen, als seine Aufgabe betrachten. Wie auch die äußeren Verhältnisse sein mögen, ein jedes Mädchen sollte eine Spezialität haben, durch die es selbständig oder, im Fall dies nicht nötig ist, anderen nützlich sein könnte. Die nächste Aufgabe eines jeden Wesens sollte es sein, aus sich selbst ein Kunstwerk zu machen. Wie sehr würde dadurch in den meisten Fällen all das unnütze, oft so häßliche Spielen mit den Gefühlen wegfallen, die Selbsttäuschung und das Andere-täuschen, wie es jetzt von den jungen Mädchen nur zu oft geübt wird. Wie sehr würde aber auch die Zahl der leichtsinnig geschlossenen Ehen und damit all das Unglück, das die Folge davon ist, sich vermindern. Kommt dem entwickelten Charakter, dem in sich ruhenden Wesen, die wahre Liebe als Blüte und Krone des Lebens dazu, nun wohl dem Glücklichen! Das Mädchen aber, das diese wahre Liebe nicht findet, soll sich nicht um jeden Preis in die Ehe stürzen, die dann weiter nichts ist als Prostitution. Sie soll arbeiten oder das Mütterliche in ihrem Herzen befriedigen durch die Sorge für andere Kinder, die ihr gerade so teuer werden können wie eigene. Nur das schönste Verhältnis des Lebens nicht entweihen, nicht heruntersinken lassen zu der Gemeinheit und Banalität, zu der es in den meisten Fällen gesunken ist! Ein widriges Zeugnis der Brutalität oder der Gleichgültigkeit der Mehrzahl der Menschen, und die große Quelle der meisten Übel in der Familie, der Gesellschaft, dem Staat.
Ich blieb noch einige Wochen mit Olga im Hause der Madame Schwabe. – Manche interessante Persönlichkeiten gingen aus und ein; unter anderen sah ich dort Grote, den berühmten Verfasser der Geschichte Griechenlands, und seine sehr originelle Frau. Es war eigentlich ein beständiger Wirbel von Gesellschaften, Mittagessen, Besuchen usw. Mir wurde es viel zu viel, und ich sehnte mich nach Stille und Konzentration. Was mich einzig anregte und befriedigte, war die Hilfe, die durch meine Vermittlung auf die Schlachtfelder von Neapel, an Garibaldis heroische Scharen gesendet wurde. Ich erhielt nämlich einen Brief von Jessie White Mario, die dem Heere Garibaldis in mutiger Treue folgte und die Verwundeten pflegte. Sie forderte mich auf, in England für Zusendung von solchen Gegenständen, wie man sie für Verwundete braucht, tätig zu sein. Madame Schwabe, immer bereit zu helfen, wo leidende Menschen Hilfe bedurften, und durch ihre vielfachen Verbindungen imstande, Hilfe im großen Maßstab zu schaffen, nahm die Sache in die Hand. Bald gingen Kisten voll Matratzen, Zelte, Verbandmaterial und was sonst noch nötig, zu Schiff nach Neapel ab. Die heroische Unternehmung Garibaldis und seiner Tausend war es überhaupt, die jener Zeit ein tiefes, poetisches Interesse verlieh. Dieser Zug nach Sizilien war wie eine Erzählung des Homer – ein Epos von jener Heldenhaftigkeit, jenem phantastischen, alles aufopfernden Patriotismus verklärt, der auch Blut und Wunden und geopfertes Menschenleben mit einer Glorie umgibt.
Ich erklärte endlich Madame Schwabe, daß ich die Fortsetzung des bisherigen Zusammenlebens untunlich finde, da ich beschlossen habe, den Rest meines Lebens Olgas Erziehung zu widmen, Herzen sie aber keinesfalls mit nach Wales und Manchester, wohin Madame Schwabe bald zurückzukehren gedachte, gehen lassen würde, endlich auch die Art des Lebens im Hause mir nicht gestatte, die Erziehung in meinem Sinn zu leiten. Ich setzte hinzu, daß ich es immer vorzöge, eine Sache ganz zu tun, wenn sie auch nach außen weniger erscheine, als vieles Glänzendere nur halb. Ich erbat mir von Herzen die Einwilligung, mit Olga voran an das Meer zu gehen, wohin auch er mit dem übrigen Haushalt zu kommen gedachte.
Dann schied ich von Madame Schwabe in freundschaftlichster Weise und gegenseitigem Wohlwollen. Ein junges deutsches Mädchen, das von Hamburg herübergekommen war, um sich als Erzieherin eine selbständige Stellung zu schaffen, dazu mir noch zu jung schien, mir aber durch sein verständiges, charaktervolles Wesen sehr gefiel, erbat ich mir von Herzen als Gehilfin bei Olga. Leider ward mir die zweite Pflegetochter nicht zuteil. Hodge hatte sich vergebens bemüht, die Witwe Orsinis dazu zu bestimmen, ihm die Tochter zu überlassen. Er war eigens dazu nach Italien gereist; da er aber keine legalen Mittel hatte, mußte er die Sache endlich aufgeben. Ich fuhr mit Olga und Marie nach einem Ort an der Küste, wo ich bisher noch nicht gewesen, dessen wilde Schönheit und große Stille mir aber gerühmt worden war. Hier verlebte ich ein paar Wochen, mit der Beobachtung der Natur des Wesens, dessen Obhut nun mein heiligstes Ziel geworden war, beschäftigt. In der Zeit, in der ich sie nicht um mich hatte, schrieb ich an einem Roman, der schon lange begonnen war, in dem wenig konzentrierten Leben der letzten Zeit aber nicht hatte vollendet werden können. Nach einigen Wochen kam auch Herzen mit dem Sohn und der älteren Tochter. Ich hatte ein schönes Haus auf hohen Klippen, an deren Fuß die Brandung schäumte, ausgesucht, und hier umfing uns wieder der alte Frieden von ehedem, da kein störendes Element zugegen war und ich ruhig meine eignen Ideen mit dem Kinde verfolgen konnte, denn die ältere Schwester war bereits über das Alter der eigentlichen Erziehung hinaus. Mehrere interessante russische Besuche, unter anderen Turgenieff, brachten eine angenehme Abwechslung in das Leben, obgleich es deren für mich nicht bedurfte. Ich war wieder ganz befriedigt. Die düster schöne, wilde Natur des Ortes, der damals erst im Entstehen war, und die unbegrenzte Freiheit des Lebens, die keine Konvenienz, keine gesellige Verpflichtung störte, gaben mir ein tiefes inneres Behagen. Die Beschäftigung mit der Jugend füllte meinen Tag aus. Der Abend war wieder, wie ehedem, interessanten gemeinschaftlichen Lektüren mit Herzen geweiht. Nur ein Mangel machte sich noch tiefer als sonst fühlbar: der Mangel des Musikalischen in unserem Leben. Seit Paris, seit Wagner, hatte die Sehnsucht nach diesem einzigen Element, das aus einer andern Welt als der Welt der sogenannten Wirklichkeit zu uns spricht, wieder überhand in mir genommen. Von frühester Kindheit an war diese Sprache die eigentliche Sprache meines innersten Lebens gewesen. Ich war nie zu großer Virtuosität in der Ausführung gelangt, aber was Bestes in mir sich bewegt hatte, das war mit Tönen verwandt. Ich war fast nie, ohne innerlich von irgendeiner Harmonie, einem inneren Gesang begleitet zu sein. Auch wenn ich über anscheinend gleichgültige Dinge sprach, tönte irgendeine schöne Weise in mir fort. Wie oft in jungen Jahren, wenn am Abend im häuslichen Kreis meine Schwester (die viel besser spielte als ich) Beethoven oder Mozart vortrug, ging ich im Zimmer auf und ab, weil ich meiner leidenden Augen wegen nicht arbeiten konnte, und während jener Klänge dehnten sich mir die engen Zimmerräume zu hohen Tempelhallen aus. Dann vernahm ich Offenbarungen, die mich trösteten über die Banalität meines Lebens, mir wuchsen Schwingen, die mich aus den Schranken des gebrechlichen Körpers und der mit dem Oberflächlichen beschäftigten Welt hinaushoben und mich eine edlere Existenz ahnen ließen. Ich habe schon gesagt, wie mir wurde, als ich in Paris Wagners Werke hörte. Nun war es mir aufs neue klar, daß ein Leben ohne Musik ein dürftiges sei, eine Wanderung durch die Wüste ohne die Erquickung des himmlischen Manna. In Olgas Seele die Empfänglichkeit für jenes Manna zu nähren, war ein Hauptzweck meiner Erziehung. Aber gewiß nicht in der stumpfsinnigen Weise eines äußern Virtuosentums, wodurch meistenteils bei der Erziehung mehr Schaden als Nutzen gestiftet wird. Wem keine inneren Harmonien tönen, den wird man sich vergeblich bemühen, zum musikalischen Menschen zu machen. Darauf allein aber kommt es an, wenn man nicht Musiker von Fach ist, also ein Instrument in technischer Vollkommenheit lernen muß. Im Gegenteil, ich habe es schon an einem andern Ort gesagt, es wäre ein Segen für die Gesellschaft, wenn es weniger ausübende Dilettanten gäbe und mehr musikalische Menschen, wenn die Meisterwerke Beethovens, Bachs, Mozarts und anderer nicht bis zum Überdruß in stümperhafter Weise gehört würden, wenn die Menschen nur mehr angeleitet würden, große, vollendete Aufführungen zu empfinden und ethisch auf sich wirken zu lassen.
Natürlich war das Musizieren mit Olga noch nicht geeignet, mir Genuß zu gewähren. Außer dieser Entbehrung aber war der Aufenthalt ein sehr wohltuender und verlief in vollem Frieden. Herzen hatte mir sein Wort gegeben, mich mit Olga für den Winter nach Paris zu entlassen. Ich blieb fest bei diesem Vorsatz, da mich, außer meiner Gesundheit, die Aufführung des Tannhäuser unwiderstehlich dahin zog. Zudem kehrten im Winter auch alle jene Elemente in das Haus zurück, mit denen ich nun bereits mehreremal ein Zusammenleben als unmöglich für mich und Olga erkannt hatte. Herzen wünschte jedoch seine älteste Tochter im Hause zu behalten und eine passende Begleiterin für sie zu finden. Ich schlug ihm die von mir so sehr geliebte und von ihm hochgeschätzte Emilie Reeve vor, die ich in jeder Weise für geeignet hielt, einem erwachsenden Mädchen als geistiger Vormund zur Seite zu stehen. Zugleich hoffte ich auch, ihr dadurch die Wohltat zu erzeigen, aus ihrem engen Kreis herauszutreten in eine ihr geistig ebenbürtige Welt. Herzen ging freudig auf den Vorschlag ein, und ich schrieb demnach an Emilie, die es hoch entzückt annahm. Als ich Herzen die bejahende Antwort mitteilte, sagte er mit inniger Befriedigung: »Ich bin doch ein glücklicher Mensch; meine zwei Töchter in solchen Händen – was kann ich mehr wünschen?«
Wir kehrten nach London zurück. Ich nahm Abschied von den Freunden und schiffte mich zum zweitenmal nach Frankreich ein, mit Olga und der jungen eben erwähnten Deutschen. Es tat mir leid, Herzen und Natalie zu verlassen, aber ich hoffte, gut für sie gesorgt zu haben durch Emilie Reeves Aufenthalt im Hause. Das Kind aber, das ich mit mir nahm, war ja nun der Gegenstand, dem ich mein Leben weihen wollte. Darum versank jedes andere Bedauern in der Befriedigung, sie mit mir zu haben und nun »hinter allem Regen, allem Treiben, den geliebten Zweck zu sehn, der endlich lohnt«.
Ich richtete uns in Paris ein. Nicht in Luxus und großem Stil, wie im vorigen Jahr mit Madame Schwabe, sondern sehr bescheiden in einem vierten Stock, hoch über der lärmenden Pariser Welt, aber mit dem Blick auf die grünen Bäume des Tuileriengartens. Als wir eingerichtet waren, ging ich zu Wagners. Ich fand sie nicht mehr in dem freundlichen Häuschen vom vergangenen Winter, sondern in einem zweiten Stock, in einem großen, von vielen Menschen bewohnten Haus, in einer der geräuschvollsten, dunklen Straßen von Paris. Der Wechsel hatte aus pekuniären Rücksichten stattfinden müssen. Es schnitt mir tief in das Herz, das zu sehen. Ich fühlte, wie schrecklich es für Wagner sein mußte, in einer so unsympathischen Wohnung zu weilen. Als ich hinkam, hörte ich schon von außen, daß musiziert wurde. Ich wurde in den Saal geführt; Frau Wagner kam mir entgegen, hieß mich flüsternd willkommen und bot mir einen Sitz an, auf den ich mich schweigend niederließ. Wagner selbst war am Flügel mit einer jungen Sängerin beschäftigt, die den Gesang des Hirtenknaben aus dem Tannhäuser studierte. So kam ich denn gleich zu den ersehnten Studien. Nach beendigter Probe kam Wagner auf mich zu, bewillkommte mich herzlich und sagte: »Wie gut, daß Sie gekommen sind! Eine bessere Aufführung wie die hiesige werden Sie nie hören; sie wird ausgezeichnet.«
So teilte sich nun mein Leben zwischen meinen häuslichen Beschäftigungen mit Olga und meinen Besuchen bei Wagners. Leider verstand ich es immer tiefer, daß der Freund in seinen ehelichen Verhältnissen nicht glücklich war. Es war mir schon im vergangenen Winter klar geworden, daß seine Frau wenig zu ihm passe, daß sie nicht imstande war, ihn über die vielen Mißverhältnisse und die Ungunst seiner Lebenslage zu erheben oder sie mit Seelengröße und weiblicher Anmut versöhnend zu mildern. Dem so ganz von seinem Dämon Beherrschten hätte von jeher ein hochgesinntes, verständnisvolles Weib zur Seite stehen müssen – ein Weib, die es verstanden hätte, zwischen dem Genius und der Welt zu vermitteln, indem sie begriffen hätte, daß diese beiden sich ewig feindlich zueinander verhalten. Frau Wagner hatte dies nie erkannt. Sie wollte vermitteln, indem sie von dem Genius Konzessionen an die Welt verlangte, die dieser nicht bringen konnte, nicht bringen durfte. Aus dieser gänzlichen Unfähigkeit, das Wesen des Genius und die daraus entspringenden Folgen in seinem Verhältnis zur Welt zu begreifen, entstand nun fast tägliche Pein und Qual im Zusammenleben, das durch die Kinderlosigkeit der Ehe auch noch des letzten versöhnenden und mildernden Elements entbehrte. Dennoch war Frau Wagner eine gute Frau und in den Augen der Welt entschieden der bessere und der leidende Teil von den beiden. Ich unterschied anders und empfand ein grenzenloses Mitleid mit Wagner, dem die Liebe hätte die Brücke bauen müssen, über die er zu den andern Menschen hinüberschritt, und dem sie statt dessen den bitteren Kelch des Lebens noch bitterer machte. Ich stand übrigens recht gut mit Frau Wagner, sie war freundlich und vertrauensvoll mit mir und kam oft, mir ihr häusliches Leid zu klagen. Ich tat dann, was ich konnte, um sie zu einem bessern Verständnis ihrer Lebensaufgabe zu bringen, allein natürlich vergeblich. Es war ihr in fünfundzwanzigjähriger Ehe nicht aufgegangen und konnte es auch nicht, eben ihrer innersten Natur nach. Oft sprach ich mich über diesen Gegenstand mit Blandine Ollivier, der Tochter Liszts, aus, mit der ich die vorjährige Bekanntschaft erneuert hatte und die ich öfter besuchte. Dieses holdselige Wesen zog mich am meisten an unter all den Frauen, denen ich in Paris begegnete. Sie verband die Grazie der Französin und einen feinen, witzigen, fast sarkastischen Geist mit einem tiefen, seelischen, weiblichen Element, das, im Verein mit ihrer edlen Erscheinung, sie unwiderstehlich anziehend machte. Sie war mit Wagner, als dem Freunde ihres Vaters von Kindheit auf bekannt. Wir trafen einander oft in seinem Hause und waren beide der Ansicht, daß wohl kaum je zwei unpassendere Menschen zu einem so engen Bunde zusammengeführt worden seien.
Was mir nun nächst der Aufführung des Tannhäuser am meisten am Herzen lag, das war, endlich mit der Philosophie Schopenhauers bekannt zu werden. Ich teilte dies Wagner mit, und er war so gütig, mir das große Werk des Philosophen, »Die Welt als Wille und Vorstellung«, nicht nur zu leihen, sondern zu schenken, da er zwei Exemplare davon besaß. Nun saß ich oben in meinem Adlernest, wie ich es nannte, hoch über dem bunten Treiben von Paris, und wenn ich nicht mit Olga beschäftigt war, so las ich in Schopenhauer und war selig. Es fiel wie Fesseln von mir ab. Für alles, was sich seit Jahren in mir vorbereitet und durchgekämpft hatte, was sich in immer größerer Deutlichkeit in mir entwickelte, fand ich nun hier den wahren geistigen Schlüssel. Durch die Erklärung Schopenhauers vom »Willen« fiel mit einemmal all der unerklärliche und widersinnige Dualismus weg, den die christliche Anschauung von der Freiheit des Willens und dabei seinem ewigen Gebundensein durch göttliche Vorherbestimmung aufgestellt hat. Die Phänomene der Erscheinung wurden klar. Ich sah nun überall das gespenstisch unheimliche, bestialisch wilde Element des Urwesens in der Erscheinung, ehe es durch die Einsicht von der Notwendigkeit der Verneinung des Willens zum Leben erlöst wird. Die »Verneinung des Willens zum Leben« – dieses Wort, das mich einst so wunderlich betroffen hatte, als ich es in London zuerst von Wagner hörte – jetzt war mir sein Sinn aufgetan. Ich begriff, daß es längst in mir ein natürlich Waltendes gewesen war, schon in früher Jugend, als ich mit der christlichen Askese Ernst machen wollte. Ich sah nun klar, daß dieser Kampf zwischen dem Willen zum Leben und seiner Verneinung überhaupt der Kampf meines ganzes Lebens gewesen war. Zum zweitenmal ging es mir wieder hell auf, das: »Erlöse dich selbst!« Der gebundene Gott in uns muß sich befreien aus den Schranken der Individuation, in die ihn der ungestüme Drang zum Leben gebannt hat. Das lange, qualvolle Ringen des Daseins hat keinen andern Sinn, als den der Auferstehung nach dem Kreuzestod, an dem das Ich, das Persönliche stirbt, um als Universelles fortzuleben. Nur wer das christliche Symbol so versteht, hat es recht verstanden. Das Leiden des Daseins hat von je die großen Erlöser hervorgebracht. Buddha, Christus und alle, die nach ihnen in heiligem Mitleid es versuchten, die Menschheit über die eigentliche Natur des Daseins und seinen Zweck aufzuklären, haben nichts anderes gemeint, als das große Ideal der Erlösung hinzustellen für alle Zeit. Sie wollten im edelsten Symbol den Weg zeigen, der aus dem in Armut, Krankheit, Tod und Sünde gebundnen Elend des Daseins hinausführt in die Freiheit der Kinder Gottes, in das Nirwana, das »Nichtwahnland« derer, die den Schein überwunden haben.
Durch Schopenhauer lernte ich auch Kant erst verstehen. Vor allem aber gewann ich durch ihn die Liebe zu jenen Urvätern unseres Geschlechts, jenem wunderbaren Volk im Osten, das am heiligen Strome unter Lotos und Palmen, das tiefsinnige Geheimnis von der Einheit alles Seins längst vor aller europäischen Kultur gekannt und vielleicht mehr als irgend ein Volk seine philosophische Weltanschauung in seinem Leben zu verwirklichen gestrebt hat. Sehnsuchtsvoll zog es mich fortan, alles zu erfahren, was auf jene heilige Urzeit Bezug hatte, und ich segnete von nun an jeden Abend beim Schlafengehen Olga mit dem großen Worte der Vedas: »Tat wam asi.«
Inzwischen gingen die Proben des Tannhäuser vorwärts, und Wagner forderte mich auf, in die erste vollständige Orchesterprobe zu kommen. Es waren nur wenige Bevorzugte im großen Opernhause gegenwärtig, von Damen nur Wagners Frau und ich. So hörte ich denn zum erstenmal vollständig vom Orchester diese Musik, die so lange das Ziel meiner Sehnsucht gewesen war, und ich war davon ergriffen wie von etwas Heiligem, davon berührt wie von dem Hauch der Wahrheit. Es ging auch alles wunderschön, und nach dem herrlichen Sextett, wo die Minnesänger den wiedergefundnen Tannhäuser begrüßen, erhob sich das Orchester wie ein Mann und brachte Wagner ein freudiges Hoch der Begeisterung aus. Es war 1 Uhr in der Nacht, als die Probe zu Ende war. Wagner war freudig erregt, weil alles so Herrliches zu versprechen schien, und forderte mich und seine Frau auf, in der Maison d'or des Boulevard des Italiens ein Abendbrot einzunehmen. Wir saßen in einem kleinen Zimmer für uns allein. Es war eine schöne Nachtstunde, die der herrlichen Probe folgte. Wagner erzählte uns, wie er der jungen Marie Sachs, die er ihrer prächtigen Stimme wegen für die Elisabeth gewählt hatte, obgleich sie noch ganz Anfängerin war, diese idealisch schöne Partie erklärt habe; unter anderem die Stelle, wie sie mit stummer Gebärde auf die Anfrage Wolframs, ob er sie begleiten dürfe, zu antworten habe: »Ich danke dir für deine zarte Freundschaft, aber mein Weg geht dorthin, wohin mich keiner begleiten kann.«
Hätte es noch eines Beweises für mich bedurft, so hätte es mir jene Nacht klar gemacht, daß allein das höchste Kunstwerk uns den Schmerz des Lebens verklären kann. Die Erlösung durch die Verneinung des Willens zum Leben ist ein schmerzvoller Kampf; allein im tragischen Kunstwerk, im bewußten Wahn, wird der Schmerz zur Verklärung und wir sehen, daß nur das Leben heroischer und darum tragischer Menschen Wert hat, denn das allein kann Gegenstand der Kunst sein. – Indes kurz nach dieser Probe trübten sich leider die Aussichten auf ein schönes Gelingen. Die schadenfrohen Kobolde, die so gern einen idealen Moment im Menschenleben vereiteln, waren geschäftig und bliesen von allen Seiten Wolken des Mißmuts, des Neids, der Ungunst auf. Politische Grübler waren unzufrieden, daß es die Fürstin Metternich war, die zunächst die Einführung des dem französischen Temperament so ganz fremden Kunstwerks veranlaßt hatte. Die Presse war unzufrieden, weil Wagner nicht, wie Meyerbeer und andere getan, den Rezensenten diners fins gab, um ihren Geschmack im voraus zu bestechen. Die Claque, die sonst von jedem Komponisten förmlich engagiert wurde, war von Wagner geradezu verbannt und schäumte natürlich vor Wut. Auch im Orchester entstanden Parteien, besonders war der sehr unfähige Dirigent feindlichen Sinnes geworden. Wir, die Freunde und Anhänger, beklagten es tief, daß Wagner anfangs abgelehnt hatte, selbst zu dirigieren, wie wir alle es sehnlich wünschten. Endlich aber – und dies war die Hauptsache – waren die jungen Pariser Löwen, die Herren des Jockey-Klubs, empört, daß kein Ballett in der gewöhnlichen Form und zu der gewöhnlichen Zeit, d. h. im zweiten Akt, stattfinde. Es war notorisch, daß die Ballettdamen eine Erhöhung ihrer Gage von diesen Herren erhielten, und daß die letzteren gewohnt waren, nach beendigtem Diner in die Oper zu gehen, nicht um Harmonien zu hören, sondern um die unnatürlichste und scheußlichste Ausgeburt der modernen Kunst, das Ballett, zu sehen, nach dessen Beendigung sie sich hinter die Kulissen zu näherem Verkehr mit den springenden Nymphen begaben. Was lag diesen vornehmen Wüstlingen an der Aufführung eines keuschen Kunstwerks, das den Sieg der heiligen Liebe über den Sinnenrausch feiert? Oder vielmehr es lag ihnen nicht nur nichts daran, sondern sie mußten es von vornherein, noch ehe sie es gehört hatten, hassen und verdammen. Es war ja das Gottesurteil ihrer inneren Gemeinheit, ihrer maßlosen Verdorbenheit. Von diesen ging denn auch die Hauptintrigue unter denen, die sich zum Falle der Aufführung vorbereiteten, aus. Sie hatten die Gemeinheit, sich im voraus kleine Pfeifen zu kaufen, mittels deren sie ihr Kunsturteil abgeben wollten. So zogen sich die Wolken immer drohender zusammen, und mit Bangen ging ich in die Generalprobe, in die ich auch Olga mitnahm, weil ich wollte, daß sie am Größten und Schönsten die Kunst lieben lernen sollte. Die Probe ging ohne äußere Störung vor sich. Das zahlreiche Auditorium bestand zum größten Teil aus Freunden, unter denen die Fürstin Metternich sich mit lebhaften Beifallsbezeugungen hervortat. Mir war es ein himmlischer Abend, denn mir brachte er das Längstersehnte, und obwohl ich fühlte, daß vieles in der Ausführung zu wünschen übrig blieb und daß sie Wagner nicht befriedigen würde, so war manches doch sehr schön, so die Elisabeth von der Sachs, und ich hatte doch nun einen Eindruck des Ganzen, der meine Ahnung bestätigte. Auch auf die kleine Olga wirkte der Zauber, wie ich gehofft; sie saß in Andacht und Begeisterung versunken, ohne zu ermüden, obgleich es spät in der Nacht war, als die Probe endete. Beim Herausgehn traf ich Wagner, der auf seine Frau wartete. Ich sah es an den Wolken des Unmuts auf seiner Stirn, wie wenig er befriedigt war, wie wenig er von dieser Aufführung den Sieg über die feindlichen Mächte hoffte. Ein Tag aufregender Erwartung verstrich, dann kam der Tag der Aufführung. Ich war mit befreundeten Damen und Czermak in einer Loge. Die Ouvertüre und der erste Akt verliefen ohne Störung, und obwohl die Anordnung des gespenstischen Götterreigens im Venusberg weit hinter Wagners Idee zurückblieb und die drei Grazien im rosa Ballettkleid erschienen, so war es doch so, daß ich aufatmete und hoffte, die Befürchtungen würden zuschanden werden. Aber bei der Wandlung der Szene, bei dem hinreißend poetischen Wechsel aus dem wüsten Bacchanal da unten in die reine Morgenstille des Thüringer Waldtals, bei den Klängen der Schalmei und des Hirtenliedes, brach plötzlich der lang vorbereitete Angriff aus, und ein gewaltiges Pfeifen und Lärmen unterbrach die Musik. Natürlich blieb auch die Gegenpartei nicht untätig, d. h. die Freunde und der Teil des Publikums, der ruhig hören und dann entscheiden wollte. Da sie numerisch doch die stärkere war, behielt sie auch den Sieg, die Aufführung ging weiter, die Sänger blieben unerschrocken und taten ihr Bestes. Allein es dauerte nicht lange, so fing auch der Lärm wieder an. Ebenso der Protest der Gutgesinnten, die auch schließlich immer den Sieg behielten, so daß die Aufführung völlig zu Ende kam. Aber freilich, sie war so grausam gestört und zerstückelt, daß auch den Wohlwollendsten nicht die Möglichkeit geworden war, sich eine richtige Vorstellung des Ganzen zu bilden. In welcher Aufregung und Empörung ich war, ist kaum zu sagen; aber auch die andern Gutgesinnten waren in einem ähnlichen Zustande. Czermak war so wütend, daß er nur mit Mühe zurückgehalten werden konnte, sich an einigen der Hauptanführer tätlich zu vergreifen. Die Herren hielten nämlich gar nicht zurück mit ihren boshaften Machinationen, sondern saßen recht geflissentlich sichtbar, in ihren mit Glacéhandschuhen bedeckten Händen die kleine Pfeife haltend, die dann auf ein gegebenes Signal die schrillen Töne hervorbrachte.
Am folgenden Tage ging ich zu Wagners. Ich fand ihn männlich gefaßt, und so sehr war dies der Fall, daß auch die wütendsten Journale in dem Kampf, der gleichzeitig in der Presse entbrannte, es bekannten, daß er sich am Abend der Aufführung dem Sturm gegenüber auf das würdevollste verhalten habe. Er wollte die Partitur zurückziehen und eine zweite Aufführung verhindern, denn er hatte mit richtigem Blick erkannt, daß mit diesem Publikum der großen Oper an keinen wahren Erfolg zu denken sei. Wir alle, die näheren Freunde, die ihn umgaben, stimmten dagegen und für die Wiederholung, da wir bestimmt hofften, daß die Sache durchdringen müsse. Wir gaben uns in unserer leidenschaftlichen Erregung keine Rechenschaft darüber, daß dies jetzt eigentlich geradezu eine Unmöglichkeit war.
So kam die zweite Aufführung heran. Die feindliche Partei hatte sich noch entschiedener gerüstet, aber ebenso auch die der Freunde. Der Kampf wurde ein noch viel erbitterterer als das erstemal. Ich war mit Wagners Frau und der oben erwähnten ungarischen Dame in einer Loge. Neben uns waren Franzosen, die sich besonders durch Pfeifen, Zischen und Schreien hervortaten. Ich war völlig außer mir vor Empörung und machte nun auch laut, in französischer Sprache, meinem Zorne Luft. »Das ist das Publikum, das sich anmaßt, der Welt vorzuschreiben, was Geschmack, was schön und vortrefflich sei? Ein Haufen von Straßenbuben ist es, der nicht einmal Lebensart genug hat, Leuten, die anders denken, Ruhe und Muße zum Hören zu geben.« In dieser Weise sprach ich ganz laut fort, so daß Frau Wagner mir erschrocken zuflüsterte: »Mein Gott, Sie sind zu kühn, Sie werden sich Unannehmlichkeiten zuziehn.« Ich dachte aber an nichts als an meinen Zorn und meine Verachtung eines solchen Publikums, und endlich wandte ich mich direkt an die Nachbarn und sagte: »Meine Herren, wenn Sie auch auf nichts anderes Rücksicht nehmen, so bedenken Sie wenigstens, daß die Frau des Komponisten hier neben Ihnen sitzt.« Sie wurden einen Augenblick lang stutzig und etwas stiller. Dann aber fingen sie von neuem an. Dennoch gelang es auch diesmal nicht, den Vorhang zum Fallen zu bringen, und die Aufführung wurde bis zum Ende durchgeführt.
Wagner war nun noch mehr geneigt, fernerem Skandal Einhalt zu tun, aber wir andern alle stimmten für die dritte Wiederholung. Sie sollte mit aufgehobnem Abonnement stattfinden, und wir hofften nun gewiß, die Ruhestörer würden fernbleiben und nur das Publikum, das wirklich hören wollte, würde kommen. Wagner hatte jedoch beschlossen, diesmal nicht hineinzugehen, um sich die unnütze Aufregung zu ersparen. Das Gleiche tat seine Frau. Ich hatte eine Loge genommen, um Olga und die junge bei uns wohnende Marie mitzunehmen. Ich hoffte, sie würden von dieser Vorstellung einen ungestörten Genuß haben. Leider aber kam es anders. Die Ruhestörer hatten sich noch zahlreicher eingefunden, um ihr Werk fortzusetzen, und waren sogar von Anfang an da, was sie ihren Gewohnheiten nach sonst nie waren. Die Sänger benahmen sich wirklich heldenmütig, sie mußten oft fünfzehn Minuten lang und noch länger anhalten, um den Sturm, der im Publikum tobte, vorüberzulassen. Aber sie standen ruhig, sahen unerschüttert in das Publikum hinein, und sowie es stille wurde, nahmen sie ihren Gesang wieder auf und führten auch diesmal die Vorstellung zu Ende, obgleich das wahnsinnige Toben natürlich jede Freude an den einzelnen guten Leistungen und schönen szenischen Effekten verdarb. Die kleine Olga war ebenso leidenschaftlich erregt wie ich. Sie hatte bereits eine große Verehrung für Wagner und war in den Tiefen ihrer jungen Seele bewegt von dieser Musik, mit der sie eigentlich in das Reich der Töne eintrat. Diese übte eine so entschiedene, wunderbare Macht über sie, daß mir daran von neuem ihre innere Wahrhaftigkeit klar wurde. Olga mischte sich mit wahrer Wut in den leidenschaftlichen Kampf der Parteien, lehnte sich über die Brüstung der Loge und rief mit aller Kraft:»à la porte, à la porte!« indem sie auf die pfeifenden eleganten Herren zeigte. Zwei Herren, die neben uns in der Loge waren, schienen ganz entzückt von dem Eifer des Kindes und sagten mehrere Male: »Elle est charmante.«
Es war zwei Uhr in der Nacht, als wir uns im Foyer mit mehreren Freunden zusammenfanden und vereint zu Wagners gingen, die, wie wir voraussetzten, eines Berichts des Ausgangs harren würden. Auch hatten wir uns nicht getäuscht. Sie saßen gemütlich beim Tee und Wagner rauchte eine Pfeife. Er empfing die Nachricht des abermaligen, und zwar des erbittertsten Kampfes von allen mit Lächeln und scherzte mit Olga, indem er ihr sagte, er habe gehört, sie hätte ihn ausgepfiffen. Aber am Zittern seiner Hand, als er mir sie reichte, fühlte ich, daß das unnatürliche häßliche Begebnis ihn dennoch tief erregt hatte. Wenn auch alles Unschöne, Rohe, Hassenswerte des Vorganges auf das Publikum zurückfiel, das sich eines solchen Betragens schuldig gemacht hatte, so war doch nun wieder eine Hoffnung für ihn dahin und der rauhe Lebensweg, der sich gar nicht ebnen wollte, lag wieder düster, mühevoll und hoffnungslos vor ihm. Das zerschnitt mir das Herz um so mehr, als alle meine Bemühungen, da zu helfen, fruchtlos blieben. Wagner zog jetzt natürlich die Partitur zurück und somit war dem Kampf auf dem Theater ein Ziel gesetzt. In der Presse und in der Gesellschaft aber dauerte er wochenlang in erbitterter Weise fort. Seit Glucks Zeiten war etwas Ähnliches nicht dagewesen. Sehr vereinzelt waren die Stimmen, die tadelnd auftraten und das Benehmen des Publikums rügten, aber sie kamen doch und von nicht unbedeutender Seite. Unter anderen schrieb der alte Jules Janin einen sehr graziösen Artikel, indem er an den Fächer der Fürstin Metternich, den diese im Zorne über das Vorgefallene zerbrochen hatte, anknüpfte und dabei das Verfahren der Pariser auf das schärfste geißelte. Ich schrieb einen getreuen Bericht der Vorgänge nach England, der auch in den Daily News gedruckt wurde, und den mir Klindworth bei meiner Rückkehr nach England, ohne zu wissen, von wem er sei, mit großer Freude zeigte.
Wagner reiste bald darauf nach Karlsruhe, wohin ihn ein ehrender Ruf des Großherzogs führte. Dann ging er nach Wien, wo er zum erstenmal seinen Lohengrin, den das deutsche Publikum längst kannte, aufgeführt sah, und zwar zu seiner innigsten Zufriedenheit, wie er an seine Frau schrieb, die mir den Brief mitteilte. Zugleich wurden ihm die enthusiastischesten Ovationen zuteil, die recht eigentlich als eine Gegendemonstration gegen das Pariser Verfahren anzusehen waren. Ich war glücklich über das Gute, was ihm nach so vielem Herben und Abscheulichen widerfuhr.
Inzwischen vertiefte ich mich wieder in das Leben Schopenhauers, und meine Befriedigung wurde immer größer. Ich kann sagen, dieser Winter gab meinem Leben den Abschluß.
Ich hatte das Ziel und die Pflicht gefunden, denen mein persönliches Leben fortan geweiht sein würde: ein Wesen, zu der höchstmöglichen Vollendung seiner selbst zu erziehn. Je mehr mir die Hoffnung schwand, als Mitglied der Partei, der ich bis dahin angehört hatte, etwas erreichen zu können, je mehr mir überhaupt die Hoffnung schwand, daß diese Partei noch eine fernere Aufgabe habe, desto inniger faßte ich meine Einzelaufgabe ins Auge, die zugleich mein Herz befriedigte.
Dann hatte ich den Künstler gefunden, dessen Streben mir allein ein neues Ideal verwirklichte und mir die Ahnung bestätigte, daß das Reich des Ideals überhaupt nur in der Kunst sei. Mir ging die Überzeugung auf, daß, wie sich einst in Italien nach dem Scheitern des lombardischen Städtebunds und mit ihm des Scheiterns eines geträumten, vollendeten Zustandes politischer Freiheit die ideale Sehnsucht in das Reich der Kunst flüchtete und dort eine verklärte Menschheit, ein ideales Vaterland schuf, so auch jedes, selbst das größte Erreichen auf politischem Gebiet nur mangelhaft bleiben würde, wie alles, was der Beschränkung des Irdischen anheimfällt, daß aber vornehmlich der deutsche Geist ewig die Vollendung seines Wesens in einer idealen Welt suchen müsse. Was ich ihm eine Zeitlang zum Vorwurf gemacht hatte, erkannte ich nun wieder als seine wahre Größe, als seine ureigenste Bestimmung, und es war ja auch ein deutscher Genius, der den Weg dahin zeigte.
Endlich hatte ich auch den Philosophen kennen gelernt, dessen Anschauungen meinem Ahnen zu Hilfe kamen und mich aufklärten über die Phänomene des Lebens, soweit dies für unsere Einsicht, die ja innerhalb derselben steht, möglich ist; den Philosophen, dessen erhabene Weisheit mir die unerschütterliche Stütze bot, an der ich den Weg des Lebens weiter wandern sollte.
Damit hat mein Suchen ein Ende; damit auch der Abschnitt meines Lebens, den ich den öffentlichen nennen könnte, weil er in Berührung und Beziehung zu öffentlichen Ereignissen und Personen stand. Was darüber hinausgeht, was nun noch folgte, gehört nicht mehr, wenigstens nicht in dieser Form, vor das Publikum. Es würde unbescheiden sein, noch weiter davon zu reden.
Und war es nicht unbescheiden, überhaupt davon zu reden? werden manche fragen. Ich glaube nicht. Es gibt im Leben jedes Menschen, »der immer strebend sich bemüht«, Augenblicke und Zeiten, wo das allgemeine Sehnen und Suchen der Menschheit, sich auch in ihm, in einer individuellen Form, ausspricht. Diese haben ein allgemeines Interesse; sie zeigen das ewige Antlitz des »einen«, das in allen ist, in einer besonderen Auffassung. Sobald diesem Sehnen und Suchen seine Bahn gefunden ist, sobald der Schlüssel des Lebensrätsels uns von einem Größeren gereicht wird, hören wir auf, individuell zu sein. Wir folgen den Spuren dessen, der die Wahrheit bereits größer und besser hingestellt hat, als wir es vermochten. Unsere persönliche Geschichte hört dann auf – wenigstens für andere, die nächsten Freunde ausgenommen. Was noch folgt, muß ein Bewähren durch die Tat oder durch die Entsagung und das Leiden dessen sein, was wir durch jene Größeren erkannt. So ist es auch mit mir geworden. Leicht zeichnete mir das Schicksal auch den Pfad des Alters nicht. Es gefällt ihm, mich bis zuletzt beim Wort zu nehmen. Ich hoffe, es soll mich nicht wanken sehen, und durch die Stunden schwerer körperlicher Leiden, vielen und tiefen Seelenschmerzes, in den spärlichen Momenten reiner Freude und innigen Genusses, wie im Angesicht der ernsten Stunde, die den letzten Schleier hebt, sage ich feierlich und überzeugt mit meinem Philosophen: »Und dennoch dürfen wir getrost sein!«