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Jeder Gebildete weiß, daß Doktor Sacrobosco Haselmayer, der vor einigen Jahren am Morgen seines achtzigsten Geburtstages angeblich tot in seiner Bibliothek in Prag aufgefunden wurde, die uralte Theorie versunkener Zeitläufe zu neuem Leben erweckte, der Mensch sei im symbolischen Sinne nur ein Ei, das, richtig bebrütet, auf geheimnisvolle Weise, einem – sagen wir kurz: »himmlischen« Vogel das Leben gäbe.
Allgemein bekannt ist: Doktor Haselmayer war einer der merkwürdigsten Sonderlinge des jetzigen und vorigen Jahrhunderts. Eine Straße ist nach ihm benannt. Er hielt sich ein Menschenleben lang einsiedlergleich in seinem Barockpalais in der Opatowitzer Gasse verschlossen, das, einst um 1780 Stammsitz eines Grafen Sporck gewesen, in einer Flucht von Zimmern und Sälen, die heute so berühmte Haselmayersche Bibliothek birgt.
Ich schätze mich glücklich, einer der wenigen Lebenden zu sein, die den seltsamen Gelehrten jemals zu Gesicht bekommen haben: Vielleicht können sich dessen außer mir nur noch zwei Personen rühmen: Der greise Maler Sedlacek und eine bucklige böhmische Gemüsefrau, bei der Doktor Sacrobosco Haselmayer täglich bei Morgengrauen eine Tüte Sonnenblumenkerne kaufte – wie sie mir sagte, hat er nur von solchen Früchten – wie ein Papagei – gelebt.
Das steinerne Wappenschild, das über dem Portal in der Mauer eingelassen ist, zeigt in zahlreichen Feldern die Symbole und Pantakel eines alten asiatischen Ordens, die »Sat Bhais«, von dem berichtet steht, er sei vor Jahrhunderten erloschen: ein Eber, sieben krummschnablige Vögel und vieles mehr. Eine später zu oberst des Schildes angebrachte Papstkrone verhüllt das eigentliche Geheimnis der Herkunft.
Sieben Vögel! Sat Bhais! – so heißt eine asiatische Papageienart, die die Gewohnheit hat, zu siebent zu fliegen. – Der Sage nach wurde einst Prag von sieben arabischen Wanderern gegründet! Ob sie Sat Bhais waren? Ob Doktor Haselmayer ein Sat Bhais war? Sind es die Überlieferungen jenes Ordens gewesen, aus denen er sein oft so phantastisch anmutendes Wissen schöpfte?
In seinem schriftlichen Nachlaß wurde nichts gefunden, was darauf hingewiesen hätte. – – Phantastisch?!: lieber möchte ich sagen: teuflisch. Klingt es denn nicht teuflisch, wenn man hie und da als Marginalien von seiner Hand in Pergamentbänden aus der Bibliothek liest: »Froschlaich brüten sie aus, die Menschen! Selten einer unter ihnen, der da weiß: Ich trage das Ei eines freien Vogels des Äthers in meiner Brust. Kennte ich nur einen einzigen, der gleich mir um das Geheimnis, es zu bebrüten, weiß, ich wäre nicht mehr einsam.« –
Die Bibliothek Doktor Haselmayers ist in den Besitz der Stadt Prag übergegangen: Sie umfaßt 180 000 Bände und gilt als vollständig. Doch das ist ein Irrtum: Ein Band fehlt! und diesen Band besitze – ich. Jawohl: ich. Ich habe ihn von der besagten Gemüsefrau erworben. Sie behauptete, das Buch müßte vom Fensterbrett des Gelehrten in der Nacht seines Todes heruntergefallen sein, denn frühmorgens hatte sie es vor ihrem Laden auf dem Pflaster liegend gefunden. Der Einband zeigt deutlich Spuren von Schnabelbissen. Das ist sehr merkwürdig, denn bei der Totenschau in den Räumen Doktor Haselmayers fanden sich keinerlei Spuren, daß ein Vogel mit ihm zusammen gehaust hätte. Man war darob ein wenig enttäuscht gewesen, denn in der Stadt hatte es immer geheißen, der alte Herr hätte einen Vogel. Ich vermute, das Gerede entstand wegen der vielen Sonnenblumenkerne, die er täglich bei der Hökerin kaufte. –
Wer oder was hat also so fest in den Deckel gebissen? frage ich mich oft, wenn ich das Buch betrachte. – Mag sein, Doktor Haselmayer hatte doch einen Vogel – einen äußerst reinlichen vielleicht – und dieser hat in der Nacht das Buch gepackt (warum? ja wissen wir denn, was in der Seele eines Papageien bisweilen vorgehen kann!), ist zum offenen Fenster hinausgeflogen und hat es bei dieser Gelegenheit fallen gelassen. Das ist die eine Möglichkeit. – Es gibt aber noch eine zweite. Und an diese glaube ich. Ich will sie ruhig aussprechen. Auf die Gefahr hin, für einen Narren gehalten zu werden.
Ich stelle fest: Am Morgen des achtzigsten Geburtstages Doktor Sacrobosco Haselmayers drang die Polizei gewaltsam in dessen Wohnung ein, alarmiert von irgendeinem Anonymus. Der schwarze Anzug des Gelehrten saß ruhevoll in einem Lehnstuhl; von dem Greis selbst: keine Spur. Das Haus konnte er nicht verlassen haben, denn sämtliche Türen waren von innen verriegelt gewesen. Warum man das alles vertuscht hat? Ja, wissen wir denn, was in der Seele der Polizei bisweilen vorgeht?!
Ich meinerseits glaube: Doktor Haselmayer ist gar nicht gestorben – was man so gemeinhin unter »sterben« versteht – sondern hat sich in einen Vogel, und zwar in einen weißen Kakadu verwandelt. Und warum gerade in einen weißen Kakadu? Erstens sah er immer schon einem solchen ähnlich, und je älter er wurde, um so ähnlicher, und dann, weil ich folgendes an die Seitenränder der Blätter meines Buches eingekritzelt fand:
»– – Schon die alten Ägypter wußten, daß die Seele im Menschen wohnt wie ein Vogel in einem Käfig. Die Heutigen glauben, das sei ein Sinnbild. Dummes Zeug: Es ist wörtlich zu nehmen. Ich habe das bewiesen in meinen zahlreichen Schriften; jeder Schulbub kennt sie.
Die Seelen der meisten freilich werden nur zu Spatzen. Kein Wunder, wenn man nur den Roßapfel des täglichen Lebens vom Baum der Erkenntnis pflückt!
Die alten Ägypter haben die Seele eines Vollkommenen als eine Sonne mit Flügeln gezeichnet. Auch ein Vogel also in seiner Art! Oh, daß ich dereinst ein solcher Vogel werden könnte! – – –
Heute ist die Nacht vor meinem achtzigsten Geburtstag, und ich weiß, daß ich sterben werde, noch ehe die Sonne aus dem Erdenei schlüpft. Vor mir auf einem Stab in der Luft sitzt der weiße Kakadu, der mir bisweilen im Traum erschien, wenn der Staub meiner Bücher wie ein Alpdruck auf meiner Brust lag. Immer schon habe ich geahnt, er sei meine Seele; sicher fühle ich es erst jetzt, und das sagt mir die Nähe meines Todes an, denn solange man lebt, bleibt die Seele fern und fremd und unsichtbar wie ein Vogel, der im Ei schlummert. Ich habe ein Menschenleben dieses Ei bebrütet; die Sehnsucht meines Herzens war die Mutterwärme. –
– Der weiße Vogel starrt mich an, unverwandt, erzählt von meinem Leben, und seine Worte klingen klarer und heller, je tiefer sie herabschweben zu dem versunkenen Land meiner Jugend; wie seltsam, daß die ferne Vergangenheit näher rückt als der gestrige Tag, wenn die Erinnerung altert!
– Als junger Student habe ich eine Dirne geliebt – vielleicht, weil sie so arm war wie ich. – – –
Ich sehe mich um: Bücher. Sie haben sich gemehrt und aneinander gestellt wie die Stunden meines langen Lebens. Totes Wissen. Gitterreihen, mir zum Käfig geworden, ich hab' sie mir selber um mich gestellt. Ich segne sie; sie haben mich gelehrt, was zu wissen nicht not tut, aber ihr alles irdische Leben erstickender Todeshauch hat meiner Seele Flügel wachsen machen. Bald fliegt sie heim und ich mit ihr in das Land, von dem ich so oft geträumt, mit dem ragenden zerrissenen Berg, dem Meer, den Zedern und, wie Ameisen der Erinnerung, den Menschlein auf den Straßen.«