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Wir wußten nicht viel mehr von ihm außer seinen Namen: Hieronymus Radspieller, und daß er jahraus, jahrein in dem zerfallenen Schlosse lebte und von dem Besitzer, einem weißhaarigen, mürrischen Basken – dem hinterbliebenen Diener und Erben eines in Trübsinn und Einsamkeit verwelkten Adelsgeschlechtes – ein Stockwerk für sich allein gemietet und mit kostbarem, altertümlichen Hausrat wohnbar gemacht hatte.
Ein greller phantastischer Gegensatz, wenn man eintrat in diese Räume aus der wegverwachsenen Wildnis draußen, in der nie ein Vogel sang und alles vom Leben verlassen schien, wenn nicht hin und wieder die morschen, wirrbärtigen Eiben schreckerfüllt aufächzten unter der Wucht des Föhns, oder der grünschwarze See wie ein in den Himmel starrendes Auge die weißen, ziehenden Wolken spiegelte.
Fast den ganzen Tag war Hieronymus Radspieller in seinem Boot und ließ ein funkelndes Metall-Ei an langen, feinen Spinnenfäden hinab in die stillen Wasser – ein Lot, um die Tiefen des Sees zu ergründen.
Er wird wohl in Diensten einer geographischen Gesellschaft stehen, mutmaßten wir, wenn wir, von unseren Angelfahrten heimgekehrt, des Abends noch ein paar Stunden in dem Bibliothekszimmer Radspiellers beisammen saßen, das er uns gastfreundlich zur Verfügung gestellt hatte.
»Ich habe heute von der alten Botenfrau, die die Briefe über den Bergpaß trägt, zufällig erfahren, daß die Rede geht, er solle in seiner Jugend ein Mönch gewesen sein und habe sich Nacht für Nacht blutig gegeißelt – sein Rücken und seine Arme seien über und über mit Narben bedeckt«, mischte sich Mr. Finch ins Gespräch, als sich wieder einmal der Austausch der Gedanken um Hieronymus Radspieller drehte – »übrigens, wo er heute nur so lange bleibt? Es muß längst elf Uhr vorbei sein.«
»Es ist Vollmond«, sagte Giovanni Braccesco und deutete mit seiner welken Hand durch das offene Fenster hinaus auf den flimmernden Lichtweg, der quer über dem See lag; »wir werden sein Boot leicht sehen können, wenn wir Ausschau halten.«
Dann, nach einer Weile, hörten wir Schritte die Treppe heraufkommen; aber es war nur der Botaniker Eshcuid, der da, so spät von seinen Streifzügen heimgekommen, zu uns ins Zimmer trat.
Er trug eine mannshohe Pflanze in der Hand mit stahlblau glänzenden Blüten.
»Es ist weitaus das größte Exemplar dieser Gattung, das jemals gefunden wurde; ich hätte nie geglaubt, daß der giftige ›Sturmhut‹ noch in solchen Höhen wächst«, sagte er klanglos, nachdem er uns einen Gruß zugenickt, und legte die Pflanze mit umständlicher Sorgfalt, damit ihr kein Blatt geknickt werde, auf das Fensterbrett.
»Es geht ihm wie uns«, kroch es mir durch den Sinn, und ich hatte die Empfindung, daß Mr. Finch und Giovanni Braccesco in diesem Momente dasselbe dachten, »er wandert ruhelos als alter Mann über die Erde, wie einer, der sein Grab suchen muß und nicht finden kann, sammelt Pflanzen, die morgen verdorrt sind; wozu? worum? Er denkt nicht nach darüber. Er weiß, daß sein Tun zwecklos ist, wie wir es von dem unsrigen wissen, aber ihn wird wohl auch die traurige Erkenntnis zermürbt haben, das alles zwecklos ist, was man beginnt, ob es groß scheint oder klein – so wie sie uns anderen zermürbt hat ein Menschenleben lang. Wir sind von Jugend an wie die Sterbenden«, fühlte ich, »deren Finger unruhig über die Bettdecke tasten; die nicht wissen, wonach sie greifen sollen, wie Sterbende, die einsehen: der Tod steht im Zimmer, was kümmert es ihn, ob wir die Hände falten oder die Fäuste ballen.«
»Wohin reisen Sie, wenn die Zeit zum Fischen hier vorüber ist?« fragte der Botaniker, nachdem er abermals nach seiner Pflanze gesehen und sich dann langsam zu uns an den Tisch gesetzt hatte.
Mr. Finch fuhr sich durch sein weißes Haar, spielte, ohne aufzublicken, mit einem Angelhaken und zuckte müde die Achseln.
»Ich weiß es nicht«, antwortete nach einer Pause Giovanni Braccesco zerstreut, als sei die Frage an ihn gerichtet gewesen.
Wohl eine Stunde verrann in bleierner, wortloser Stille, daß ich das Rauschen des Blutes in meinem Kopfe hören konnte.
Endlich tauchte das fahle, bartlose Gesicht Radspiellers im Türrahmen auf.
Seine Miene schien gelassen und greisenhaft wie immer und seine Hand ruhig, als er sich ein Glas Wein einschenkte und uns zutrank, aber es war eine ungewohnte Stimmung voll verhaltener Erregtheit mit ihm hereingekommen, die sich bald auf uns übertrug.
Seine sonst so müden und teilnahmslosen Augen, die die Eigentümlichkeit hatten, daß sich wie bei Rückenmarkskranken ihre Pupillen niemals zusammenzogen oder ausdehnten und scheinbar auf Licht nicht reagierten – sie gleichen grauen, mattseidenen Westenknöpfen mit einem schwarzen Punkt darin, wie Mr. Finch zu behaupten pflegte –, suchten heute fiebrig flackernd im Zimmer umher, glitten die Wände entlang und über die Bücherreihen hin, unschlüssig, woran sie haften bleiben sollten.
Giovanni Braccesco brach ein Gesprächsthema vom Zaun und erzählte von unsern seltsamen Methoden, die uralten, moosbewachsenen Riesenwelse zu fangen, die in ewiger Nacht da unten lebten in den unergründlichen Tiefen des Sees, nie mehr heraufgekommen ans Tageslicht und jede Lockspeise, die die Natur bietet, verschmähen – nur nach den bizarrsten Formen schnappen, die der Angler ersinnen kann: nach gleißendem Silberblech, geformt wie Menschenhände, die an der Schnur taumelnde Bewegungen im Wasser machen, oder nach Fledermäusen aus rotem Glas mit tückisch verborgenen Haken an den Flügeln.
Hieronymus Radspieller hörte nicht hin.
Ich sah ihm an, daß sein Geist wanderte.
Plötzlich brach er los, wie jemand, der ein gefährliches Geheimnis hinter verbissenen Zähnen jahrelang gehütet hat und es dann in einer Sekunde unvermittelt, mit einem Aufschrei, von sich wirft: »Heute endlich – ist mein Senkblei auf Grund gestoßen.«
Wir starrten ihn verständnislos an.
Ich war so gefangengenommen von dem fremdartig zitternden Ton, der aus seinen Worten geklungen hatte, daß ich eine Weile lang nur halb erfaßte, wie er den Vorgang der Tiefseemessung erklärte: es gäbe da unten in den Abgründen – viele tausend Faden tief – kreisende Wasserwirbel, die jedes Lot verbliesen, es schwebend erhielten und den Boden nicht erreichen ließen, wenn nicht ein günstiger Zufall zu Hilfe käme.
Dann wieder stieg aus seiner Rede gleich einer Rakete triumphierend ein Satz empor: »Es ist die tiefste Stelle auf Erden, zu der je ein menschliches Instrument gedrungen ist«, und die Worte brannten sich schreckhaft in mein Bewußtsein ein, ohne daß ich die Ursache dafür finden konnte. Ein gespenstischer Doppelsinn lag in ihnen, so, als hätte ein Unsichtbarer hinter ihm gestanden und in verhüllten Symbolen aus seinem Munde zu mir gesprochen.
Ich konnte den Blick nicht wenden von Radspiellers Gesicht; wie war es mit einemmal so schemenhaft und unwirklich geworden! Wenn ich eine Sekunde die Augen schloß, sah ich es von blauen Flämmchen umzuckt; – »die Sankt Elmsfeuer des Todes«, drängte es sich mir auf die Zunge, und ich mußte gewaltsam die Lippen geschlossen halten, um es nicht laut herauszuschreien.
Traumhaft zogen durch mein Hirn Stellen aus Büchern, die Radspieller geschrieben und die ich gelesen in müßigen Stunden, voll Staunen über seine Gelehrsamkeit, Stellen sengenden Hasses gegen Religion, Glaube und Hoffnung und alles, was in der Bibel von Verheißung spricht.
Es ist der Rückschlag, der seine Seele nach der heißen Askese einer inbrunstgequälten Jugend aus dem Reich der Sehnsucht herab auf die Erde geschleudert hat – begriff ich dumpf: der Pendelschwung des Schicksals, der den Menschen vom Licht in den Schatten trägt.
Mit Gewalt riß ich mich aus dem lähmenden Halbschlaf, der meine Sinne überfallen hatte, und zwang mich, der Erzählung Radspiellers zuzuhören, deren Beginn wie ein fernes, unverständliches Murmeln noch in mir nachhallte.
Er hielt das kupferne Senklot in der Hand, drehte es hin und her, daß es aufblitzte gleiche einem Geschmeide im Lichtschein der Lampe, und sprach dabei:
»Sie als leidenschaftliche Angler nennen es schon ein erregendes Gefühl, wenn Sie an dem plötzlichen Zucken Ihrer doch nur 200 Ellen langen Schnur spüren, daß sich ein großer Fisch gefangen hat, daß gleich darauf ein grünes Ungetüm emporsteigen wird an die Oberfläche und das Wasser zu Gischt zerpeitschen. Denken Sie sich dieses Gefühl vertausendfacht und Sie werden vielleicht verstehen, was in mir vorging, als dieses Stück Metall hier mir endlich meldete: ich bin auf Grund gestoßen. Mir war, als hätte meine Hand an eine Pforte geklopft. – Es ist das Ende einer Arbeit von Jahrzehnten«, setzte er leise für sich hinzu, und es klang eine Bangigkeit aus seiner Stimme: »was – was werde ich morgen tun?!«
»Es bedeutet nichts Geringes für die Wissenschaft, den tiefsten Punkt unserer Erdschicht ausgelotet zu haben«, warf der Botaniker Eshcuid hin.
»Wissenschaft – für die Wissenschaft!« wiederholte Radspieller geistesabwesend und blickte uns der Reihe nach fragend an. »Was kümmert mich die Wissenschaft!« fuhr es ihm endlich heraus.
Dann stand er hastig auf.
Ging ein paarmal im Zimmer hin und her.
»Ihnen ist die Wissenschaft ebenso Nebensache wie mir, Professor«, wandte er sich mit einem Ruck, fast schroff an Eshcuid. »Nennen Sie es doch beim Namen: die Wissenschaft ist uns nur ein Vorwand, um etwas zu tun, irgend etwas, gleichgültig was; das Leben, das furchtbare, entsetzliche Leben hat uns die Seele verdorrt, unser eigenstes innerstes Ich gestohlen, und, um nicht immerwährend aufschreien zu müssen in unserm Jammer, jagen wir kindischen Marotten nach – um zu vergessen, was wir verloren haben. Nur, um zu vergessen. Belügen wir uns doch nicht selbst!«
Wir schwiegen.
»Aber es liegt noch ein anderer Sinn darin« – eine wilde Unruhe kam plötzlich über ihn –, »in unseren Marotten, meine ich. Ich bin so ganz, ganz allmählich dahintergekommen: ein feiner geistiger Instinkt sagt mir, jede Tat, die wir vollbringen, hat einen magischen doppelten Sinn. Wir können gar nichts tun, was nicht magisch wäre. – Ich weiß ganz genau, weshalb ich gelotet habe fast ein halbes Leben lang. Ich weiß auch, was es zu bedeuten hat, daß ich doch – und doch – und doch auf Grund stieß und mich durch eine lange, feine Schnur mitten durch alle Wirbel hindurch in einem Reich verbunden habe, wohin kein Strahl dieser verhaßten Sonne mehr dringen kann, deren Wonne darin besteht, ihre Kinder verdursten zu lassen. Es ist nur ein äußeres belangloses Geschehnis, das sich heute vollzog, aber jemand, der sehen und deuten kann, der erkennt schon im formlosen Schatten an der Wand, wer vor die Lampe getreten ist«; – er lächelte mich grimmig an –, »ich will's Ihnen kurz sagen, was mir dieses äußere Geschehnis innerlich bedeutet: ich habe erreicht, was ich gesucht habe – ich bin hinfort gefeit gegen die Giftschlangen des Glaubens und der Hoffnung, die nur im Licht leben können, ich hab's an dem Ruck gespürt, den es mir im Herzen gab, als ich heute meinen Willen durchgesetzt und mit dem Senkblei den Grund des Sees berührt habe. Ein belangloses äußeres Geschehen hat sein inneres Gesicht gezeigt.«
»Ist Ihnen denn so Schweres zugestoßen im Leben – in der Zeit – ich meine, als Sie Geistlicher waren?« fragte Mr. Finch, »daß Ihre Seele so wund ist?« setzte er leise für sich hinzu.
Radspieller gab keine Antwort und schien ein Bild zu sehen, das vor ihm auftauchen mochte; dann setzte er sich wieder an den Tisch, blickte unbeweglich in das Mondlicht zum Fenster hin und erzählte wie ein Somnambuler, fast ohne Atem zu holen:
»Ich war niemals Geistlicher, aber schon in meiner Jugend hat mich ein finsterer, übermächtiger Trieb von den Dingen dieser Erde weggezogen. Ich habe Stunden erlebt, wo sich das Gesicht der Natur vor meinen Augen in eine grinsende Teufelsfratze verwandelt hat und mir Berge, Landschaft, Wasser und Himmel, sogar mein eigener Leib, als unerbittliche Kerkermauern erschienen sind. Wohl kein Kind empfindet etwas dabei, wenn sich der Schatten einer über die Sonne ziehenden Wolke auf eine Wiese senkt, mich hat schon damals ein lähmendes Entsetzen befallen und ich blickte, als hätte mir eine Hand mit einem Ruck eine Binde von den Augen gerissen, tief hinein in die heimliche Welt voll Todesqual der Millionen winziger Lebewesen, die sich, verborgen unter den Halmen und Wurzeln der Gräser, im stummen Haß zerfleischten.
Vielleicht war's erbliche Belastung – mein Vater starb im Religionswahnsinn –, daß ich die Erde bald nur mehr wie eine einzige bluterfüllte Mördergrube sah.
Allmählich wurde mein ganzes Leben zur immerwährenden Folter seelischen Verdurstens. Ich konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr denken, und Tag und Nacht, ohne stillzustehen, zuckten und bebten meine Lippen und formten mechanisch den Satz des Gebetes: ›Erlöse uns von dem Übel‹, bis ich vor Schwäche das Bewußtsein verlor.
In den Tälern, wo ich zu Hause bin, gibt es eine religiöse Sekte, die man die ›Blauen Brüder‹ nennt, deren Anhänger, wenn sie ihr Ende nahen fühlen, sich lebendig begraben lassen. Heute noch steht ihr Kloster dort, über dem Eingangstor das steinerne Wappenschild: eine Giftpflanze mit fünf blauen Blütenblättern, deren oberstes einer Mönchskapuze gleicht: – das Aconitum napellus, der ›blaue Sturmhut‹.
Ich war ein junger Mann, als ich mich in diesen Orden flüchtete, und fast ein Greis, als ich ihn verließ.
Hinter den Klostermauern liegt ein Garten, darin blüht im Sommer ein Beet voll von jenem blauen Todeskraut, und die Mönche begießen es mit dem Blut, das aus ihren Geißelwunden fließt. Jeder hat, wenn er Bruder der Gemeinschaft wird, eine solche Blume zu pflanzen, die dann, wie in der Taufe, seinen eigenen christlichen Namen erhält.
Die meinige hieß Hieronymus und hat mein Blut getrunken, indes ich selbst verschmachtete in jahrelangem vergeblichen Flehen um das Wunder, daß der ›Unsichtbare Gärtner‹ die Wurzeln meines Lebens auch nur mit einem Tropfen Wasser begösse.
Der symbolische Sinn dieser seltsamen Zeremonie der Bluttaufe ist, daß der Mensch seine Seele magisch einpflanzen soll in den Garten des Paradieses und ihr Wachstum düngen mit dem Blut seiner Wünsche.
Auf dem Totenhügel des Gründers dieser asketischen Sekte, des sagenhaften Kardinals Napellus, sagt die Legende, schoß in einer einzigen Vollmondnacht in Mannshöhe ein solcher ›blauer Sturmhut‹ auf – über und über mit Blüten bedeckt –, und als man das Grab öffnete, war die Leiche darin verschwunden. Es heißt, daß sich der Heilige in die Pflanze verwandelt hat, und von ihr, als der ersten, die damals auf Erden erschien, sollen alle übrigen stammen.
Wenn die Blumen im Herbst verdorrten, sammelten wir ihre giftigen Samenkeime, die kleinen menschlichen Herzen gleichen und nach der geheimen Überlieferung der Blauen Brüder das ›Senfkorn‹ des Glaubens vorstellen, von dem geschrieben steht, daß Berge versetzten könne, wer es hat –, und aßen davon.
So, wie ihr furchtbares Gift das Herz verändert und den Menschen in den Zustand zwischen Leben und Sterben bringt, so sollte die Essenz des Glaubens unser Blut verwandeln –, zur wunderwirkenden Kraft werden in den Stunden zwischen nagender Todespein und ekstatischer Verzückung.
Aber ich tastete mit dem Senkblei meiner Erkenntnis noch tiefer hinab in diese wunderlichen Gleichnisse, ich tat noch einen Schritt weiter und sah der Frage ins Gesicht: Was wird mit meinem Blut geschehen, wenn es endlich geschwängert ist von dem Gift der blauen Blume? Und da wurden die Dinge rings um mich lebendig, selbst die Steine am Weg schrien mir zu mit tausend Stimmen: Wieder und wieder, wenn der Frühling kommt, wird es ausgegossen werden, auf daß ein neues Giftkraut sprossen kann, das deinen eigenen Namen trägt.
Und in jener Stunde hatte ich dem Vampir, den ich bis dahin gefüttert, die Maske abgerissen, und ein unauslöschlicher Haß ergriff von mir Besitz. Ich ging hinaus in den Garten und stampfte die Pflanze, die mir meinem Namen Hieronymus gestohlen und sich an meinem Leben gemästet hatte, in die Erde, bis keine Faser mehr sichtbar war.
Von da an schien mein Weg besät mit wunderbaren Ereignissen. Noch in derselben Nacht trat eine Vision vor mich: der Kardinal Napellus, in der Hand – mit der Fingerstellung eines Menschen, der eine brennende Kerze trägt – das blaue Akonit mit den fünfblättrigen Blüten. Seine Züge waren die einer Leiche, nur aus seinen Augen strahlte ein unzerstörbares Leben.
Ich glaubte mein eigenes Antlitz vor mir zu sehen, so glich er mir, und ich fuhr in unwillkürlichem Schrecken nach meinem Gesicht, wie jemand, dem ein Explosion den Arm abgerissen hat, mit der andern Hand nach der Wunde fahren mag.
Dann schlich ich mich ins Refektorium und erbrach in wildem Haß den Schrein, der die Reliquien des Heiligen enthalten sollte, um sie zu zerstören.
Ich fand nur diesen Globus, den Sie dort in der Nische stehen sehen.«
Radspieller erhob sich, holte ihn herab, stellte ihn vor uns auf den Tisch und fuhr in seiner Erzählung fort: »Ich habe ihn mit mir genommen auf meiner Flucht aus dem Kloster, um ihn zu zerschlagen und damit das einzige, was greifbar zurückgeblieben ist von dem Gründer jener Sekte, zu vernichten.
Später überlegte ich mir, daß ich der Reliquie mehr Verachtung antäte, wenn ich sie verkaufte und das Geld einer Dirne schenkte. Ich führte es aus, als sich mir die erste Gelegenheit dazu bot.
Seitdem sind viele Jahre vorübergegangen, aber ich habe keine Minute verstreichen lassen, den unsichtbaren Wurzeln jenes Krautes nachzuspüren, an denen die Menschheit krankt, und sie aus meinem Herzen zu tilgen. Ich habe vorhin gesagt, daß ich von der Stunde an, da ich zur Klarheit erwachte, ein ›Wunder‹ nach dem andern meinen Pfad kreuzte, doch ich bin fest geblieben: kein Irrlicht mehr hat mich in den Sumpf gelockt.
Als ich anfing, Altertümer zu sammeln – alles, was Sie hier im Zimmer sehen, stammt aus jener Zeit –, war so manches darunter, das mich an die dunklen Riten gnostischen Ursprungs gemahnte und an das Jahrhundert der Kamisarden; selbst der Saphirring hier an meinem Finger – er trägt seltsamerweise als Wappen einen Sturmhut, das Emblem der blauen Mönche – kam zufällig, als ich den Vorrat eines Tabulettkrämers durchstöberte, in meine Hände: es hat mich nicht einen Augenblick erschüttern können. Und als mir eines Tages ein Freund den Globus hier –, denselben Globus, den ich aus dem Kloster geraubt und verkauft hatte, die Reliquie des Kardinals Napellus –, als Geschenk ins Haus schickte, mußte ich hell auflachen, als ich ihn wiedererkannte, über diese kindische Drohung eines albernen Schicksals.
Nein, hier herauf zu mir in die klare, dünne Luft der Firnenwelt soll das Gift des Glaubens und der Hoffnung nicht mehr dringen, in diesen Höhen kann der blaue Sturmhut nicht gedeihen.
An mir ist der Spruch in einem neuen Sinn zur Wahrheit geworden: Wer in die Tiefe forschen will, muß auf die Berge steigen.
Darum gehe ich nie wieder hinunter in die Niederungen. Ich bin genesen; und wenn die Wunder aller Engelswelten mir in den Schoß fielen, ich würfe sie von mir wie verächtlichen Tand. Soll das Akonit eine giftige Arznei bleiben für die Siechen am Herzen und die Schwachen in den Tälern –, ich will hier oben leben und sterben im Angesicht des starren diamantnen Gesetzes unwandelbarer Naturnotwendigkeiten, das kein dämonischer Spuk durchbrechen kann. Ich werde weiter loten und loten, ohne Ziel, ohne Sehnsucht, froh wie ein Kind, das sich genügen läßt am Spiel und noch nicht verpestet ist an der Lüge: das Leben hätte einen tieferen Zweck – werde loten und loten –, aber, so oft ich auf Grund stoße, wird's mir wie ein Jubelruf klingen: es ist immer wieder nur die Erde, die ich berühre, und nichts als die Erde, dieselbe stolze Erde, die das heuchlerische Licht der Sonne kalt zurückwirft in den Weltraum, die Erde, die sich außen und innen getreu bleibt, so wie dieser Globus, das letzte jämmerliche Erbstück des großen Herrn Kardinalas Napellus, dummes Holz ist und bleibt, außen und innen.
Und jedesmal wird's mir der Rachen des Sees von neuem verkünden: wohl wachsen auf der Kruste der Erde, von der Sonne gezeugt, entsetzliche Gifte, doch ihr Inneres, ihre Schluchten und Abgründe, sind frei davon, und die Tiefe ist rein.« – Radspiellers Gesicht bekam hektische Flecken vor Erregung und durch sein emphatische Rede ging ein Riß; sein verbissener Haß brach los. »Wenn ich einen Wunsch frei hätte« – er ballte die Fäuste –, »ich möchte mit meinem Senkblei bis in den Mittelpunkt der Erde loten dürfen, um es hinausschreien zu können: Siehe hier, siehe da: Erde, nichts als Erde!«
Wir blickten erstaunt auf, da er plötzlich schwieg.
Er war ans Fenster getreten.
Der Botaniker Eshcuid zog seine Lupe hervor, beugte sich über den Globus und sagte laut, um den peinlichen Eindruck zu verwischen, den Radspiellers letzte Worte in uns erweckt hatten:
»Die Reliquie muß eine Fälschung sein und noch aus unserm Jahrhundert stammen; die fünf Erdteile« – er deutete auf Amerika – »sind auf dem Globus vollzählig verzeichnet.«
So nüchtern und alltäglich auch der Satz klang, er konnte die gepreßte Stimmung nicht durchbrechen, die sich unser zu bemächtigen begann ohne faßbaren Grund und von Sekunde zu Sekunde anwuchs bis zu drohendem Angstgefühl.
Plötzlich schien ein süßer, betäubender Geruch wie von Faulbaum oder Seidelbast das Zimmer zu erfüllen.
»Er weht aus dem Park herüber«, wollte ich sagen, aber Eshcuid kam meinem krampfhaftem Versuch, den Alp abzuschütteln, zuvor. Er stach mit einer Nadel in den Globus und murmelte etwas, wie: es sei seltsam, daß sogar unser See, ein so winziger Punkt, auf der Karte stünde, da wachte Radspiellers Stimme am Fenster wieder auf und fuhr mit schrillem Hohn dazwischen:
»Warum verfolgt's mich denn jetzt nicht mehr, wie früher im Träumen und Wachen, das Bild seiner Eminenz des großen Herrn Kardinals Napellus? Im Codex Nazaräus – dem Buch der gnostischen blauen Mönche, geschrieben um 200 vor Christus – steht doch prophezeit für den Neophyten: ›Wer die mystische Pflanze begießet bis zu Ende mit seinem Blute, den wird sie geleiten treulich an die Pforte des ewigen Lebens; wer sie aber ausreißt, dem Frevler wird sie ins Angesicht schauen als der Tod, und sein Geist wird hinaus in die Finsternis wandern, bis der neue Frühling kommt!‹ Wo sind sie hin, die Worte? Sind sie gestorben? Ich sage: eine Verheißung von Jahrtausenden ist an mir zerschellt. Warum kommt er denn nicht, daß ich ihm ins Antlitz speien kann, dem Kardinal Nap...« Ein gapsendes Röcheln riß Radspieller die letzte Silbe aus dem Munde, ich sah, daß er die blaue Pflanze erblickt hatte, die der Botaniker abends bei seinem Eintritt aufs Fensterbrett gelegt, und sie anstarrte. Ich wollte aufspringen. Zu ihm eilen.
Ein Ausruf Giovanni Braccescos hielt mich zurück:
Unter der Nadel Eshcuids hatte sich die vergilbte pergamentene Rinde des Globus abgelöst, so wie von einer überreifen Frucht die Schale springt, und nackt vor uns lag eine große gleißende Kugel aus Glas.
Und darinnen – ein wundersames Kunstwerk, eingeschmolzen auf unbegreifliche Weise, aufrechtstehend, die Gestalt eines Kardinals in Mantel und Hut, und in jeder Hand, mit Fingerstellung eines Menschen, der eine brennende Kerze trägt: eine Staude mit stahlblauen fünfblättrigen Blüten.
Kaum vermochte ich, gelähmt von Entsetzen, meinen Kopf nach Radspieller zu wenden.
Mit weißen Lippen, die Züge leichenblaß, stand er dort an der Wand – aufrecht, unbeweglich wie die Silhouette in der gläsernen Kugel – so wie sie in der Hand die blaue giftige Blume, und starrte auf den Tisch herüber in das Gesicht des Kardinals.
Nur der Glanz seiner Augen verriet, daß er noch lebte; wir anderen begriffen, daß sein Geist auf Nimmerwiederkehr versunken war in der Nacht des Irrsinns.
Eshcuid, Mr. Finch, Giovanni Braccesco und ich schieden am nächsten Morgen voneinander; wortlos, fast ohne Gruß: die letzten bangen Stunden der Nacht waren zu beredet für jeden von uns gewesen, als daß es unsere Zungen nicht hätte in Bann legen sollen.
Lange bin ich noch planlos und einsam über die Erde gewandert, doch keinem von ihnen bin ich je wieder begegnet.
Ein einziges Mal nach vielen Jahren hat mich mein Weg in jene Gegend geführt: von dem Schlosse ragten nur mehr die Mauern, aber zwischen dem verfallenen Gestein sproßte mannshoch auf im sengenden Sonnenbrand, Staude an Staude, ein unabsehbares stahlblaues Beet: das Aconitum napellus.