Gustav Meyrink
Fledermäuse. Phantastische Geschichten
Gustav Meyrink

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Meister Leonhard

Unbeweglich sitzt Meister Leonhard in seinem gotischen Lehnstuhl und starrt mit weit offenen Augen geradeaus.

Der Flammenschein des lodernden Reisigfeuers in dem kleinen Herd flackert über sein härenes Gewand, aber der Glanz kann nicht haften bleiben an der Regungslosigkeit, die Meister Leonhard umgibt, gleitet ab von dem langen weißen Bart, dem gefurchten Gesicht und den Greisenhänden, die in ihrer Totenstille mit dem Braun und Gold der geschnitzten Armlehnen wie verwachsen sind.

Meister Leonhard hält seinen Blick zum Fenster gekehrt, vor dem mannshohe Schneehügel die ruinenhafte halbversunkene Schloßkapelle umgeben, in der er sitzt, aber im Geiste sieht er hinter sich die kahlen, engen, schmucklosen Wände, die ärmliche Lagerstätte und das Kruzifix über der wurmstichigen Tür – sieht den Wasserkrug, den Laib selbergebackenen Bucheckernbrotes und das Messer daneben mit dem gekerbten Beingriff in der Ecknische.

Er hört, wie draußen die Baumriesen krachen unter dem Frost und sieht die Eiszapfen im grellen schneidenden Mondlicht herabfunkeln von den weißbeladenen Ästen. Er sieht seinen eigenen Schatten hinaus durch den Spitzbogen des Fensters fallen und mit den Silhouetten der Tannen auf dem glitzernden Schnee ein gespenstisches Spiel treiben, wenn das Feuer der Kienspäne im Ofen die Hälse reckt oder sich duckt – dann wieder sieht er ihn zusammengeschrumpft wie zu einer Bockgestalt auf schwarzblauem Thron und die Knäufe des Lehnstuhls als Teufelshörner über spitzigen Ohren.

Ein altes, buckliges Weib aus dem Meiler, der stundenweit, jenseits der Moorheide tief unten im Tale liegt, humpelt mühsam durch den Wald herauf und zieht einen Handschlitten mit dürrem Holz; erschreckt glotzt sie in den blendenden Lichtschatten und begreift nicht. Ihr Blick fällt auf den Teufelsschatten im Schnee – sie erfaßt nicht, wo sie ist und daß sie vor der Kapelle steht, von der die Sage geht, der letzte gegen den Tod gefeite Sproß eines fluchbeladenen Geschlechtes hause darin.

Voll Entsetzen schlägt sie das Kreuz und hastet mit wankenden Knien zurück in den Wald.

Meister Leonhard folgt ihr eine Weile im Geiste auf dem Weg, den sie nimmt. Er kommt an den brandschwarzen Trümmern des Schlosses vorüber, in dem seine Jugend verschüttet liegt, aber es berührt ihn nicht, alles ist ihm Gegenwart, leidlos und klar wie ein Gebilde aus farbiger Luft. Er sieht sich als Kind unter einer jungen Birke mit bunten Kieseln spielen und sieht sich zu gleicher Zeit als Greis vor seinem Schatten sitzen.

Die Gestalt seiner Mutter taucht vor ihm auf mit den ewig zuckenden Gesichtszügen; alles an ihr bebt in beständiger Unruhe, nur die Haut ihrer Stirn ist unbeweglich, glatt wie Pergament und straff über den runden Schädel gespannt, der gleich einer fugenlosen Elfenbeinkugel das Gefängnis eines summenden Fliegenschwarms unsteter Gedanken zu sein scheint.

Er hört das ununterbrochene, keine Sekunde pausierende Rascheln ihres schwarzen seidenen Kleides, das wie das nervenaufpeitschende Schwirren von Millionen Insektenflügeln die Räume des Schlosses erfüllt, durch Boden- und Mauerritzen dringt und Mensch und Tier den Frieden raubt. Selbst die Dinge stehen unter dem Bann ihrer schmalen, immer befehlsbereiten Lippen, sind beständig wie auf dem Sprung und keines wagt sich heimisch zu fühlen. Sie kennt das Leben der Welt nur vom Hörensagen, über den Zweck des Daseins nachzuforschen, hält sie für überflüssig und für eine Ausrede der Faulheit; wenn nur von früh bis spät ein zweckloses ameisenhaftes Umherrennen im Hause herrscht, ein sinnwidriges Da- und Dorthinstellen von Gegenständen, ein fiebriges Sichmüdemachen bis in den Schlaf hinein und ein Zermürben ihrer Umgebung, glaubt sie ihre Pflicht gegen das Leben zu erfüllen.

Nie kommt ein Gedanke in ihrem Hirn zu Ende, kaum entsteht er, wird er schon zu hastiger zweckloser Tat.

Sie ist wie der vorwärtshaspelnde Sekundenmesser einer Uhr, der in seiner Zwergenhaftigkeit sich einbildet, daß die Welt ins Stocken gerät, wenn er nicht dreitausendsechshundertmal zwölfmal des Tages im Kreise herumzappelt, voll Ungeduld die Zeit in Staub zu zerfeilen, und es nicht erwarten kann, daß die gelassenen Stundenzeiger die langen Arme heben zum Schlag auf die Glocke.

Oft mitten in der Nacht reißt die Besessenheit sie aus dem Bette und sie weckt die Dienerschaft: die Blumentöpfe, die in unabsehbaren Reihen auf den Fenstersimsen stehen, müssen sogleich begossen werden; sie ist sich nicht klar über das »warum«, es genügt, sie »müssen« begossen werden. Niemand wagt ihr zu widersprechen, jeder wird stumm angesichts der Erfolglosigkeit, mit dem Schwert des Verstandes gegen ein Irrlicht kämpfen zu wollen.

Nie fängt eine Pflanze Wurzel, denn täglich setzt sie sie um, niemals lassen sich die Vögel auf dem Dach des Schlosses nieder, in Scharen durchkreuzen sie in dunklem Wandertrieb den Himmel, schwenken hierhin und dorthin, aufwärts und abwärts, bald zu Punkten werdend, bald breit und flach wie schwarze flatternde Hände.

Selbst in den Sonnenstrahlen ist ein ewiges Zittern, denn immer herrscht Wind und verweht ihr Licht mit jagenden Wolken; es geht ein Schwanken und Zausen von früh bis abends, von abends bis früh durch die Blätter und Zweige der Bäume, und nie kommen Früchte zur Reife – schon der Mai bläst alle Blüten davon. Die Natur ringsum ist krank von der Unrast im Schlosse.

Meister Leonhard sieht sich vor seiner Rechentafel sitzen, er ist zwölf Jahre alt, drückt die Hände fest an die Ohren, um das Schlagen der Türen und das unablässige Treppauf, Treppab der Mägde nicht zu hören und das Schrillen der Stimme seiner Mutter – es nützt nichts: die Ziffern werden eine Herde wimmelnder boshafter winziger Kobolde, laufen ihm durchs Hirn, durch Nase, Mund und Augen aus und ein und machen sein Blut rasen und seine Haut brennen. Er versucht's mit dem Lesen – umsonst, die Buchstaben tanzen vor seinen Blicken: ein nicht zu fassender Mückenschwarm. – »Ob er seine Aufgabe denn immer noch nicht lesen kann?« schrecken ihn die Lippen der Mutter auf; sie wartet die Antwort nicht ab, ihre irren wasserblauen Augen suchen in allen Ecken, ob nicht irgendwo Staub liegt; Spinnweben, die nicht da sind, müssen mit Besen abgekehrt, Möbel umgestellt, hinaus und wieder hereingerückt, Schränke zerlegt und nachgesehen werden, damit sich keine Motten einnisten, man schraubt die Tischbeine ab und wieder an, Schubladen fliegen auf und zu, man hängt die Bilder um, reißt Nägel aus den Wänden und schlägt sie daneben ein, die Dinge geraten in Tobsucht, der Hammer fliegt vom Stiel, Leitersprossen brechen, Kalk bröckelt von der Decke – der Maurer soll sofort kommen! –, Wischtücher klemmen sich ein, Nadeln fallen aus der Hand und verstecken sich in Dielenritzen, der Wachhund im Hof reißt sich los, kommt mit klirrender Kette herein und rennt die Stehuhr über den Haufen; der kleine Leonhard bohrt sich von neuem in sein Buch und beißt die Zähne zusammen, um einen Sinn zu erhaschen aus den schwarzen krummen Haken, die da drin hintereinander herlaufen – er soll sich anderswo hinsetzen, der Sessel muß ausgeklopft werden; er lehnt sich, das Buch in der Hand, ans Fensterbrett – das Fensterbrett muß gewaschen und weiß gestrichen werden; warum er denn überall im Weg ist? Und ob er seine Aufgabe jetzt endlich kann? Dann fegt sie hinaus; die Mägde müssen alles liegen und stehen lassen und rasch ihr nach und Schaufeln, Äxte und Stangen holen für den Fall, daß im Keller Ratten sind.

Das Fensterbrett ist halb gestrichen, von den Stühlen fehlen die Sitze und das Zimmer gleicht einem Trümmerhaufen; ein dumpfer grenzenloser Haß gegen die Mutter frißt sich in das Herz des Kindes. Jede Faser in ihm lechzt nach Ruhe; es sehnt die Nacht herbei, aber selbst der Schlaf bringt ihm die Stille nicht, wirre Träume halbieren seine Gedanken, so daß aus einem zwei werden, die einander jagend verfolgen und nie erreichen; die Muskeln können sich nicht entspannen, der ganze Körper ist in beständiger Abwehrstellung gegen blitzartig hereinbrechende Befehle, das oder jenes Sinnlose vollbringen zu sollen.

Die Spiele während des Tages im Garten entspringen nicht jugendlicher Lust, die Mutter ordnet sie an ohne Verständnis, wie alles, was sie tut, um sie in der nächsten Minute zu unterbrechen; ein längeres Beharren bei einer Sache erscheint ihr als Stillstand, gegen den sie glaubt ankämpfen zu müssen wie gegen den Tod. Das Kind traut sich nicht vom Schlosse weg, bleibt immer in Hörweite, es fühlt: es gibt kein Entrinnen, ein Schritt zu weit und schon fällt ein lautes Wort aus den offenen Fenstern herab und hemmt den Fuß.

Die kleine Sabine, ein Bauernmädchen, das unten beim Gesinde wohnt und ein Jahr jünger ist als er, sieht Leonhard nur von weitem, und gelingt es ihnen, einmal für kurze Minuten zusammenzukommen, reden sie in hastigen abgerissenen Sätzen, so wie die Leute, die von sich begegnenden Schiffen einander eilige Worte zurufen.

Der alte Graf, Leonhards Vater, ist lahm auf beiden Füßen, er sitzt den ganzen Tag im Rollstuhl in seinem Bibliothekszimmer, stets im Begriffe zu lesen; aber auch hier ist keine Ruhe, stündlich wühlen die nervösen Hände der Mutter in den Büchern, stauben sie ab und schlagen sie mit den Deckeln aneinander, Merkzeichen flattern auf den Boden, Bände, die heute hier stehen, stehen morgen hoch oben auf den Borden oder türmen sich zu Bergen, wenn plötzlich die Tapeten hinter den Gestellen mit Brot oder Bürsten abgerieben werden sollen. Und ist die Gräfin für eine Zeit in den andern Räumen des Schlosses, so steigert sich nur die Qual des geistigen Wirrwarrs durch das nagende Gefühl der Erwartung, daß sie jeden Augenblick unversehens zurückkommen kann.

Abends, wenn die Kerzen brennen, schleicht sich der kleine Leonhard zu seinem Vater, um ihm Gesellschaft zu leisten, aber es kommt zu keinem Gespräch; wie eine Glaswand, durch die hindurch eine Verständigung unmöglich ist, steht es zwischen ihnen; zuweilen öffnet der Alte, als fasse er gewaltsam den Entschluß, seinem Kinde etwas Wichtiges, Einschneidendes zu sagen, mit einem erregten Vorneigen des Gesichtes den Mund, aber immer bleiben ihm die Worte in der Kehle stecken, er schließt die Lippen wieder, fährt nur stumm und zärtlich mit der Hand über die glühheiße Stirne des Knaben, aber seine Blicke flackern dabei zur Türe hin, die jeden Augenblick eine Störung bringen kann.

Dumpf ahnt das Kind, was in der alten Brust vorgeht, daß es Übervollsein des Herzens und nicht Leere ist, die die Zunge seines Vaters stumm macht, und wieder steigt ihm der Haß gegen die Mutter bitter zum Halse hinauf, die es in Gedanken mit den tiefen Furchen und dem verstörten Ausdruck des Greisengesichtes in den Kissen des Rollstuhls in unklare Verbindung bringt; ein leiser Wunsch, man möge eines Morgens die Mutter tot im Bette finden, wird in ihm wach, und zu der Folter beständiger innerer Unruhe treten die Qualen eines höllischen Wartens – es belauert im Spiegel ihre Züge, ob sich keine Spur von Krankheit in ihnen zeigt, beobachtet ihren Gang voll Hoffnung, die Zeichen beginnender Müdigkeit zu entdecken. Aber eine unerschütterliche Gesundheit belebt die Frau, sie kennt das Schwachsein, scheint immer neue Kraft zu bekommen, je mehr die Menschen in ihrer Nähe siech und schlaff werden.

Von Sabine und der Dienerschaft erfährt Leonhard, daß sein Vater ein Philosoph ist, ein Weiser, und daß in den vielen Büchern lauter Weisheit steht, und er faßt den kindlichen Entschluß, die Weisheit zu erringen – vielleicht fällt dann die unsichtbare Schranke, die ihn von seinem Vater trennt, und die Furchen werden wieder glatt, das gramvolle Greisengesicht wieder jung.

Aber niemand kann ihm sagen, was Weisheit ist, und die pathetischen Worte des Geistlichen, an den er sich wendet: »die Furcht des Herrn, das ist Weisheit«, machen ihn vollends verwirrt.

Daß es die Mutter nicht weiß, steht felsenfest bei ihm, und langsam dämmert ihm daraus die Erkenntnis, daß alles, was sie tut und denkt, das Gegenteil von Weisheit sein muß.

Er faßt sich ein Herz und fragt seinen Vater, als sie einen Augenblick allein sind, was Weisheit ist – unvermittelt, abgerissen, wie ein Mensch, der einen Hilferuf ausstößt; er sieht, wie die Muskeln in dem bartlosen Gesicht seines Vaters arbeiten vor Anstrengung, die richtigen Worte zu finden, die einem wißbegierigen Kindesverstand angepaßt sind – ihm selbst zerspringt der Kopf fast vor krampfhaftem Bemühen, den Sinn der Rede zu begreifen.

Er fühlt genau, warum die Sätze so hastig und abgebrochen aus dem zahnlosen Munde kommen – daß es wieder die Angst vor Störung durch die Mutter ist, die Scheu, daß heilige Samenkörner entweiht werden könnten, wenn sie der zersetzende nüchterne Hauch trifft, den seine Mutter ausströmt – daß sie zum Giftkraut werden können, falls er sie mißversteht.

All seine Mühe, zu erfassen, ist umsonst, schon hört er laute eilige Schritte draußen auf dem Gang, die schrillen abgehackten Befehle und das entsetzliche Rascheln des schwarzen, seidenen Kleides. Die Worte seines Vaters werden schneller und schneller, er will sie auffangen, um sie sich zu merken und später darüber nachzudenken, hascht nach ihnen, wie nach schwirrenden Messern – sie entgleiten ihm, lassen blutende Schnittwunden zurück.

Die atemlosen Sätze: »schon die Sehnsucht nach Weisheit ist Weisheit«, – »ringe nach einem festen Punkt in dir, dem die Außenwelt nichts anhaben kann, mein Kind« – »sieh alles, was geschieht, wie ein gemaltes lebloses Bild an und laß dich davon nicht berühren« – bohren sich in sein Herz ein, aber sie haben eine Maske vor dem Gesicht, die er nicht zu durchdringen vermag.

Er will weiter fragen, die Tür springt auf, ein letztes Wort: »laß die Zeit an dir ablaufen wie Wasser« weht an seinem Ohr vorüber, die Gräfin rast herein, ein Kübel fällt über die Schwelle, schmutzige Flut ergießt sich über die Fliesen. »Steh nicht im Weg! Mach' dich nützlich!« gellt es ihm nach, wie er voll Verzweiflung die Treppen hinuterläuft in sein Zimmer.

Das Bild der Kindheit erlischt, und Meister Leonhard sieht wieder den weißen Forst im Mondschein vor seinem Kapellenfenster – nicht schärfer und nicht schwächer als die Szenen aus seiner Jugend: Vor seinem starren kristallenen Geist ist Wirklichkeit und Erinnerung gleich leblos und lebendig.

Ein Fuchs trabt vorüber, langgestreckt, ohne Laut; der Schnee staubt glitzrig auf, wo sein buschiger Schweif den Boden streift, die Augen leuchten grün aus dem Dunkel der Stämme, verschwinden im Dickicht.

Hagere Gestalten in ärmlicher Kleidung, Gesichter, ausdrucksarm und nichtssagend, verschieden durch das Alter und doch einander so seltsam ähnlich, erstehen vor Meister Leonhard; er hört ihre Namen flüsternd im Ohr, gleichgültige alltägliche Namen, die kaum ein Mittel sind, ihre Träger zu unterscheiden. Er erkennt sie wieder als seine Hauslehrer, die kommen und schon nach einem Monat gehen – nie ist seine Mutter mit ihm zufrieden, entläßt einen nach dem andern, weiß keinen Grund dafür und sucht auch keinen; wenn sie nur da sind und gleich wieder fort wie Blasen in brodelndem Wasser.

Leonhard ist ein Jüngling mit keimendem Flaum auf der Lippe und bereits so groß wie seine Mutter. Wenn er ihr gegenübersteht, sind seine Augen auf gleicher Höhe wie die ihrigen, aber immer muß er wegschauen, wagt den Versuch nicht, zu dem es ihn beständig reizt und stachelt: ihren leeren fahrigen Blick zu bannen und den tödlichen Haß hineinzusengen, den er gegen sie empfindet; jedesmal würgt er es herunter, fühlt, daß der Speichel in seinem Munde bitter wie Galle wird und sein Blut vergiftet.

Er sucht und scharrt in seinem Innern und kann doch die Ursache nicht finden, die ihn so ohnmächtig macht gegen diese Frau mit ihrem unsteten fledermaushaften Zickzackflug.

Ein Chaos von Begriffen dreht sich in seinem Kopf wie ein rasendes Rad, jeder Herzschlag schwemmt neues Trümmerwerk halbfertiger Gedanken in sein Hirn und schwemmt es wieder weg.

Pläne, die keine sind, die sich selbst widerlegen, Wünsche ohne Ziel, blinde heißhungrige Begierden, sich drängend und aneinander zerschellend, tauchen empor aus den Wirbeln der Tiefe, die sie sofort wieder einsaugt; Schreie ersticken in der Brust und können nicht an die Oberfläche.

Eine wilde heulende Verzweiflung ergreift Besitz von Leonhard, steigert sich von Tag zu Tag; in jedem Winkel erscheint ihm gespenstisch das verhaßte Gesicht seiner Mutter, aus den Büchern, wenn er sie aufschlägt, springt es ihm schreckhaft entgegen; er traut sich nicht umzublättern aus Angst, es von neuem zu sehen, wagt nicht sich umzudrehen, daß es nicht leibhaftig hinter ihm stehe: jeder Schatten gerinnt in die gefürchteten Züge, der eigene Atem rauscht wie das schwarze seidene Kleid.

Seine Sinne sind wund und empfindlich wie bloßliegende Nerven; wenn er im Bette liegt, weiß er nicht, ob er träumt oder wacht, und übermannt ihn endlich der Schlaf, wächst aus dem Boden ihre Gestalt im Hemde, weckt ihn und schrillt ihn an: Leonhard, schläfst du schon?

Ein neues, seltsam heißes Gefühl wirft ihn hin und her, beklemmt ihm die Brust, verfolgt ihn und treibt ihn, die Nähe Sabines zu suchen, ohne daß er sich klar wird, was er von ihr will; sie ist erwachsen und trägt Röcke bis zum Knöchel, das Rascheln ihres Kleides erregt ihn noch mehr als das seiner Mutter.

Mit seinem Vater ist keine Verständigung möglich: tiefe Nacht umfängt seinen Geist; in regelmäßigen Zwischenräumen dringt das Stöhnen des Greises grauenhaft durch die Hetzjagd im Hause, Stunde für Stunde waschen sie sein Gesicht mit Essig, schieben seinen Sessel dahin und dorthin, quälen den Sterbenden zu Tode.


Leonhard wühlt sich mit dem Kopf in die Kissen, um nicht zu hören – ein Diener zupft ihn am Ärmel: »Um Gotteswillen schnell, schnell, mit dem alten Herrn Grafen geht's zu Ende.«

Leonhard springt auf, begreift nicht, wo er ist und daß die Sonne scheint, und wieso es nicht finstere Nacht wird, wenn sein Vater stirbt; er taumelt, sagt sich mit steifen Lippen vor, daß er das alles nur träumt, läuft hinüber ins Krankenzimmer; nasse Handtücher hängen in Reihen zum Trocknen an Wäscheschnüren quer durch den Raum, Körbe versperren den Weg, der Wind bläst durch die offenen Fenster herein und bauscht die weiße Leinwand – ein Röcheln irgendwoher aus der Ecke.

Leonhard reißt die Stricke herab, daß die Wäsche naß auf den Boden klatscht, schleudert alles beiseite, kämpft sich hin zu den brechenden Augen, die ihm aus dem Rollstuhl, als der letzte Vorhang fällt, blind und gläsern entgegenstarren, stürzt auf die Knie, drückt die teilnahmslose, vom Todesschweiß feuchte Hand an seine Stirn; er will das Wort »Vater« rufen und kann nicht, es fehlt plötzlich in seinem Gedächtnis; es liegt ihm auf der Zunge, aber er vergißt es voll Entsetzen in der nächsten Sekunde, eine wahnsinnige Angst drosselt ihn, daß der Sterbende nicht mehr zu sich kommt, wenn er ihm das Wort nicht zuruft – daß nur dieses Wort allein die Macht hat, das erlöschende Bewußtsein von der Schwelle des Lebens für einen kurzen Augenblick noch zurückzubringen; er rauft sich das Haar und schlägt sich ins Gesicht: tausend Worte stürmen zu gleicher Zeit auf ihn ein, nur das eine, das er mit brennendem Herzen sucht, will nicht erscheinen – und das Röcheln wird schwächer und schwächer.

Stockt.

Fängt wieder an.

Bricht ab.

Verstummt.

Der Mund klappt auf. Bleibt offen stehen.

»Vater!« schreit Leonhard auf; endlich ist das Wort da, aber der, dem es gilt, rührt sich nicht mehr.

Tumult entsteht auf den Treppen; schreiende Stimmen, hallende laufende Schritte auf den Gängen, der Hund schlägt an, heult dazwischen. Leonhard achtet nicht darauf, er sieht und fühlt nur die furchtbare Ruhe auf dem starren leblosen Gesicht; sie erfüllt das Zimmer, strahlt auf ihn über, hüllt ihn ein. Ein betäubendes Gefühl von Glück, das er nicht kennt, legt die Hand auf sein Herz, ein Empfinden einer unbeweglichen Gegenwart, die jenseits von Vergangenheit und Zukunft steht – ein stummes Frohlocken, daß eine Kraft ringsum schwingt, in die man sich flüchten kann vor der wirbelnden Unruhe im Haus wie in eine Wolke, die unsichtbar macht.

Die Luft ist voll Glanz.

Leonhard stürzen die Tränen aus den Augen.

Ein prasselndes Geräusch, wie die Tür aufspringt, macht ihn zusammenfahren, seine Mutter eilt herein – »es ist keine Zeit zum Weinen jetzt; siehst doch, 's gibt alle Hände voll zu tun«, trifft es ihn mit Peitschenhieb; Befehle schwirren, einer hebt den andern auf, die Mägde schluchzen, man jagt sie hinaus, in fliegender Hast schleppen die Diener die Möbel auf den Gang, Glasscheiben klirren, Arzneiflaschen zerbrechen, man soll den Doktor holen, nein: den Geistlichen, halt, halt, nicht den Geistlichen: den Totengräber, er soll die Schaufel nicht vergessen, einen Sarg bringen, Nägel zum Zunageln, die Schloßkapelle aufsperren, die Gruft herrichten jetzt gleich, auf der Stelle, wo die brennenden Kerzen bleiben und warum niemand die Leiche aufbahrt! – muß man denn alles zehnmal sagen!?

Mit Schaudern sieht Leonhard, wie der tolle Hexentanz des Lebens sogar vor der Majestät des Todes nicht haltmacht und Schritt für Schritt einen überaus scheußlichen Sieg gewinnt – fühlt, daß der Frieden in seiner Brust zergeht wie ein Hauch.

Sklavisch gehorsame Hände greifen schon nach dem Rollstuhl mit dem Verstorbenen darin, um ihn fortzutragen; er will dazwischen springen, den Toten schützen, breitet die Arme aus – sie fallen ihm kraftlos herab. Er beißt die Zähne zusammen und zwingt sich, die Augen seiner Mutter zu suchen, ob denn keine Spur von Leid oder Trauer in ihnen zu lesen ist: keinen Sekunde ist ihr unsteter, ruheloser Affenblick zu fassen; schweift von Winkel zu Winkel, auf und nieder, von der Decke zur Wand, vom Fenster zur Tür in wahnwitziger schmeißfliegenhafter Eile und verrät ein Geschöpf ohne Seele – eine Besessene, an der Schmerz und Empfindung abprallen wie Pfeile von einer wirbelnden Scheibe, ein scheußliches Rieseninsekt in Weibsgestalt, das den Fluch ziel- und zweckloser Arbeit auf Erden verkörpert. Lähmender Schrecken durchzuckt Leonhard, er starrt sie an wie ein Wesen, das er zum erstenmal sieht, entsetzt sich vor ihr; sie hat nichts Menschliches mehr für ihn, ist ihm plötzlich ein urfremdes Geschöpf aus einer teuflischen Welt, halb Kobold, halb boshaftes Tier.

Das Gefühl, daß sie seine Mutter ist, läßt ihn das eigene Blut als etwas Feindseliges, das ihm Leib und Seele zerfrißt, empfinden, macht sein Haar sträuben, jagt ihm Furcht ein vor sich selbst, hetzt ihn hinaus – nur fort, fort aus ihrer Nähe; er flieht in den Park, weiß nicht, was er will, wohin er soll, rennt gegen einen Baum, fällt rücklings zu Boden, verliert das Bewußtsein.


Meister Leonhard starrt hinein in ein neues Bild, das vorüberzieht wie ein Fiebertraum: die Kapelle, in der er sitzt, ist hell von Kerzenschein, ein Priester murmelt vor dem Altar, Geruch von welkenden Kränzen, ein offener Sarg, der Tote im weißen Rittermantel, die wachsgelben Hände auf der Brust gefaltet. Goldglanz blinkt um dunkle Heiligenbilder, schwarze Männer stehen im Halbkreis; betende Lippen, dumpfe kalte Erdluft dringt aus dem Boden, eine eiserne Falltür mit blankem Kreuz steht halb offen, ein gähnendes viereckiges Loch darunter führt in die Gruft hinab. Gedämpfter Gesang in lateinischer Sprache, Sonnenlicht hinter farbigem Glasfenster wirft grüne, blaue, blutrote Flecken auf schwebende Weihrauchschwaden, silbernes eindringliches Läuten von der Decke, die Hand des Geistlichen in spitzenbesetztem Ärmel schwingt den Weihwedel über dem Gesicht des Toten. – Plötzlich Bewegung ringsum, zwölf weiße Handschuhe werden flink, heben die Bahre vom Katafalk, schließen den Deckel, Seile straffen sich, der Sarg sinkt in die Tiefe; die Männer steigen die steinernen Stufen hinab, dumpfes Hallen aus dem Gewölbe, Sand knirscht, feierliche Stille. Lautlos tauchen ernste Gesichter empor aus der Gruft, die Falltür neigt sich, klappt ins Schloß, Staub wirbelt aus den Fugen, das blanke Kreuz liegt waagrecht. – Die Kerzen erlöschen, verglimmen; an ihrer Stelle flackern wieder die Kienspäne auf dem kleinen Herd, Altar und Heiligenbilder werden zur kahlen Wand. Erde bedeckt die Quadern, die Kränze zerfallen zu Moder, die Gestalt des Priesters zergeht in der Luft, Meister Leonhard ist wieder allein mit sich selbst.

Seit der alte Graf nicht mehr lebt, gärt es unter der Dienerschaft; die Leute weigern sich, den sinnlosen Befehlen zu gehorchen, einer nach dem andern schnürt sein Bündel und geht. Die wenigen, die übrigbleiben, sind trotzig und widerwillig, verrichten nur die nötigste Arbeit, kommen nicht, wenn man sie ruft.

Mit zusammengekniffenen Lippen rast Leonhards Mutter nach wie vor durch die Stuben, aber der helfende Troß fehlt; wutfauchend rüttelt sie an den schweren Schränken, die sich nicht von der Stelle rühren unter ihren ungeschickten Griffen, die Kommoden sind wie angeschraubt, Schubladen spreizen sich, gehen nicht auf, nicht zu; was sie anfaßt, fällt ihr aus der Hand, niemand hebt es auf; tausend Dinge liegen umher, Gerümpel sammelt sich an, wächst zu unübersteiglichen Hindernissen, keiner, der Ordnung schafft. Die Bücherbretter rutschen von den Leisten, eine Lawine von Bänden verschüttet das Zimmer, macht es unmöglich, zum Fenster zu gelangen, der Wind rüttelt daran, bis die Scheiben zerbrechen; der Regen ergießt sich in Strömen herein, und bald überzieht Schimmel alles mit einer grauen Decke. Die Gräfin tobt wie eine Irrsinnige, hämmert mit den Fäusten gegen die Wände, schnappt nach Luft, kreischt, reißt in Fetzen, was sich zerreißen läßt. Der ohnmächtige Grimm, daß ihr niemand mehr gehorcht – daß sie sogar ihren Sohn, der seit seinem Sturz noch am Stocke geht und nur mühselig humpelt, nicht als Diener verwenden kann, raubt ihr vollends den letzten Rest von Besinnung: oft redet sie stundenlang halblaut mit sich selbst, knirscht mit den Zähnen, schreit zornig auf, läuft wie ein wildes Tier durch die Gänge.

Aber allmählich geht eine seltsame Veränderung in ihr vor, ihre Züge werden hexenhaft, die Augen bekommen einen grünlichen Schimmer, sie scheint Phantome zu sehen, horcht plötzlich mit offenem Mund in die Luft wie auf Worte, die ihr jemand zuflüstert, frägt: was, was, was, was soll ich?

Der Dämon in ihr wirft nach und nach die Maske ab, ihr planloser Tätigkeitsdrang macht einer bewußten berechnenden Bosheit Platz. Sie läßt die Gegenstände in Ruhe, rührt nichts an; Schmutz und Staub sammelt sich überall an, die Spiegel erblinden, Unkraut wuchert im Garten, kein Ding ist mehr am richtigen Ort, die notwendigsten Geräte sind unauffindbar; das Gesinde macht sich erbötig, den ärgsten Wirrwarr zu beseitigen, sie verbietet es mit barschen Worten – es ist ihr recht, daß alles drunter und drüber geht, die Ziegel vom Dache fallen, das Holzwerk verfault, die Leinwand verstockt – mit hämischer Schadenfreude sieht sie, daß eine neue Art Qual an Stelle der alten lebensvergällenden Ruhelosigkeit tritt, ein Verzweiflung erzeugendes Unbehagen ihre Umgebung befällt; sie spricht mit niemand eine Silbe mehr, gibt keine Befehle, aber alles, was sie tut, geschieht mit der tückischen Absicht, die Dienerschaft beständig in Schrecken und Aufregung zu versetzen. Sie spielt die Wahnsinnige, schleicht sich nachts in die Schlafkammern der Mägde, wirft Krüge krachend zu Boden, lacht schrill auf. Absperren nützt nichts: sie zieht sämtliche Schlüssel im Hause ab –; es gibt keine einzige Tür mehr, die sie nicht mit einem Ruck aufreißen kann. Sie nimmt sich nicht die Zeit, sich zu kämmen, die Haare hängen ihr wirr um die Schläfen, sie ißt im Gehen, legt sich nicht mehr schlafen. Halb angezogen, damit das Rascheln der Kleider ihr Kommen nicht verrät, huscht sie auf leisen Filzschuhen, um wie ein Gespenst da und dort aufzutauchen, durchs Schloß.

Selbst in der Nähe der Kapelle geistert sie bei Mondschein umher. Niemand traut sich mehr hin; das Gerede entsteht, daß der Tote dort spukt.

Nie läßt sie sich irgendwelche Hilfe leisten, was sie braucht, holt sie sich selber; sie weiß genau, daß ihr stummes blitzartiges Erscheinen mehr Furcht unter dem abergläubischen Gesinde erzeugt, als wenn sie herrisch auftritt; die Leute verständigen sich nur noch im Flüsterton, keiner wagt ein lautes Wort, alles ist vom bösen Gewissen befallen, trotzdem nicht der geringste Grund dazu vorliegt.

Auf ihren Sohn hat sie es besonders abgesehen; heimtückisch benützt sie bei jeder Gelegenheit ihr natürliches Übergewicht als Mutter, das Gefühl der Abhängigkeit in ihm zu vertiefen, schürt seine nervöse Angst, sich nie unbeobachtet zu wissen, zur Wahnvorstellung beständigen Ertapptwerdens, bis es wie der Alpdruck ewigen Schuldbewußtseins auf ihm lastet. Wenn er es hie und da versucht, sie anzureden, schneidet sie nur höhnische Grimassen, daß ihm das Wort im Munde quillt und er sich vorkommt wie ein Verbrecher, dem die Verworfenheit wie ein Brandmal auf der Stirne geschrieben steht; die dumpfe Furcht, daß sie seine geheimsten Gedanken lesen könne und wie es mit ihm und Sabine bestellt sei, wird zur schreckhaften Gewißheit, wenn ihr stechender Blick auf ihm ruht; beim leisesten Geräusch, das er hört, bemüht er sich krampfhaft, ein unbefangenes Gesicht zu machen – immer weniger gelingt es ihm, je mehr er sich dazu zwingt.

Heimliche Sehnsucht und Verliebtheit ineinander spinnen sich an zwischen Sabine und ihm. Sie stecken sich Briefchen zu, empfinden es als Todsünde; bald verdorren unter dem Pesthauch des immerwährenden Sichverfolgtfühlens alle zarteren Triebe, und eine unbändige tierische Brunst erfaßt sie. Sie stellen sich auf an Ecken, wo zwei Gänge sich kreuzen, so daß sie einander zwar nicht sehen, aber eines der beiden das Kommen der Gräfin bemerken muß und den anderen Teil warnen kann – so sprechen sie mitsammen in der Angst, die kostbaren Minuten zu verlieren, ohne jede Umschreibung, nennen die Dinge unverblümt beim Namen, erhitzen gegenseitig das Blut immer mehr und mehr.

Aber der Raum um sie wird enger und enger. Als ob die Alte ahnt, was vorgeht, versperrt sie das zweite Stockwerk, dann das erste; nur das Erdgeschoß, wo das Gesinde aus- und eingeht, steht noch zur Verfügung; sich auf weitere Strecken vom Schloß zu entfernen, ist verboten, der Park bietet keine Schlupfwinkel weder bei Tag noch bei Nacht; erhellt ihn das Mondlicht, kann man ihre Gestalten von den Fenstern aus sehen, ist es dunkel, droht jeden Augenblick die Gefahr, beschlichen zu werden.

Ihre Begierden wachsen ins Unbezähmbare, je mehr sie sie unterdrücken müssen; offen die Schranken zu durchbrechen, kommt ihnen nicht entfernt in den Sinn: die Zwangsvorstellung, wehrlos wie Sklaven unter einer fremden dämonischen Macht zu stehen, die über Leben und Tod gebieten kann, ist ihnen von Kindheit an zu tief eingeimpft, als daß sie auch nur den Versuch wagten, einander in der Gegenwart seiner Mutter ins Gesicht zu sehen.

Ein glutheißer Sommer dorrt die Wiesen, der Erdboden klafft vor Trockenheit, abends flammt der Himmel im Wetterleuchten. Das Gras ist gelb, betäubt die Sinne mit schwülem Heugeruch, heiße Luft zittert um die Mauern; die Brunst der beiden erreicht ihren höchsten Grad, ihr ganzes Sinnen und Trachten richtet sich auf einen Punkt; wenn sie sich erblicken, können sie sich kaum halten, nicht übereinander herzufallen.

Eine schlaflose fiebrige Nacht mit wachen, wilden, begehrlichen Träumen; so oft sie die Augen öffnen, sehen sie Leonhards Mutter hereinspähen, hören ihr Schleichen an den Schwellen – sie nehmen es wahr halb als Wirklichkeit, halb als ein Hirngespinst, kümmern sich kaum darum, können den kommenden Tag nicht erwarten, um sich endlich, koste es, was es wolle, in der Kapelle zu treffen.

Den ganzen Morgen bleiben sie in ihren Zimmern und horchen mit stockendem Atem und bebenden Knien an den Türspalten auf Anzeichen, daß sich die Alte in entlegeneren Teilen des Schlosses befindet.

Stunde um Stunde vergeht in markversengender Qual, es schlägt Mittag, da – ein Geräusch wie von klirrenden Schlüsseln im Inneren des Hauses, das ihnen Sicherheit vortäuscht; – sie stürzen hinaus in den Garten; die Pforte der Kapelle ist angelehnt, sie stoßen sie auf, schlagen sie hinter sich zu, daß sie knallend in den Riegel schnappt.

Sie sehen nicht, daß die eiserne Falltür, die hinab zur Gruft führt, offensteht; nur von einer Holzspreize gestützt – sehen das gähnende viereckige Loch im Boden nicht, fühlen den eiskalten Hauch nicht, der aus dem Totengewölbe dringt; sie verschlingen sich mit den Blicken wie Raubtiere; Sabine will reden – bringt nur ein lechzendes Lallen hervor; Leonhard reißt ihr die Kleider vom Leib, wirft sich über sie; keuchend verbeißen sie sich ineinander.

Im Sinnenrausch entschwindet ihnen das Verständnis für ihre Umgebung; schlürfende Schritte tasten die steinernen Stufen aus der Gruft herauf, sie hören es deutlich, aber es bleibt für ihr Bewußtsein dessen, was vorgeht, belanglos wie Rascheln von Laub.

Hände tauchen aus dem Schacht, suchen einen Halt an den Rändern der Quadern, ziehen sich empor.

Langsam wächst eine Gestalt aus dem Boden; Sabine sieht es mit halbgeschlossenen Lidern, wie hinter roten Schleiern; plötzlich durchzuckt sie die jähe Erkenntnis der Lage, sie stößt einen gellenden Schrei aus: – es ist die grauenhafte Alte, dieses furchtbare Überall und Nirgends, die da aus der Erde steigt.

Entsetzt springt Leonhard auf, starrt einen Moment wie gelähmt in das hämisch verzerrte Gesicht seiner Mutter, dann bricht eine schäumende wahnwitzige Wut in ihm los; mit einem Fußtritt schleudert er die Holzspreize fort: die Falltür saust hernieder, trifft krachend den Schädel der Alten und schmettert sie in die Tiefe, daß man hört, wie ihr Körper dumpf unten aufschlägt. –

Unfähig, ein Glied zu rühren, stehen die beiden mit aufgerissenen Augen und stieren sich wortlos an. Die Beine schlottern ihnen unter dem Leib.

Langsam kauert sich Sabine nieder, um nicht umzufallen, verbirgt stöhnend das Gesicht in den Händen; Leonhard schleppt sich zum Betstuhl. Laut schlagen seine Zähne zusammen.

Minuten vergehen. Keines wagt sich zu bewegen, ihre Blicke weichen einander aus; dann, von demselben Gedanken gepeitscht, stürzen sie zur Tür ins Freie, zurück ins Haus wie von Furien gehetzt.

Das Abendbrot verwandelt das Wasser im Brunnen in eine Blutlache, die Fenster des Schlosses glühen in lohenden Flammen, die Schatten der Bäume wachsen zu langen dünnen schwarzen Armen, die sich mit Zoll um Zoll vorwärts schleichenden Fingern über den Rasen tasten, das letzte Zirpen der Grillen zu ersticken. Der Glanz der Luft wird stumpf unter dem Atem der Dämmerung. Dunkelblaue Nacht zieht auf.

Kopfschüttelnd tauscht die Dienerschaft Vermutungen, wo die Gräfin bleibt; man fragt den jungen Herrn, er zuckt die Achseln, wendet das Gesicht ab, damit sie seine Leichenblässe nicht sehen.

Brennende Laternen schwanken durch den Park; man sucht die Ufer des Teiches ab, leuchtet ins Wasser, es ist schwarz wie Asphalt und wirft den Schein zurück; die Mondsichel schwimmt darauf, aufgescheucht flattern die Sumpfvögel im Schilf.

Der alte Gärtner bindet den Hund los, durchstreift den Forst ringsum, seine rufende Stimme dringt zuweilen herüber aus weiter Ferne; jedesmal fährt Leonhard auf, das Haar sträubt sich ihm, sein Blut stockt, denn er glaubt, es kann seine Mutter sein, die da aufschreit unter der Erde.

Die Uhr zeigt auf Mitternacht. Noch immer ist der Mann nicht zurück, das unbestimmte Gefühl eines drohenden Unheils legt sich dem Gesinde auf die Brust; sie sitzen zusammengedrängt in der Küche, erzählen einander schauerliche Geschichten von dem rätselhaften Verschwinden von Menschen, die dann als Werwölfe die Gräber aufscharren und sich von den Leibern der Toten nähren.

Tage und Wochen schwinden dahin: keine Spur von der Gräfin; man fordert Leonhard auf, er solle eine Messe lesen lassen für ihr Seelenheil, er schlägt es heftig ab. Die Kapelle wird ausgeräumt, nur ein geschnitzter goldener Betstuhl bleibt darin, in dem er stundenlang zu sitzen pflegt und vor sich hinbrütet; er duldet nicht, daß irgend jemand den Raum betritt. Das Gerede entsteht, daß, wenn man durchs Schlüsselloch hineinspäht, man ihn oft mit dem Ohr auf dem Boden liegen sieht, als horche er in die Gruft hinunter.

Nachts schläft Sabine in seinem Bett, sie machen kein Hehl daraus, daß sie zusammenleben wie Mann und Weib.

Das Gerücht von einem geheimnisvollen Mord dringt ins Dorf hinüber, will nicht verstummen, frißt sich immer weiter und weiter ins Land; eines Tages fährt ein spindeldürrer Ratsschreiber mit Perücke in einer gelben Postkutsche vor, Leonhard sperrt sich mit ihm lange ein; der Mann reist wieder ab, Monate vergehen und man hört nichts mehr von ihm, dennoch will das bösartige Geraune im Schloß kein Ende nehmen.

Niemand zweifelt, daß die Gräfin tot sein muß, aber sie lebt weiter als unsichtbares Gespenst, jeder fühlt ihre boshafte Gegenwart.

Man begegnet Sabinen mit finsteren Blicken, mißt ihr irgendwie die Schuld an bei dem Geschehnis, bricht plötzlich das Gespräch ab, wenn der junge Graf erscheint.

Leonhard sieht alles, was vorgeht, aber er tut, als ob er es nicht merke, trägt ein abstoßendes herrisches Wesen zur Schau.

Im Hause bleibt alles beim alten; Schlingpflanzen klettern die Mauern empor, Mäuse, Ratten und Eulen nisten in den Zimmern, das Dach ist brüchig, freiliegendes Gebälk wird morsch und faul.

Nur in der Bibliothek herrscht einigermaßen Ordnung, aber die Bücher sind fast vermodert von der Nässe des Regens und kaum mehr leserlich.

Ganze Tage hockt Leonhard über den alten Bänden, sucht mühsam die halbverwischten Blätter zu entziffern, die die ruckweise hingeworfenen Schriftzüge seines Vaters tragen; und immer muß Sabine in seiner Nähe sein.

Wenn sie sich entfernt, erfaßt ihn eine wilde Unruhe, selbst in die Kapelle geht er nicht mehr ohne sie; aber sie sprechen nie mitsammen, nur in der Nacht, wenn er bei ihr liegt, kommt es wie ein Delirium über ihn, und seine Erinnerung speit in verworrenen endlosen hastigen Sätzen wieder aus, was er tagsüber aus den Büchern in sich schlingt; er fühlt genau, warum er es tun muß – daß es nur der Verzweiflungskampf seines Hirns ist, das sich mit jeder Faser wehrt, um das entsetzliche Bild der ermordeten Mutter nicht im Dunkeln deutlich werden zu lassen, das gräßliche schmetternde Krachen der Falltür, das sich wieder und wieder ins Ohr drängen will, durch den Laut der eigenen Worte zu übertönen; Sabine hört ihm in starrer Regungslosigkeit zu, unterbricht ihn mit keiner Silbe, aber er fühlt, daß sie nichts erfaßt von dem, was er sagt, liest aus dem leeren Blick ihrer Augen, die immerwährend auf ein und denselben Punkt in der Ferne schauen, woran sie ohne Unterlaß denken muß.

Dem Druck seiner Hand antworten ihre Finger erst nach langen Minuten, aus ihrem Herzen kommt kein Echo; er sucht sich und sie in den Strudel der Leidenschaft zu stürzen, um zurückzufinden in die Tage, die vor dem Geschehnis liegen, und sie zum Ausgangspunkt eines neuen Daseins zu machen. Sabine erwidert seine Umarmung wie in tiefem Schlummer, und ihm graut vor ihrem schwangeren Leib, in dem ein Kind als Zeuge einer Mordtat dem Leben entgegenreift.

Sein Schlaf ist bleiern und ohne Traum, dennoch bringt er kein Vergessen; es ist das Versinken in grenzenloses Alleinsein, in dem selbst die Bilder des Schreckens dem Anblick entschwinden und nur das Gefühl einer würgenden Qual zurückbleibt – ein plötzliches Dunkelwerden der Sinne, wie es ein Mensch empfindet, der mit geschlossenen Augen beim nächsten Pulsschlag den Hieb des Henkerbeils erwartet.

Jeden Morgen, wenn Leonhard erwacht, will er sich aufraffen, den Kerker der marternden Erinnerung zu durchbrechen, ruft sich die Worte seines Vaters, nach einem festen Punkt in seinem Inneren zu suchen, ins Gedächtnis zurück – da fällt sein Blick auf Sabine, er sieht, wie sie ein Lächeln zu erzwingen versucht, ihre Lippen nur zu einem Krampf verzerren kann, und wiederum beginnt die wilde Flucht vor sich selbst.

Er beschließt, sich eine andere Umgebung zu schaffen, schickt die Dienerschaft fort, behält bloß den alten Gärtner und dessen Weib: die Einsamkeit mit ihrem Lauern wird nur um so tiefer, das Gespenst der Vergangenheit lebendiger und lebendiger.

Es ist nicht das böse Gewissen und das Schuldbewußtsein der Bluttat, das Leonhard elend macht – keine Sekunde beschleicht ihn Reue: der Haß gegen die Mutter ist so riesengroß wie am Sterbetag seines Vaters, aber daß sie jetzt als unsichtbare Kraft zugegen ist, zwischen ihm und Sabine steht als gestaltloser Schemen, den er nicht bannen kann, daß er die furchtbaren Augen beständig auf sich ruhen fühlt, die Szene in der Kapelle immerwährend in sich herumschleppen muß wie eine ewig eiternde Wunde, ist, was ihn bis zum Wahnsinn foltert.

Er glaubt nicht, daß die Toten wieder auf Erden erscheinen können, aber daß sie weiterleben auf viel schrecklichere Art auch ohne Hülle, nur als teuflischer Einfluß, gegen den nicht Tür noch Riegel, kein Fluch, kein Gebet schützen, erfährt er als Gewißheit an sich selbst, sieht es täglich an Sabine. Jeder Gegenstand im Haus ruft die Erinnerung an seine Mutter wach, kein Ding, das nicht verseucht ist von ihrer Berührung, nicht stündlich ihr Bild neu in ihm gebärt; die Falten der Vorhänge, zerknüllte Wäsche, die Maser der Täfelung, die Linien und Punkte in den Fliesen, – alles, was er anblickt, formt sich zu ihrem Antlitz; die Ähnlichkeit mit ihren Zügen springt ihm wie eine Viper aus dem Spiegel entgegen, macht seinen Herzschlag kalt in dumpfem Bangen: das Unmögliche könne sich begeben, daß sich sein Gesicht plötzlich in das ihre verwandle – ihm anhafte als grausige Erbschaft bis zu ihrem Lebensende.

Die Luft ist voll von ihrer erstickenden geisterhaften Anwesenheit; das Knacken der Dielen klingt, als stamme es vom Tritt ihres Fußes, weder Kälte noch Hitze vertreiben sie, ob Herbst ist, klarer eisiger Wintertag, lauter süchtiger Frühlingswind, sie wehen nur über die Oberfläche – keine Jahreszeit, keine äußere Veränderung kann ihr etwas anhaben, ununterbrochen ringt sie nach Gestaltung, nach immer deutlicherem Sichtbarwerden, nach bleibendem Zurformgerinnen.

Leonhard fühlt es wie einen unabwendbaren Felsblock innerer Überzeugung auf sich lasten, daß es ihr eines Tages gelingen muß, wenn er es sich auch nicht ausdenken kann, auf welche Weise es geschehen mag.

Nur aus dem eigenen Herzen kann ihm noch Hilfe kommen, denn die Außenwelt ist mit ihr im Bündnis, begreift er. Aber die einst von seinem Vater in ihn gepflanzte Saat scheint verwelkt, der kurze Augenblick des Erlöstseins und des Friedens von damals will nicht wiederkehren; so sehr er sich auch abmüht, sie in sich zu erwecken, er kann nur die schalen Eindrücke heraufbeschwören, die wie künstliche Blumen sind, ohne Duft, mit Stengeln aus häßlichem Draht.

Er sucht ihnen Leben einzuhauchen, indem er die Bücher liest, die das geistige Band schlingen zwischen ihm und seinem Vater, doch sie rufen keinen Widerhall hervor in ihm, bleiben ein Labyrinth von Begriffen.

Fremdartige Dinge geraten in seine Hände, wie er mit dem steinalten Gärtner zusammen unter dem Wust von Folianten gräbt: Pergamente in Chifferschrift, Bilder, die einen Bock darstellen mit goldenem bärtigen Männergesicht, Teufelshörner an den Schläfen, und Ritter in weißen Mänteln, die Hände zum Gebet gefaltet, davor, mit Kreuzen auf der Brust, die nicht aus Balken gefügt sind, sondern aus vier in den Knien rechtwinkelig gebeugten, laufenden Menschenbeinen – das Satanskreuz der Templer, wie ihm der Gärtner widerstrebend sagt – dann ein kleines verblaßtes Porträt einer altmodisch gekleideten Matrone, nach dem in bunten Glasperlen gestickten Namen, der darunter steht, seine Großmutter – mit zwei Kindern auf dem Schoß, einem Knaben und einem Mädchen, deren Züge ihm seltsam bekannt vorkamen, so daß er lange den Blick von ihnen nicht wenden kann und die dunkle Ahnung in ihm aufsteigt, es müssen seine Eltern sein, trotzdem es offenbar Geschwister sind.

Die plötzliche Unruhe im Gesicht des Alten, die Scheu, mit der er seinen Augen ausweicht, hartnäckig alle Fragen, wer die beiden Kinder sein mögen, überhört, bestärken in ihn den Verdacht, daß er einem Geheimnis auf der Spur ist, das ihn betrifft.

Ein Bündel vergilbter Briefe scheint zu dem Bild zu gehören, denn es liegt in derselben Schatulle; Leonhard nimmt es zu sich, beschließt, es noch heute zu lesen.

Es ist die vierte Nacht seit langem, die er allein und ohne Sabine verbringt – sie fühlt sich zu schwach bei ihm zu sein, klagt über Schmerzen.

Er geht im Sterbezimmer seines Vaters auf und nieder, die Briefe liegen auf dem Tisch, er will sie zu lesen beginnen, verschiebt es wie unter einem Zwang immer wieder.

Eine neue unbestimmte Furcht, als stehe jemand Unsichtbarer hinter ihm und halte einen Dolch gezückt, drosselt ihn; er weiß: diesmal ist es nicht die spukhafte Nähe seiner Mutter, die ihm den Angstschweiß aus allen Poren treibt – es sind die Schatten einer fernen Vergangenheit, die an die Briefe gebunden sind und darauf lauern, ihn in ihr Reich hinabzuziehen.

Er tritt ans Fenster, sieht hinaus: ringsum atemlose Totenstille, zwei große Sterne stehen dicht beisammen am südlichen Himmel, ihr Anblick ist ihm sonderbar fremd, wühlt ihn auf, er weiß nicht warum – erweckt das Vorgefühl, daß etwas Riesenhaftes hereinbrechen will; wie zwei leuchtende Fingerspitzen ist es auf ihn gerichtet.

Er wendet sich zurück ins Zimmer, die Flammen der beiden Kerzen auf dem Tisch warten regungslos gleich drohenden Boten aus dem Jenseits; es ist, als komme ihr Schein von weither – von einem Ort, wohin keines Sterblichen Hand sie stellen kann; unmerklich schleicht sich die Stunde heran, leise, wie Asche zerfällt, wandern die Zeiger der Uhr.

Leonhard glaubt einen Schrei unten im Schloß zu hören; er horcht: alles liegt stumm.

Er liest die Briefe: das Leben seines Vaters entrollt sich vor ihm, der Kampf eines unbändigen Geistes, der sich bäumt gegen alles, was Gesetz heißt; ein Titan reckt sich vor ihm auf, der keine Ähnlichkeit hat mit dem gebrochenen Greis, den er als seinen Vater kennt, die Gestalt eines Menschen, der über Leichen geht, wenn es sein muß, und sich laut rühmt, gleich all seinen Ahnen ein geweihter Ritter der echten Templer zu sein, die den Satan zum Schöpfer der Welt erheben und schon das Wort »Gnade« als unauslöschlichen Schimpf empfinden. Tagebuchblätter sind dazwischen, die die Qual einer verdurstenden Seele schildern und die Ohnmacht eines Geistes mit von den Mottenschwärmen des Alltags zerfressenen Schwingen andeuten: umzukehren auf einem Pfad, der hinabführt in Dunkelheit von Abgrund zu Abgrund, in Wahnsinn enden muß und jegliches »zurück« vereitelt.

Wie ein roter Faden zieht sich der stetig wiederkehrende Hinweis durch alles, daß es ein ganzes Geschlecht ist, das hier seit Jahrhunderten von Verbrechen zu Verbrechen gepeitscht wird – vom Vater auf den Sohn das finstere Vermächtnis vererbt, nicht zur innern Ruhe gelangen können, da jedesmal ein Weib, sei es als Gattin, Mutter oder Tochter, bald als Opfer einer Blutschuld, bald als Urheberin selbst, den Weg zum geistigen Frieden durchkreuzt; – aber immer wieder leuchtet nach Stellen tiefer Verzweiflung wie ein unbesiegbarer Stern die Hoffnung auf: und doch und doch kommt einer aus unserem Stamm, der aufrecht stehenbleibt, dem Fluch ein Ende bereitet und die »Krone des Meisters« erringt.

Mit jagenden Pulsen überfliegt Leonhard Episoden voll glühender Leidenschaft seines Vaters zur – eigenen Schwester, die ihm enthüllen, daß er selbst die Frucht jener Verbindung ist, und nicht nur er – auch Sabine!

Jetzt wird ihm klar, warum Sabine nicht weiß, wer ihre Eltern sind – daß kein Zeichen ihre wahre Herkunft verrät; er sieht die Vergangenheit lebendig werden und versteht: sein Vater selber ist es, der schützend vor ihn die Arme breitet, indem er Sabine als Bauernmädchen – als Leibeigene niedersten Ranges – erziehen läßt, damit sie beide, Sohn und Tochter – für immer frei bleiben sollen vom Bewußtsein der Schuld an einer Blutschande selbst für den Fall, daß der Fluch der Eltern bei ihnen wiederkehre und sie zusammenführt als Mann und Weib.

Wort für Wort geht es aus einem angsterfüllten Brief seines Vaters, der fern in einer fremden Stadt daniederliegt, an die Mutter hervor, in dem er sie beschwört, nichts zu unterlassen, um künftiger Entdeckung vorzubeugen, und auch den Brief sofort zu verbrennen.

Erschüttert wendet Leonhard die Augen ab; wie ein Magnet zieht es ihn, weiter zu lesen – er ahnt, daß da noch Dinge stehen, die dem Geschehnis in der Kapelle auf ein Haar ähnlich sehen, ihn an die äußerste Grenze des Entsetzens treiben müssen, wenn er sie erfährt – mit einem Schlage, schreckhaft deutlich, wie wenn der Blitz die Finsternis zerreißt, wird ihm die tückische Kampfesweise einer riesenhaften dämonischen Macht offenbar, die, hinter der Maske blinden unbarmherzigen Schicksals verborgen, sein Leben planmäßig zerquetschen will: ein vergifteter Pfeil nach dem andern soll aus unsichtbarem Versteck sein Inneres treffen, bis er unrettbar dahinsiecht, die letzten Fasern von Selbstvertrauen seiner Seele verdorren und er dem gleichen Schicksal wie seine Vorfahren anheimfällt; ohnmächtig und wehrlos zusammenzubrechen; – etwas Tigerhaftes schnellt plötzlich in ihm auf, er hält den Brief in die Flammen der Kerze, bis der letzte glimmende Zunder seine Finger versengt – ein wilder unversöhnlicher Grimm gegen das satanische Ungeheuer, in dessen Hände das Wohl und Wehe der Wesen gelegt ist, verbrennt ihn bis ins Mark, er hört den tausendfachen Racheschrei vergangener, unter den Fängen des Schicksals jammervoll verendeter Geschlechter in den Ohren gellen, jeder Nerv in ihm wird zur geballten Faust, seine Seele ist ein einziges Waffengeklirr.

Er fühlt, daß er etwas Unerhörtes, Himmel und Erde Erschütterndes vollbringen muß, daß das unabsehbare Heer der Toten hinter ihm steht, mit Myriaden Augen auf ihn starrt, nur eines Winkes seiner Hand gewärtig: hinter ihm, dem Lebenden, dem einzigen, der sie in die Schlacht führen kann – drein sich auf den gemeinsamen Feind zu stürzen.

Taumelnd unter dem Aufprall eines Meeres von Kraft, das auf ihn einstürmt, steht er auf, blickt um sich: was, was, was soll er zuerst tun: Feuer an das Haus legen, sich selbst zerfleischen, mit einem Messer in der Hand hinunterlaufen und alles niedermachen, was ihm zu Gesicht kommt?

Eines dünkt ihm zwergenhafter als das andere; das Bewußtsein der eigenen Winzigkeit rüttelt an ihm, er bäumt sich dagegen in jugendlichem Trotz, fühlt ein spöttisches Grinsen ringsum im Raum, das ihn wieder aufstachelte.

Er versucht's mit Besonnenheit, lügt sich hinein in die Gebärde des alles erwägenden Feldherrn, geht zu der Truhe neben dem Schlafzimmer, füllt seine Taschen mit Gold und Juwelen, nimmt Mantel und Hut, schreitet stolz ohne Abschied hinaus in den nächtlichen Nebel, die Brust voll verworrener kindischer Pläne: ohne Ziel durch die Welt zu wandern und dem Herrn des Schicksals ins Antlitz zu schlagen.

Das Schloß verschwindet im weißlich schillernden Dunst hinter ihm, er will der Kapelle ausweichen, muß dennoch an ihr vorbei, der Bannkreis seiner Geschlechter läßt ihn nicht entrinnen – – er ahnt es, fühlt es, zwingt sich, immerwährend geradeaus zu gehen, stundenlang, aber die Schemen der Erinnerung halten gleichen Schritt mit ihm – schwarzes Gebüsch reckt sich hier und dort, gleicht der mörderischen aufklaffenden Falltür; die Unruhe um Sabine quält ihn; er weiß, es ist das erdwärtsziehende fluchbringende Blut der Mutter in seinen Adern, das ihm die Flugkraft hemmen will, mehr und mehr das junge Feuer seiner Begeisterung mit grauer nüchterner Asche verschüttet – er wehrt sich dagegen mit aller Kraft, tappt sich vorwärts von Baum zu Baum, bis er in der Ferne ein Licht erblickt, das in Mannshöhe über dem Boden schwebt; er eilt darauf zu, verliert es aus den Augen, sieht es wieder aus dem Nebel blinken, näher und näher, ein lockender irrlichternder Schein; ein Weg lenkt seine Füße, windet sich nach links und rechts.

Ein leises, kaum vernehmbares rätselhaftes Schreien zittert durch die Dunkelheit.

Dann wuchten hohe schwarze Mauern mitten drin in der Nacht, ein hohes offenes Tor, und Leonhard erkennt – das eigene Haus:

Eine Wanderung durch den Nebel im Kreis umher.

Willenlos und gebrochen tritt er ein, drückt auf die Klinke zu Sabines Zimmer, da packt es ihn plötzlich eiskalt wie tödliche unbegreifliche Gewißheit, daß da drinnen seine Mutter steht, leibhaftig, von Fleisch und Bein, ein lebendig gewordener Leichnam, und auf ihn wartet.

Er will umkehren, zurückfliehen in die Finsternis, er kann nicht: eine unwiderstehliche Macht zwingt ihn, die Türe aufzustoßen.

Auf dem Bette liegt Sabine, verblutet, mit geschlossenen Lidern, weiß wie das Leinen, und vor ihr nackt ein neugeborenes Kind, ein Mädchen, mit faltigem Gesicht, leerem, unruhigem Blick, auf der Stirne ein rotes Mal – Zug um Zug das grauenhafte Ebenbild der Erschlagenen aus der Kapelle.

Meister Leonhard sieht einen Mann hinjagen über die Erde mit von Dornen zerfetzten Kleidern: sich selbst, wie ihn grenzenloses Entsetzen, des Schicksal ureigene Faust, fortpeitscht von Haus und Hof – nicht mehr der selbstgefällige Wunsch, Großes zu vollbringen. –

Die Hand der Zeit baut Stadt hinter Stadt hinein in seinen Geist, düstere und helle, große, kleine, freche und furchtsame, ohne Wahl, zerbröckelt sie wieder, malt Flüsse hin wie gleißende silberne Schlangen, graue Einöden, ein Harlekinkleid aus Äckern und Feldern gewürfelt braun, violett und grün, Landstraßen voll Staub, spitzige Pappeln, dunstige Wiesen, weidendes Vieh und wedelnde Hunde, Heilande an Kreuzwegen, weiße Meilensteine, Menschen, junge und alte, Regenschauer, Tropfenglitzern, goldene Froschaugen in Grabenpfützen, Hufeisen mit rostigen Nägeln, einbeinige Störche, Zäune aus splittriger Rinde, gelbe Blumen, Friedhöfe und wattige Wolken, Höhendampf und Essenlohe, sie kommen und gehen wie Nacht und Tag, sinken hinab in Vergessenheit und gehen wie Nacht und Tag, sinken hinab in Vergessenheit und sind wieder da wie versteckenspielende Kinder, wenn ein Duft, ein Schall, ein leises Wort sie ruft.

Länder, Burgen und Schlösser wandern an Leonhard vorüber, nehmen ihn auf, man kennt den Namen seines Geschlechtes, kommt ihm mit Freundschaft und Feindschaft entgegen.

Er spricht mit dem Volk in den Dörfern, mit Landstreichern, Gelehrten, Krämern, Soldaten und Priestern, das Blut seiner Mutter kämpft in ihm mit dem Blut seines Vaters – was ihn heute mit staunendem Grübeln erfüllt und wie aus tausend Scherben zerbrochenen Glases einen Pfauenschweif von bunten Farben spiegelt, scheint ihm morgen blind und grau, je nachdem Mutter oder Vater den Sieg erringen – dann wieder brüten die langen furchtbaren Stunden, wo die beiden Lebensströme sich vermischen und er sein altes Ich wieder anhat, die Schrecknisse der Erinnerung aus, und er setzt blind, stumm und taub Schritt vor Schritt, umhüllt von den Schwaden der Vergangenheit – sieht zwischen Augapfel und Lid das Greisengesicht des kleinen Kindes, die leblosen lauernden Kerzenflammen, die beiden Sterne, die dicht beisammen am Himmel stehen, den Brief, das mürrische Schloß mit den zermürbenden Qualen, die tote Sabine und ihre schneeweißen Leichenhände, hört das Lallen seines sterbenden Vaters, das Rauschen des seidenen Kleides, das Krachen des berstenden Schädels.

Dann faßt es ihn zuweilen an wie Furcht, abermals im Kreis zu gehen – jeder Wald in der Ferne droht sich in den bekannten Park zu formen, jede Mauer: das eigene Haus zu werden, die Gesichter, die ihm entgegenkommen, wollen den Mägden und Dienern seiner Jugend ähnlicher und ähnlicher sein; – er flüchtet sich in Kirchen, nächtigt im Freien, zieht hinter plärrenden Prozessionen her, betrinkt sich in Schenken mit Dirnen und Strolchen, um sich vor den spähenden Augen des Schicksals zu verbergen, daß es ihn nicht wiederum fange. Er will Mönch werden: der Abt des Klosters entsetzt sich, als er seine Beichte hört und den Namen seines Stammes erfährt, auf dem der Bannfluch der alten Tempelritter lastet; er stürzt sich kopfüber ins brausende Leben, es speit ihn wieder aus; er sucht den Teufel: das Böse ist allgegenwärtig, dennoch kann er den Urheber nicht finden; er sucht ihn im eigenen Selbst, und schon ist dieses Selbst nicht mehr vorhanden – er weiß: es muß da sein, er fühlt es doch jede Sekunde, trotzdem ist es augenblicklich fort, sowie er es sucht, ist jeden Tag ein anderes, ein Regenbogen, der auf der Erde steht und beständig zurückweicht, in der Luft zerfließt, wenn er danach greifen will.

Wohin er blickt, hinter allem sieht er verborgen das Kreuz des Satans aus vier laufenden Menschenbeinen gebildet: überall ein sinnloses Zeugen und Gebären, ein sinnloses Wachsen, ein sinnloses Sterben; er fühlt, daß der Schoß, aus dem das Leiden entspringt, dieses ewig sich drehende Windrad ist, aber die Achse, um die es kreist, bleibt ihm unfaßbar wie ein mathematischer Punkt.

Ein Bettelmönch zieht des Weges, er schließt sich ihm an, betet, fastet, kasteit sich wie er, die Jahre fallen wie die Perlen eines Rosenkranzes, nichts ändert sich, nicht innerlich, nicht äußerlich, nur die Sonne scheint trüber.

Wie früher wird den Armen das Letzte genommen und den Reichen wird doppelt gegeben; je inbrünstiger er fleht um »Brot«: um so härter die Steine, die der Tag ihm reicht – die Himmel bleiben hart wie blauer Stahl.

Der alte unbändige Haß gegen den heimlichen Feind der Menschen, der die Geschicke verhängt, bricht wieder auf in ihm.

Er hört den Mönch predigen von Gerechtigkeit und den Höllenqualen der ewig Verdammten; es klingt ihm wie teuflischer Hahnenschrei – er hört ihn geifern gegen den verruchten Templerorden, der, auf Scheiterhaufen tausendmal verbrannt, immer wieder sein Haupt erhebe, nicht sterben könne und im geheimen, über die ganze Erde verbreitet, unvertilgbar weiter bestehe.

Es ist das erstemal, daß er Genaueres über den Glauben der Templer erfährt: – daß sie zwei höhere Götter haben, einen obern, der fern von den Wesen steht, und einen untern, den Satan, der stündlich die Welt neu erschafft und sie mit Greueln erfüllt, gräßlicher von Tag zu Tag, bis sie endlich völlig im eigenen Blute erstickt – daß über diesen beiden Göttern ein dritter stehe – der Baphomet –, ein Götzenbild mit goldnem Kopf und drei Gesichtern.

Die Worte sengen sich in ihn ein, als sei es der Mund des Feuers selbst, der sie ausspricht.

Er kann nicht in die Tiefen dringen, über denen sich ihr Sinn ausspannt wie ein schwankender Teppich aus Sumpfmoos, aber er fühlt mit unabweisbarer Gewißheit, daß dieser Weg für ihn der einzige ist, auf dem er sich selbst entrinnen kann: der Orden der Templer reckt den Arm nach ihm – die Erbschaft der Vorfahren, der kein Mensch entgehen kann.

Er verläßt den Mönch.

Wieder sind die Scharen der Toten rings um ihn, rufen ihm einen Namen zu, bis seine Lippen ihn wiederholen und er ihn allmählich – Silbe für Silbe – versteht, wie sein Mund ihn ausspricht – es ist, als wachse er gleich einem Baum Zweig um Zweig aus seinem Herzen hervor – ein Name, ihm vollkommen fremd und doch mit seinem ganzen Dasein verwachsen, ein Name mit Purpur und Krone, den er beständig vor sich hinflüstern muß, nicht mehr loswerden kann, dessen Rhythmus Ja–cob–de–Vi–tri–a–co er im Takt empfindet, wie seine Füße beim Gehen den Boden berühren.

Nach und nach wird ihm der Name ein gespenstischer Führer, der vor ihm hergeht, heute als sagenhafter Hochmeister der Ritter vom Tempel, morgen als gestaltlose innere Stimme.

Wie ein in die Luft geworfener Stein seine Bahn ändert und mit wachsender Schnelligkeit zur Erde strebt, bedeutet der Name für Leonhard plötzlich einen Wendepunkt in seinen Wünschen, und ein übermächtiger unerklärlicher Trieb, nichts mehr zu wollen, als den Träger dieses Namens zu finden, verschlingt nach und nach sein ganzes Sinnen und Trachten.

Manchmal will er sich schwören, daß der Name ihm vollkommen neu ist, dann wieder erinnert er sich scharf, daß er in einem Buch seines Vaters steht, an der und der Stelle als Oberhaupt des Ordens verzeichnet; vergeblich sagt er sich vor, daß es zwecklos ist, nach diesem Hochmeister Vitriaco auf Erden zu forschen, daß er einem vergangenen Jahrhundert angehört und seine Gebeine längst im Grabe modern müssen; aber der Verstand hat keine Macht mehr über den Durst des Suchens: das Radkreuz mit den vier laufenden Beinen rollt vor ihm her, unsichtbar, zieht ihn hinter sich drein.

Er forscht in den Adelsarchiven der Ratstuben, fragt Wappenkundige: niemand, der den Namen kennt.

Er stößt endlich in einer Klosterbibliothek auf das gleiche Buch wie das seines Vaters, liest das Buch durch Seite für Seite, Zeile für Zeile: der Name Vitriaco steht nicht darin.

Er zweifelt an seinem Gedächtnis, seine ganze Vergangenheit scheint zu wanken; aber der Name Vitriaco bleibt als einziger fester Punkt, unverrückbar wie ein Felsblock.

Er beschließt, sich ihn für alle Zeiten aus dem Hirn zu reißen, setzt sich heute eine bestimmte Stadt als nächstes Ziel: schon morgen ist's ein ferner undeutlicher Ruf irgendwoher, der wie Vi–tri–a–co klingt, und eine andere Straße führt ihn weit ab vom Wege – ein Kirchturm am Horizont, der Schatten eines Baumes, der deutende Arm eines Meilenzeigers, alles wird, so sehr er sich auch zum Zweifel zwingt, zum weisenden Finger, daß er dem Orte nahe sei, wo der geheimnisvolle Hochmeister Vitriaco lebt und seine Schritte lenkt.

In einer Herberge trifft er einen fahrenden Quacksalber, und eine vage Hoffnung narrt ihn, es könne vielleicht der sein, den er sucht, aber der Quacksalber nennt sich – Doktor Schrepfer. Er ist ein Mann mit kleinen blanken Marderzähnen, dunkler Gesichtsfarbe und listigen Augen, und es gibt nichts auf Erden, das er nicht weiß, keinen Ort, den er nicht kennt, keinen Gedanken, den er nicht errät, kein Herz in dessen Abgründe er nicht schaut, keine Krankheit, die er nicht heilt, keine Zunge, die nicht schwätzt, wenn er will, keinen Pfennig, der vor ihm sicher ist; – die Mädchen drängen sich, daß er ihnen wahrsage aus der Hand und Karten; die Leute verstummen, als er ihnen ihre Vergangenheit zuraunt, schleichen scheu davon.

Leonhard bleibt die ganze Nacht mit ihm beisammen und zecht; im Rausch übermannt ihn bisweilen ein Grausen, daß es kein Mensch ist, der da vor ihm sitzt. Oft verschwinden seine Züge – er sieht nur die weißen Zähne blitzen, hinter denen Worte hervorkommen, halb Echo dessen, was er selber spricht, halb Antworten auf kaum gedachte Fragen.

Als lese der Mann in seinem Gehirn die innersten Wünsche: stets bringt er auch das gleichgültigste Gespräch zum Schluß auf die Templer. Leonhard will ihn aushorchen, ob ihm ein gewisser Vitriaco bekannt ist – aber jedesmal, im letzten Moment, wenn es fast schon zu spät ist, warnt ihn ein tiefes Mißtrauen, und er beißt den Namen entzwei.

Sie reisen zusammen weiter, wohin der Zufall sie führt, von einem Jahrmarkt zum anderen.

Der Doktor Schrepfer frißt Feuer, schluckt Schwerter, verwandelt Wasser in Wein, sticht sich Dolche durch Wange und Zunge, ohne daß es blutet, heilt Besessene, bespricht Wunden, zitiert Gespenster, verhext Mensch und Vieh.

Täglich hat Leonhard vor Augen, daß der Mann ein Betrüger ist, weder lesen noch schreiben kann und dennoch Wunder vollbringt: Lahme werfen die Krücken fort und tanzen, kreißende Weiber gebären, sobald er die Hände auf sie legt, die Krämpfe der Epileptischen hören auf, Ratten laufen in Rudeln aus den Häusern und stürzen sich ins Wasser – er kann sich nicht von ihm losmachen, steht unter seinem Bann und dünkt sich frei.

Kaum will die Hoffnung sterben, daß er durch ihn den Hochmeister Vitriaco jemals finden wird, lodert sie in der nächsten Minute hell wieder auf, durch irgendein doppelsinniges Wort geschürt, und schlägt ihn von neuem in Fesseln.

Alles, was der Gaukler spricht und tut, hat ein zwiefältiges Gesicht: er prellt die Menschen und hilft ihnen damit; er lügt, und seine Reden bergen die höchste Wahrheit; er spricht die Wahrheit, und die Lüge grinst hervor; er phantasiert drauflos: seine Worte werden Prophezeiung; er weissagt aus den Sternbildern: es trifft ein, trotzdem er keine Ahnung hat von Astrologie; er braut Arzneien aus harmlosen Kräutern: sie wirken wie Zauber; er lacht über die Leichtgläubigkeit und ist selber abergläubisch wie ein altes Weib; er verhöhnt das Kruzifix und schlägt das Kreuz, wenn eine Katze über den Weg läuft; stellt man ihm Fragen, erwidert er frech mit den gleichen Worten, die die Wißbegierigen noch im selben Atem gebrauchen, und sie formen sich in seinem Munde zu Antworten, die den Nagel auf den Kopf treffen.

Mit Staunen sieht Leonhard eine wundersame Kraft sich in diesem wertlosen irdischen Werkzeuge offenbaren; allmählich ahnt er den Schlüssel zu dem Rätsel: erblickt er in ihm nur den Schwindler, so kraust sich alles, was er von ihm erfährt, zu Unsinn und Hirngespinst, wendet er sich aber an die unsichtbare Macht, die sich in dem Doktor Schrepfer spiegelt wie die Sonne in einer Pfütze, sofort wird der Quacksalber zu ihrem Sprachrohr, und die Quellen lebendiger Wahrheit brechen auf.

Er wagt den Versuch, überwindet sein Mißtrauen, frägt den Mann, ohne ihn anzusehen – wie in die violetten und purpurnen Wolken des Abendhimmels hinein, ob er den Namen kennt: Jacob de ...

»... Vitriaco«, ergänzt der andere schnell, bleibt stehen wie in Verzückung, verneigt sich tief gegen Westen, setzt eine feierliche Miene auf und erzählt im bebenden Flüsterton, daß endlich die Stunde der Erweckung gekommen ist, daß er selber ein Templer des dienenden Grades sei, berufen, Suchende auf den geheimnisvoll verschlungenen Pfaden des Lebens zum Meister zu führen. Schildert in einem Schwall von Worten die Herrlichkeit, die des Erwählten wartet, den Glanz, der das Angesicht der Brüder umgibt und sie freimacht von Reue jeglicher Art, von Blutschuld, Sünde und Qual und zu Janusköpfen, die in zwei Welten hineinblicken von Ewigkeit zu Ewigkeit, unsterbliche Zeugen des Diesseits und Jenseits – dem Netze der Zeitlichkeit für immer entronnene riesige Menschenfische im Ozean des Daseins, unsterblich hier und dort.

Dann deutet er ekstatisch auf den dunkelbraunen Saum einer Hügelkette am Horizont: daß dort drinnen tief in der Erde inmitten ragender Säulen das Heiligtum des Ordens errichtet stehe, aus Druidensteinen getürmt, wo alljährlich ein einziges Mal im Dunkel der Nacht sich die Jünger des Baphometkreuzes versammeln – die Auserkorenen des unteren Gottes, der die Wesen regiert, die Schwachen zertritt und die Starken zur Sohnschaft erhebt. Nur wer ein wahrhaftiger Ritter sei, ein Frevler von Haupt bis zur Ferse, getauft in den Flammen des geistigen Aufruhrs, und keiner der Winsler, die stündlich zurückbeben vor dem Popanz der Todsünde und sich ohne Unterlaß kastrieren am heiligen Geist, der doch auch ihr eigenstes Ich sei, könne der Aussöhnung mit dem Satan, dem einzigen Gegürteten unter den Göttern, teilhaftig werden, ohne die es nimmermehr eine Heilung des Zwiespaltes gebe zwischen Wunsch und Geschick.

Leonhard hört der schwülstigen Rede zu mit fadem Geschmack auf der Zunge; Ekelhaftes geht von der verlorenen Phantastik aus: daß da mitten in einem Walde deutschen Landes ein verborgener Tempel stehen soll – aber der fanatische Ton, der in den Worten schwingt, dröhnt wie Orgelbrausen sein Denken nieder, er läßt mit sich geschehen, was der Doktor Schrepfer befiehlt, zieht sich die Schuhe aus, sie zünden ein Feuer an, Funken spritzen hinein in die Finsternis der Sommernacht, er trinkt aus einem Napf den scheußlichen Trank, den ihm jener aus Kräutern braut, damit er – rein werde.

»Lucifer, der du Unrecht leidest, ich grüße dich!« soll er sich einprägen als Erkennungszeichen. Er hört den Satz; die Silben stehen seltsam getrennt wie steinerne Pfeiler umher, manche weit weg, wieder welche dicht vor seinem Ohr, sind für ihn nicht mehr Laute, schießen zu Säulen auf, bilden Gänge – so selbstverständlich, wie sich in Halbträumen Dinge ineinander verwandeln können und Großes in Kleines schlüpft.

Der Quacksalber faßt ihn an der Hand, sie wandern, lang lang wie es scheint; Leonhard brennen die nackten Sohlen. Er fühlt Ackerschollen unter den Füßen.

Bodenerhebungen quellen in der Dunkelheit zu lockeren Gebilden.

Augenblicke nüchternen Zweifels wechseln mit unerschütterlicher Zuversicht – das feste Vertrauen, daß irgend etwas Wahres, wie stets bisher, hinter den Versprechungen seines Führers wartet, gewinnt die Oberhand.

Dann kommen seltsam erregende Momente, wo er durch Stolpern über Steine ruckweise erwacht und erkennt, daß sein Körper in tiefem Schlaf dahinwandert; gleich darauf vergißt er sein Aufschrecken wieder, leere Zeiträume von unendlicher Dauer schieben sich dazwischen, drängen seinen Argwohn aus der Gegenwart ab in scheinbar längst vergangenen Epochen.

Der Weg senkt sich.

Breite, hallende Stufen eilen in die Tiefe.

Dann tastet sich Leonhard kalte glatte Marmorwände entlang; – er ist allein, will sich umsehen nach seinem Begleiter – da rauben ihm Posaunenstöße, dröhnend wie der Ruf zur Auferstehung fast die Besinnung, die Knochen vibrieren in seinem Leib, vor den Augen reißt die Nacht entzwei: der Sturm der Fanfaren wird grelles Licht – er steht in einem weißen Kuppelbau.

Mitten im Raum dicht vor ihm schwebt frei – ein goldner Kopf mit drei Gesichtern; das eine gegenüber, in das er flüchtig blickt, deucht ihm sein eigenes, nur jung, der Ausdruck des Todes ist darin, und dennoch strahlt aus dem Schein des Metalls, der die Züge halb verblendet, der Einfluß unzerstörbaren Lebens; es ist nicht die Larve seiner Jugend, die Leonhard sucht, er will die beiden andern Gesichter sehen, die in die Dunkelheit schauen, und das Geheimnis ihrer Miene erkennen, aber immer wenden sie sich von ihm ab: der goldene Kopf dreht sich, wenn er ihn zu umschreiten versucht, hält ihm stets dasselbe Antlitz entgegen.

Leonhard späht umher nach dem Zauber, der das Kopfwesen in Bewegung setzt, da sieht er plötzlich die Wand im Hintergrund durchscheinend wie öliges Glas, und jenseits steht, die Arme ausgebreitet, in zerlumptem Gewand, bucklig, einen Schlapphut tief über de Augen, regungslos wie der Tod, auf einem Hügel aus Leichengebein, daraus spärliche grüne Halme sprießen – der Herr der Welt.

Die Posaunen verstummen.

Das Licht erstirbt.

Der goldene Kopf verschwindet.

Nur der fahle Schein der Verwesung, der die Gestalt umgibt, bleibt bestehen.

Leonhard fühlt, wie Starrheit über seinen Körper kriecht, ihm Glied für Glied lähmt, sein Blut stocken macht, wie sein Herz langsamer und langsamer schlägt und endlich erlischt.

Das einzige, mit dem er noch »ich« sagen kann, ist ein winziger Funke irgendwo in der Brust.

Stunden sickern wie zögernd sich lösende Tropfen, dehnen sich zu endlosen Jahren.

Kaum merkbar gewinnt der Umriß der Gestalt Wirklichkeit: unter dem Anhauch dämmernden Morgengraus schrumpfen langsam ihre Hände an den ausgebreiteten Armen zu Stümpfen aus morschem Holz, die Totenschädel räumen zaudernd runden staubigen Steinen den Platz.

Mühsam richtet Leonhard sich auf; vor ihm reckt sich in drohender Haltung, mit Fetzen umhüllt, das Gesicht zerbrochene Scherben, eine – bucklige – Vogelscheuche empor.

Die Lippen brennen ihm im Fieber, seine Zunge ist wie verdorrt; neben ihm glimmt noch die Asche des Reisigfeuers unter dem Napf mit dem Rest des giftigen Trankes. Der Quacksalber ist fort – mit ihm die letzte Barschaft; Leonhard erfaßt es nur mit halbem Sinn: die Eindrücke des nächtlichen Erlebnisses wühlen zu tief durch ihre nagende Innerlichkeit; wohl ist die Vogelscheuche da nicht länger der Herr der Welt, aber der Herr der Welt ist selber nur mehr eine jämmerliche Vogelscheuche, schreckhaft bloß für die Furchtsamen, unerbittlich gegen die Flehenden, mit Tyrannenmacht bekleidet für die, die Sklaven sein wollen und sie mit dem Nimbus der Macht behängen – ein erbärmliches Zerrbild allen, die frei und stolz sind.

Das Geheimnis des Doktor Schrepfer liegt plötzlich offenbar: die rätselhafte Kraft, die durch ihn wirkt, ist nicht sein eigen, steht auch nicht hinter ihm mit der Tarnkappe. Sie ist die magische Gewalt der Gläubigen, die an sich selbst nicht zu glauben vermögen, sie selber nicht zu gebrauchen wissen, sie auf einen Fetisch übertragen müssen, sei er Mensch, ein Gott, Pflanze, Tier oder Teufel, damit sie wie aus einem Brennspiegel wundertätig zurückstrahle – ist der Zauberstab des wahren Herrn der Welt, des innersten allgegenwärtigen, alles in sich verschlingenden Ichs, der Quelle, die nur geben und niemals nehmen kann, ohne ein machtloses »Du« zu werden, das Ich, auf dessen Geheiß der Raum zerbrechen muß und die Zeit zum goldenen Gesicht ewiger Gegenwart erstarren – das königliche Zepter des Geistes, gegen das zu sündigen der einzige Frevel ist, der nicht vergeben werden kann; ist die Macht, die kund wird durch den Lichtkreis magischer unzerstörbarer Gegenwart, alles in ihren Urgrund saugt.

Götter und Wesen, Vergangenheit und Zukunft, Schatten und Dämonen verhauchen ihr scheinbares Leben darin. Sie ist die Macht, die keine Grenzen kennt und in dem am stärksten wirkt, der selbst der Größte ist, die immer innen ist und niemals außen – alles, was außen bleibt, sofort zur Vogelscheuche macht.

Die Verheißung des Quacksalbers von der Vergebung der Sünden erfüllt sich an Leonhard: kein Wort, das nicht Wahrheit wird; der Meister ist gefunden: Leonhard ist es selbst.

Wie ein großer Fisch ein Loch in das Netz reißt und entrinnt, so ist er erlöst durch sich selbst von dem Vermächtnis des Fluches – ein Erlöser denen, die ihm folgen wollen.

Alles ist Sünde oder nichts ist Sünde, alle Ichs sind ein gemeinsames Ich – klar ist er sich dessen bewußt.

Wo lebt die Frau, die nicht zugleich seine Schwester ist, welche irdische Liebe ist nicht zugleich Blutschande, welches weibliche Tier, und sei es das kleinste, darf er töten, ohne nicht Muttermord und Selbstmord zugleich zu begehen? Ist sein eigener Leib etwas anderes als eine Erbschaft von Myriaden von Tieren?

Niemand ist da, der das Schicksal verhängt, als das eine große Ich, das sich als zahllose Ichbilder spiegelt; als große und kleine, klare und trübe, böse und gute, fröhliche, traurige und doch von Leid und Freude nicht berührt wird, in Vergangenheit und Zukunft als immerwährende Gegenwart bestehen bleibt, gleich wie die Sonne nicht schmutzig und nicht runzlig wird, wenn auch ihr Spiegelbild on Pfützen oder sich kräuselnden Wellen schwimmt, und nicht in Vergangenheit hinabsteigt, nicht aus der Zukunft emportaucht, ob nun die Wasser versiegen oder neue aus Regen sich bilden: niemand ist da, der das Schicksal verhängt, als das große gemeinsame Ich – die Ursache, die Sache, die der Urgrund ist.

Wo bleibt da Raum für die Sünde? Der tückische unsichtbare Feind, der vergiftete Pfeile aus der Finsternis schießt, ist dahin; Dämonen und Götzen sind tot – verreckt wie Fledermäuse am Glanze des Lichts.

Leonhard sieht seine tote Mutter auferstehen mit den ruhelosen Zügen, seinen Vater, seine Schwester und seine Gattin Sabine: sie sind nur mehr Bilder wie seine eigenen vielen Körper in Kindesgestalt, als Jüngling und Mann; ihr wahres Leben ist unvergänglich und ohne jede Form, so wie sein eigenes Ich.

Er schleppt sich zu dem Weiher, den er in der Nähe erblickt, um seine brennende Haut zu kühlen; er empfindet die Schmerzen, die seine Eingeweide zerreißen, nicht mehr als die seinen – so, als seien sie die eines andern.

Vor dem Morgenrot ewiger Gegenwart, die jedem Sterblichen so selbstverständlich dünkt wie das eigene Gesicht und doch so urfremd ist wie das eigene – Gesicht, verbleichen alle Schemen, auch die der leiblichen Qual.

Und wie er die weiche Krümmung der Ufer sinnend betrachtet und die kleinen mit Schilf bestandenen Inseln, überkommt ihn Erinnerung.

Er sieht, daß er wieder daheim im Park seiner Jugend ist.

Eine Wanderung durch die Nebel des Lebens im großen Kreise umher!

Tiefe Zufriedenheit beruhigt sein Herz, Furcht und Grauen sind ausgetilgt, er ist versöhnt mit den Toten und den Lebenden und mit sich selbst.

Das Geschick birgt fortan keine Schrecken für ihn, nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft.

Der goldne Kopf der Zeit hat nur mehr ein einziges Gesicht: die Gegenwart als Gefühl nie endender seliger Ruhe kehrt ihm ihr ewig junges Antlitz zu; die beiden andern sind für immer abgewandt wie die dunkle Hälfte des Mondes von der Erde.

Der Gedanke, daß alles, was sich bewegt, sich zum Kreise schließen muß, daß auch er ein Teil des großen Gesetzes ist, das die Weltenkörper rund macht und rund erhält, bekommt etwas unendlich Tröstliches für ihn; klar erfaßt er den Unterschied zwischen dem Satanszeichen mit den ruhelos laufenden vier Menschenbeinen und dem stillstehenden aufrechten Kreuz. –

Ob seine Tochter wohl noch lebt? Sie muß eine alte Frau sein, kaum zwanzig Jahre jünger als er.

Gelassen schreitet er dem Schlosse zu; der Kiesweg trägt ein buntes Fell aus Fallobst und wilden Blumen, die jungen Birken sind knorrige Riesen in hellen Mänteln, ein schwarzer Trümmerhaufen bedeckt, mit silbernen Unkrautdolden durchwachsen, die Kuppe des Hügels.

Seltsam berührt wandert er in den sonnenheißen Schutthalden umher: eine alte wohlbekannte Welt hebt sich neu in Glanz verklärt aus der Vergangenheit, Bruchstücke, die er findet, da und dort unter verkohltem Gebälk, fügen sich zu einem Ganzen; ein verbogener bronzener Pendel zaubert die braune Uhr der Kinderjahre hinein in wiedergeborene Gegenwart, tausend Blutstropfen alter Qual werden leuchtende rote Sprenkel im Phönixgefieder des Lebens.

Eine Schafherde, von lautlosen Hunden zu breitem grauen Viereck gescheucht, zieht die Wiesen hinunter; er frägt den Hirten nach den Bewohnern des Schlosses, der Mann murmelt etwas von verwunschener Gegend und einem alten Weib, der letzten Bewohnerin der Brandstätte – einer bösartigen Hexe mit einem Blutmal auf der Stirn wie Kain, die unten im Meiler wohnt – zieht eilig und mürrische seines Weges.

Leonhard betritt die Kapelle, die in einem Urwald versteckt liegt: die Tür hängt in den Angeln, nur noch der vergoldete Betstuhl steht schimmelumzogen darin, die Fenster trüb, Altar und Bilder vermodert, das Kreuz auf der erzenen Falltür von Grünspan zerfressen, braunes Moos quillt durch die Fugen.

Er fährt mit dem Fuß darüber hin, da kommt aus einem Glanzstreifen des Metalls eine halberloschene Inschrift hervor: eine Jahreszahl und daneben die Worte:

»Erbaut von
Jakob de Vitriaco«.

Die feinen Spinnenfäden, die die Dinge der Erde mitsammen verbinden, entwirren sich vor Leonhards Erkenntnis; der belanglose Name eines fremden Baumeisters, kaum eingeritzt in sein Gedächtnis, so und so oftmal in derZeit der Jugend gelesen und so und so oftmal wieder vergessen – sein alter unsichtbarer im Kreis der Wanderung als rufender Meister verkleideter Begleiter, er liegt vor seinen Füßen, zum gleichgültigen Wort geworden in derselben Stunde, wo seine Sendung zu Ende und die geheime Sehnsucht der Seele, heimzukehren zum Ausgangspunkt, erfüllt ist.

Meister Leonhard sieht den Rest seines Lebens als Einsiedler inmitten der Wildnis des Daseins, er trägt ein härenes Kleid aus rauhen Decken, die er unter den Trümmern der Brandstätte findet, baut einen Herd aus rohen Ziegeln.

Die Gestalten der Menschen, die sich bisweilen in die Nähe der Kapelle verirren, scheinen ihm wesenlos wie Schemen, werden erst lebendig, wenn er ihr Bild hineinzieht in den Zauberkreis seines Ichs und sie darin unsterblich macht.

Die Formen des Daseins sind ihm dasselbe wie die wechselnden Gesichter der Wolken: mannigfaltig und doch im Grunde nichts als Wasserdampf.

Er hebt seinen Blick über die beschneiten Baumgipfel.

Wieder wie damals in der Nacht der Geburt seiner Tochter stehen zwei große Sterne dicht beisammen am südlichen Himmel, starren auf ihn herab.

Fackeln wimmeln durch den Wald.

Sensen klirren.

Wutverzerrte Gesichter schweben zwischen den Stämmen, halblaute Stimmen murren, das alte bucklige Weib aus dem Meiler steht wieder vor der Kapelle, fuchtelt mit hageren Armen, deutet auf die Teufelssilhouette im Schnee, winkt den abergläubischen Bauern, glotzt mit irren Augen wie mit zwei grünlichen Sternen unverwandt durch die Scheiben.

Auf ihrer Stirne glüht ein rotes Muttermal.

Meister Leonhard rührt sich nicht, er weiß, daß die da draußen ihn erschlagen kommen, weiß, daß der Teufelsschatten, der aus ihm herausfällt auf den Schnee und ein Nichts bedeutet und jeder Bewegung seiner Hand folgen muß, die Ursache der Wut der abergläubischen Menge ist, aber er weiß auch, daß der, den sie erschlagen: sein Leib, nur ein Schatten ist, so wie sie nur Schatten sind – wesenloser Schein im Scheinreich der rollenden Zeit, und daß auch die Schatten dem Gesetze des Kreises gehorchen.

Er weiß, daß die Alte mit dem Blutmal seine Tochter ist, die die Züge seiner Mutter trägt, und von ihr das Ende kommt, damit sich der große Bogen schließe:

Die Wanderung der Seele im Kreis durch die Nebel der Geburten zurück in den Tod.

 


 


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