Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zu Gustav Meyrinks Werken

Niemand bisher schrieb die Geschichte der phantastischen Kunst. Wer sie schreiben wollte, müßte weitschauenden Auges die gesamte Kunst von den ersten Betätigungen menschlichen Geistes, vom Mythos und Fetischismus der primitiven Völker an, analysierend durchforschen. Er würde keine Epoche finden, aus der nicht jene an Form, Farbe, Duft so absonderlichen Blüten emporgesprossen wären, die den Menschen in gleichem Maße locken und schrecken, beglücken und verwirren. Er wird die Wurzeln dieser Blüten entdecken in religiöser Schwärmerei, in Mystik, Magie und Okkultismus, in der Lust an Grausamkeit und Grauen, in überreizter, ausschweifender Erotik, in der Sehnsucht nach dem Unbekannten, in der Furcht vor dem, was uns unheimlich ist, und in der Begierde nach dem Unerreichbaren, das wir erwünschen. Dieser Geschichtsschreiber wird schließlich enden bei den Zeichnungen Rops', Beardsleys, Kubins und bei einer in den letzten Jahrzehnten immer üppiger emporwuchernden Kunst unheimlichphantastischer Erzählungen, deren vorläufiger Schlußpunkt Gustav Meyrink sein würde.

Aber es sei von vornherein gesagt: es wäre falsch, Meyrink für nichts anderes als für einen phantastischen Erzähler zu halten und jenes Urteil nachzusprechen, Meyrink wäre ein Virtuos in der Erfindung unheimlicher Geschichten. Die Fähigkeit, phantastische Geschichten zu schreiben, ist nur ein mehr äußerliches Element seiner Kunst, deren Ursprung in tieferen Tiefen sich gebar.

Wer die Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit dessen erkennt, was wir Realität nennen, also dessen, was dem Menschen entweder von außen her durch die Sinne aufgezwungen ist oder von ihm selbst im Laufe der Jahrtausende geschaffen wurde, wer das Elend des Menschen fühlt, der im Labyrinth dieser Wirklichkeit verzweifelt umherirrt, unter ihrer Last ohnmächtig seufzt, dem bieten sich zwei Wege, dem Menschen zu helfen, daß er die Realität überwinde. Entweder der Menschheitsführer befeuert den Menschen, die Wirklichkeit nach Maßgabe seiner Erkenntnis, geführt von der Vernunft, durch Willen und Tat zu ändern, umzuformen: sie sich zu unterjochen. Oder er zeigt dem Leidenden, daß die Wirklichkeit immer unzulänglich bleiben muß, weil sie gar nicht die eigentliche Wirklichkeit ist, daß aber in uns selbst die Keime zu jenem wirklichen Leben ruhen, das ein vollkommenes, höheres, überirdisches ist. Der Führer entwickelt diese Keime, enthüllt unbekannte oder verschüttete Fähigkeiten und führt den Menschen empor den Pfad zu der wirklichen geistigen Realität, in der unsere reale Welt nur ein unwirklicher Traum ist.

Die Führer zu beiden Zielen also wollen den Menschen von der Wirklichkeit erlösen. Voraussetzung ist, daß beide Führer nicht simpel die Welt als ein Gegebenes hinnehmen, das sie schlechthin bejahen, also in ihrer Kunst einfach besingen, schildern, nachahmen, sondern daß sie als Erkennende, Urteilende, Befreiende der Welt sich entgegenstellen. In ihnen müssen deshalb kritische, negierende, umstürzende Elemente vorhanden sein, durch die das Schöpferische erzeugt, das Schaffen bewirkt wird.

Meyrink ist den zweiten Weg gegangen. Den Weg nach innen. Den Weg von der kritischen Erkenntnis der unzulänglichen Realität zum höheren, übersinnlichen Leben.

Der Sohn der berühmten Schauspielerin und des württembergischen Aristokraten, in Hamburg, Prag und München aufgewachsen, erfuhr frühes Leid, sobald er in einen verhaßten Beruf gezwungen ward. Zu Prag lebte er als Bankier zwischen Hausse und Baisse hin- und hergeworfen, aus den Schauern der Spekulationen und Finanzoperationen in oesterreichisches Genießertum und Sensationsaffären geschleudert, während schon Sehnsucht nach den Geheimnissen des Geistes ihn zerwühlte. Als phantastische Abenteuer des Lebens und praktische Erfindungen, deren Erfolge andere ihm aus den Händen nahmen, ihn umspannen, Not des Daseins und Krankheit sein Herz zerfraß, suchte er durch fanatische Übungen östlicher Lehren und durch okkulte Experimente in das Reich des Unbekannten einzudringen. Je begieriger er aber in die Bezirke der höheren Welt strebte, um so mehr überschwemmte ihn das Leben des Alltags mit Leid ... Bis er als Dreißigjähriger in seine ersten Skizzen leidvolle Stimmungen zu ergießen begann, bis er die ihm feindlichen Gestalten und Gewalten eines Lebens, dessen Höhen und Abgründe er durchwandert hatte, mit Satiren und Grotesken verspottete, und das grausige Spiel seiner entzündeten Phantasie in jene Novellen bannte, die seinen ersten Ruhm begründeten.

Man wird sich erinnern, wie erregend und berückend diese (zunächst im »Simplizissimus« veröffentlichten) witzigen und unheimlichen Geschichten im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts selbst auf abgebrühte Gemüter wirkten. Auch wer später von seiner Kunst sich entfernte, wird ihm noch jetzt dankbar sein für das Lachen, das Städtebilder, wie »Montreux« und »Prag« oder die weisen und gleichnisreichen Tierfabeln von dem vornehmen Kamel Tschitrakarna und dem Löwen Alois in ihm erweckte, und für das Grausen, mit dem das »Wachsfigurenkabinett«, »Der Mann auf der Flasche« oder »Die Pflanzen des Dr. Cinderella« sein Bewußtsein zersprengte.

Dies halbe Hundert Novellen sind zusammengehalten durch den unsterblichen Titel »Des deutschen Spießers Wunderhorn«. Als Meyrink den berühmten Namen der romantischen Volksliedersammlung ironisierte, bezeichnete er mehr, als vielleicht er selbst ahnte, das Wesen seines Werkes und die Wirkung auf den Leser. In diesem Titel klingt alles Wunderbare und Satirische, alles Geheimnisvolle und Groteske ineinander, dessen seltsame Mischung für Meyrinks Erzählkunst charakteristisch ist. Der Spießer lauscht verwundert und erschreckt dem Tönen dieses Horns, das mit lustigen Klängen Hohn über seine Traditionen und Untaten in verblüffte Ohren bläst und mit unheimlichen Kadenzen grausige Motive ihm ins Herz schmettert.

Mag das Gedankliche und Ideelle in Meyrinks späteren Romanen bedeutsamer und folgenreicher sein, – diese Novellen, durch leidvolles Erleben, kritisches Erkennen und sehnsüchtiges Suchen nach dem Übernatürlichen erzeugt, bedeuten sicherlich die künstlerisch wertvollsten, konzentriertesten, mit Raffiniertheit und sorgfältigster Sauberkeit gefügten Gebilde Meyrinks. Phantasie, die den gefährlichen Kopfsprung in die tiefsten Meere des Unheimlichen wagt, Hirn, dessen Windungen von üppig emporschießenden Erfindungen und Verknüpfungen in grellem Leuchten erschimmern, Witz, der das gesuchte Ziel trifft und vernichtend enthüllt, formen mit einer gewissen Anmut und scheinbar mit spielerischer Leichtigkeit ungeheuerliche und kaum darstellbare Stoffmassen.

Eine lange Reihe düsterer und seltsamer Ahnen schreitet Meyrink voran. Während im 18. Jahrhundert noch die geheimnisvollen Gestalten und Motive uralter Sagen entweder dazu dienten, suchender Weltanschauung und metaphysischen Problemen in anschaulicher Form Ausdruck zu geben oder, zu Gespenster- und Schauergeschichten verarbeitet, die niederen Unterhaltungsbedürfnisse des großen Publikums anzureizen, begannen um das Jahr 1800 die Dichter, die man als Romantiker bezeichnet, mit bewußter Kunst die Bereiche des Wirklichen und Unwirklichen, Traum und Alltag zu vermischen. Die Romantiker dachten mit angespanntester Intensität über die Probleme des Übersinnlichen nach und formten in unerschöpflichem Reichtum, besonders in Romanen und Novellen ihre Erkenntnisse und Erscheinungen. Ganz klar und sachlich sprach Achim von Arnim das Grundmotiv der phantastischen Erzählung in der Novelle »Die Majoratsherren« aus (die einzige Stelle, die er als Zeichen ihrer Wichtigkeit gesperrt drucken ließ): »Es erschien überall durch den Bau dieser Welt eine höhere (Welt), welche den Sinnen nur in der Phantasie erkenntlich wird: in der Phantasie, die zwischen beiden Welten als Vermittlerin steht, und immer nur den toten Stoff der Umhüllung zu lebender Gestaltung vergeistigt, indem sie das Höhere verkörpert.« Man wird sehen, wie nahe diese romantische Formulierung den Anschauungen und Lehren in Meyrinks Romanen steht.

Die grandiose Gestalt E. T. A. Hoffmanns, Universalgenie und Säufer, selbst nur halb in der irdischen, halb bereits im Bereich der übersinnlichen Welt und der geheimnisvollen Phänomene lebend, bannte eine Unzahl unheimlicher Gestalten und wunderbarer Geschehnisse in seine Erzählungen, für die er als Klassiker der unheimlichen Geschichten geehrt wurde. Mit Hoffmann verbindet Meyrink nicht nur die Unerschöpflichkeit der quellenden Erfindung, der wild ineinander versponnenen, durch unerkennbare Zusammenhänge unentrinnbar zusammengefügten Ereignisse und die Sicherheit, Gestalten anderer Welten als wirklich und selbstverständlich darzustellen, sondern auch gegen den Spießbürger jener Haß, der noch die schauerlichsten Erzählungen grotesk durchpoltert und mit den beschränkt-verderbten Mitmenschen Schabernack treibt. Das Vorbild Hoffmanns erweckte in England und Frankreich zahlreichere und bedeutendere Nachahmer als in Deutschland, und selbst Victor Hugo und Balzac lassen erkennen, wie sehr sie seine Verehrer waren. Aber an Hoffmanns Seite stellte sich bald die ebenbürtige amerikanische Brudergestalt E. A. Poes, der allerdings sich mehr in die psychologischen Probleme des Grauens und des Phantastischen einwühlte. Hoffmann und Poe blieben Vorbilder auch noch für die phantastischen Erzähler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Franzosen verknüpften allmählich mit dem Grauen die Raffinements des Genusses; als ihre drei besten Meister können Villiers de L'Isle Adam, Barbey d'Aurevilly und Huysmans gelten. In den unheimlichen Geschichten der Engländer überwiegt das Spukhafte und das Austüfteln seltsamer Erfindungen und Reiseabenteuer. Reihen von Namen sollen hier nicht zusammengestellt werden; aber es sei noch gesagt, daß in Deutschland während des letzten Jahrzehnts Erzähler wie Strobl, Ewers, Eßwein, Schmitz, Frey mit bald robusteren, bald feineren Mitteln unheimliche Erzählungen schrieben.

Was aber Meyrink von fast allen seinen Vorläufern scheidet, ist erstens die leidenschaftliche Versenkung in mystisch-okkulte Lehren und zweitens in den Novellen das Emporschießen des Witzes und der Satire. Vorurteilsvolle Narren versuchen, Meyrink wegen dieser satirischen Opposition als Volksverderber und Schmähbold zu brandmarken, und selbst seine Verehrer fragen: weshalb streicht Meyrink eine kunstvoll aufgebaute Stimmung, geheimnisvolle Verknüpfungen und Situationen durch einen Witz, ein groteskes Finale plötzlich selbst wieder aus? Weshalb gebärdet sich der Mystiker als Clown ... stürzt sich der Weisheitsuchende selbst in den Wirbel des Gelächters hinab?

Zunächst mag Meyrink sich mit eigenen Worten verteidigen. In »Walpurgisnacht« entspinnt sich zwischen dem pedantischen Leibarzt und der geheimnisreichsten Gestalt Zrcadlo dieser Dialog: »Will er mich frozzeln? ... Wenn er ein Weiser ist, warum redet er so burschikos?« – »Feierlich ist bekanntlich nur ein Tropf. Wer im Humor nicht fähig ist, den Ernst zu fühlen, der ist auch nicht fähig, den falschen »Ernst«, den ein Mucker für das Um und Auf des Lebens hält, humoristisch zu finden, und ein solcher wird ein Opfer der verlogenen Begeisterungen, – der sogenannten .Lebensideale«. Die allerhöchste Weisheit wandelt im Narrenkleid! – Warum? Weil alles, was einmal als Kleid und nur als ›Kleid‹ erkannt und durchschaut ist, – auch der Leib – notgedrungen nur ein Narrenkleid sein kann.– – Für jeden, der das wahre ›Ich‹ sein eigen nennt, ist der eigene Leib so wie auch der anderen: ein Narrenkleid, nichts weiter. – Glauben Sie, das Ich könnte es in der Welt aushalten, wenn die Welt wirklich so wäre, wie sie der Menschheit auszuschauen scheint?«

Das Entsetzensgeschrei der Angegriffenen zeigt, wie sicher der Hohn Meyrinks traf, was er haßte. Die Antipathie des Süddeutschen gegen den Norddeutschen erzeugte den Kampf gegen fade und dünkelhafte Menschheitstypen. Der in den unendlichen Gebieten des Geistes Schweifende mußte alles Beschränkte und Beschränkende, alles Engeingezirkte und Verkrüppelte in der Lebensbetätigung und Kunst hassen. Persönliche Erlebnisse befeuerten diesen lodernden Haß zu tatsächlichem Angriff: er ließ seine grausamen Pamphlete (deren Abdruck jetzt der Krieg verbietet) gegen den Militarismus und gegen korrupte Offiziersgestalten los, er karikierte in erschütternden Bildern jene Mucker und Spießer, deren Treiben das geistige Licht der Menschheit verdunkelt, er parodierte die schalen Erzeugnisse einer rationalistischen Theologie und einer Erzählungsgattung, die man begeistert als Heimatskunst ausschrie, obwohl das Heimatliche in ihr verfälscht und Kunst in ihr nicht zu finden war. Sein Witz ist erzeugt von der Leidenschaft, mit der er am liebsten der Stadt Prag, die er liebte, und deren Menschen er haßte und höhnte, sein Monogramm G. M. wie der schlaue George Mackintosh eingebrannt hätte. – Der Irrweg, zu dem nicht Unwissen, sondern bewußte Verbohrtheit und Abkehr vom Reich des Geistes führt, muß durch die Blöcke des Hohns, Witzes und Spottes verschüttet werden. Freilich riechen diese Blöcke manchmal nach scharfem Schwefel und werden aus Bezirken geschleudert, in denen man Schonung und Milde mit dem Opfer nicht kennt.

Milder und mehr durch Humor als durch Witz wirken seine Verspottungen der Dünkelhaftigkeit von Gelehrten und Ärzten wie in der unglaublichen Geschichte vom »Heißen Soldaten« oder im »Automobil«, dessen Bewegungsfähigkeit der Professor auf Grund der Formeln verneint. Noch sanfter, aber um so mehr anschaulich als Symbol, wird die Satire in den grotesken Tierfabeln, mit denen Meyrink an die Seite Christian Morgensterns tritt (wenn es auch Morgenstern mehr auf die Stimmung, Meyrink mehr auf satirische Weisheit ankommt) oder in den kosmischen Phantasieen, an denen Scheerbart seine Freude haben würde.

Die Satiren wurden nicht etwa nur durch die Empfindlichkeit eines Weltmannes gegen die Unarten einer verbildeten Menschheit veranlaßt, sondern dem von der Unendlichkeit und Allmacht des Geistes Überzeugten muß doppelt verwerflich und frevelhaft alles erscheinen, was die Entfaltung des Geistes hindert. So erkennt im »Grünen Gesicht« eine Frau: »Der Sinn für alles Große ist uns Frauen abhanden gekommen, wir haben es in den süßlichen Großmutterzeiten hineingehäkelt in verächtliche Handarbeit.«

Aber es ist nicht nötig, die Unendlichkeit des Geistes zu zitieren, und das Ewige ist eine zu erhabene Sache, als daß es gerufen werden braucht gegen verblendete Mucker, die sich die Augen verhüllen, um ihre eigenen Schwächen nicht zu sehen, und statt ihre Fehler abzulegen, ein Wutgeschrei erheben, um nicht die Spötter zu hören, die ihnen diese Fehler nennen.

Man kann sagen, es ist die Antipathie gegen alles Oberlehrerhafte, Professorale und zugleich die Freude am Spiel des Geistes, was Meyrink hindert, dauernd mit der feierlichen und eindringlichen Stimme des Propheten und Phantasten zu sprechen. Eine Weisheit, die der Witz imstande ist zu vernichten, ist keine Weisheit; und jede wirkliche Weisheit erscheint durch die groteske Wirkung ihrer Umkehrung oder ihres Mißverständnisses um so plausibler. Erfanden nicht auch die Romantiker im Mühen um die Geheimnisse des Lebens und der Kunst als unentbehrliches Heilmittel gegen allen Überschwang, jene »romantische Ironie«, durch die sie plötzlich die Wirklichkeit zerrissen und deren Vernichtbarkeit darlegten, die Souveränität des Geistes erwiesen und sich selbst hinderten, nach Art schwacher Geister in unbekannten Gefilden sich zu verlieren! Es ist leicht, das Fortleben dieser romantischen Ironie bei Meyrink festzustellen.

Die ins Groteske ausmündenden unheimlichen Geschichten werden nicht etwa durch den Witz ihres Abschlusses zerstört, denn die Kontrastwirkung des Witzes zum vorangehenden Grauen wirkt um so eindringlicher, und das Gelächter kann eine tiefere Erkenntnis wecken als nüchterne Gelehrsamkeit. Als Beispiel diene »die Weisheit des Brahmanen«. Freilich läßt sich sagen: diese grausige Geschichte von dem furchtbaren, unendlichen Schrei in der indischen Wüste, dessen Ursache niemand ergründen kann, löst sich in einen Spaß auf, als der uralte Brahmane einen Büßer findet, dem die sich in die Hand einbohrenden Stacheln einer mit ausgestrecktem Arm gehaltenen Kugel das Geschrei des Schmerzes entlocken; und der Brahmane sagt zum Büßer: »Lassen Sie die Kugel fallen, mein Herr«; der Büßer tut's und hört auf zu schreien. Wie aber – wenn die stachliche Kugel die Welt bedeutet, von deren Leid der Mensch erlöst ist, sobald er sie fallen läßt? Wäre nicht in diesem scherzhaften Gleichnis der Kern der indischen Philosophie enthalten? – Ist nicht im »Fluch der Kröte«, nachdem eine geheimnisvolle Stimmung erregt ist durch das dauernde monotone Wiederholen der letzten Satzworte, die Frage, woher der Tausendfüßler wisse, in welcher Reihenfolge er seine Füße niederzusetzen habe, ein Problem, über das Philosophen und Mathematiker sich vergeblich den Kopf zerbrechen würden! Und birgt die Geschichte vom »Kommerzienrat Kuno Hinrichsen und dem Büßer Lalaládschpat-Rai« nicht ein Kompendium der indischen Philosophie mit ihren Lehren von dem Nichtvorhandensein der realen Welt, vom geistigen Führer, vom Gesetz des Nichtstehlendürfens, von den magischen Worten und schließlich der hohen Erkenntnis des Tat-twam-asi : der Erkenntnis: das bist du, du bist die Welt und tust alles dir selbst, was du andern tust, – und enthält sie nicht zugleich in witziger Form eine furchtbare Kritik dieser Lehre, wenn der Kommerzienrat, als er die Konten der Witwen und Waisen angreift, sich rechtfertigt, er schädige ja damit – Tat-twam-asi – sich selbst!

Literarhistoriker könnten Meyrink als romantischen Dichter bezeichnen. Denn romantisch sind nicht nur die Verwendung des Unheimlichen in der Erzählung, die Manifestationen des Übersinnlichen und die Ironie, sondern auch die Mittel, durch die das Grauen im Leser erweckt und ihm die Existenz einer übersinnlichen Welt fühlbar gemacht wird. Allerdings ist Meyrinks Gehirn, das sich in die Geheimlehren vergangener Zeit hineinwühlte, zugleich mit den Kenntnissen modernster Chemie, Technik und Welterfahrung erfüllt.

Meyrink verpflanzt Experimente und Phänomene uralter Geheimwissenschaften in die Gegenwart, in das alltägliche oder abenteuerliche Geschehen von Menschen, unter denen wir selbst leben. Die alten Motive der Transfusion und Transplantation werden in unser Zeitalter übersetzt. Arnim bereits läßt in den »Kronenwächtern« an Berthold durch Dr. Faust eine Transfusion vornehmen, sodaß er sein »zweites Leben« lebt, und in unseren Tagen wandte Renard das Motiv ins Groteske, als er in »Doktor Lerne« die Hirne eines Menschen und eines Ochsen ausgetauscht werden läßt. Meyrinks orientalische Verbrecher und ihre Schüler präparieren Leichenteile, die weiter leben müssen, nehmen Veränderungen in Blut und Gehirnrinde vor, spalten Kinder in Intellekt und Körper, sodaß unmenschliche Wesen entstehen, die Grauen und Verderbnis ausstrahlen.

Alle Erzählungen Meyrinks spielen in unserer Zeit; aber gerade weil die zeitlosen, übersinnlichen Phänomene allenthalben in den uns so bekannten Häusern, Straßen, Menschen, Reisen, Geselligkeiten, freundschaftlichen Zirkeln hervorzucken, wirkt sie viel entrückter, fremdartiger und unheimlicher als die Schilderung historischer Epochen. Die angewandten Kenntnisse östlicher Magie schleudern Entsetzen und Zusammenbruch unter die Europäer; geheimnisvolle Zusammenhänge sonderbarer Geschehnisse, die unerklärt bleiben oder plötzlich klar vor Augen liegen, verwirren den Geist des Uneingeweihten und erwecken die Auserwählten plötzlich zu höherem Leben. Wieviel Grausiges muß Pernath im Golem erleben, bis er selbst das Symbol der Gestalt auf der einst gefundenen Spielkarte erfüllt, und welchen Weg des Schreckens wandert der Erzähler der »Pflanzen des Dr. Cinderella«, dessen Leben unter dem Einfluß der in Ägypten zufällig entdeckten Bronzefigur steht, sobald er versucht, das Geheimnis der Körperhaltung dieser Figur zu ergründen, die schließlich in den unheimlichen Situationen einer verwirrten Gegenwart überall lebendig wiederkehrt!

Meyrinks Geist hebt wie ein Schöpfrad in unermüdlicher Bewegung Motive des Grauens aus dem Unterbewußtsein empor. Die Fähigkeit, ungeheuerliche Geschehnisse in einem knappen, zugespitzten Stil zu erzählen, kommt ihm zu Hilfe. Kurze Sätze, sachlich, treffend, ohne Nebensätze und Abschweifungen stehen nebeneinander; ein rasches Tempo läßt die Phantasie des Lesers nicht zur Ruhe kommen, damit nicht Überlegung des klaren Bewußtseins die aus dem Unterbewußtsein herausschwellenden, zu schwebendem Umriß geformten Gebilde zerstört. Breiter ausmalend wird sein Stil nur dann, wenn er, wie in seinen ersten Novellen, mit der Darstellung sich ins Gehirn des Lesers einpressender, einfressender Stimmungen sich begnügt. Sorgloser, weniger pointiert und nicht so gepflegt wie in den Novellen zeigt sich seine Phraseologie in den späteren Romanen, weil ihm dann nicht immer die Erzählung der Ereignisse Hauptzweck ist, sondern die eindringliche Verkündung seiner okkulten Anschauungen.

Seine Menschen sind Besessene ... besessen und bestimmt von den Gewalten einer übersinnlichen Welt.

Immer rollen die Geschehnisse in einem verfallenden, fauligen, unheimlichen Milieu ab, in dem gespenstische Wirkungen leicht sichtbar werden. Das Milieu erzeugt fast selbsttätig die Stimmung ... Die alten Gassen und Häuser Prags, in denen Geheimnis und Verbrechen seit Jahrhunderten sich birgt, erstehen zu selbständigen Wesen, welche leben durch den Geist längst verstorbener Geschlechter. In den verbauten Straßen des morschen, zermürbten Ghettos sind Menschen eingepfercht, ohne daß seit Generationen Licht und Sonne in ihr Blut dringt. Oben am Hradschin aber hausen in den ererbten Palais Aristokraten, die Licht und Sonne und das Geräusch der neuen Zeit nicht zu sich hereinlassen wollen und unausgelebte Leidenschaften von sich abtun, bis diese wieder auferstehen zu furchtbarer Rache. Das in internationales sinnloses, geistloses Genußleben verfallene Amsterdam, durchwittert von den düsteren Zeichen kommenden Weltuntergangs, ist der Hort geistig erwachender Menschen, vor deren Augen in einer grandiosen Vision der Sturmwind der Vernichtung die alte Welt und Menschheit zerstört. Indische Landschaften, durchbrütet von Geheimnis und drohendem Unheil, opalisieren und hauchen ihre Wunder über den Europäer aus. Die Umwelt ist nicht notwendige Kulisse, sondern wird Nährboden okkulter Offenbarungen. Aus Verwesung und Moder steigen die Auserwählten ins höhere Reich empor.

Kein Requisit, von dem erzählt wird, bleibt leblos, sondern es wirkt weiter, verschmolzen mit einem Gedanken, der, einmal gedacht, nicht sterben kann. »Jedes Ding auf Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet.« Man verfolge, wie im »Golem« die Feile, mit der Pernath – ein flüchtig aufsteigender Gedanke – den Feind Wassertrum töten will, immer wieder in das Geschehen verknüpft wird und nicht zur Ruhe kommt, bis sie den Weg zur Gurgel des Opfers gefunden hat. Das gewagteste Beispiel magischer Wirkung stellt »Das Grillenspiel« dar, in dem das Experiment eines indischen Bhon-Priesters mit Grillen, die auf einer Landkarte von Europa kämpfen, den Weltkrieg entzündet. Vermittels einer raffinierten Technik bewegen sich die Figuren, Schauplätze und Geschehnisse des »Golem« durcheinander, von Kapitel zu Kapitel unentwirrbarer sich verwebend: ein Kaleidoskop, das man drehen kann, wie man will, – immer fallen seine bunten Steine wieder zu geschlossenen, zusammenhängenden Figuren zusammen.

Meyrink hat zwei technische Mittel, um seine unheimlichen Motive und Verknüpfungen glaubhaft und natürlich erscheinen zu lassen. Außerordentlich reich ist in seinen Novellen die Zahl der sogenannten Rahmenerzählungen: in einem Kreis seltsamer oder konventioneller Menschen erzählt einer, der vielleicht schon geistig anormal ist, seine Erlebnisse. Hierdurch wird die Spannung erhöht, denn es wird nicht der Reihe nach berichtet, sondern die Geschehnisse erwachsen langsam aus andeutenden Vorbemerkungen, die Vergangenheit wird gesprächsweise oder als Erinnerung rekonstruiert, retardierende und erregende Momente können durch Zwischenbemerkungen eingestreut werden, und die Erzählung selbst wird irrealer und doch glaubhafter, weil nicht der Autor, sondern ein erfundener Mensch das Erfundene erzählt. Meyrink führt aber dies Motiv noch weiter: er läßt schließlich den ganzen Kreis in die Erzählung des Einen verknüpft werden, die Geschichte setzt sich unter den Menschen dieses Kreises fort und findet einen schrecklichen Abschluß, an dem alle teilnehmen. Dies Motiv benutzt Meyrink besonders gern, wenn Menschen, die nicht an die Welt der Magie glauben, bestraft werden, indem Wesen dieser geheimnisvollen Welt den Skeptiker vernichten, wie im »Albino« und »Kardinal Napellus«, oder wenn die ungläubige Gesellschaft selbst von gespenstischen Wesen zu Grunde gerichtet wird, wie in dem mit Beardsleys graziöser Verderbtheit gezeichneten » Bal macabre «.

Das zweite Mittel, das Meyrink anwendet, damit das Unglaubliche glaublicher wirke, ist die Vermischung von Traum und Wirklichkeit. Und damit dringen wir in die Tiefen von Meyrinks Wesen, in denen seine Kunst und sein Glauben ihren Ursprung haben. Mit bewundernswerter Gewandtheit versteht er es, das tatsächliche Geschehen in den Traum hinübergleiten zu lassen, sodaß der Leser nicht mehr weiß, ob das Erzählte Wirkliches oder Unwirkliches darstellt, und doch beunruhigt fühlt, daß dies Unwirkliche eine höhere Wirklichkeit bedeutet, die gültiger und wirksamer ist als die irdische Realität. Und selbst wenn wir wissen, das, was vorgeht, ist ein Traum, so wirkt dennoch dieser Traum wahrnehmbar auf die äußere Welt. Die Romantik sah die Aufgabe der Kunst darin, die Beziehungen zwischen der ewigen und der wirklichen Welt, zwischen empirischem Bewußtseinsinhalt und dem geheimnisvollen inneren Ich in uns aufzudecken. Diese Verbindung, diesen Übergang zu suchen, macht das Wesen aller Mystik aus. Das innere Ich tritt aus dem Menschen heraus in die höhere Welt, und das Wirken dieser höheren Welt wird im Menschen sichtbar, sodaß ihre übersinnlichen Wirkungen und Offenbarungen als natürlich und wirklich erscheinen. Hier mündet die Kunst in die Mystik, und es steigen jene Probleme auf, die am großartigsten in der indischen Philosophie behandelt werden.

Immer klarer und breiter entströmt Meyrinks Erzählung diesen Erkenntnissen, sodaß er sich schließlich nicht scheut, wüsteste Kolportagehandlung zu erzählen, denn auch sie ist nur Ausfluß, Wirkung und Symbol des übersinnlichen Seins, das jenseits der Wirklichkeit lebt und sie dennoch durchwebt. Der ganze Roman »Golem« ist nur ein Traum (doch aber zugleich Sehnsucht, aus dem Traum-Ghetto hinauszugelangen), in dem sich aus dem Unterbewußtsein langsam die Vergangenheit und das Bewußtsein einer übersinnlichen Welt aufbaut, ein Traum, in dem ein Mensch das wirkliche Leben eines anderen träumt, ohne zu wissen, daß er der andere ist, der selbst nicht weiß, wer er ist. Und im Traum erlebt der Träumer wiederum Träume; er träumt sogar, daß er träumt. Der Knäuel wird unlöslich.

Meyrink kennt tausend Möglichkeiten, um die Vermischung von Traum und Wirklichkeit hervorzurufen: Sein Stil wird sprunghaft, hinhuschend; das Milieu wechselt unvermittelt; die Umrisse verschwimmen; durch unheimliche Stimmung wird die Realität aufgelöst. Die Menschen verfallen in kürzere oder längere Bewußtlosigkeit, in Schlafzustände, die Erinnerung stockt, oder von der Erinnerung sinken plötzlich Schleier hinweg. Die Wirklichkeit geht oftmals ohne weiteres plötzlich in den Traum über, sodaß der Traum so real wie die Wirklichkeit erzählt und doch infolge gespenstischer Vorgänge nicht als Wirklichkeit empfunden wird, was meisterhaft in der Novelle »Das Fieber« durchgeführt ist. Gestalten der höheren Welt wandern sichtbar durch die irdische; mächtige Visionen rauschen auf; und sogar Symbole erscheinen plötzlich als leibhafte Wegweiser oder Fragezeichen vor der suchenden Kreatur. Psychopathische Zustände schildert Meyrink mit Inbrunst; er zergliedert Angst- und Furchtgefühle; überall im Leben tauchen Probleme des Rätselhaften auf. Der Spiegel erweckt die Frage, weshalb das Rechts des Beschauers als Links erscheint, und selbst die weißen Flecke, welche die Zensur der Kriegszeit in die Zeitungen riß, wirken unheimlich. Diesem Fanatiker des Geheimnisvollen genügen nicht einmal die Verknüpfungen seiner großen Romane: er streut in die Haupthandlung noch selbständige unheimliche und seltsame Geschichten ein.

Meyrink ist ein Meister auf der Orgel des Grauens, deren Register er beherrscht wie der Held in Huysmans » A rebours « die Möglichkeiten seiner Parfüm-Orgel; aber der Luftstrom, der den Pfeifen dieser Orgel jene betörende Musik entströmen läßt, ist nicht einfach der Wille zur Erzählungskunst, sondern es ist der leidenschaftliche Glauben an den Okkultismus.

Die Motive des Grauens, solange kalte Erfindung sie einzeln konstruiert und miteinander verknüpft, wirken lediglich als ungewöhnliche Tatsachen. Sobald sie aber aus dem Boden des Okkultismus emporwachsen, sind sie keine isolierten Geschehnisse mehr, die nur unser Gruseln erwecken, sondern sie bilden eine Gemeinschaft von Phänomenen, in denen sich Gewalten, Zusammenhänge, Wirkungen der unbekannten, höheren Welt manifestieren. Die Erregung bewegt dann nicht nur die Phantasie des Lesers, sondern sie senkt sich tiefer in ihn hinein ... ins Denken, ins Geistige – und das Grauen kann zum Führer in jene andere Welt werden.

Die okkulten Lehren, die in den Novellen mit irdischen Gestalten und Begebenheiten bereits angedeutet sind, werden von Meyrink breit entfaltet in seinen Romanen und in einigen späteren Erzählungen. In diesen Romanen wird oft Mensch und Geschehnis von gedanklichen Systemen überwuchert; große Stücke okkulter Lehren sind so selbständig in das Werk eingesprengt, daß der Kunstwert der Romane durch dies Verfahren herabgemindert wird, denn nicht immer löst sich die Lehre in Handlung und Ereignis, sondern sie bleibt bisweilen Lehre, die als theoretische Abhandlung für sich gedruckt werden könnte.

Aber es ist nicht möglich, die Romane Meyrinks nur als Kunstwerke zu betrachten. Sie wurzeln so sehr im Ideellen, und dies für Meyrink spezifische Ideelle ist ein so neuartiges Element in der deutschen Prosa, daß man, auf die Romane zurückblickend, ihren gedanklichen, tendenziös-geistigen Inhalt schließlich mehr überdenkt als die epischen Geschehnisse.

Jedem wird klar sein: Meyrink schrieb seine Romane nicht nur, um Menschen und Ereignisse darzustellen, sondern um gewisse Lehren und Erkenntnisse in populärer Form zu verbreiten. »Das grüne Gesicht« scheint sogar hauptsächlich um der Lehre willen entstanden zu sein. Die bunte, erregende Hülle wurde erfunden, damit sie den lesenden Geist anlocke, den Leib der Lehre, der sich unter ihr birgt, zu genießen. Jeder wird also selbst zu urteilen haben, ob er die Möglichkeit dieser Romane als Kunstwerk bejaht, – und sodann, ob er die Lehren Meyrinks annimmt oder verwirft – oder sie als Kuriosum interessiert beschaut.

Bis ins Mittelalter gehen die Versuche zurück, mystische Lehren in epischer Form unter die Menschen zu bringen. Meyrink erstrebt dasselbe, was bereits Ende des 12. Jahrhunderts in Spanien der arabische Philosoph Ebn Tophail mit einem Roman » Hai Ebn Yokdhan « zu zeigen sich bemühte: das Loslösen eines Menschen von der Materie, seine Erweckung und sein Aufsteigen in die höhere Welt des Geistes. Er setzt fort, was zur Zeit der Renaissance in Italien und Frankreich die » Songes et visions « begannen, jene Romane, deren Träume und Visionen mystische Geheimnisse offenbarten (von Boccaccios » Labirinto d'Amore « über Colonnas » Hypnerotomachia Paliphili « bis zu Merciers lehrhaften » Songes et visions phiolosophiques «). Schon vor Meyrink aber hatte in England um die Mitte des 19. Jahrhunderts Bulwer Tendenz und Geschehnisse der alten kabbalistischen Romane erneut, in denen um Lebenselixiere und Erschließung der Geisterwelt gekämpft wird, und die einst Montfoucon de Villars im » Comte Gabalis« parodiert hatte. Diese Romane Bulwers sind in Vergessenheit geraten, wiewohl in ihnen Szenen ungeheuren Grauens und entsetzliche Visionen aufsprießen, – vielleicht deshalb, weil in »Zanoni« die historische Handlung und in der »seltsamen Geschichte des schwarzen Magiers Margrave« der Kampf zwischen schwarzer und weißer Magie durch endlose Abhandlungen und Dialoge über mystische Geheimlehren unterbrochen wird. Aber alle okkulten Phänomene und Probleme, seltsam vermischt mit altertümlich magischen Lehren der Rosenkreuzer, treiben hier ihr Wesen, während bereits die Gestalt des Professors Faber eine exakt-naturwissenschaftliche Erklärung dieser Phänomene versucht. Die Engländer sind keineswegs ein so nüchternes Volk, wie man uns einzureden versucht: nirgends in der Welt sind die okkulten Lehren so verbreitet wie in England und Amerika, und die in englischer Sprache geschriebene Literatur strotzt reicher als die aller anderen Völker von einer unbarmherzig-grausigen Phantastik. Selbst ein so behäbiger und behaglicher Schilderer englischen Bürgertums wie Dickens streut reichlich Spuk und unheimliche Zusammenhänge in seine großen Romane ein. Meyrink gab eine vortreffliche Übersetzung der wichtigsten Romane des Dickens heraus: beim Lesen fühlt man, mit welcher Lust Meyrink gerade die grausigen Stücke übersetzte, und man erkennt, wie verwandt beispielsweise die unheimlichen Motive in »Bleakhaus« denen der Meyrinkschen Erzählungen sind.

In Meyrinks Romanen werden Motive sagenhafter und historischer Überlieferung variiert und vertieft. Es kommt nicht darauf an, diese alten Gestalten und Geschehnisse episch darzustellen, sondern sie werden Symbol und Verknüpfung für die Einwirkung einer höheren, geheimnisvollen Welt. Meyrinks »Golem« hat nur sehr wenig mit der Tonfigur des Rabbi Löw zu tun, die durch Einschieben eines kabbalistischen Spruchs zu dienendem, aber ungeistigem Leben erweckt wurde. Der Golem, bereits angedeutet im Alten Testament Psalm 139, v. 15-16, als Gol'mi dann die unfertige, formlose Stoffmenge, der Gottes Odem noch nicht eingeblasen ist, gewinnt in Meyrinks Roman tiefere und mehrfache Bedeutung. Bald ist hier der Golem das Gedankenbild, das einst der Rabbi zuerst lebendig gedacht hat, und das nicht zur Ruhe kommen kann, bald ist er das Symbol für die Dumpfheit, Abgeschlossenheit, Sehnsucht der Menschen des Prager Ghettos ... der eingezwängte, wirre Judengeist, der sich plötzlich in jähem Aufflammen zu einer menschlichen Gestalt verdichtet und alles, was nicht sterben kann, für einen Augenblick aufleben läßt. Meistens aber ist der Golem Erwecker und Spiegelbild von Pernaths, des geträumten Helden, innerem Leben ... jenes Pernath, der seine Vergangenheit vergessen hat, der den Golem als Führer in die höhere Welt erblickt, dann sich selbst (außer sich) als Golem steht, und wiederum als Golem von anderen gesehen wird, der die Vergangenheit sucht und das zukünftige, ewige Leben findet.

Wie Pernath durch tausend geheimnisvolle Fäden mit dem Golem, so ist im »Grünen Gesicht« Hauberrißer verknüpft mit der Gestalt Ahasvers, des ewigen Juden. Pernath treibt Sehnsucht nach der unbekannten Vergangenheit, aus der er unerklärlich erwachsen und entwachsen ist; Hauberrißer sucht aus der sterbenden, verwesenden Gegenwart die neue, befreiende Zukunft. Beide werden erlöst und zum höheren Sein erweckt durch Gestalten, die für die Menschheit nur Phantome, für die Erwachten aber Symbole ewigen Lebens sind.

Im »Grünen Gesicht« fügte Meyrink aus allen Völkern und Zeiten Gestalten zusammen, die eine Unsterblichkeit auf Erden verkörpern. Die Figur des Ahasver – als Ahaschwerosch Hebraisierung des persischen Xerxes – ist erst spät, im sechzehnten Jahrhundert, zu der bekannten Sagenfigur des wandernden Juden geworden, der als Strafe, weil er auf dem Leidenswege den um Rast bittenden Christus von seiner Schwelle trieb, ewig durch die Länder der Welt schweifen muß. Aber unter vielen Namen schon hatte Ahasver in früheren Jahrhunderten gelebt: er war der Evangelist Johannes, von dem Christus sagte (Joh. 21, 20 ff): »So will ich, daß er bleibe, bis ich komme« ... und (Matth. 16, 28): »Wahrlich, ich sage Euch: Es stehen allhie etliche, die werden den Tod nicht schmecken, bis daß sie der Menschen Sohn kommen sehen in sein Reich.« er war der Knecht Malchus oder Markus, der, weil er vor Kaiphas beim Verhör Christus schlug, ewig um die Geißel-Säule laufen muß; er war Cartaphilus, der Türhüter des Pilatus, zu dem Christus, als er von ihm einen Hieb in den Nacken erhielt, sprach: »Du sollst meine Wiederkunft erwarten«; er war als wandernder Mönch Josef in Armenien und als Buttadeus in Südeuropa gesehen worden und als wandernder Jude Joâo d'Espera em Deus in Portugal wie als Isaak Laquedem in Holland bekannt. Zum erstenmal taucht 1602 der Name Ahasverus in dem deutschen Volksbuch vom ewigen Juden auf, das bereits im siebzehnten Jahrhundert in vierzig Drucken verbreitet war und stofflich vergröbert in Frankreich als » Histoire admirable ...« Eingang fand. Schon im achtzehnten Jahrhundert wandelte Ahasver sich zur Possengestalt und in Romanen zu einem wandernden, kritischen Enthüller des Volkslebens nach dem Muster von Lesages » Diable boiteux«, bis er in Schubarts und Goethes Fragmenten wieder zu einer großen tragischen und symbolischen Figur wurde, als die er Hunderte von Dichtungen des neunzehnten Jahrhunderts durchwandert. Bald ist er in christlichem Sinn Objekt des Erlösungsmotivs, bald verkörpert er das unstete Judentum, bald dient er, die Weltgeschichte durchschweifend, zur Ausmalung historischer Tableaux, bald ist er Symbol des Weltschmerzes, bald der Verkünder sozialer Tendenzen. Oft aber versinnbildlicht er die ewige Wiedergeburt oder den Unsterblichkeitsgedanken, und allenthalben tritt er als Wissender der Zukunft, mahnend und schützend auf.

Der Ahasverstoff, den manche Kenner der Weltpoesie für einen undankbaren, unbefriedigenden, ja undichterischen Stoff halten, endet in den beiden letzten bedeutenden Fassungen an entgegengesetzten Polen: in Vermeylens knapper und derber Formung findet Ahasver weder im himmlischen Leben noch im höllischen Versinken, sondern im tätigen Leben unter proletarischen Menschen die Erlösung, während er bei Meyrink nicht hin zum Menschen, sondern den Menschen von der Menschheit fort führt zum wahren Leben. Deshalb begnügt sich Meyrink nicht, daß das »Grüne Gesicht« schlechthin Ahasver sei, sondern es ist zugleich das »Kopfwesen« der Kabbala, das den Anfang bedeutet, es ist Chidher, der Wesir eines altpersischen Herrschers, der vom Lebensquell trank (man kennt ihn aus Rückerts Schul-Gedicht), es ist der ewig grünende Baum und ist zugleich der Prophet Elias, der in den kabbalistischen Lehren als Erwecker eine wichtige Rolle spielt und mit Henoch und Moses die drei Unsterblichen des alten Testaments darstellt (die übrigens in Arnims »Halle und Jerusalem« Ahasver die Erlösung bringen). Das »Grüne Gesicht« ist aber auch jener Fetisch afrikanischer Zulu-Neger, die Viduschlange, die dem Eingeweihten magische Kräfte verleiht und auf ihrem grünen Menschenantlitz dasselbe Kreuz trägt, das auf Chidhers Stirn lodert und auf alten portugiesischen Bildern den ewigen Juden kenntlich macht.

Aus der unerlösten Sagenfigur des ewigen Wanderers ist also bei Meyrink eine bereits erlöste mystische Gestalt geworden: »Einer von denen, die die Schlüssel der Geheimnisse der Magie bewahren, ist auf der Erde zurückgeblieben und sucht und sammelt die Berufenen.« In mannigfacher Manifestation erscheint das Grüne Gesicht als Erwecker derer, die reif sind, zum wahren Leben zu erwachen. Es schützt die Auserlesenen, belehrt sie durch innere Erkenntnis, stellt die Lichter in ihnen um, und kündigt den Weltuntergang an. Es bringt Tod denen, die das unverdeckte Kreuz auf seiner Stirn erblicken, und denen, die seine Stirn verhüllt schauen, das ewige Leben.

Bereits gesagt war, daß Meyrinks Romane sich immer in einer Welt des Zusammenbruches, des Untergangs abspielen, wenn noch einmal alle uralten Leidenschaften und Sehnsüchte aus der Menschheit furchtbar emporflammen. Er braucht nicht in vergangene Epochen zu schweifen, denn unsere eigene Zeit ist diese Welt des Untergangs. Aus dem Unterbewußtsein des Menschen loht dann sein eigentliches Wesen; geheime Mächte werden offenbar und treiben die erregten Herzen zum Aufruhr. In »Walpurgisnacht« bleibt nicht ein einziger Mensch Geschöpf des irdischen Alltags, alle fühlen das Licht einer anderen Welt; Träume, Ahnungen, Prophezeiungen, Erscheinungen wirbeln und wirren das Leben der einzelnen und der Masse durcheinander. In den weltabgewandten alten Aristokraten am Hradschin über Prag erwachen die Dämonen der Vergangenheit, und die eigene mißbrauchte, verdorbene Jugend schreckt die Greise. In den entarteten Enkeln aber erstehen die Ahnen, geben ihnen ungeheure Kräfte und peitschen im böhmischen Proletariat die Taten längst vermoderter Gewaltgestalten wieder auf. Das fanatische Sektierertum der Erwecker und Erweckten offenbart sich bis in die innersten Ursachen, die eine gelehrte psychologische Abhandlung nicht klarer aufzeigen könnte als dieser Roman. Der Urheber all dieser Erweckungen und der wüsten Walpurgisnacht ist die Gestalt des asiatischen Mandschu, die spukhaft durch den Roman geistert, sich in der herrenlosen menschlichen Hülle des Zrcadlo offenbart und die gequälten, zerwühlten Menschen jahrhunderteweit zurückschleudert in die historischen Figuren des Taboritenaufstandes. In diesem Roman beherrscht das unwirkliche Leben einer unbekannten Welt ganz und gar die Geschehnisse der sogenannten wirklichen Welt. Das okkulte Sein triumphiert, bis die Wirklichkeit vernichtet und ausgelöscht ist.

Im Gegensatz zum »Grünen Gesicht« schwindet in »Walpurgisnacht« die Lehre als Theorie wieder hinter die Handlung zurück; die Lehre wird als Wirkung sichtbar, denn ihre Erkenntnisse bilden das selbstverständliche Movens der Geschehnisse. Die Frage tritt fordernd hervor: Wie wurde Meyrink zum Okkultismus geführt? Wie ist dieser Okkultismus beschaffen?

Okkultismus sei hier ein Sammelbegriff für alles Bestreben, das unseren Sinnen verborgene, mit unseren Sinnen nicht wahrnehmbare Leben zu erfahren und zu erkennen. Dieser Begriff möge in sich schließen, was man im Verlauf der Jahrhunderte als Magie, Gnostizismus, Mystik, Alchimie, Kabbalismus, Spiritismus, Theosophie, Geheimlehre bezeichnete. Er umfasse die Phänomene, die als Manifestationen unbekannter Wesen, als Träume, Ahnungen, Offenbarungen, Vorgesichte auf die Wirklichkeit einer überirdischen Welt weisen, deren Ebene unsere irdische Welt durchschneidet. Er schließe in sich die Tendenzen und das Wissen all jener geheimen Orden und Brüderschaften, deren Treiben, heimlich unheimlich verbunden und verknüpft, alle Epochen der Menschheit durchläuft. Okkultismus bedeute aber mehr als diese Erscheinungen, in denen Schwindel, Charlatanerie und Bluff oft fanatischen Ernst überwucherte... er bezeichne vor allem die Probleme einer erhabenen, tiefwühlenden und beglückenden Philosophie, die allen Völkern des Ostens und des Westens gemeinsam ist.

Um die leidenschaftliche Überzeugung des kritischen, zweifelsüchtigen Meyrink von der Wahrheit okkulter Lehren zu verstehen, muß man wissen, daß es jenseits der dumpftastenden Ahnungen eines Wunderglaubens und der Seancen des Spiritismus, dessen Medien fast durchweg als bewußte oder unbewußte Schwindler entlarvt sind, seit jeher ein ernstes, sachliches Studium des Okkultismus gibt, der in großen philosophischen Systemen wurzelt und zu einem Objekt exakter Wissenschaft werden kann, wie es der ordentliche Professor der Experimentalchemie L. Staudenmaier in seinem Buch »Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft« fordert. Die Adepten dieses Okkultismus betrachten das übersinnliche Leben nicht als Gegenstand dilettantischer Spielerei oder als Rausch-, Schreck- und Entrückungsmittel, sondern als eine gegebene Tatsachenwelt, in gleicher Weise wie etwa die Naturwissenschaft die Erscheinungen der Elektrizität, die Herzschen Wellen oder die Eigenschaften des Radiums hinnimmt.

Die meisten okkulten Gemeinschaften, zu denen auch die Freimaurer gehören, obzwar sich bei ihnen okkulte Systeme verflacht und popularisiert finden, fordern Geheimhaltung der Lehren. Mancher Eingeweihte oder Suchende scheut auch ein offenes Bekenntnis, um nicht der Lächerlichkeit unter den Mitmenschen zu verfallen. Wie stark die Wirkung des Okkultismus ist, würde etwa eine Durchforschung der großen Dichter und Dichtungen der Weltliteratur ergeben. Es sei hier nicht einmal an romantische Dichter wie Novalis oder Arnim gedacht; aber auch dem objektivsten Leser muß das Hervorleuchten okkulter Probleme bei Dante und vor allem in Strindbergs Dramen und autobiographischen Schriften auffallen. Man sollte den »Faust« Goethes, der selbst Freimaurer war, nicht nur unter der Einwirkung des Volksbuches und des Puppenspiels vom Dr. Faust betrachten, sondern auch erkennen, wie das Leben Fausts von der Magie beherrscht wird, bis er rückblickend ausruft: »Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen!«

Damit die Bedeutung und Ausbreitung des Okkultismus für unsere Zeit erkannt werde, seien nicht etwa die allenthalben emporschießenden spiritistischen Zirkel genannt, sondern es sei erinnert an die merkwürdige und großartige Gestalt der Blavatsky, die, nach einem abenteuerlichen Leben, alles geheime und wissenschaftliche Wissen der Welt in ihrer Geheimlehre zusammenraffend, der Theosophie in wenigen Jahrzehnten sechzig Millionen Anhänger warb.

Unter allen Völkern lebten von jeher Eingeweihte, die als Wissende geheimer Lehren galten. Manche dieser Geheimlehren wurden nur durch mündliche Mitteilung fortgepflanzt. So wußte Moses außer der Lehre, die er dem Volke Israel verkündete, eine zweite geheime Lehre, die er von Mund zu Ohr seinem Bruder Josua weitergab. In allen Ländern aber wurden Bücher niedergeschrieben und sorgfältig bewahrt, »die den Schlüssel zu den Rätseln der Welt enthalten.«

Meyrinks Werke sind ein Brevier der Geheimlehren aller Zeiten und Völker.

Seit früher Jugend zum Geheimnisvollen getrieben, begann Meyrink sich bald mit den Phänomenen des Spiritismus zu beschäftigen. In vielen Sitzungen mit berühmten Medien erkannte er – skeptisch gesinnt – allmählich, daß die hier gebotenen Erscheinungen meist auf schwindelhafte, oft auf betrügerische Weise zu stande kamen. Als er aber dann an sich selbst Manifestationen okkulter Kräfte erfuhr, die jeder Prüfung standhielten, mußte er, wie jeder, der sich ernstlich mit Okkultismus beschäftigt, zur indischen Philosophie geführt werden, in der sich in reichster und mannigfaltigster Fülle die Wurzeln aller Geheimlehren vereinen. Was er suchte, fand er jedoch nicht in der Nirwanalehre des Buddhismus, welche die Grundstimmung einiger früher Novellen (»Das ganze Sein ist flammend Leid«, »Der Buddha ist meine Zuflucht«) bildet, sondern in den Dichtungen und Auslegungen der älteren, ursprünglichen indischen Philosophie: in den Veden und in ihrer kommentierenden Fortsetzung, den Upanishads, deren Grundgedanke die Einheit des eigenen Selbst ( âtman) mit der universalen Kraft ( brâhman) bedeutet, die alles Geschehen, alle Welten erzeugt, trägt und wieder in sich zurücknimmt.

Von den späteren Systemen dieser Lehren scheint besonders das Sânkhyam, eine Art atheistischer Metaphysik und vor allem der Yoga auf sein Leben und seine Erzählungen großen Einfluß gewonnen zu haben, jener Yoga, der praktische Übungen und Ratschläge enthält, um zum höheren, allgegenwärtigen, allmächtigen Sein vorzudringen. Nun eröffneten sich ihm die Geheimnisse der Fakire und indischen Büßer, er spürte den indischen Sekten nach und mußte schließlich zu der Erkenntnis kommen, daß die tiefsten Weisheiten der Magie im nördlichen Indien, in Tibet, aufbewahrt werden, wo man sie so streng behütet, daß nur Weniges bisher über ihren Inhalt bekannt geworden ist.

Die Motive des indischen Denkens und die Magie östlicher Sekten sind wie ein schimmerndes Netz durch seine großen Romane wie auch durch die unheimlichen und selbst die satirischen Novellen gespannt. Meyrink war niemals in Indien; aber als er sich in die Tiefen und Verknüpfungen der indischen Lehren versenkte, erwuchs aus seinem Innersten indische Landschaft, das Grauen indischer Abenteuer und das Treiben und Wirken der Heiligen und Magier. Das Erleben der östlichen Erkenntnisse gebar jene unheimlichen, grausigen und melancholischen Stimmungen, sowie auch jene grotesken Formungen, die Kritik und Bestätigung des innerlich Geschauten und Erfühlten bedeuten.

Gleichzeitig aber erkannte er, daß gewisse Grundprobleme und Ergebnisse in den Geheimlehren aller Völker übereinstimmen. Das Wesen der Mystik ist konstant; wo auch immer sie aufblüht, wird der Mensch die gleichen Pfade geführt, ob man die Erkenntnis in der chaldäischen oder ägyptischen Kultur sucht, ob man in die neuplatonischen Lehren, in die christliche Mystik oder in die Geheimnisse der Kabbala sich versenkt. Deshalb setzte Meyrink sich mit einer Gruppe christlicher Mystiker in Verbindung, die in der Nähe von Darmstadt lebten. Dieser Kreis von Nachfolgern Jakob Böhmes und Kernings wurde Vorbild für die Gestalten des Konventikels im »Grünen Gesicht«. Wie ihm aber das passive Element des Buddhismus fremd geworden war, so vermochte ihn auch das demütige Harren und die tatlose Abhängigkeit von einem Gott nicht zu genügen und weiterzuführen ... Ihn befriedigte mehr der dunkle Eifer der Kabbala und die Kontrastbewegung gegen den jüdischen Rationalismus: der dem Mystischen sich nähernde Chassidismus der Juden.

Aus der Neigung zu diesen jüdischen Lehren erklärt sich die Sympathie des Nichtjuden Meyrink für das Judentum. Diese Sympathie brachte ihm aber wiederum die Verderbtheit der Rasse um so heftiger zum Bewußtsein, die er in allerlei Typen seiner Novellen und in der Skizze »Prag« witzig schildert oder in der Gestalt des von verdorbenem Blut durchpulsten Wassertrum im »Golem« zu furchtbarer Tragik sich entwickeln läßt. Die Beschäftigung mit den Geheimlehren hebräischer Weisheit ließ Lichtgestalten entstehen wie den gütigen, wissenden Hillel im »Golem«, den Doktor Sephardi im »Grünen Gesicht« und den armseligen Eidotter, einen Dostojewskischen Menschen, den Elias selbst erweckt hat, sodaß er, seines körperlichen Ichs entrückt, alle Tat und Schuld der ihn umgebenden Menschheit weiß und erleidet. Die Juden erscheinen Meyrink als auserwähltes Volk wie die Inder, weil es in der ewigen Wanderung durch das Leid der Erde die tiefsten Weisheiten empfing.

Es ist kein einheitliches, übernommenes okkultes System, das die Werke Meyrinks durchstrahlt, sondern er verknüpft die Hauptmotive, die allen mystischen und magischen Lehren gemeinsam sind. Aber er begnügt sich nicht mit diesem okkulten Eklektizismus, sondern er wächst über ihn hinaus, und nachdem er auf die gesuchten Pfade gelangt ist, baut er die magischen Grundideen selbständig weiter, bindet sie zu neuartigen Kombinationen zusammen, denkt sich in die überirdischen Bezirke empor und gelangt zu eigenen und eigenartigen Ergebnissen und Erkenntnissen, denen die Geschehnisse, Menschen und Reden seiner Erzählungen entströmen.

Weil diese Erkenntnisse in den Werken zweier Jahrzehnte, während der sich Meyrinks Anschauungen langsam entwickelten, versprengt sind, weil er sie in den Erlebnissen und Gesprächen von Menschen verschiedenster Art und verschiedensten Herkommens offenbar werden läßt, so finden sich Widersprüche, Umwege, Abstrusitäten. Dennoch ist es ein bestimmter Komplex okkulter Probleme, der überall hervorleuchtet, von den verblüffenden Gleichnissen, die er zur Veranschaulichung magischer Gedanken erfindet, bis zu den endgültigen Zusammenfassungen im »Grünen Gesicht«, das die Quintessenz seiner Überzeugung enthält.

All jene okkulten Phänomene, die Justinus Kerner an Frau Hausse beobachtete und in dem Buch »Die Seherin von Prevorst« aufzeichnete, erfüllen die Bücher Meyrinks. Weil aber das Leben und die Taten der Menschen in seinen Romanen durch die direkten Einwirkungen einer andern Welt erzeugt werden, wirkt das mit diesen Romanen erweckte Grauen tiefer als die aus Rache und Machtgefühl erwachsenden Untaten und Experimente in den früheren Novellen. Das Dasein von Meyrinks Menschenmaterial ist determiniert durch Ahnungen, Prophezeiungen, Vorgesichte, Dokumente, durch Willen und Absicht geheimnisvoller Wesen, die zugleich in der irdischen Welt und zugleich in der jenseitigen leben. Meyrinks Menschen wissen, daß sie in unerklärliche Zusammenhänge verknüpft sind, daß sie von jenen unbekannten, geahnten Gewalten abhängen und sich nicht gegen sie wehren können. Die großen Ereignisse ihres Daseins erleben sie nicht in dem Zustande, den wir klares Bewußtsein nennen, und der dennoch nur eine Beschränkung des Bewußtseins bedeutet, sondern in einem Zustand erweiterten Bewußtseins, in einer Art Entrückung. Ihre Visionen und Träume sind ihr wirkliches, höheres Leben, weil dann die Gesetze des uns bekannten Geschehens aufgehoben sind und Raum und Zeit verschwinden, weil dann der Weg von der Vergangenheit in die Zukunft sichtbar und die eigentliche Bestimmung des Menschen offenbar wird.

Meyrinks Menschen werden durch diese Erlebnisse, die meistens ungeheures Grauen in sich tragen und das irdische Dasein zerschmettern, wissend. Sie erkennen ihre Bestimmung und die Zukunft ihres Schicksals oder werden zur höchsten Vollendung, zur Erweckung geführt. Ihr geistiges Ich tritt aus ihnen heraus, es beginnt die εχστασις, die unio mystica mit der höheren Welt. So erblicken die Helden Meyrinks in den wichtigsten Augenblicken ihres Lebens sich selbst außer sich, sie sehen ihren Doppelgänger, der mehr als ihr Doppelgänger, der ihr höheres Selbst ist. Das Motiv des Doppelgängers, das auch Goethe bekannt war, als er sich in wichtigen Augenblicken sich selbst entgegenkommen sah, kehrt in allen Romanen Meyrinks wieder. Pernath erblickt sich wiederholt als Golem, Eva im »Grünen Gesicht« sieht sich im Augenblick des höchsten Leides außer sich schweben. Meist aber ist diese Erscheinung das Symbol für die geschehene Erlösung der Menschen, das Zeichen der Erweckung; sobald er reif für die höhere Welt ist, erblickt er sein ewiges Ich, das nunmehr unabhängig ist vom Körper. Das losgetrennte Selbst erscheint im »höchsten Augenblick« sowohl Hauberrißer im »Grünen Gesicht«, wie auch Pernath, diesem sogar mit »einer Krone auf dem Kopf«.

Aber umgekehrt können in den Leib des Menschen auch andere Wesen eintreten, seien es Wesen aus der übersinnlichen Welt oder solche, die noch im irdischen Dasein sind. Dem gefangenen Pernath manifestieren sich die entrückten Mirjam und Hillel durch das Medium des willenlosen Lustmörders Laponder, aus dessen Mund die fernen Stimmen sprechen. Die Mystiker des Konventikels im »Grünen Gesicht« rufen die biblischen Gestalten der Vergangenheit in sich wach, indem sie die ersehnten Namen immer in sich hineinsprechen, und handeln wie diese. Als Polyxena in »Walpurgisnacht« das Bild ihrer Ahne erblickt, das ihr gleicht, tritt diese längst gestorbene Frau mit Wollust, Energie und Abenteuertrieb in sie ein, sodaß das Mädchen fortan das Leben der Ahne lebt und hellseherisch in der Versammlung des Hungerturms erkennt, wie ihr Geliebter in König Ottokar und Zrcadlo in Ziska sich verwandelt. Zrcadlo ist ein Virtuos des Sichverwandelns: er ist nur noch ein Körper, in dem Wesen aus allen Welten sich manifestieren, ein Spiegel, in dem andere sich selbst oder für ihr Leben wichtige Gestalten erblicken.

Für Meyrink sind diese Vorgänge keine Wunder, sondern gewissermaßen natürliche Geschehnisse. Er übersetzte die Werke Camille Flammarions, der die okkulten Erscheinungen wissenschaftlich zu deuten versucht. Flammarion nimmt wie de Rochas im menschlichen Körper ein seelisches Fluidum an, das sich verdichten kann und dann über den Körper hinauszuwirken, sogar sich völlig von ihm loszulösen vermag. Manche Wesen also, die gewisser Geheimnisse kundig sind, können ohne körperliches Hinzutun vermittels dieses Fluidums nicht nur Gegenstände bewegen, sondern auch andere Menschen beeinflussen, in sie eindringen, ihre Gedanken erkennen, ihnen erscheinen. Entwickelt man diese Voraussetzungen weiter, so erzeugt sich Glied für Glied eine Erklärung aller okkulten Phänomene zu einer in sich geschlossenen Kette. Es wird ein Selbstverständliches, daß dies seelische Fluidum, das unmateriell ist, sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit nach rückwärts und vorwärts bewegen kann, also in die Vergangenheit wie (da ja alles, jenseits von Zeit und Raum, potentiell existiert) in die Zukunft. Es erklären sich Ahnungen, Fortwirken nach dem Tode und das Vorgesicht, das allen nördlichen Völkern eine bekannte Erscheinung ist und in vielen Dichtungen, z. B. von Scott, Merimée oder der Westfälin Annette von Droste-Hülshoff zum Kunstwerk gestaltet wurde.

Würde man nun alle Erscheinungen, gleichviel ob die unsern Sinnen wahrnehmbaren oder die überirdischen, als Verdichtungen einer fluidischen Energie auffassen, so würden die okkulten Lehren schließlich nicht der Energetik Ostwalds widersprechen und besonders mit dem dynamistischen Monismus Ernst Machs übereinstimmen. Weiterhin: die Körperwelt wäre nur ein durch unsere Sinne erzeugtes Trugbild fluidischer Bewegungen und Zustände ... unsere sogenannte irdische Welt wäre also unwirklich. Traum und Willen lasten uns eindringen in die übersinnliche absolute Welt, der unser eigentliches Ich entstammt, und zu der es zurückstrebt, weil es mit dieser höheren Welt identisch ist. Und hiermit wäre man zu den Grundproblemen der indischen Lehren zurückgekehrt.

Diese theoretischen Bemerkungen ersetzen die Aufzählung vieler Beispiele aus Meyrinks Romanen. Einer seiner Erwachten sagt: »Ich unterschätzte die magische Gewalt der Gedanken und verfiel immer wieder in den Erbfehler der Menschheit, die Tat für einen Riesen zu halten und den Gedanken für ein Hirngespinst.« Der Gedanke entspringt geheimnisvoll dem Unterbewußtsein, dem Sitz der Intuition, des Schöpferischen, – was in unserer Zeit beredsam Bergson lehrt und Mendelssohn in seinen Betrachtungen über die dunklen Gefühle bereits andeutete. Dies Unterbewußtsein ist etwa übereinstimmend mit Meyrinks »innerem Sinn«, dem eigentlichen Selbst: es ist die Nabelschnur, die uns mit der absoluten, übersinnlichen Welt verbindet. Alles Erkennen und Wissen ist Erinnerung, ist ein Fortziehen der Schleier von dem All-Wissen, das in uns aufgespeichert ruht. Als Pernath das Buch Ibbur empfängt, liest er es nicht wirklich, sondern es beginnt eine Art geistiger Schwängerung, das Wissen steigt nicht in ihn hinein, sondern aus ihm heraus.

Es ergibt sich ohne weiteres, daß Meyrinks Okkultismus durchaus atheistisch ist. Kein Gott ist vorhanden, der uns hilft, auf den wir in Demut harren sollen. Sondern wir müssen uns selbst helfen, denn wir tragen das Heil in uns. Der Messias wird niemals kommen, wenn wir nicht unsere eigenen Erlöser sind. Daher ist der Okkultismus Meyrinks durchaus aktivistisch. Als Leitmotiv für sein Leben erhält Hauberrißer den Spruch: »Ob deiner Seele Sehnsucht in Erfüllung geht? – Fahr drein mit fester Hand und setz' das Wollen an der Wünsche Statt.« Nur ein eigenes ungeheures Wollen kann unserem Wesenskern befehlen, durch alle Widerstände hindurch zum großen Ziel zu gelangen. Diese Überzeugung erklärt die Abneigung Meyrinks gegen eine quietistische Nirwanalehre und gegen die Mystik des demütigen Harrens. Weil der göttliche Hauch des Wollens, das Aktive fehlt, deshalb nimmt das mystische Konventikel im »Grünen Gesicht« ein so furchtbares Ende, deshalb tötet Klinkherbogk, der Abram wird, wirklich seine Enkeltochter, denn er erkennt nicht: »daß dein Führer zum Baum des Lebens du selbst gewesen bist«.

Schmal ist der Pfad zum ewigen Leben, schwer zu durchwandern und mit grauenhaften Erlebnissen umstellt. Deshalb braucht der Mensch, wie von jeher jeder Schüler magischer und indischer Lehren, einen Guru, einen eingeweihten Führer. Der aber »muß aus dem Reich des Geistes kommen« und offenbart sich am richtigen Zeitpunkt. Für Pernath ist Hillel dieser Führer, für Hauberrißer ist er das Grüne Gesicht und in »Walpurgisnacht« der Mandschu. Aber eigentlich ist unser inneres Selbst der Führer, denn »nur die Belehrungen, die der eigene Geist uns schickt, kommen zur rechten Zeit und für sie sind wir reif ... wir wollen zu keinem anderen Gott beten, als zu dem, der sich in unserer eigenen Seele offenbart«. Ganz anschaulich wird dieser Vorgang im »Golem«: »so trat an die Stelle des inneren Sehens das Gehör, wobei die Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers übernahm«.

Nicht die Neugier, nicht das Begehren nach Rausch und Verzückung führt zum ewigen Leben. Es ist kein Herüberkommen, sondern ein Hinübergehen. »Man glaubt, man nimmt, statt dessen gibt man. Man glaubt man bleibt stehen und wartet, statt dessen geht man und sucht«.

Meyrink bekämpft den Spiritismus, »die furchtbarste Pest, die jemals den Menschen befallen hat«. Denn es gilt, jene unsichtbaren Begleitwesen, die anderen Iche, die Gespenster (wie wir eins aus Maupassants »Horla« kennen), die uns peinigen und stören, zu beseitigen. Diese Wesen zur Manifestation herbeizulocken: das ist Spiritismus. Aber die Askese, die Beherrschung der Gedanken, die Übungen bezwecken, den Menschen durch eigenen Willen von den Begleitwesen, die von seiner Kraft leben, zu befreien, sodaß seine Gesamtkraft losgelöst wird, um unabhängig von der Realität zu Gott zu gelangen. Das etwa ist Yoga.

Die aktivistische Auffassung des Okkultismus wirkt auch auf das irdische Leben zurück: Das irdische Leben wird nicht verneint; seine Ereignisse schärfen und verfeinern die Sinne und erwecken bisweilen das innere Ich. Dem Leibarzt in »Walpurgisnacht« tritt sein eigenes Ich, manifestiert als Jüngling in Zrcadlo, entgegen; er erkennt mit Schmerz, daß er seine Jugend versäumt habe, und hört deshalb die Verurteilung seines Lebens. Eva im »Grünen Gesicht« empfindet tiefen Schrecken, als das Verantwortungsgefühl in ihr erwacht für die »riesengroße Mitschuld«, untätig das Leid der andern mitangesehen zu haben. Und selbst »Gebete sind nur ein Mittel, um Kräfte, die in uns schlummern, gewaltsam zu wecken. Zu glauben, daß Gebete den Willen eines Gottes zu ändern vermöchten, ist Torheit«. Mit dieser aktivistischen Überzeugung läßt sich auch Meyrinks eigene Haltung und manches Verwunderliche in seinen Werken rechtfertigen. Es ist nicht nötig, daß man sich den Mystiker immer im härenen Gewand, als Asketen, weltfremd, in einsamer Kammer vorstelle. Sondern es gibt auch Mystiker im Frack, die vielleicht die echteren sind, weil sie sich mitten in einem abenteuerlichen Weltleben ihre Erkenntnisse schufen und bewahrten.

Auch durch die Liebe zwischen Mann und Frau kann das innere Ich erweckt, die Entwicklung zur Erlösung gefördert werden. Unter dem Symbol des Hermaphroditen wird im »Golem« wie im »Grünen Gesicht« jene Vereinigung zweier Iche zu einem einzigen dargestellt, die das Zeichen der Erweckung bedeutet. Die Sehnsucht nach der toten Eva erweckt in Hauberrißer magische Kräfte, mit denen er die Geliebte zu sich und ins Leben zurückruft wie in Villiers de l'Isle Adams Novelle »Vera« der Graf seine tote Frau. Beide müssen die Geliebte wieder verlieren, weil es die vergängliche, körperliche Liebe ist, die sie rufen. Meyrink jedoch geht weiter als Villiers: er läßt seinem Helden auch die »unvergängliche« Liebe zu teil werden; als Erweckter ruft er abermals Eva herbei, mit der er nun zugleich in der geistigen wie der körperlichen Welt lebt.

Denn das Ziel ist, ein Bürger zweier Welten zu sein, der in die jenseitige Welt und zugleich in die irdische hineinblickt. Zu diesem Ziel führt der »Pfad des Wachseins«. Diesen Pfad wird Pernath im »Golem«, wie Hauberrißer im »Grünen Gesicht« geführt. Beide verfallen zur Zeit der Erweckung in traumartige Betäubungszustände; beide sind in geheimnisvolle Abenteuer verknüpft, die alle auf ihre Erweckung abzielen; Pernath wird das Buch Ibbur, Hauberrißer das Tagebuch in die Hand gespielt, damit sie Hinweise für ihren Weg erfahren; sowohl der Golem wie das Grüne Gesicht erscheinen als Vorläufer und Führer der Helden; nach furchtbaren Leiden erblicken sie endlich ihren Doppelgänger und sind erwacht zum ewigen Leben. Denn »das Wachen ist ein Aufwachen des unsterblichen Ichs« ... nur wer Herr über seine Gedanken wird, findet diesen »geheimen Weg, der über sterbliches Menschentum hinausführt«. »Lies die heiligen Schriften der Völker der Erde: durch alle zieht sich wie ein roter Faden die Lehre vom Wachsein«, und »wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben«.

In unzähligen Varianten und knappen und neuartigen Formulierungen finden sich die Hauptmotive von Meyrinks Okkultismus in den drei Romanen und einigen späteren Novellen. Eine gewisse Entwicklung und Vervollkommnung der Gedanken läßt sich beobachten vom »Golem«, in dem sie visionär aufzucken, zum »Grünen Gesicht«, das zusammenhängend und ausführlich Meyrinks Lehre enthält, bis zum »Meister Leonhard« und »Walpurgisnacht«, wo ein neuer Abschluß der Erkenntnisse gefunden wird.

Das tat twam asi = das bist du, wird nämlich allmählich gewandelt in die Erkenntnis: »Das bin Ich!« Die Identität des inneren Ich mit der absoluten Welt wird konstatiert; damit sind auch alle Iche ein gemeinsames Ich. Die Sünde ist aus der Welt geschafft, aber das Ich hat zugleich die Verantwortung für die ganze Welt. Wahrend im »Grünen Gesicht« erst angedeutet wird: der erweckte Mensch »bleibt allein und kann alles vollbringen, was er will. Über ihm ist kein Gott,« so erkennt »Meister Leonhard« ganz klar die magische Kraft »des wahren Herrn der Welt, des innersten allgegenwärtigen, alles in sich verschlingenden Ichs, der Quelle, die nur geben und niemals nehmen kann, ohne ein machtloses ›Du‹ zu werden, das Ich, auf dessen Geheiß der Raum zerbrechen muß und die Zeit zum goldenen Gesicht ewiger Gegenwart erstarren, – das königliche Zepter des Geistes, gegen das zu sündigen der einzige Frevel ist, der nicht vergeben werden kann; ist die Macht, die kund wird durch den Lichtkreis magischer unzerstörbarer Gegenwart, alles in ihren Urgrund saugt«.

Bis in »Walpurgisnacht« die Determiniertheit der Menschen aufgehoben wird mit dem Satz: »alles ist Werkzeug, nur das Ich nicht«, und das Bibelwort in wirklicher Bedeutung neu ertönt: »Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst nicht andre Götter haben neben mir!«

Es ist nicht das Konstruieren grausamer Geschichten, sondern wir wissen jetzt: Meyrinks eigener Weg durch die Bezirke des Okkultismus ist es, der in uns die unheimlichen, lockenden Schauer erweckt. Die Abenteuer seiner Bücher sind die Abenteuer seines Geistes, die er nicht erfand, sondern erleben mußte. Der Weg seines inneren Lebens ist eng verknüpft mit der Folge seiner Erzählungen. Kritik an der Welt, in der er leidvoll und gepeinigt lebte, ließ seine satirischen Novellen und die düsteren Stimmungsbilder entstehen; ein Rachegefühl gegen diese trügerische Welt der Wirklichkeit und die Sucht, sie geistig zu zerstören und zu beherrschen, rief die grausigen Erzählungen rätselhafter Verbrechen hervor. Dann leuchtet die resignierende Weisheit des Buddhismus, oft ins Groteske variiert, in seine Prosa. Und als er die Marterpfade der Geheimlehren durchlaufen hat und das Licht des höheren Lebens fühlte, folgten die Romane, in denen er seine Geheimnisse preisgibt und das Verknüpftsein erlösungsgieriger Menschen mit übersinnlichen Gewalten als Beispiele der Erweckung offenbar werden läßt.

Man weise ihn als Okkultisten zurück: – übrig bleibt noch der Mensch innerer Abenteuer, der Beherrscher einer konzentrierten, pointierten, feingearbeiteten Novellenform, der witzige Satiriker, der erfindungsreiche Vermischer von Traum und Wirklichkeit, der Schildern unheimlicher Welten, in denen erregte Menschen geheimnisvoll bewegt und erlöst werden.

Wer aber Meyrink selbst über Schicksal und Werk befragt, den wird der Fünfzigjährige bitten, überzeugt zu sein, daß er selbst der leidenschaftlichste Gläubige seiner eigenen Lehren und sehr glücklich sei, den Anschluß an die geistige, unsichtbare Hierarchie, die er sein Leben lang suchte, gefunden zu haben.


 << zurück