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Geschrieben 1907.
(Kapitel XII aus dem »Roman der XII« [Verlag Konrad W. Mecklenburg, Berlin])
Gaston v. Dülfert erwachte nach einer in bleierner Bewußtlosigkeit durchschlafenen Nacht. Neben ihm auf dem Kopfkissen lag zerknittert das Extrablatt und zeigte die Sengspuren der Zigarette, die ihm, als er nachts in Schlummer gesunken, noch glimmend aus der Hand gefallen war.
Wieder und wieder überflog er die Zeilen und ein Gefühl unsäglichen Befreitseins zog abermals durch sein Herz. Es war nicht der Triumph über seine Todfeindin, nicht die Vorfreude winkenden Sieges über ein widriges Geschick, in dessen Steuerrad zu greifen die Poczerewska sich vermessen, die ihn erfüllten, es war das tiefe Aufatmen des Gefangenen, der jubelnd nach langer Kerkernacht das frische Himmelsblau wieder begrüßen darf. Ihm war, als hätte eine dunkle gespenstische Hand von seiner Kehle gelassen.
Jetzt erst wurde der dumpfe Druck in seinem Innern, der auf ihm heimlich gelastet die ganze Zeit hindurch, seitdem er mit dem verbrecherischen Italiener handelseins geworden, zur deutlichen Stimme.
Das bloße Leben eines Menschen wiegt so schwer nicht, als gemeinhin der Spießer glaubt, aber das Heranziehen der finsteren Mächte des Übersinnlichen, das Hantieren mit dem Rüstzeug einer unsichtbaren Welt – und sei es auch nur das scheinbar Billigste, Simpelste, – die Hypnose, von der selbst der moderne Mediziner schon weiß – mit Gesetzen zu stümpern, die dem Menschentier des Heute verschlossen, das ist es, das an den Türen rüttelt, dahinter die Erinnyen wachen.
Satz um Satz fielen ihm die Abhandlungen des letzten Buches mit unendlicher Klarheit wieder ein, das er vor kurzem gelesen und das damals schon einen tiefen Eindruck in ihm hinterlassen: »Das zerstörende Prinzip in der Natur« von Florence Huntley.
Die Frau, die hemmend in seine Pläne griff und ihn und seine Kinder hatte vernichten wollen – nur aus einem bornierten weiblichen Haßgefühl heraus – diese Frau durch Mord aus dem Wege zu räumen, wäre an allen Begriffen gemessen, die er sich über »erlaubt« oder »verwerflich« als glaubensloser »Kultur«mensch im Laufe eines im Grunde doch recht oberflächlichen Lebens zurecht gezimmert, vollständig vernünftig und gentlemanlike gewesen.
An seinen inneren Maßstäben gemessen! Und was gingen ihn die Maßstäbe anderer an?! Oder die zehn Gebote eines Moses, dem er niemals vorgestellt worden war!
Er hätte sich sogar ein Anrecht an die Sorte Empfindungen erworben, die den Jäger beseligen, wenn er den schädlichen Fuchs geschossen – auch die Poczerewska war ja rot und schädlich gewesen: Die Beruhigung, der fürsorgliche Schirmherr im geordneten Gänsestall zu sein!
Das kunstvollste Gefüge des Planeten jedoch, das die Natur in Milliarden Jahren aus der Turba der Lebenskeime durch die Retorte des Stoffes sublimiert, das unabhängig freie »Ichbewußtsein« – des Individuums immer wiederkehrende Wurzel – frecher-, dummer- und noch dazu überflüssigerweise niederreißen zu wollen, indem er sich Conte Carrares ekelhafter psychischer Einflüsse mitbediente, erschien ihm jetzt in einem Maße grauenhaft, daß er gar nicht fassen konnte, wie er je auf solchen Gedanken hatte verfallen können.
Gott sei Dank, die Sense des uralten Schnitters war sausend dazwischen gefahren. – –
Gaston v. Dülfert ließ den Faden seiner Gedanken fallen.
Er verfolgte eine Weile denkmüde mit den Augen die Schlangenmuster der Tapete und verglich ihre unregelmäßigen Abstände.
Das scharfe, rhythmische Hufklappern der Droschkenpferde auf dem Straßenasphalt, das von unten emporschallte, hämmerte sich immer deutlicher und deutlicher in sein Bewußtsein und weckte vollends seine Erinnerung an das Tagesleben.
Es war wirklich unglaublich! Der alte Liebenberg sollte auf einmal sein Vater sein!
Gaston durchstöberte die Falten seines Ahnungsvermögens. Im Kampf mit dem Leben hatte er sich so nach und nach eine seltsame Methode zurecht gemacht, um, wenn es darauf ankam, eines Partners oder Gegners – Begriffe, die sich bei ihm immer deckten – Gedanken zu durchschauen, mitzufühlen, besser gesagt. Er brauchte nur im Geiste des anderen Gesichtszüge nachzuahmen, Blick, Haltung, Stimme, und mit erstaunlicher Sicherheit gesellten sich, wie etwas davon Untrennbares, ganz von selbst die geheimen Gedankengänge hinzu.
Gaston v. Dülfert hatte sich spielend, wie etwas Selbstverständliches, diese Methode, in anderer Hirnkasten hineinzusteigen, derart zu eigen gemacht, daß er die meisten seiner geschäftlichen Pläne auf solcher Grundlage aufbaute. Was er dabei aber als besonders auffallend herausgefunden, war, daß die arische Menschenrasse diesen Gefühlsschlüssel fast ausschließlich handhabte, während er der semitischen ganz abzugehen schien. – Wann immer er Bekannten oder Freunden, insofern es Juden waren, von dieser Fähigkeit in offenherzigen Stunden erzählte, stets stieß er auf vollkommenes Unverständnis. – Besten Falles hatte man seine Erzählungen für oberflächliche Konversation genommen oder eingeworfen, man hätte doch auch seinen Edgar Allan Poe gelesen, der bereits über diesen Punkt der Psychologie erschöpfend geplaudert habe.
Nach und nach hatte sich so in Gaston v. Dülfert die Überzeugung eingewurzelt, daß die modernen Arier und Semiten in keinem Punkte so grundverschieden voneinander seien, als gerade in diesem. Die Juden zogen – vielleicht aus typischer Angst und Abneigung vor allem was irgendwie nach Metaphysik roch – immer nur den Verstand heran, sich den Sieg zu erklügeln, während die sogenannten Christen – meist unbewußt zwar und stets unsystematisch – ein Gefühl zum Ausgangspunkt für ihre Handlungsweise nahmen.
Gaston verglich. – Er besaß die Eigenschaft, Gedanken treffsicher zu erraten so vollkommen, wie der Kommerzienrat, sie logisch folgernd, herauszuklügeln. – Jeder von ihnen war ein Meister seiner eigenen Rassetümlichkeit.
Dülfert schloß die Lider und dachte sich ganz, ganz, ganz in Liebenberg hinein. Er schnitt des andern Gesicht in guter und schlechter Laune, bei dieser und jener möglichen Gelegenheit, ahmte den kurzen zappeligen Schritt nach, sprach als buckliger kleiner Geheimer Kommerzienrat zu dem buckligen Gaston v. Dülfert mit den wasserhellen Zanderaugen. Er wurde förmlich plastisch in seinem Innern.
Er war drei Personen: Liebenberg, Dr. v. Dülfert und ein unsichtbarer gestaltloser Gestaltender.
Nichts! – Nichts Gemeinsames am Bodengrunde der Wesen, vollständig verschiedenes Blut. – Er fühlte, er wußte es: jenes Sohn war er nicht.
Und er war froh. So froh. Er hätte beinahe in die Hände geklatscht wie ein kleines Kind.
Warum denn eigentlich? Er verstand sich selbst nicht mehr. Es konnte ihm doch vollkommen gleichgültig sein, wer sein Vater war.
Wenn er wirklich Liebenbergs Sohn war, hätte ihm das, bei Licht besehen, keinerlei sonderlichen Vorteil gebracht. Erbberechtigt konnte er unter normalen Umständen niemals werden, und solange der Kommerzienrat lebte, würden sich durch dessen väterliche Neigung zu ihm – Gaston – die gegenseitigen geschäftlichen Beziehungen für den jüngeren Teil kaum gewinnbringender, als es bisher der Fall gewesen, gestaltet haben.
War sein Gefühl also nur eine Art unbewußter Prüderie seiner Eitelkeit? Wollte er mit dem Alten einfach nicht verwandt sein, vielleicht weil jeder Gassenjunge in Berlin wußte, woher der Grundstein der siebzig Millionen stammte? Liebenberg hatte gewuchert bis die ersten zwei bis drei Millionen beisammen gewesen, – sechzig Prozent im Schatten hatte er genommen und wieviel gar erst in der Sonne! Gaston lachte laut auf. Was war da weiter! In welchem Verdachte hatte er sich da? Geld riecht doch bekanntlich aber auch ganz und gar nicht!
Das war es also nicht! Und was sonst konnte ihn denn so merkwürdig froh machen, wenn er sich dem Gefühl, jener sei doch wohl sein Vater nicht, ganz hingab? – Dr. v. Dülferts Blick fiel auf die Abendzeitung, die er gestern nachts nicht mehr zu Ende gelesen und die neben seinem Bette auf dem Boden lag.
Er beugte sich heraus, hob sie auf, blätterte sie schnell durch.
Was war das? Ein merkwürdiger Satz im Annoncenteil sprang ihm förmlich in die Augen:
» Dein Vater ist nicht gestorben, Gaston, bald wirst du ihn wiedersehen.«
Dr. v. Dülfert durchsuchte die Zeitung Zeile um Zeile, die Worte waren nicht mehr aufzufinden! Nichts dümmer und ärgerlicher als Halluzinationen! Natürlich hat sich beim raschen Umblättern aus vorhandenen Wörtern und Silben dieser idiotische Satz gebildet, – aus Gasthof wurde Gaston usw. Merkwürdig ist es wohl, aber traurig, daß sogar die Natur schon in Kitsch arbeitet und solche sinngebärende Bleigießerei überhaupt zuläßt.
Ärgerlich griff Gaston nach seinem Zigarettenetui und zündete sich eine Cortesi an.
Wieder überkam ihn das Gefühl unbeschreiblichen Behagens. Er rekelte sich in den weichen Kissen zurecht und nahm sich vor, einmal so lange liegen zu bleiben wie nur irgend möglich und nichts anderes zu tun, als das frohmachende Licht, das durch die gelbseidenen Vorhänge wie Sonnenglanz gefärbt im Zimmer lag, zu genießen.
Jetzt konnte, ja, mußte alles gut werden. Er brauchte nur die Augen hübsch offen zu halten, um rechtzeitig zufahren zu können und die Dinge reifen zu lassen wie Früchte.
Er kannte ja Anna, seine Frau; plötzlich würde es sie nach der Grafenkrone, und wäre es auch nur nach der polnischen der Poczerewskis, gelüsten. Ihr und diesem Edelmann die Kinder abzuhandeln, konnte dann kein Kunststück sein.
Ließ sich das aber wirklich nicht beschleunigen? Übers Knie brechen? Gaston v. Dülfert dachte nach. – Wenn er jetzt, in diesem Augenblick, unter einem listigen Vorwande in des Grafen Wohnung eindränge – wetten hätte er mögen, Anna in der kompromittierendsten Situation vorzufinden – sie war gewiß auf ein Telegramm des Grafen schon zurückgekommen!
Ja, es mußte schnell etwas geschehen, Karen hatte ganz recht! Es war eine Gewissenlosigkeit von ihm, seine Kinder auch nur eine Stunde länger Einflüssen ausgesetzt zu lassen, die für sie Gift sein mußten!
Dülfert staunte über sich selbst. Wie zart besaitet er heute nur war. Unerhört für seine ramponierten Ansichten über Moral. Sicherlich hatte dieser gräßliche Neander die ganze Nacht für sein Seelenheil gebetet und war erhört worden. Blondel, der Minstrel, hatte ja auch so lange gesungen, bis man Richard Löwenherz, seinen Herrn und Gebieter, aus dem Schlosse Dürnstein freigelassen.
Das Bild Karens drängte sich unvermittelt in Gastons Ideenflucht.
Warum mußte sie nur dieses alberne Ultimatum stellen: zweimal vierundzwanzig Stunden?!
Nein, nein, nichts konnte mehr gut werden; alles hätte er verwunden, dem Ärgsten, Erschütterndsten ins Auge gesehen, aber Karen, seine Karen, die er in seinen Träumen – wie schämte er sich jetzt dieser Träume – sich als Adlerweibchen ausgemalt, zum schnatternden Gänschen zusammengeschrumpft zu wissen – – – nein, nein, erst recht wollte er sich in einen Taumel wildester Ausschweifung stürzen, in ein Auf und Ab, ein Gelderraffen, ein Geldvergeuden. Aber fort aus diesem Schnedderedeng-Berlin, dieser schicklosen, geistlosen, »äh-Sekt-Madame-Rémy-Atmosphäre«, wo selbst die Kokotten nichts anderes waren, als wider Willen aufgeputzte, von der Männerwelt mühselig dem häuslichen Hühnerstall entfremdete muckerische Puten, die – innerlich glattgescheitelte Hausmütterchen – dem trauten Stickrahmen heimlich nachtrauerten.
Paris, Moskau, Saigon, Benares, San Franzisko! Nur diesen Berlinerischen »Elejanzbetrieb mit Fixigkeit« nicht mehr sehen müssen!
Wütend drückte Gaston auf die elektrische Klingel. Fast im selben Augenblick sprangen die Riegel der Zimmertüre zurück und Bortdiner, Dülferts Lakai trat herein.
Gaston sah sich ob dieser Schnelligkeit erstaunt um.
»Entschuldigen Herr Baron, ich war bereits unterwegs, diesen Brief vom Portier herauf zu bringen, da hörte ich eben vor der Tür Herrn Baron schellen.«
Dülfert nahm den Brief, der mit vielen Stempeln und blauen Strichen verschmiert war, in Empfang.
»Wünschen sonst noch, Herr Baron?«
»Ja, nehmen Sie aus meiner Ledertasche dort, Bortdiner, eine Visitenkarte und hundert Mark. Besorgen Sie rechtzeitig Blumen für das Begräbnis der Frau Gräfin Poczerewska.«
»Zu dienen, Herr Baron, und wünschen Herr Baron sogleich oder später rasiert zu werden?«
Gaston von Dülfert gab keine Antwort. Er hatte das Kuvert erbrochen und in seinen Mienen malte sich eine grenzenlose Verblüffung. Erst als der Diener seine Frage schüchtern ein zweites Mal wiederholte, winkte er ungeduldig mit der Hand ab.
Bortdiner klappte die Absätze zusammen und verließ auf den Zehenspitzen das Zimmer.
Dülfert hatte sich in den Kissen aufgerichtet und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. »Um Himmels willen, bin ich denn heute wirklich wahnsinnig?« Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, riß die Fenstervorhänge auseinander und buchstabierte nochmals und bei klarem Oktobersonnenlicht den Brief. Das Kuvert, vor einigen Wochen, nach dem Datumsstempel zu schließen, von Berlin nach München gegangen, trug die Aufschrift:
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war von München in alle möglichen Städte und endlich nach Berlin zurückgewandert. Das Berliner Amt hatte den Brief geöffnet, in ihm vergeblich nach der Adresse des Absenders gefahndet und dann angeordnet, daß er in die ehemalige Wohnung des verstorbenen Medizinalrates »von der Heydtstraße Nr. 8« gesandt werde. Offenbar von dort war der Brief hierher ins Hotel Bristol gelangt.
Soweit begriff Gaston! Sein erster Gedanke war gewesen, irgendwer, ein Hochstapler, vielleicht ein Irrsinniger, hatte den Namen und die Titel des verstorbenen Medizinalrates aufgegriffen und hauste unter ihrem Schutze in München, Berg am Laim Nr. 7.
Der Inhalt des Briefes zerstörte diese Illusion bis auf den Grund.
* * *
Berlin am 10. September.
Geliebter Bruder in auro potabile !
Vulgo lieber guter alter Wilhelm August!
Nicht länger will ich – Dich in banger Ungewißheit fühlend – Deine Sehnsucht auf die Folter spannen. Ja, ja, ja, Lob und Preis dem Höchsten, es ist alles wohl gelungen! – Wohl an die 100 Quintlein jenes fürtrefflichen »roten Löwen« (leonis rubri) , nach dem unsere morschen Leiber dürsten von Aufgang zu Aufgang Solis sind gewonnen und harren fürsorglich lutiret ihres Zweckes, unser aller alte Herzen zu verjüngen.
Es war ein gar arg und häßlich Wagestück, es dem schlimmsten Gauch und Strauchdieb nachzutun und gleichsamb bei Nacht und Nebel in der greisen Frau Herzogin verstaubtem Ahnengemach unter allerley ehrwürdigem Gerümpel nach jenem unnachahmlichen leoni rubro zu (mit Verlaub) schnüfflen, malen erst ihn nach glücklicher Auffindung Phiole um Phiole in Sicherheit zu bringen ein ohngemein schwierig Unterfangen blieb. Wohl hatten die greise Dame in höchsteigener Person nächstgrauenden Morgens die Spuren frevelhaften Eingriffes bemerkt und hatten im ersten Schrecken der Domestiken herbeieilende Schar arg alarmieret, standen jedoch, – malen sich auch nicht an dem Kleinsten (unseren – der Philosophen – leonem rubrum achten sie für ein gar wertlos und verächtlich Ding und wissen kaum um sein Bestehen) ein Abgang erwies, fernerhin auf mein – Dero altvertrautem Leibarzte gütlich Zureden (oh, über die Bosheit des menschlichen Herzens), es sei wohl der pfauchenden Kater Getrapp gewesen, das nächtens den Lärm und die frevelhafte Unruhe unter dem kostbaren Gerümpel verursacht, überdies ein herzzerbrechender Gestank in dem Ahnengemach meiner listigen Rede günstigen Vorschub leisten zu wollen schien – von weiteren inquisitionibus ab.
Doch stille jetzt von all jener im Grunde des Herzens doch verabscheuungswürdigen Heimblichkeit. Oh, wie ich aufatme, meine schwere Aufgab mit Hilfe des Höchsten so glücklich absolvieret zu sehen.
Es genüge jetzt, den köstlichen liquorem bei Verfassung dieses Scripti ohnzweifel wohlbehalten beim Großmeister unseres uralten Ordens angelangt zu wissen.
Wollst es mir, lieber Bruder in auro vivo , nicht verübeln, wenn ich ohn jede Umbstände – quasi ohnvermittelt von unser aller Herzenssach abschweifend – nunmehr auf ein gar unerquicklich Ding diei griseae – des grauen Alltags – einzugehen mich füglich genötiget erachte. Doch besser noch lasse ich in dieser Sach den Griffel sinken und beiliegend Handschreiben, so an mich gelangte am verflossenen Tage Genovevae , für sich selber reden.
In brüderlicher Umarmung verbleibe ich in
mercurii et solis spiritu allzeit
getreuer
Philaleta philosophus.
Merke wohl: Beigefüget ein Handschreiben deiner simplen aber herzensguten alten Dienerin.
nochmalen
Philatela, philosophus.
Hochgeöhrter Herr Herzoglicher Leibrad!
Hochgeöhrter Herr Herzoglicher werden mir gewiß nicht vorn übel nemmen wan ich an Ihna heude die Pfeder zur Hand nemme. Ich sags wiesis. Wann es auch in Berlin nicht Sidde is aber ich hab mich niemals nicht an keine fremde Sidde nicht gewöhnen kenna ich sags wiesis. Die Gnäfrau Doktor Anna von Dülfert is Herr Leibrad entschuldinga, aber die Gnäfrau is eine solchene! Ich bin fro das es heraußen is. Der Herr Dokter Gastong von Dülfert kümmert sich auch nicht einen Schmarrn, ieberhaubd die Knäfrau sagt es iberal laud heraus, Entschuldinga, der Herr Dokder is ein Hallodri. Diesesmal is der Apfi aber weid vom Schdam gefalen wie es in der Bredigd heist und der godselige Herr Medinalrad mecht sich im Grab umdrehchen, wan er kennt. Was er fier einen Sohn had ich sags wiesis. Weil der herzogliche Herr Leibrad imer so ein guds Herz am rechten Flegg kappt ham wans mit der Famülie des Herrn Medinalrades selig von Dülfert is allaweil bergab ganga so mus ich dem Gnäherrn die Kinder ans Herz legen.
Die alde Dahme fom Nordbohl was die Kinder so gern kapt ham, had geweint iber die Bolizei. Es muß etwas schnelles gescheh, sonzt gschicht was. Es wird aus dem Mäderl eine Sumbfblume und der Bub dritt in seines Vaders Dabfen weil sie bei der loggeren Gnäfrau Anna von Dülfert keinen Reschbegd nicht ham kinna und der Hallodri fon einen Baba is auf nächdigen Abendeyer. Underwegs. Hochgeöhrder Herr Herzoglicher Leibrad! Ich weis es. Gnäher Herzoglicher Leibrad sin Freymeurer! ich bin fro daz es heraußen is. Ich hab es geschbannd, wie ich bei Ihna den alden Schrang imer aufkramt hab, friehere Zeiden an den schwarzen Dalahr. Ich bin nur eine Frau aus dem Volge und eine katholische Christin ich habe den gresden Reschbegd for den Freymeurern. Sie stegen um 6 Uur in der Friehe auf um Gudes zu duhn. sie nemen ein Wingeleisen und die Bolizei sind die Geschlenkten. Herr Herzoglicher nemma Sie Ihnar Winggeleisen und duhn Sie einen Schridt.
Entschuldinga der Knäher meine Freyheid und herzlich gegriest von der friehere Haushälderin Crescens.
Nodapene wans nach dem Geseze habert die Kinsfrau von der Gnäfrau von Dülfert schdehd den ganzen lieben Dag beim 11. Monumang im Dirgarden mit die Kinder. Wann ein Mann komd, die Kinder (raum) raupen, der Bolizei schaugd weg, wan er das Winggeleisen riechd, ich sags wie sies.
* * *
Gaston war zumute, als fiele er mit immer wachsender Geschwindigkeit in ein riesiges gähnendes Loch. Er war doch persönlich beim Begräbnis seines Vaters dabei gewesen – –!! Die phantastische Historie von dem Pariser Alchimisten Nicolas Flamel, der sein Leben durch geheime Tränke verjüngt, sich dann als scheinbar tot hatte begraben lassen, um unauffällig aus der Menge zu verschwinden und erst ein Jahrhundert später in Kleinasien als Jünger einer kuriosen Sekte vorübergehend wieder aufzutauchen, fuhr ihm durch den Kopf.
Einen Augenblick lang wankte alles in ihm, was er seit seiner Kindheit eingesogen an Begriffen über die »Realität« seiner Umgebung.
Jener ganz offenkundig im reinsten Alchimistenstil gehaltene Brief dieses geheimnisvollen alten herzoglichen Leibarztes mit seiner altfränkischen Schnörkelschrift – das zweite schauderhafte, aber so ganz und gar nicht auf Irrsinn deutende Schreiben der Haushälterin! Ja, bei Gott, es blieb kein anderer Ausweg – –: der Medizinalrat, sein Vater, lebte – war ausgegraben worden – sein Sarg war leer, der Grabstein: »Hier ruht usw.« ein dummer Witz! Und – und – eine geheime Brüderschaft existierte in Wirklichkeit? Eine Reihe gespenstischer uralter herzoglicher Leibärzte und modriger Ratsherren mit gepuderten Perücken lachte sich den Buckel voll über die Toren, die rings um sie herum ins Gras bissen, einer nach dem andern. Um Gottes willen, es gab also in Wirklichkeit trotz Obertimpfler, Häckel, Biederkopf, Klempke und Albert Zimmermann eine verborgene Wissenschaft?!
Ein Tohuwabohu herrschte in Gastons Schädel. Stimmen aus den Märchenbüchern, – das Glasmännchen, Jack Mondory der Spinnenneger, der dicke Ezechiel mit dem steinernen Herzen, Fortunat mit dem Säckel – meckerten durcheinander; – der grausige Klub Amanita, dessen Herren scheintot in Schubladen schlafen bis der Vollmond kommt, Hoffmanns Pater Medardus und der irrsinnige Dr. Cinderella stiegen aus der Vergangenheit empor.
Wie von einem Blitzstrahl beleuchtet sah Gaston plötzlich wieder die Bibliothek seines Vaters vor sich, die langen Bücherreihen der Alchimisten, die dieser so gerne gelesen, ohne je über sie ein Wort zu äußern, – die Abhandlungen über das weiße und rote Salz der Vollkommenheit, den »weißen« und »roten Löwen der Philosophen«, – die dunklen, schweren Worte der Maria Prophetissa, die aurea catena Homeri, den Grafen Onuphrius de Marsiano, die Pantakel Herrmann Fictulds, Adamah Boz und Alexanders von Suchten. – Die Gestalten der Adepten, von denen die Rede ging, daß sie den Tod des irdischen Leibes überwanden, reichten einander die Hände zur Kette: Hu-tsu, der Mandschure, Elias, Henoch, Mani, Apollonius, Johannes der Evangelist, Chaitanya, Bab, Nostradamus, Mejnour, Christian Rosenkreutz, Nicolas Flamel, Gulap Singh, Hilarion, Koot-Humi – und der große Theosoph Dr. Rudolf Schwätzer. – – –
Ein lauter Wortwechsel draußen im Korridor brachte Gaston wieder zu sich. Er hörte, wie Bortdiners ewiges: »Aber ich bitt schön, es geht beim besten Willen nöt, es geht halt nöt, bitt schön!« von einer rasch näher kommenden gellenden Frauenstimme erbarmungslos über den Haufen geschrien wurde. Im nächsten Augenblick wurde die Tür heftig aufgerissen und in ein brustzuckerrosa Tailormade geknallt, einen krepierten Pfau auf dem Haupte, sauste Anna von Dülfert – den paffroten Sonnenschirm gefällt – hinein.
Gaston retirierte wehenden Hemdes hinter das Nachtkastel.
»Wo sind die Kinder? Das ist ungesetzlich, o das wird dir schlecht bekommen! Gemeiner Kerl, wohin hast du die Kinder gebracht?« schrie die Frau.
Gaston starrte sie entgeistert an: »Die Kin– – – – ja fehlen sie denn?«
»Ja ja, verstell' dich auch noch, du – du – gestern abends im Tiergarten,« – die Stimme schlug ihr um, – »per Automobil – frech entführt – –«
In Gaston dämmerte eine Ahnung: Tiergarten! Monument Nr. 11! Ha! der »Freymeurer mit dem Winggeleisen!«
»Gib die Kinder heraus,« gellte Anna mit frisch geholtem Atem, »aberrr warrte nurr, du – du –, ich weiß doch, wohin sie sind, gestern abends im Schnellzug nach München, man hat sie gut gesehen! – warte nurr, du buckliger Kerl – du – du« – –
Die Ahnung wurde Gaston zur lebendigen Gewißheit: die Adepten! Die Adepten! Also doch!! Er stieß einen wilden Triumphschrei aus.
Seine Frau stürzte sich stumm auf ihn.
Mit einem Satz war Gaston beim Waschtisch, hatte mit Blitzesschnelle seine Hände in eine große Schale mit Vaseline getaucht und erwartete, die Finger gespreizt, die Arme halb gebeugt, in Ringkämpferstellung den Angriff.
Anna von Dülfert kreischte auf und stob kreidebleich von dannen: »Mein Kleid! Das Scheusal, mein Kleid, Bortdiner Hilf, zu Hilfe!«
Noch lange stand Gaston unbeweglich mit von Fett triefenden Händen und starrte sinnend vor sich hin.
* * *
München, die Kunststadt mit Hirschhornknöpfen, fiebert. Vorgestern Wedekind vom Jünglingsverein durchgeprügelt, die Frau Kommerzienrat Zettelhuber im neuen Weißwurstgown auf die Theresienwiese geritten, – gestern Denkmalsenthüllung von Obermayer und Niederhuber! – Bayerns berühmteste Ärzte Hand in Hand wie Goethe und Schiller! Der unsterbliche Obermayer, der die »Eiweißernährung« als dem menschlichen Organismus Zuträglichstes erschaut und eingeführt, der nicht minder geniale Niederhuber, der die Eiweißtheorie wieder umgestürzt und ihre Schädlichkeit bewiesen, in Bronze friedvoll ins Weite blickend.
Und Gärung allüberall! Umsturz in der Malerei! Die ersten Pinsel der Stadt, raunt man, haben sich von der alten Schule losgesagt, – die Rettige auf den Bierkrügeln werden von nun an verkehrt gemalt – mit der Wurzel nach oben. Und neuer Villenstil mit tief über die Ohren herabhängenden Dächern und maulartig verschlossenen Holzbalkons: Typus Cléo de Mérode mit Automobilbrille.
Über all dem das Oktoberfest! Sportwoche! Um 1 Uhr mittags großes internationales Wettpeitschenknallen; wer wird siegen, Oberbayern, Niederbayern oder die Pfalz? Bei der Tombola großer Tag; wer ein Sonntagskind ist, kann um zwanzig Pfennig eine blauweißgescheckte Leibschüssel mit Sinnspruch gewinnen. – Bloß im östlichen Teil Andacht und Totenstille; die Menge kaut die Kokosnuß und die treffliche Schmalznudel, – hie und da nur knallt eine Zündkapsel, wenn ein rachitischer Bajuvarenschlot erfolggekrönt auf die Kraftmaschine gehauen hat.
Um 2 Uhr Preisknödelwettessen. Der bayrische Courier wird feilgeboten, – geht reißend ab, jeder erwirbt ein Blatt, den duftenden Steckelfisch zu bergen. – Der Motor des Wachsfigurenkabinetts schlappft den Hochzeitsmarsch aus Lohengrin: die »geheimen Krankheiten« beginnen! Aus Wachs, in Überlebensgröße, von der Wiege bis zum Grabe, – zur Vertiefung des Volkswissens! Gymnasiasten umkreisen wie Schakale die Bude – mit glühenden Augen: sie dürfen nicht hinein!
Leer nur und verlassen das »Kalifornische Wunderzelt« der Aztekenkönigin Huitzilopochtla: – alles ist herausgekommen und der Bayer läßt nicht mit sich spaßen. Zwar ist der Seehund echt in der Badewanne, aber die Aztekenkönigin ist nur eine Frau Sonnenschein aus der Schmilesgasse in Prag, Mitbesitzerin des Hotels »Gänsebristel«, die sich zur Rolle der Huitzilopochtla herabgelassen, um sich einen Gratisausflug nach München herauszuschlagen. – Und sinkt die Nacht: Hoftheater! – Unsterbliche klassische Kunst: »Das Lied vom braven Mann«, für die Bühne bearbeitet von Engelmann, dem berühmten Autor der lateinischen Schulgrammatik. Und morgen zum hundertsten Male mit neuer Besatzung: »Harras, der kühne Springer«. Toilettezwang, Frack, Chapeau claque mit Gemsbart.– –
Gaston von Dülfert – im Reiseanzug und hellgrauen Glacéhandschuhen – hatte sich entschlossen, zu Fuß das Haus seines Vaters aufzusuchen; es kam ihm unehrerbietig und würdelos vor, sich anders dem Heim eines Adepten zu nähern.
Jeder, den er unterwegs nach dem »Berg am Laim« gefragt, hatte mit einer wilden Armbewegung wortlos nach Osten gewiesen, und die Gegend war immer schofler geworden.
Endlich stand er vor einem anscheinend fensterlosen Würfel mit speckgleißendem Rundbogentor, der so gestellt war, daß er sich von den Kleine-Leuthäusern kaltschnäuzig abwandte. Kein Namensschild! Nur ein großer, auffälliger Klingeldrücker wie ein Zyklopennabel mitten auf der Türe. Darunter fletschte ein Briefkastenschlitz mit überhängender Oberlippe seine Zähne. Gaston wartete einen Augenblick, um sein heftig klopfendes Herz ein wenig zu beruhigen, und drückte dann fest auf den Klingelknopf.
Mit einem Schmerzensruf zuckte er zurück: eine Nähnadel war giftig aus dem Drücker herausgefahren und hatte ihn gräßlich unter den Nagel gestochen. Ein zweiter, vorsichtiger Versuch ergab den Augenschein, daß der Apparat immer so funktionierte. Verwirrt schüttelte Gaston den Kopf und beschloß, stark zu klopfen.
Im nächsten Augenblick klebte seine Faust mit dem grauen Handschuh zäh an der Türe fest und das fettglänzende Holz gab keinen Hall. Das ganze Portal war von oben bis unten liebevoll und dick mit Vogelleim bestrichen!
Gaston grübelte nach und kam zu der Ansicht, sein Vater sei wohl länger schon verreist und ein Spaßvogel habe sich all diesen Unfug erdacht.
In Gedanken zog er eine Visitenkarte und warf sie in den Schlitz. Wohl bedauerte er es sofort heftig, denn er hatte doch vorgehabt, den Medizinalrat zu überrumpeln, da fesselte ein höchst befremdendes Phänomen seine Aufmerksamkeit.
Ein dumpfes Röcheln hob hinter der Tür an, wurde laut und lauter, wuchs zu beängstigendem Gurgeln an und entartete dann in ein Schreckensgetöse, als ob einer starken Maschine furchtbar übel geworden sei.
Das Geräusch des Erbrechens pflanzte sich heulend nach abwärts fort, lief zu Dülferts Füßen unter dem Pflaster hin und löste sich schließlich in helles Plätschern auf.
Gaston sah sich um. Da! Da schwamm seine Visitenkarte in trüben Fluten hurtig den Rinnstein hinab.
»Aha! Also ein Briefkasten mit Wasserspülung!« Der Maschinerie war hörbar wieder wohler geworden, wie ein melodisches Tröpfeln verriet.
Gaston verstand plötzlich den geheimen Sinn des »Vermerkes für den Briefträger: Unten hineinwerfen,« der auf dem Kuvert des gespenstischen Leibarztes gestanden! Er bückte sich. Richtig, tief unten, sinnreich im Arabeskenmuster versteckt, war ein zweiter Briefkasten und – ein zweiter Klingelknopf!
Ein Druck! Knallend sprang die Tür auf.
* * *
»Gaston!« rief ein alter Mann.
» Papa!« antwortete Gaston.
Unfähig mehr zu sagen, starrten sich Vater und Sohn in die Augen.
Der Medizinalrat war uralt geworden und kahl wie ein Lämmergeier.
Er saß auf einem Drehstuhl im Zentrum eines ungeheueren schwarzen kreisförmigen Schreibtisches. An Gummischnüren hingen, genau in äußerster Griffhöhe: Bleistifte, Tintenfässer, Tabakspfeifen, Flaschen, Gläser und andere Gebrauchsgegenstände von der Decke herab.
Die Peripherie der kreisförmigen Tischplatte entlang standen auf Schienen, die sämtlich radial dem Loch in der Mitte – worin der Medizinalrat saß – zuliefen, eine Menge von Miniatureisenbahnwagen, mit Büchern vollgepackt. – Durch Hebel konnten sie – jeder für sich – ins Rollen gebracht werden.
»Gaston!«
Der Alte erholte sich zuerst. Geräuschlos schob sich die Tischplatte an vier senkrechten Leitstäben aufwärts und blieb dann wie das Dach eines Riesenpilzes oben hängen.
Die beiden umarmten sich in echter Gefühlswallung. Der alte Herr drückte seinen Sohn sanft in einen federleichten Lehnstuhl, der noch eine Sekunde vorher ebenfalls von der Decke herabgehangen hatte, und drängte ihn, zu erzählen, – ihm liebevoll von Zeit zu Zeit das Knie streichelnd.
Gaston floß das Herz über, er erzählte in Abrissen sein Leben, sprach von seiner leichtfertigen Ehe, seinen kühnen Geschäften, von Karen, von Neander, dem grauenhaften Ende des alten Maßmann, von dem Geheimen Kommerzienrat Liebenberg, dem heimlichen Kaiser mit seinen siebzig Millionen, von Ginsterling, Jakob Quaste, vom Albatros des Amerikaners Wisconsin, dem jähen Ende der »Mama« und dem Verschwinden seiner Kinder, die wiederzufinden er jetzt bemüht sei.
Bei dem Kapitel Albatros hatte der Alte ein Gesicht geschnitten und ärgerlich gemurmelt: »Wie der kleine Moritz sich eine Flugmaschine vorstellt« – er mochte die Sache nicht recht glauben.
Der Tod seiner ehemaligen Gattin schien ihm vollständig gleichgültig zu sein.
Nachdem Gaston noch das sonderbare Schreiben des herzoglichen Leibarztes gestreift und abgegeben hatte, taktvoll jedoch den Umstand, daß der Medizinalrat von Rechts wegen eigentlich gar nicht mehr am Leben sei, übergehend, schloß er seinen Bericht und blickte seinen Vater in fieberhafter Erwartung an.
»Und wie ist es denn dir die ganze lange Zeit über ergangen, Vater?«
»Ich danke dir, mein Sohn, wie du siehst, recht gut.« Der alte Herr war leutselig, aber was seinen Tod betraf, offenbar wenig mitteilsam. »Apropos, du, das Schreiben meines alten Freundes Pistorius besitze ich bereits in duplo, und was deine Kinder betrifft, sind es recht liebe Fratzen, nur müssen sie gründlich entberlinistert werden!«
Gaston sprang auf und fragte erstaunt: »Die Kinder sind bei dir?!«
Der alte Herr winkte ab: »Laß mich ausreden! Wenn das unabwendbare Schicksal einmal über sie hereinbricht und sie Geographie lernen müssen, kannst du ja darauf hinwirken, daß der Länderstrich an der Spree aus dem Programm wegbleibt, oder besser noch, du radierst einfach den Fleck aus dem Atlas heraus. Als Vater ist man für die Seele seines Kindes denn doch verantwortlich! – – Aber du rauchst vielleicht?! Veronika, Ve-ro-ni-ka!«
Ein ausgewachsenes Orang-Utangweibchen erschien in der Türe.
»Zigarren, Veronika.«
»Sie trägt sonst Dirndlkostüm, z. B. wenn sie einkaufen geht,« erläuterte der alte Herr, »da fällt sie nicht so auf unter der Münchener Weiblichkeit. – Meine frühere Dienerin, eine Frau Huber aus Niederbayern, habe ich dem neuen zoologischen Garten geschenkt – sie haben nichts gemerkt – ebenso einen alten Dachshund und drei eigenhändig erwürgte Bettvorleger. – – – Ja, ja, als ich vor 20 Jahren in Wien für Uneingeweihte starb, hätte ich mir auch nicht träumen lassen, daß die Dienstbotenfrage so leicht zu lösen sei!«
Gaston packte die günstige Gelegenheit beim Schopfe: »Sag mal, Papa, das heißt, wenn du es gerne tust – ich möchte nicht um alles in der Welt in deine alchimistischen Geheimnisse frech eindringen – wie ging das eigentlich damals zu mit deinem Tode und deinem Begräbnis?«
»Ach Gott,« meinte der alte Herr ein wenig verdrießlich, » die Sache wäre bald erzählt. Die innern Erlebnisse, weißt du, sind zu subtil und zu verwickelt, als daß sie überhaupt zu berichten wären, und die äußern wieder zu kurz, zu trivial, zu vergänglich, als daß ein Mensch von Geschmack ihretwegen den Mund aufmachen sollte. Aber meinetwegen, wenn's dich interessiert.« Er dachte eine Weile nach. »Weißt du, es gab in meinem Leben eine Zeit, wo ich die Weiber ernst nahm. Wenn ich auch wähnte, daß dem nicht so sei, so irrte ich darin gründlich. – Wie hätte ich sonst das kindische Testament damals schreiben können, aus dem doch deutlich hervorgeht, wie ernst ich die Weiber nahm – weil ich mich eben über sie ärgerte. Der Mann ist ein Adler!! Hm! Bitte, wo ist der Adler? Eine krumme Nase genügt noch nicht zum Adler. Ja, Napoleon war ein Adler! – Wenn er einmal klingelte, wünschte er ein gebratenes Huhn, bei zweimal eine ausgezogene Frau, bei dreimal einen angezogenen General. Der blinde Torquemada, der an einem Tage hunderttausend baumwollene Protestanten verbrannte, war ein Adler! Ein Mensch, der philosophische Sätze über die Außenwelt, die Welt der sich unfrei ableiernden Wirkung aufstellt, ist ein Rindvieh, mein lieber Sohn. Und die Innenwelt ist, Gott sei dank, heute unbekannt. – Das fehlte noch, daß die Kommis auch schon zaubern könnten. Und was eine ›Ehe‹ ist, nämlich das christliche Mysterium, das ist gänzlich begraben, seit die theosophischen Quasselfritzen öffentlich herumlabbern.«
Gaston lief es sonderbar kalt über den Rücken, er starrte seinen Vater an, in dessen Augen plötzlich ein fanatischer Glanz lag. – Er hörte ihn die kuriosen Worte wie im Traume murmeln:
»This day, this day, this, this,
The Royal Wedding is.«
Er fühlte, daß sein Vater an Dinge dachte, die jenseits von Verwesung lagen!
Einige Minuten herrschte Totenstille in dem sonderbaren Raum; – dann draußen im Gange ein leises Knipsen: die Äffin drehte das elektrische Licht an. – Vier runde gläserne Scheinwerfer in den vier Ecken der Zimmerdecke flammten auf wie gigantische Stieraugen, glotzten eine Weile bösartig suchend umher und stellten sich dann so ein, daß die beiden Männer im Brennpunkt ihrer Lichter saßen.
Der Medizinalrat kam zu sich. »Ja, was ich sagen wollte: Ich war damals in meiner Seele des Grauens voll und fing an zu trinken. Burgunder. Burgunder! (Er lachte grimmig auf.) Burgunder von Koofmir & Co.! Das verwirrte mich noch mehr. – In vino veritas! Ganz recht – wenn's nur ›vinum‹ gewesen wäre! – Es hätte wahrscheinlich mit mir ein trübes Ende genommen, wenn mich mein alter Freund, der Herzogliche Leibarzt von Pistorius nicht aus Erbarmen in seinen geheimen Orden aufgenommen hätte.«
Gaston horchte auf. Jetzt kam's!
»– aufgenommen hätte! – Da gab man mir etwas zu trinken. – Eine rote, herrlich – aber ganz unbekannt schmeckende Flüssigkeit. Rotwein. Nämlich wirklichen Rotwein! – Es gibt bekanntlich« (er sah seinen Sohn durchbohrend an, jede Widerrede im Keim erstickend) »keinen wirklichen Wein heute, den man sich anders als durch Diebstahl in Museen, alten Gräbern, Ahnenschlössern usw. oder aber durch Raubmord verschaffen könnte. Sonst: Fuchsin mit Bleizucker! Hä! ›Chateau d'Odol grand vin, Wutausbruch!‹ Hä! Verstehst du was von Chemie? Ja? Na also, dann steck mal einen Streifen Zinkblech ins ›Rebenblut‹, da wirst du was erleben. Hurra, die Koofmich-Brüder! Jetzt ist es ihrem Jewerbsfleiß, ihrer Tüchtichkeit endlich gelungen, Wasserrüben in Ananasform zu züchten! Hast du schon mal Ananas gegessen? – Ja? Na also!«
Der Medizinalrat machte erregt ein paar Schritte im Zimmer auf und ab. »Als ich dann diesen ›roten Löwen‹ getrunken, hatte ich – einen Rausch! Nach einer Flasche. Aber ich war hellsichtig. Ich sah das Leben in neuen Perspektiven und beschloß – zu sterben. Das heißt – ja, ganz gut: zu sterben. Ich fuhr nach Wien, schickte nach einem beliebigen Herrn Kollegen von der medizinischen Fakultät, legte mich ins Hotelbett, machte die Augen zu und rührte mich nicht mehr. Wie ich richtig vorausgesehen, traf alles genau ein. Der Gelehrte kam und konnte nur noch den bereits eingetretenen Tod konstatieren. Eine Weile zögerte er, ob er mir nicht geschwind den Blinddarm herausschneiden sollte, sah aber davon ab, als man in meinen Kleidern nicht genügend Geld vorfand, um seine Anschauungen über Blinddarmoperation und Finanzoperation zur gegenseitigen Deckung zu bringen.
Statt meiner Leiche kamen, wie in England längst Sitte, wenn sich jemand dauernd aus dem Familienleben zurückziehen will, Pflastersteine in den Sarg, ehe er verlötet wurde. – Die Überführung nach Berlin ging glatt vor sich, nachdem beide Grenzstaaten die nötigen Zollschwierigkeiten erhoben hatten und die üblichen Reblausatteste getauscht waren. – So, das wäre eigentlich alles! – Ich lebe seitdem unbehelligt in München. Die Behörden haben schrankenloses Vertrauen zu mir, da ich nie ohne gemslederne Hosen, nackte Knie und grüne Wadenstutzen ausgehe.«
Der Geheime Medizinalrat zündete sich eine Zigarre an.
Gaston war sehr ernüchtert. Er fühlte genau heraus, daß sein Vater das Geheimfach seiner Seele vor ihm niemals verraten würde, – ihn dessen nicht für würdig hielt. – Er hatte den tödlichen Ernst zu gut bemerkt, als jener vorhin das Wort »Mysterium« ausgesprochen! Der Alltag tauchte wieder auf und mit ihm die Frage: »Wo sind denn also die Kinder, hier im Haus oder wo sonst?«
Das Thema war noch nicht reif. Der alte Herr gab Gaston gute Lehren, – sprach von diesem und jenem. – Von der Blindheit der modernen Statistik, die da genau ausrechne, wieviel Menschen dem Schlangenbiß zum Opfer fielen, aber der Unzähligen nicht gedenke, die dem Familienleben erlägen! Von der Unsitte des Gastmahls, die nicht sterben zu können scheine usw. – »Sag mal, Gaston, was denken sich eigentlich die Menschen, wenn sie sich schwarz anziehen, beziehungsweise halbnackt ausziehen, um sich dann – zum gemeinsamen – Fressen zu begeben? – Zum gemeinsamen – sagen wir mal – Zähneputzen oder Hühneraugenschneiden hat sich noch niemand begeben. – Gerade das Fressen muß es sein? Als ob das poetischer wäre! Ich kann den Verdacht nicht los werden, als ob das – Überbleibsel aus der Antike des Orients seien. Apropos Orient –, sag' mal, Gaston, zum Thema Liebenberg, wie kommst du nur auf die Idee, sowas einen heimlichen Kaiser zu nennen? Den Kerl haben doch, wie du selbst sagtest, siebzig Millionen. Wenn einer siebzigmal mehr Privatpomade zum Beispiel besitzt, als er verschmieren kann, ist er doch offenkundig ein Unglücklicher! Aber doch kein Kaiser! Oder sind in letzter Zeit die Kaiser so unglücklich? Ich weiß das natürlich nicht, ich verfolge die Politik nicht! Weißt du, Gaston, wer zum Beispiel ein heimlicher Kaiser ist? – Ich bin ein heimlicher Kaiser! – Ich bin schon tot und jenseits von Neunzig-Pfennig-Bazar-Kultur. Mich hat auch einmal ein dreistöckiges Eckhaus gehabt – Gott sei Dank, voriges Jahr ist das Ding eingestürzt! Ich hänge die Dinge, die an die Decke gehören, an die Decke, wo sie mich nicht stören, statt sie auf den Boden oder auf den Tisch zu stellen, – mein Briefkasten arbeitet tadellos; nicht einmal die Post kann ihm etwas anhaben, meine Öfen sind glatt und sie heizen, kein Majolikafrosch sitzt auf ihnen und – nicht ein Füllhorn ist im Hause zu sehen. – Die einzige Verzierung ist das Bild von pp. Rubens: die ›sieben Spanferkelmenschen mit dem Früchtekranz‹ – aber es hängt in der Küche in einem Rahmen von Meerrettigstrünken, wie sich's gehört!«
Der alte Herr blies den Havannarauch von sich. Er blickte seinen Sohn treuherzig an, legte ihm die Hand aufs Knie und sagte warm:
»Komm, Gaston, komm! – Stirb auch!«
Gaston lächelte fürchterlich verlegen. – Er fühlte, er war nicht reif. – Karen! – Mit ungeheurer Deutlichkeit fühlte er, daß er niemals von ihr lassen könnte. Mochte sie sein, wie sie wollte, – auch sogar zänkisch, albern, – ein Gänschen vielleicht – er konnte, wollte nicht von ihr lassen. Er wollte kein Adler sein. – Er war kein Napoleon und kein Torquemada. – Um seine Verlegenheit zu verbergen und sich um die Antwort herumzudrücken, wollte er rasch dem Gespräch eine andere Wendung geben.
»Noch eins, Vater,« fragte er. »Wer ist denn die brave Kreszenz die den schönen Brief an deinen Freund schrieb?«
»Eine alte Dienerin,« antwortete der Geheimrat, »die in Berlin das kleine Ruhegehalt verzehrt, das ich ihr ausgesetzt habe. Sie hat dich – und das, was dich angeht – ein wenig beobachtet, wie du siehst. Übrigens war sie nicht die einzige, ich habe noch einige Leute, die einen Bericht gaben über dein Leben – – es scheint, daß ich doch nicht alles Interesse für meinen Sohn verloren habe! Ich habe auch hier noch eine kleine Überraschung für dich –«
Er unterbrach sich, ein leiser Schrei drang herein, er schien von der Straße zu kommen.
Der Medizinalrat horchte, die Augen zugedrückt, den linken Mundwinkel hochgezogen, eine Weile angestrengt hinaus. »Ah! Die Frauenzimmer haben schon wieder auf die falsche Glocke gedrückt. – Daß sie sich das nicht merken können! – Da muß ich doch gleich – He, Veronika, Ve–ro–ni–kaa! Mach' den Damen auf und leiste ihnen einen Augenblick Gesellschaft!«
Damen?! Gaston war aufs unangenehmste berührt. Jetzt eine Störung – und er hätte noch so viel und wichtiges zu fragen gehabt! – Er faßte des alten Herrn welke Hände. »Papa, bitte, bitte, noch eins. Verzeih, – es fällt mir so schwer, – verzeih, – aber ist es ganz ausgeschlossen, daß ich nicht doch der Sohn jenes – Liebenberg bin?! Ich fühle mich so, so, so – – – deiner nicht wert, kann deinem Adlerflug nicht folgen!«
Der Greis lächelte unsäglich mild. »Sei ruhig, mein Kind. – Auch ich zweifelte einst. Da wurde eines Tages der Geheime Kommerzienrat Liebenberg mein Patient. Ich darf dir zwar nichts verraten, es ist ärztliches Geheimnis, aber sei ruhig, mein Kind, es ist – – – ausgeschlossen!«
»Papa! Mein lieber, guter, alter Papa,« schrie Gaston auf – – Da! – Die Türe wurde aufgerissen. Kinderjauchzen! – »Papa! Großpapa, Rita, Gastchen. – Und – – –«
»Karen, Karen!«
»Gaston, mein gelieb – –«
Karen hatte sich verschnappt. Blutesröte färbte ihr Gesichtchen. In unsäglicher Verwirrung suchten ihre Blicke den Boden.
Ein Augenblick schwankendes Zögern noch – wie ein unsichtbares Hemmnis in der Luft – und Karens Köpfchen in seiner leuchtenden, flutenden Haarpracht ruhte an der mächtigen Brust Gastons.
»O Karen, meine Karen!«
»Gaston, Gaston!«
Hand in Hand, stumm, feuchten Blicks standen Veronika und die gute alte Frau Aamundsen in der Türe.
» Gud bevares,« knurrte die treue Äffin Veronika, denn auch sie hatte sich das Norwegische rasch und mühelos angeeignet.