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Lena hielt Georges Hand in der ihrigen, so zog sie ihn mit sich durch die hin und her drängenden Menschen bis zu Schwerin, dicht vor ihn hin:
»Das ist George.«
»Freut mich,« sagte Schwerin und schüttelte Georges Hand, »freut mich aufrichtig.« – – Aber er war nervös erregt, weil Lena ihn fünf Minuten lang hier hatte allein stehen lassen. Sie waren von Braunschweig aus mit dem Extrazuge gefahren, der eigens der Harzburger Jährlingsauktion wegen von Hannover kam, und als Lena bei der Ankunft in Harzburg aus dem Fenster des Coupés gespäht hatte und George aller Verabredung, allen Eilbriefen, allen Telegrammen zuwider in dem Gedränge wartender Leute nicht sofort zu finden war, hatte sie rücksichtslos den Major stehen gelassen und war mit ängstlich suchender Miene in dieses Gewühl untergetaucht, hastig rechts und links blickend, mit ihrer schmächtigen Figur sich hindurchwindend, immer rücksichtsloser, immer erregter, bis sie endlich mit einem leisen Aufschrei in Georges Arme fiel.
»Du! Du! Endlich!«
Dann hatte sie ihn an der Hand ergriffen und ihn mit sich gezerrt, den ganzen Weg zurück, wieder durch das Gewühl, oft sich umschauend und ihm zunickend, dann wieder ausspähend nach Schwerin und die Wogen vor sich zerteilend wie ein kleiner Schleppdampfer, der einen der großen Ozeanfahrer in den Strom bugsiert.
»Das ist alles vortrefflich,« sagte Schwerin, »aber du hast mich unverantwortlich warten lassen. Es ist die allerhöchste Zeit, wir finden schließlich keinen Wagen, ich werde schließlich noch zu Fuße laufen müssen.«
Eine Wagenburg hatte sich vor Ankunft des Zuges am Bahnhofe aufgestaut, Jagdwagen, Equipagen, Halbchaisen, alle vortrefflich bespannt und mit Kutschern in der herzoglichen Livree. Auf diese Wagenburg hatte seitens der angekommenen Herren ein Sturm stattgefunden, und nun die Wagen gefüllt waren, suchte jeder der Kutscher möglichst rasch aus dem Gedränge hinauszukommen.
»Wir bekommen richtig keinen Platz mehr,« sagte Schwerin, aber gerade zur rechten Zeit noch, um das aufsteigende Gewitter seines Zorns zu zerstreuen, kam vom Gestüt her ein gutes Schimmelgespann, dessen Kutscher die erste kurze Fahrt bereits beendet hatte und nun zurückgeschickt war, um Nachzügler aufzulesen.
»Heda Sie!« schrie Schwerin, aber sein Winken und Rufen wäre nicht einmal nötig gewesen, – eine halbe Minute später saß er mit Lena und George wohlgeborgen und aufatmend in dem gelben Jagdwagen hinter den Schimmeln. Die Pferde liefen, was sie laufen konnten, der Wagen sauste auf und nieder, und bei einer scharfen Biegung sprang er, über einen Stein rollend, so derb empor, daß Lena dem gegenübersitzenden George geradewegs in die Arme flog.
Sie lachte so laut und herzlich, wie Schwerin sie seit undenklicher Zeit nicht mehr lachen gehört hatte, und ganz unmotiviert, der Situation absolut nicht entsprechend, nur um seiner nunmehr glänzenden Stimmung irgendwie Ausdruck zu geben, holte er seine Zigarrentasche hervor und klopfte George auf die Schulter: »Nehmen Sie eine Zigarre, lieber Freund.«
Es war mittags elf Uhr, ein sonniger Julitag. Sie sahen vor sich die lange Wagenreihe, – von den Hecken rechts und links nickten die wilden Rosen.
George begriff das alles nicht. Er hatte mit Lena noch kein einziges, vernünftiges Wort gesprochen, von Liebesworten ganz zu schweigen. Sie hatten ihn ohne weiteres zwischen sich genommen, man war in den Wagen gestiegen, man jagte mit den zwei Dutzend andern Wagen vorwärts, und er hatte keine Ahnung wohin. Aber zum Fragen fand er nicht Zeit, denn drei Minuten später war die Fahrt beendet. Sie stiegen aus und befanden sich in einem Kreise von mindestens hundert Herren, die zwischen zwei langen Mauern vor einer verschlossenen Tür auf Einlaß zu warten schienen.
Jeder begrüßte jeden, jeder schien jeden zu kennen, aber kaum war Lena aus dem Wagen gesprungen, als sie auch schon den Mittelpunkt dieses großen Kreises bildete. Dutzende drängten heran, Dutzende schüttelten ihr die Hand, und immer dieselben Ausrufe und Fragen:
Wie groß sie geworden war! Wie lange hatte man sie nicht gesehen! Fast zwei Jahre! Ja, wo war sie denn gewesen?!
Man hatte sie halb vergessen gehabt, wie diese rasch lebende Welt ihren Vater schon halb vergessen hatte.
Nun war Lena Stennsberg auf einmal wieder da, kein Kind mehr, sondern ein großes, schlankes Mädchen, noch halb in Trauer, aber bildhübsch, viel hübscher noch, als sie einst zu werden versprochen hatte.
Dem einen oder andern wollten sich bei der Begrüßung einige verspätete Worte von Beileid auf die Lippen drängen, – aber dieser Todesfall lag ja schon so weit zurück, – es hatte wirklich keinen Sinn, jetzt in dieser lachenden, heiteren Menge und in der Sommerstimmung der Harzberge daran zu erinnern.
George stand einige Schritte beiseite. Schwerin sprach mit ihm, irgend etwas, vielleicht sehr Freundliches, aber George hörte nur mechanisch und antwortete nur mechanisch, denn sein Blick war auf Lena geheftet, die da dicht neben ihm stand, allen Herren die Hand reichte – lächelte, sprach, – – andern die Hand reichte, – – und immer wieder hörte er erstaunte Ausrufe rechts und links und vor und hinter sich: die kleine Lena! Lena Stennsberg! Sie ist wieder da! Wo kommt sie her?!
Die Holztür in der Mauer öffnete sich, dann drängte der ganze Strom von Herren hinein. Eine langgestreckte, eingefriedigte Wiese lag vor ihnen, und den Eintretenden gegenüber an der andern Seite der Holzbarriere stand ein Pferd, schlank, zierlich, das erstaunt und etwas ängstlich die hereinflutende Menschenmenge anstarrte. Es war einer der Vollblutjährlinge, ein junges Tier, dessen ganze Figur aber auf einen flüchtigen Blick hin an alles eher als an ein Füllen denken ließ. Zwei der Gestütswärter begannen die Stute zu scheuchen, und nun galoppierte sie in der großartigen, weitausgreifenden Aktion des Vollblutpferdes die Mauer entlang. Immer wieder wurde sie weiter gescheucht, sie hieb mit den Hinterhufen in die Luft, wieherte laut auf und flog in ihrem glänzenden Haarkleide wie ein Ball die Wiese entlang, mitten zwischen den Herren hindurch, von denen einige erschreckt zurückwichen, haarscharf an George vorbei.
Er war erstaunt er hatte ein solches Pferd nie gesehen. Als er sich umschaute, war er von Lena getrennt, aber er fand sie gleich darauf wieder, und sie gingen nun mit den andern nach der Ecke der Wiese, in die der Jährling sich geflüchtet hatte. Man schloß einen Kreis um das Pferd, ganz dicht, und einige der Herren traten heran und musterten die Muskulatur und die Formation aus nächster Nähe. Die Stute ließ sich alles gefallen. Sie stand ganz still und blickte nur erstaunt auf die vielen Menschen, deren Augen sämtlich auf sie gerichtet waren. Lena beugte sich nieder, riß ein Büschel aus der Wiese und reichte ihr das Gras, und zutraulich neigte die kleine Stute den schmalen Kopf vor, neugierig, schnuppernd.
Der Oberlandstallmeister, der die Honneurs machte, trat lächelnd neben die beiden: »A very fine little filly, Miss Lena, – eh –?«
Und sie nickte ernsthaft: »Yes. A very good horse.«
Dann ging man weiter, durch immer andre Holztüren und immer neue Paddocks, mehr als ein dutzendmal wiederholte sich das gleiche Schauspiel. Einige der Herren machten sich jedesmal Notizen, den meisten schien die Sache aber auf die Dauer unter dieser brütenden Julihitze langweilig zu werden.
Was Schwerin betrifft, so gab er nach der fünften oder sechsten Besichtigung das Weitergehen auf, weil sein Bein dieses stundenlange Umherstehen nicht vertragen konnte; in Lena aber schien die feine Erregung nur zu wachsen. Sie suchte mehr als einmal nach Georges Hand und zog ihn aus der zweiten Reihe vor, um mit ihm ganz nahe an die jungen Tiere heranzutreten: »Sind sie nicht wunderschön? Gibt es auf der ganzen Welt ein prachtvolleres Tier als diese jungen englischen Pferde?«
Mit wunderlichen Ausdrücken, die George nur zum geringsten Teile verstand, nannte sie ihm die Vorzüge dieses und jenes Pferdes, immer rasch beobachtend und immer irgend einen entscheidenden Vorzug oder einen entscheidenden Fehler schnell sehend. Sie war wie in einem Rausch, alles erinnerte sie an die vergangene Zeit und an ihren Vater, mit dem sie oft als Kind in Julitagen diesen Rundgang durch das Harzburger Gestüt gemacht hatte. Aber heute zum erstenmal lag in der Erinnerung an ihn nichts Wehmütiges mehr.
Wieder dann drückte sie seine Hand und sagte ganz leise: »Ich bin so glücklich, George, nun habe ich dich endlich einmal wieder. Du bist auch glücklich? Ja?«
Ja, er war glücklich. Sie sah ganz anders aus als früher, größer geworden, das Gesicht noch blaß, aber die Augen strahlend. Er hatte sie immer nur in dem grauen Kleid gesehen, wie es die andern Mädchen im Hause der Generalin trugen, heute zum erstenmal erschien ihm Lena auch in der Kleidung als Dame.
Ueber den alten Schloßhof trat man unter der efeubewachsenen Mauer des Schlosses in eine kleine Turmtür, ging eine steile Wendeltreppe empor und gelangte in die Zimmer und Säle, wo der Oberlandstallmeister seine Gäste willkommen hieß.
Da oben war es kühl in vollem Gegensatze zu der Julihitze draußen auf den Wiesen.
Schwerin war schon anwesend und nahm George und Lena sogleich in Beschlag.
»Ich habe einen Platz reserviert, kommt nur mit,« und zwischen den mit Silbergeschirr beladenen langen Tischreihen hindurch führte er sie in das letzte kleine Zimmer.
»So, da werden wir speisen. Ich habe einen verteufelten Hunger, das ist das Beste, was man nach Harzburg mitbringt.«
Die Herren ließen sich in bunter, ungezwungener Reihe an den Tischen nieder, – Reden, Lachen füllte die Zimmer, und die Lakaien aus dem herzoglichen Schlosse zu Braunschweig begannen die Schüsseln umherzureichen.
»Fräulein Lena als die einzige Dame an den Ehrenplatz,« sagte der Oberlandstallmeister, dann hob sich Schwerin, der seine Serviette schon entfaltet hatte, ein wenig aus seinem Stuhl in die Höhe und stellte den übrigen Herren, die hier am »Honoratiorentische« Platz genommen, George vor:
»Gestatten die Herren: mein junger Freund, der Doktor Dufour, Se. Durchlaucht der Herzog von Sohrau, Herr v. Cleve, Se. Durchlaucht der Fürst von Langenberg, Graf Bernstorff, Oberst v. Massow – und nun, meine Herren, gesegnete Mahlzeit.«
»Wo hast du die letzte Zeit gesteckt, Schwerin?« fragte Massow, aber der Major brummte eine unverständliche Antwort: »Was trinkst du, Lena, rot oder weiß?«
Es war George, als ob er verirrt sei, oder als ob er träume. Was bedeutete das alles? Niemand hatte ihn zu Tisch geladen, und nun saß er hier, sah vor und hinter sich die Lakaien, hörte den Herrn, der als der Herzog von Sohrau bezeichnet war und links neben ihm saß, ihn irgend etwas fragen und hörte sich antworten und hatte die Empfindung, daß alles sich im Kreise zu drehen begann.
Es wurden Speisen gebracht, die er nicht kannte, von denen er mechanisch nahm, – man füllte die Gläser vor ihm mit Wein, zuerst mit gelbem, dann mit rotem, dann mit weißem, schließlich mit Champagner, – er trank, aß, – Schwerin stieß mit ihm an, – der Herzog hielt eine Art von Toast, in dem er davon sprach, daß man Lena zwei Jahre nicht gesehen habe und sie nun in aller Zukunft nicht wieder zu verlieren wünsche, – die Gläser klirrten, man stieß mit Lena an, – aus allen Zimmern klang lautes Reden und Lachen, – George war nahe daran, die Haltung zu verlieren.
Aber mit der Zeit wurde er ruhiger. Er hatte zuerst geglaubt, jeder hier müsse ihn anstarren wie einen Fremden, der sich unerhörterweise in eine Gesellschaft gedrängt habe. Aber nun sah er, daß kein Mensch ihn besonders beachtete, daß höchstens dann und wann sein Nachbar ein freundliches Wort mit ihm sprach oder der Oberst vis à vis ihn anredete:
»Sind Sie schon häufiger in Harzburg gewesen?«
»Haben die Jährlinge Ihnen gefallen? Welcher am besten?«
»Werden Sie kaufen?«
Und langsam begriff er, daß alle die Anwesenden Gäste des herzoglichen Gestüts seien, daß sie ohne weitere Einladung gekommen waren, und daß man dieses fürstliche Diner nur deshalb servierte, weil man von jedem einzelnen hoffte, daß er nachmittags an der großen Auktion der Vollblutpferde sich aktiv beteiligen werde.
Man unterhielt sich, man lachte lauter, die Stimmung wurde immer ungezwungener, niemand kümmerte sich um den andern; da plötzlich fühlte George, wie Lena seine Hand suchte und diese Hand drückte. Ganz leise sagte sie: »George, ich bin so glücklich.«
Sie erhob ihr Glas, nickte ihm lächelnd zu und setzte es an die Lippen.
Dann fragte sie nach Oldeslo, nach der Generalin und den Mädchen, von denen die meisten nun wohl auch schon von Oldeslo fort waren. Sie begannen ihre Erinnerungen auszutauschen, sie rückten mit ihren Stühlen näher aneinander, und während ringsumher von den Pferden die Rede war, von »Savernake« und den Vorzügen des »Stockwell-Blutes«, während Schwerin für »Chamant« eine Lanze einlegte und dieserhalb mit dem Herzog in einen ernstlichen Streit geriet, – saßen Lena und George nebeneinander und vergaßen alles um sich her.
Sie preßte seine Hand: »Du versprichst es mir, George, du kommst nach Berlin,« und als er zögerte, wurde sie erregter: »Wenn du mich lieb hast, George, kannst du mich nicht länger allein lassen. Du wirst in Berlin ebenso gut arbeiten wie zu Hause, oder vielleicht noch viel besser. Wir würden uns immer nur eine Stunde jeden Tag treffen, und wenn du die Stadt erst kennst, wirst du nie wieder fort wollen.«
Er sann vor sich hin und antwortete nicht. –
Dann, ganz unvermittelt, schaute er auf: »Lena –?«
»Was?«
Er begann zu sprechen mit einer halblauten Stimme. Ganz ruhig und so klar, daß er sich selbst darüber wunderte, setzte er ihr auseinander, daß für sie und ihn selbst die Entscheidung nahe sei.
»Wir müssen wissen, was wir wollen, Lena. Wenn ich für uns beide eine Zukunft begründen soll, dann ist jeder Tag verloren, an dem ich nicht geradeaus auf das Ziel losmarschiere. Ich kann da nicht experimentieren, Lena, am allerwenigsten in Berlin, wo die jungen Aerzte verhungern. Eine sichere Zukunft finden wir beide nur in Oldeslo. Wenn ich allein stände und für niemand zu sorgen hätte, könnte ich gehen, wohin ich Lust hätte, aber so – – –«
Lena saß in ihrem Stuhl zurückgelehnt, die Hände ineinander verschränkt. Rings um sie her die Kavaliere mit den großen Namen und reichstem Besitz – und neben ihr George, der von Sorgen redete und seiner kleinen dürftigen Zukunft.
Aber er sprach weiter, mit dieser Stimme, die sie so lange nicht gehört und nach deren Klang sie sich gesehnt hatte. Seit sie ihn heute wieder gesehen und die Stimme gehört hatte, hielt der Zauber von einst ihr Herz von neuem gefangen, stärker als je.
Nein, sie würde nie mehr von ihm lassen können, nie mehr glücklich sein ohne ihn! –«
Er erzählte, er malte mit warmen Farben die künftigen Tage ihres gemeinsamen Glücks, er erinnerte an die Sommertage im Hardisberge, – und da stieg vor ihr die vergangene schönste Zeit wieder herauf, und wieder schimmerte um die kleine Stadt ein Glanz jener Märchenstimmung, die sie einst selbst gewebt hatte. Durch das geöffnete Fenster sah sie die Harzberge, davor die grünen Wiesen. Das alles war in Oldeslo fast ebenso. Nichts von dem grauen Dunst, der an heißen Abenden über Berlin lag, alles weite Natur, in die man, so oft Oldeslo zu klein und zu eng werden würde, hinausflüchten konnte. Sie rang mit einem Entschlusse, dann plötzlich beugte sie sich zu ihm hinüber: »George, du sollst nachgeben, denn – denn – ich will auch nachgeben. Komm nach Berlin, komm nur dieses eine Jahr, weil ich dann, wenn es vorüber ist, ich verspreche es dir, weil ich dann alles tue, was du willst, und zu dir komme nach Oldeslo.«
Er fuhr auf: »Lena, ist das wahr –?«
»Zu dir, George, – für immer.«
Schweratmend blickte sie über die silberglänzenden Tafeln, auf diesen Kreis Menschen, in den sie nach langer Trennung heute zum erstenmal zurückgekehrt war, der sie mit offenen Armen aufgenommen hatte, wie jemand, der von Kindheit an zu ihm gehört hatte.
Beide hatte sie heute wiedergefunden: George und die große, glänzende Welt, – einen von beiden konnte sie nur festhalten, einen von beiden mußte sie wieder verlieren. Nun hatte sie gewählt.
Aber als sie das entscheidende Wort gesprochen hatte, lief es einen Moment kalt über sie hin, und sie begann hastig zu reden, als ob sie das entflohene Wort halb wieder zurückholen, oder halb wenigstens einschränken wollte.
»Aber du sollst mir Zeit lassen, George, zum allerwenigsten noch ein Jahr. Deine Mutter wird ohnehin keine Eile haben, mich zu empfangen.«
Bei diesem Wort Mutter, das in allen ihren Briefen nie erwähnt worden war, glitt ein harter Zug um ihren Mund.
»Was sagt sie von mir? Hat sie je wieder von mir geredet?« Sie trank das Kelchglas mit einem Zuge leer und lehnte in ihren Stuhl zurück. Ohne George anzusehen, die Augen irgend wohin über den Tisch in die Ferne gerichtet, sagte sie:
»Ich bin kein Kind mehr, George, ich bin einmal zu deiner Mutter gekommen, ich komme kein zweites Mal. Dieses zweite Mal wird sie zu mir kommen. Oldeslo ist nur klein, aber man braucht auch in Oldeslo nicht zu sehen, wenn man nicht Lust hat.«
– – »Es gibt kein größeres Hazardgeschäft auf der Erde,« sagte Schwerin, »als Jährlinge zu kaufen.« Und er erörterte dieses für den Gastgeber sehr glücklich gewählte Thema mit dem hitzigen Eifer, den er nur nach dem Genuß beträchtlicher Quantitäten Wein zu entwickeln pflegte.
George und Lena saßen schweigend, sie hörten die hin und her gehenden Reden, aber ihre Gedanken waren weit entfernt.
Erst nach einer langen Weile neigte sich Lena wieder zu ihm. Ihre Stimme hatte den alten, weichen Klang: »Ich war zu heftig, George, verzeih.« Und sie begann auf ihn einzureden, innig, eindringlich: »Wenn du mich lieb hast, George, dann beweise es auch, dann reiß dich ein Jahr los und komm nach Berlin, und zeig mir dies eine Mal, daß du auch für mich ein Opfer bringen kannst.« Sie schilderte in zärtlichen Worten: wie sie zusammen sein und George das große Berlin mit allem Farbenglanz an ihrer Hand kennen lernen würde, dieses ganze bunte Leben, das sie später in Oldeslo nie wieder finden und auf das sie dann für immer verzichten würden: »Wir sind noch so jung, George, laß uns dieses eine Jahr noch draußen bleiben.«
Die Sonne flimmerte über den Tischen, die Gläser klangen, immer neu schenkten die Diener ein, – ganz nahe vor sich sah George die fragenden, bittenden Augen, und dann nickte er: »Ja, ja, ich werde kommen.«
»Wann?«
»Nein, wann? In der nächsten Woche! Versprich es mir, George.«
– – Er versprach es.
Einen Moment sah er einen Schatten aufsteigen, der flehend die Arme nach ihm ausbreitete: ›Tu es nicht, George, bleib bei mir! Du brichst mir das Herz und dir selbst –‹
Aber er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als ob er etwas fortwische, und in sein Ohr drangen Lenas dankbare Worte.
– – Ein Stuhlrücken. Der Oberlandstallmeister hatte sich erhoben: »Wenn es Ihnen recht ist, meine Herren, gehen wir in den Garten.«
In dem Gedränge der aufbrechenden und hinausgehenden Gesellschaft lehnte sich Lena dicht an George: »George, wir werden so glücklich sein.«
Im großen Halbkreis saß man unter den alten Bäumen des Schloßhofes, die Diener reichten den Kaffee, – nun begann die Auktion, deren wenige Stunden Aufschluß darüber geben sollten, ob das große herzogliche Vollblutgestüt mit seiner jüngsten Aufzucht nach Ansicht der Fachleute immer noch auf der alten glänzenden Höhe stand.
Schwerin saß in der vordersten Reihe, fast ganz in der Mitte, neben ihm Lena, während George in der Reihe hinter ihnen Platz gefunden hatte.
Die Jährlinge wurden einzeln vorgeführt, das Pedigree verlesen, und dann nahmen die Gebote ihren Anfang, mit 50 Doppelkronen beginnend und in Absätzen von mindestens 3 Doppelkronen aufwärts steigend.
Der »Rapina«-Hengst war einer der ersten, der in den Ring geführt wurde, um zehn Minuten später mit dem auch für Harzburger Verhältnisse immensen Zuschlag von 20 000 Mark in den Besitz des Herzogs von Sohrau überzugehen.
»Du hättest ihn kaufen sollen, Onkel Schwerin,« sagte Lena; aber er lachte und zündete eine seiner großen Havannazigarren an: »Wenn man sechzig Jahre alt ist, kauft man keine Gäule mehr, meine liebe Lena.«
»Aber wenn man siebzehn ist.«
Er sah sie etwas erstaunt an: »Du möchtest wohl Pferde kaufen, kleine Lena? Was? Das wäre ein netter Spaß.«
Sie antwortete nicht, aber ein sonderbarer Gedanke war ihr durch den Kopf gegangen. Nun saß sie leicht vornüber geneigt, das rechte Bein über das linke geschlagen, den einen Arm auf das Knie gestützt und das Kinn leicht auf die Hand gelehnt. Mit großen aufmerksamen Augen sah sie die Jährlinge einen nach dem andern in den Ring kommen, im Schritt und Trab vorbeigehen, sie musterte die Linien der Tiere, und immer durchkreuzte dieser selbe Gedanke ihren Kopf.
Plötzlich wandte sie sich um zu George: »Gib acht.«
»Was?«
»Das Pferd da! Erinnerst du dich?«
Er blickte nach dem Pferde, das an der Hand des Stallburschen hereingeführt wurde, und wußte nicht, was Lena meinte.
»Erinnerst du dich nicht?«
»Nein. Was denn? Ich weiß nicht.«
»Es ist die Stute, die wir ganz zuerst sahen, vorhin, heute morgen, erinnerst du dich nicht?«
Er betrachtete das Pferd, das jetzt nahe vorbei geführt wurde, und wunderte sich über Lenas Gedächtnis. Vielleicht war es wirklich die schöne Stute, die sie ganz zuerst heute vormittag gesehen und der Lena das Büschel Gras gereicht hatte. Aber schließlich schienen alle diese Tiere einander zum Verwechseln ähnlich, und er begriff nicht, wie Lena im stande war, aus den zwei Dutzend just das eine herauszufinden.
Flüsternd, als ob es sich um ein Geheimnis handle, das sie nicht laut erörtern dürfe, beugte sie sich zu ihm rückwärts: »Sieh sie dir an, genau. Ich habe im Leben keinen besser gemachten Jährling gesehen. Sie ist etwas überbaut, das sieht jeder, aber das schadet nichts. Erstens gleicht sich das aus, wenn sie wächst und dann –«
Die Stute begann vorbei zu traben, und Lena war so erregt, daß sie auf George nicht mehr achtete, sondern sich weit verbeugte, um keine der Bewegungen des Tieres aus den Augen zu verlieren.
»Fuchsstute von Savernake a. d. Maid of Killarney v. Rosicrucian a. d. Kenegie v. Albert Edward,« rief der Auktionator, und als die ersten paar Sekunden niemand auf die Stute reflektieren zu wollen schien, begannen plötzlich die Gebote von allen Seiten so rasch zu folgen, daß der Auktionator Mühe hatte, das jeweilig höchste Gebot heraus zu finden.
»200 – – 250 – – 270 – – 300 – – 305 – – 350 – –«
Man war erstaunt. Niemand hatte bei dem Rundgang am Vormittage und niemand nachher bei dem Diner von der Killarneystute viel Wesens gemacht. Nun sahen sich die einzelnen Bieter überrascht an, wie die Auguren.
»350 Doppelkronen zum ersten,« rief der Auktionator, »350 Doppelkronen zum zweiten, – niemand mehr?«
Eine helle Stimme aus der Mitte des Kreises antwortete: »360!«
Aller Augen wandten sich erstaunt um, das Gesicht des Auktionators selbst nahm einen verblüfften Ausdruck an, und wie von der Tarantel gestochen, drehte sich Schwerin zu Lena:
»Bist du toll, Lena?«
Sie wollte etwas entgegnen, aber im selben Augenblicke ertönte aus der fernsten Ecke ein neuer Ruf: »370!«
»380,« sagte Lena.
Schwerin stotterte ein paar Worte, er kam zu keinem zusammenhängenden Satze, und nun begann dieses Duell, dem man bei derartigen Gelegenheiten so oft beiwohnt, dem man immer mit einer gewissen Aufmerksamkeit folgt, das aber vielleicht niemals eine solche Sensation hervorgerufen hatte wie in diesen wenigen Minuten.
»390,« sagte eine Stimme im Hintergrund, und kaltblütig, das Gesicht etwas blaß geworden, aber so ruhig wie kein Mensch auf dem ganzen Platze, sagte Lena: »400!«
George saß stumm. Er verstand den Vorgang nicht recht, aus den Zwischenrufen vor und hinter ihm und Schwerins steigender nervöser Erregung begriff er indes, daß da irgend etwas Merkwürdiges vor sich ging.
Der Major neigte sich ganz dicht zu Lena, mit gedämpfter Stimme, die vor Ueberraschung und Zorn zitterte, sagte er : »Du hörst auf! Das sind keine Spielereien mehr! Wer soll das Pferd bezahlen? Etwa du?«
Sie blickte ihn gleichgültig an: »Ja, ich.«
Es ging ihm wirr durch den Kopf: Mach ihr die Sache klar. Daß die 50 000 Mark, die du für sie deponiert hast, im Grunde genommen ihr gar nicht gehören. Daß sie dein eignes Geld sind, das du ihr – ja, zum Kuckuck was denn – gutgeschrieben oder – ja – geschenkt hast. Von dem du ihr nur vorgeredet hast, daß es aus ihres Vaters Erbschaft stamme, daß dieses Geld ihr freilich gehören soll, aber zum Teufel nicht zu solchen Verrücktheiten!
Er setzte an, er brachte ein paar unzusammenhängende Worte hervor, aber wie ließ sich diese ganze lange Geschichte auseinandersetzen?! Während alle Nachbarn ihre Köpfe herüberbeugten und auf Lena sahen und jedes Wort hören mußten?! Eine Auseinandersetzung, zu der man drei Stunden nötig hatte, aber nicht drei Minuten, – die man nicht im Flüstertone abmachen konnte und die Lena unmöglich klar werden würde, solange die verdammte Stimme im Hintergrunde und die brüllenden Ausrufe des Auktionators Lena fortwährend weiter hetzten.
»450!« rief die Stimme, und »460!« sagte Lena.
Wie mit einer Eisenklammer griff Schwerin um Lenas Handgelenk: »Du hörst auf!!« – aber sie sah ihn mit einem erst erstaunten und dann kalten Blicke an: »Laß los, du tust mir weh.«
»490!« rief es im Hintergrund, – eine unerklärliche Angst legte sich um Georges Herz. Er beugte sich dicht zu Lena vor:
»Hör auf, Lena, ich bitte dich!« – und Schwerin, diesen einzigen Bundesgenossen in der höchsten Not findend, ergriff noch einmal Lenas Hand: »Du hörst es, er bittet dich auch!«
»500!« sagte Lena.
Ein Händeklatschen den ganzen Halbkreis entlang.
»500 Doppelkronen zum ersten,« rief der Mann auf der Auktionatortribüne, »500 Doppelkronen zum zweiten – niemand mehr? –« dann hob er bedächtig, noch ein wenig wartend, seinen Hammer und ließ ihn langsam niederfallen: »500 Doppelkronen zum dritten und letzten. 10 000 Mark.«
»Bravo, bravo!« rief irgend jemand, und »bravo, bravo!« ging es im Widerhall über den Platz.
Die Stute, vielleicht etwas erschreckt, wieherte auf, – dann kam mit seinen langen, bedächtigen Schritten der alte Herzog von Sohrau in die Mitte auf Lena zu:
»Meine Herren! Wir haben wieder eine Sport-Lady im Lande! Noch dazu die allerjüngste auf dem Kontinent! Meine Herren, ein Bravo für unsre jüngste Sport-Lady!«
Jeder war aufgesprungen, jeder drängte heran, die ganze Auktion war für Minuten unterbrochen.
Und inmitten dieses Kreises stand neben dem Mädchen Schwerin mit einem unglücklichen Gesichte, das zu lächeln versuchte; denn der Herzog schlug ihm auf die Schulter: »Bravo auch für dich, alter Schwerin! Lena soll sich bei dir bedanken. Wer einen solchen Lehrmeister wie Schwerin hat, muß auch als Mädel auf dem Turf was gelernt haben!«
George sah Lena nicht mehr. Sie stand zwischen den um sie herdrängenden Herren die alle aufgeregt lachten, redeten, gratulierten, er selbst stand abseits, und das Gefühl durchzuckte ihn: ›sie gehört dir nicht mehr. Sie wird dir nie mehr gehören!‹
»Wie soll die kleine Stute heißen, Lena?« fragte der Herzog. »Wir wollen sie taufen, sofort. Sie muß den schönsten Namen bekommen.«
Lena schaute einen Moment in die blaue Luft, als wollte sie einen Namen da oben irgendwo herholen, dann ging ein Lachen um ihren Mund: »Sie soll meinen eignen Namen haben, Durchlaucht.«
»Welchen –?«
»Lena S.«
»Lena – –?«
»Lena S.«
»Lena S. Bravo!« – Er schüttelte ihre Hände.
Und »Lena S.! Bravo!« ging es durch den ganzen Kreis. Nur Lena S. konnte die schlanke kleine Stute heißen, selbstverständlich! Nur Lena S.! Wenn man den schönsten Namen für sie haben wollte, so hatte Lena ihn selbst gefunden!
Alle Welt war über die Episode entzückt, enthusiasmiert. In das etwas alltägliche und eintönige Getriebe des Rennsports war plötzlich etwas hineingekommen von Jugend, von Schönheit, ein aufsteigender Funke von Poesie, – sie drängten um das Mädchen, – und Herren, die Lena nie gekannt oder nur flüchtig gesehen hatten, schüttelten ihre Hände, wie jeder Lenas Hände schüttelte. – Erst nach geraumer Weile nahm die Auktion ihren Fortgang. Wieder saß Schwerin in der Mitte und George hinter ihm, aber Lena war fort.
»Ich will mir das Pferd ansehen,« hatte sie gesagt, und Schwerin, verdrossen und auf das tiefste verstimmt, hatte ihr seine Begleitung nicht angeboten. Er hörte und sah nichts mehr von der Auktion, seine Zigarre war erloschen. Einen solchen Streich hatte man ihm in seinem ganzen Leben noch nicht gespielt. Als er aber anfing, ruhiger darüber nachzudenken, sagte er sich: ›Im Grunde genommen hast du die Sache selbst verschuldet. Hättest du Lena von vornherein klaren Wein eingeschenkt, so hätte sie nie auf diese Idee kommen können.‹
Es fiel ihm auch ein, daß er in seiner Eigenschaft als Vormund den Kauf für null und nichtig erklären könne, aber natürlich war daran nicht zu denken. Seine Bekannten und Freunde würden ein Donnerwetter über ihn entladen, und es würden daraufhin so viele Weiterungen, langwierige Auseinandersetzungen und ein solcher Hagel von Mißbilligung folgen, daß – – nein, unmöglich! Und als er eine Weile später noch ruhiger geworden war, ging ein Lächeln über sein gutmütiges Gesicht: aus dieser kleinen Lena war trotz Oldeslo und der Wohnung am Nollendorfplatze, trotz der Generalin und Frau v. Pauly ein ganzes Mädchen geworden, das seinen eignen Willen hatte und seinen eignen Weg finden würde.
›Ja, sie wird ihren eignen Weg finden,‹ sagte er vor sich hin, aber dann zog wieder ein Schatten über sein Gesicht: ›Was wird das für ein Weg sein?!‹
– – Der Lärm verklang hinter Lena immer ferner. Nun ging sie um das Schloß herum in der Richtung nach den Gestütsställen. Es war alles ganz still, niemand zu sehen – jeder aus Haus und Hof, der nicht sonstwie beschäftigt war, stand drüben als neugieriger Zuschauer bei dem Verkauf der Jährlinge.
Als sie über den Hof schritt, traf sie den alten englischen Gestütsmeister, der einen Stalljungen herbeipfiff und eben Ordre gab, ein neues Pferd zur Auktion hinauszuführen.
»Ich möchte die Killarneystute sehen,« sagte sie, »ich habe das Pferd gekauft, ich möchte es noch einmal besichtigen. Wo ist der Stall?«
Er griff an den Hut, und sie fügte hinzu, um sich zu legitimieren: »Mein Name ist Stennsberg – Lena Stennsberg.«
»O ich kenne,« sagte er, »ich habe Fräulein oft gesehen, schon als sie noch so klein war, als Fräulein herkam jedes Jahr mit dem Papa.«
Sie gab ihm die Hand und lächelte: »Habe ich einen guten Kauf gemacht?«
Er dämpfte seine Stimme, als ob es sich immer noch um ein Geheimnis handle: »Sie ist the best von allen, kein Pferd in Harzburg besser. Sie wird mehr Rennen gewinnen als die zwanzig andern.«
Er gab einem Stalljungen seine Ordre und begleitete Lena selbst durch die weitläufigen Gebäude bis zu dem Stalle. Dann bot er ihr seine harte schwielige Hand noch einmal: »Ich wünsche viel Glück, Miß Stennsberg. The little filly soll winnen das Derby, soll winnen alle großen Rennen. She is a very fine Galoppierer, und Sie wissen, Miß Stennsberg, the little horses sind oft die best.«
Dann ging er, und Lena war allein. Die langgestreckte Wiese, die der Killarneystute als Tummelplatz gedient hatte, und die sie nun bald vertauschen würde mit den Galoppierbahnen bei Berlin, lag ganz still in der Nachmittagssonne. Von dem Pferde war nichts zu sehen, aber als Lena in die offene Tür des Stalles trat, blickten die großen schwarzen Augen aus der Dunkelheit ihr entgegen. Die Stute stand ganz frei ohne Halfter, – Lena ging ohne eine Spur von Aengstlichkeit nahe zu ihr heran, und ohne zu erschrecken, beugte das Pferd seinen schmalen Kopf vorwärts und kam ihr einen Schritt entgegen.
Lena zog die Handschuhe ab und streichelte zärtlich den Kopf und die Mähne:
›Lena S.,‹ sie lächelte. ›Lena S.,‹ wie sich das seltsam anhörte, ihr eigner Name, – und sie nahm von neuem den Kopf der Stute und zog ihn zu sich nieder und liebkoste ihn: ›Lena S. Wir werden gute Freunde werden. Du sollst flinker sein als alle andern, wir werden beide in die große Welt hinauskommen, weit hinaus, vielleicht sogar übers Meer, und sie sollen alle dir zujubeln und mir zujubeln: Lena S.!‹
Man vernahm keinen Laut, nicht einmal das Zirpen der Grillen, das über die Wiese tönte.
Ein Traum ging über Lena hin: wie dieses Pferd, das ihren Namen trug, Siege an Sieg draußen reihen werde, sie reich machen, und für George und sie selbst – – – wenn das möglich wäre! Wenn Lena das Glück erkämpfen und George und sich selbst vor diesem drohenden Schicksal bewahren könnte, wenn sie beide sich nicht mehr sorgen müßten und aller Zwang aufhörte! Wenn sie mit Siegen und Erfolgen George den Boden ebnen würde, daß er nie mehr um der kümmerlichen Sorge willen in die kleine Stadt zurückzukehren brauchte und neben ihr, mit ihr, in der großen Welt leben könnte!!
Das alte Spielerblut, diese einzige Erbschaft ihres Vaters, war in ihr erwacht, lebendig geworden: das Glück erzwingen! Nicht warten, bis es spät einmal herbeikommt, sondern es selbst heranziehen, mit dem Glücke kämpfen und das Glück besiegen!
Die Sonnenlichter, die durch die offene Tür hereinzitterten, verschwanden plötzlich, – ein dunkler Schatten war in die Tür getreten. Sie blickte sich um, aber sie erkannte nicht recht, wer der Fremde sei. Dann zuckte sie leicht zusammen: Szatek!
Er schien mit den Augen zu suchen, er kam aus dem grellen Lichte draußen und fand sich nicht zurecht.
»Fräulein Lena,« sagte er, – dann trat er einen Schritt vorwärts. »Ich wünsche Ihnen Glück, Fräulein Lena. Sie haben das beste Pferd gekauft, das heute zu haben war. Wir haben da vorhin einen zähen Kampf ausgefochten, wir beiden.«
Sie antwortete nicht gleich. An dem ganzen Vormittage hatte sie um sich gespäht mit einem Gefühl von Angst: war Szatek nicht da? – aber sie hatte ihn nicht gesehen, und sie hatte aufgeatmet.
Nun erinnerte sie sich jener Stimme, die aus dem Hintergrunde des Kreises gegen sie auf die Killarneystute geboten hatte. Dieser Stimme, die trotz der kurzen Zahlenausrufe ihr bekannt erschienen war, aber von der sie nicht gewußt hatte und sich nicht hatte besinnen können, wem sie gehörte.
»Ich würde keinem andern die Stute gelassen haben,« sagte er, »nicht für 500 Doppelkronen und nicht für 1000, und nicht für noch mehr. Ihnen habe ich sie gelassen, Fräulein Lena.«
Eine Zornröte stieg ihr zu Gesicht, aber sie biß sich auf die Lippen, und indem sie den linken Handschuh über die Hand streifte, wollte sie an ihm vorübergehen.
Er wich ihr nicht aus.
»Machen Sie Platz,« sagte sie.
»Wir haben uns zwei Jahre lang nicht gesehen, Fräulein Lena, aber Sie haben nicht vergessen, was ich Ihnen damals gesagt habe. Ich habe auf Sie gewartet, Lena, ich komme heute, mir meine Antwort zu holen.«
»Machen Sie Platz,« sagte sie.
Sein Ton veränderte sich, er wurde weich, fast flehend. Er begann alles wieder zu sagen wie damals, ihr aufzuzählen, was er ihr bieten konnte, einen der größten Besitze Europas, eine Stellung in der Welt, die nur von der einer Fürstin überboten werden konnte.
»Ich lege Ihnen alles zu Füßen, Lena, alles, und mich selbst.«
»Machen Sie Platz,« sagte sie.
Mit einer fast rohen Bewegung stemmte er beide Hände gegen die Türpfosten, so daß er den Eingang breit versperrte, seine Stimme nahm einen rauhen Klang an:
»Sie stehen allein, Fräulein Lena. Sie besitzen nichts. Ihre Zukunft ruht auf der Gnade des Herrn v. Schwerin, oder wenn Sie so wollen« – er lachte – »auf den vier Füßen dieses Gauls.« Dann schlug seine Stimme um in eine erregte Leidenschaft: »Machen Sie mich nicht unglücklich, Lena! Ich habe auf Sie gewartet, ich habe mich jede Stunde nach Ihnen gesehnt, ich habe dieses Leben nur ertragen, weil Sie wiederkommen würden. Weil Sie dann kein Kind mehr sein würden und wissen, was es heißt, wenn ich – wenn, – wenn ich Ihnen sage, Lena, daß ich Sie liebe, wie ich nie einen Menschen geliebt habe!«
Sie hatte auch den rechten Handschuh über die Hand gezogen. Nun richtete sie sich plötzlich auf:
»Lassen Sie mich gehen.«
Er selbst stand im Schatten, auf Lena fiel das Licht durch die Türöffnung groß und grell, unwillkürlich wich er vor ihrem Blick beiseite.
Aber in dem Augenblick, als sie an ihm vorüberschritt und den Ausgang bereits gewonnen hatte, riß er sie in einem Ausbruch verzweifelter Leidenschaft rückwärts.
Mit ersticktem Aufschrei suchte sie sich frei zu machen, dann fühlte sie seine Küsse, deren Glut ihr den Atem nahmen. – – –«
Sie schritt über den Rasen, besinnungslos geradeaus. Die Wiese endete, eine hohe Hecke versperrte das Weitergehen, und nirgends war ein Ausgang. So ging sie zurück in einer Angst, die ihr die Kehle zuschnürte, und wieder zurück, ganz dicht an der niedrigen einzigen Tür vorbei, ohne sie zu sehen, wie blind.
Immer Szatek neben ihr.
Seine Stimme war tonlos geworden:
»Vergeben Sie mir, Lena. Ich war wahnsinnig, – ich – es gibt ein Verhängnis, dem niemand entrinnt.«
Hoch oben über den Wiesen zwitscherte eine Lerche, sonst war alles ringsum still.
Als sie zum zweitenmal an der Tür vorbeikamen, sah Lena die niedrige Pforte und ging hastig darauf zu.
Nun schritt sie über den Hof, eine Weile ging Szatek noch neben ihr.
»Sagen Sie nur das eine Wort, Lena, daß Sie mir verzeihen.«
Und als sie immer schwieg, das Gesicht geradeaus gerichtet in der bebenden Angst, sie könne den Weg verfehlen und neben ihm weiter gehen müssen, nahmen seine Mienen wieder den leidenschaftlichen, wilden Ausdruck an:
»Mag kommen, was will, Lena, ich lasse Sie keinem andern! Ich kann ohne Sie nicht leben! Ich wüßte nicht, was ich täte!«
– Dann blieb er langsam zurück. Seine Schritte verhallten auf den Pflastersteinen des Hofes hinter ihr.
Sie strich mit den Händen über Augen und Gesicht und sah sich um:
Ja, das war Harzburg, – ganz recht.
Da stand noch der Leiterwagen im Hof – vielleicht war es derselbe wie damals – auf dem sie als kleines Mädchen entzückt hin und her geklettert war, während die Herren drinnen in den Ställen die Pferde besichtigten.
Von den Steinstufen der Treppe war sie heruntergesprungen, ganz allein, immer wieder, vielleicht eine Stunde lang, – erst von zwei Stufen, dann von drei, dann von vier, – bis sie aufgeregt, stolz, ganz glücklich ihren Vater herbeigeholt hatte:
»Papa, ich springe fünf Stufen herunter!«
Sie wunderte sich nicht über diese gleichgültigen, nichtssagenden Erinnerungen – ihr Blick ging leer nach beiden Seiten.