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Sie trafen sich nur selten. In der Mittagsstunde nach der Mahlzeit, wenn die Generalin in ihrem Zimmer sich aufhielt und zu lesen vorgab, während sie in Wahrheit den für ihr Alter notwendigen Schlaf hielt – und wenn Fräulein v. Baggersen sich gleichfalls in ihr Zimmer zurückgezogen hatte und gleichfalls zu lesen vorgab und vielleicht gleichfalls schlief –, in dieser kurzen Mittagsstunde war dann und wann eine der Freundinnen tapfer genug, Lena zu begleiten.
Es fand sich immer derselbe Vorwand: zur Post gehen, um Briefmarken zu kaufen (denn es war eine der Eigentümlichkeiten der Generalin, daß sie trotz des beträchtlichen Briefmarkenkonsums ihres Hauses sich nie entschließen konnte, größere Mengen derselben anzuschaffen und auf Lager zu halten), aber gleich hinter der Post bogen die Mädchen rechts ab die schmale Bergstraße hinauf, und mit pochendem Herzen ging es an den letzten Häusern vorbei, dann in den Feldweg und endlich – tief aufatmend – in den dunkeln Hardisberg.
Der Zauber der Angst lag über diesen kurzen Minuten, sie gingen dicht aneinander geschmiegt, mit großen furchtsamen Augen, hastig, bisweilen rückwärts schauend, ob niemand folgte, vor jedem Kinde erschreckend, das über die Straße lief, – und dann endlich über das schlafende Oldeslo triumphierend, durch das sie mitten hindurch geschritten waren, und in dem niemand sie auf dem verbotenen Wege erspäht hatte! Der grüne Wald schien mit seinen schützenden Armen ein Märchenwald und die Stadt hinter ihnen der blinde Oger, dessen Krallen man durch ein Wunder entronnen ist.
Dann kam George.
»Wieviel Jahre bist du älter als ich, George?« – Sie rechneten nach: »Sechs, fast sieben!«
Sie verlangte, daß George erzählte: von seiner Mutter, von seinem Vater, – alles Kleinste aus seinem Leben. Von Marburg und Göttingen, von seinen Freunden in Marburg und Göttingen, von seinen Arbeiten, – und wenn George ihren Kopf zwischen seine großen Hände nahm, aus denen dann nur noch ihr Gesicht schmal hervorschaute:
»Lena, nun erzähle du auch –«.
Dann lächelte sie: »Ach, ich!«
Und flüchtig, als ob es sich kaum lohne, von dem allen zu reden, ging sie über die Jahre ihrer Kindheit hin, da und dort kurz verweilend, – nur wenn sie auf den Vater zu sprechen kam, wurde sie lebhaft:
»Du hättest ihn damals sehen müssen, George, als wir in Nizza und Baden die großen Rennen gewannen, Papa selbst im Sattel! Als er ›James‹ ritt und Schwerin mich auf den Arm nahm – ich war damals noch klein – und ganz laut schrie über den ganzen Rennplatz hin: ›Da sieh, Lena! Da schau, Lena!‹ – ach, du hättest es sehen müssen, George, du hättest es sehen müssen –!«
Er verstand sie nur zur Hälfte, er begriff das alles nicht, sie erzählte von Menschen und Dingen, von denen er kaum je gehört hatte, und sie huschte darüber hin, als wären es die selbstverständlichsten Dinge der Welt.
Wenn er bat: »Lena, du mußt mir das erklären,« – dann zuckte sie ungeduldig die Achseln:
»Ach nein, George, wozu, es ist ja alles so gleichgültig, wir wollen von dir reden, das ist hundertmal wichtiger.«
Und plötzlich sagte sie: »George, wann werden wir heiraten?«
Er sann nach, dann begannen sie beide zu zählen, zu rechnen. Sie verkürzten die Fristen, wo immer sich ein Monat oder auch nur eine Woche verkürzen ließ. Zu Ostern würde George mit dem Examen fertig sein, dann war er Arzt, selbständig und auf eignen Füßen. Dann war Lena siebzehn, fast achtzehn, – also nur noch ein kurzes Jahr, weniger als das, und sie würden für immer zusammengehören.
Sie ließen sich los, sie gingen nebeneinander wie zwei, die jetzt nicht Zeit haben zum Kosen, und sie zählten noch einmal Woche für Woche – –
»Und dein Vater, Lena –?«
Sie sah ihn erstaunt an, einen Moment verstand sie ihn nicht, dann glitt ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht, und behutsam seine Hände nehmend, als wären es nicht seine Hände, sondern zwei Hände, die zärtlich wie keine andern sie von Kindheit an umfaßt gehalten hätten, sagte sie leise:
»Er wird dich sehr lieb haben, George.«
Sie nahm seine Hände und legte sie an ihre Wangen und ließ sie sanft auf und ab gleiten. Sie sah ihn dabei nicht an, ihre Augen suchten jemand in der Ferne.
Er antwortete nicht gleich, – dann in ungeschickten Worten: sie würde auch sehr glücklich sein, gewiß. Sie würde überrascht sein, natürlich, – aber dann, – o, sie würde dann sehr glücklich sein.
Lena preßte seine Hände und schaute ihm ins Gesicht:
»George, wenn du es ihr sagen würdest, jetzt schon, du? Heute noch?«
Er verlor die Haltung: »Du kennst sie nicht, Lena, sie ist eine alte Frau. Nein, nein, es ist unmöglich, sie würde es gar nicht begreifen.« Und stotternd, wie jemand, der nach Gründen sucht und sie nicht findet, zählte er her, wie seine Mutter sich ängstlich vor jedem möglichen Wechsel ihres oder seines Lebens fürchte, wie sie schon seinem Vater durch eine gutgemeinte Engherzigkeit das Leben schwer gemacht habe. Wie sein Vater immer wieder hatte hinaus wollen, in irgend einen größeren Wirkungskreis, daß er sich zeitlebens nach seiner Heimat Lausanne zurückgesehnt hatte, aber daß jeder Versuch an dem Widerstande seiner Mutter gescheitert sei.
Langsam fand er ruhigere Worte:
»Wir sind nicht reich, Lena, das ist es. Meine Mutter hat ewig rechnen müssen, – ihre ganze Sorge und wofür sie noch lebt, ist meine künftige Existenz. Ich muß ihr zeigen, daß ich etwas erreicht habe. An dem Tage nach dem Examen gehe ich zu ihr, dann erzähle ich ihr von uns beiden. Nicht wahr? – – Du – –? Lena – –?«
Sie nickte, ohne ihn anzuschauen, und als George ihren Kopf emporrichtete, ließ sie das willenlos geschehen, aber ihre Augen blickten ausdruckslos an ihm vorbei.
»Ich habe doch recht, Lena, – nicht wahr?«
Sie wandte sich langsam zu ihm: »– Recht –?« – als ob ihre Gedanken weit fort gewesen seien, und als habe sie in der einen Sekunde über Vieles, Fernes nachgesonnen, – – »ja, du hast vielleicht recht. Ich kenne deine Mutter nicht, aber du kennst sie. Du mußt das besser wissen als ich.«
Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Einen Moment kam ihm – vielleicht zum erstenmal in seinem Leben – das Gefühl der grenzenlosen Abhängigkeit zum Bewußtsein, dieser in mehr als zwanzig Jahren erzwungenen Unterwerfung unter den Willen einer Frau. Ein Riese an Gestalt und Körperkraft, hatte er sich immer von andern leiten lassen, gutmütig und ohne Widerspruch. Von seinen Freunden und von seiner Mutter. Es rang in ihm, als ob er mit einem Ruck und einem entscheidenden Worte diese Fesseln zerreißen wollte, aber dann ging über sein gutes Gesicht ein so hoffnungsloser Zug, daß Lena alles vergessend mit einer stürmisch ausbrechenden Liebe die Arme um seinen Hals schlang.
»Es ist ja so gleichgültig, George, wir wollen nie mehr davon sprechen. Es war nur ein Einfall von mir, weiter nichts. Wir haben ja beide Zeit, noch so viel Zeit, nicht wahr?«
Ein glückliches, mütterliches Gefühl nahm sie ganz gefangen: für diesen großen, geliebten Jungen von nun an sorgen!
Und während sie weiter sprach, lächelnd und so leicht über seine Verwirrung hinweggleitend, daß George die Fassung wieder gewann, arbeitete es in ihrem Kopf und sann sie nach:
Sie würde Georges Führerin werden, ihn, der von der Welt nichts kannte und wußte, hinausbringen. Er allein würde nie den Weg hinaus finden, aber fortan hatte er sie als Leiterin!
Hier in Oldeslo wollte man ihn einmauern!
Wie einst seinen Vater.
Und mit George sie selbst!
Wie war es möglich, daß sie sich mit diesem Gedanken vertraut gemacht hatte?! Daß er ihr als eine Notwendigkeit erschienen war, die mit Georges Besitz für sie unlöslich verknüpft sein würde?!
Sie fuhr sich über die Stirn, wie erwachend.
Sie hatte das Gefühl einer Kraft in sich, die wachsen und eines Tages Fesseln zerreißen würde, aber – seltsam – in diese siegesfrohe Zuversicht klang es wie Trauer, als ob irgendwo im Herzen etwas Feinstes mit leisem Schrillen zersprungen sei.
*
Sie ging wieder bergab mit der Freundin. Die Kleine, ängstlich, erregt, trieb zur Eile: »Lena, wir kommen zu spät, die Generalin wird außer sich sein!«
Aber Lena ging mit gleichmäßigen Schritten. Als die Häuser von Oldeslo kamen, hielt sie den Kopf nicht mehr scheu zur Seite, sondern blickte nach rechts und links, als ob sie zum ersten Male durch einen fremden Ort gehe und nun alles in Ruhe betrachte. Die schmale Bergstraße mit den eng aneinander gebauten Häusern und den langen Mauern war ihr jedesmal und heute noch wie eine Scene aus den Märchenstücken erschienen, die sie als Kind auf den Theatern bewundert hatte, – nun sah sie, daß es alte, baufällige Hütten waren mit schäbigen Vorhängen an den Fenstern und mit kleinen engen Höfen, in denen der Schmutz sich zu verbergen keine Mühe gab.
Sie raffte unwillkürlich das graue Kleid zusammen, und zum ersten Male seit langer Zeit dachte sie daran, daß man am Tage der Ankunft ihre zierlichen Kleider in die großen Schränke der Generalin geschlossen hatte, aus denen dieselben – nach Versicherung von Fräulein v. Baggersen – erst dann wieder an das Tageslicht gebracht werden würden, wenn Lena nach einem Jahre oder so Oldeslo verlassen und in die große Welt zurückkehren dürfe.
Wie man sich zu einem Märchenspiel fertig macht, so hatte sie ohne Widerstand das nüchterne graue Kleid mit dem weißen Umlegekragen angezogen, mit den engen weißen Manschetten an den Handgelenken und der einfachen Knopfreihe, die sich über ihrer Brust spannte und zerrte.
Ein Märchen waren die ganzen Monate gewesen, und Lena hatte wie die Prinzessin, die auf Abenteuer auszog, mit verwunderten Augen in eine neue fremde Welt hineingeschaut und war sehr glücklich gewesen. Die Todesstille der kleinen Stadt, das Haus der Generalin mit der spartanischen Einfachheit, die strenge Einteilung der Stunden, die neuen Anforderungen, Einschränkungen, die Kleidung, die Mahlzeiten, – das alles zusammen genommen hatte schon durch den Gegensatz zu ihrem früheren Leben sie wie mit einem Zauber gefangen genommen. Dann alle Mädchen, die sich um sie drängten, sie bewunderten, ihre Freundschaft suchten, ein einziger großer Kreis voll Zärtlichkeit!
Zwischen den verträumten Straßen und Gärten von Oldeslo lag das große weiße Haus der Generalin, das mit dem langen Speisesaal und den vielen kleinen Zimmern an die Hotels erinnerte, in denen Lena ihre Jugend verlebt hatte. Auch hier wechselten die Insassen, wenn auch freilich nicht Tag für Tag, so doch Jahr für Jahr. Und freilich war es ein Hotel ohne Portier und Kellner und ohne den Lärm der großen Karawansereien. Wenn man abends schlafen ging und die letzten Lichter erloschen waren, so lag das Haus in einer Grabesruhe, und nur der Wind, der draußen in den Bäumen des Gartens rauschte, unterbrach von Zeit zu Zeit das nächtliche Schweigen.
Dann die Stadt selbst! – Zwischen den großen Pflastersteinen sproß das Gras, und wenn man nachmittags durch die Gassen ging, so lagen ganze Straßenzüge wie ausgestorben. Den Glanzpunkt bildete das Hotel zur »Kaiserkrone«, vor dem die Geschäftsreisenden in dem altmodischen, mit allen Fenstern klirrenden Hotelomnibus anlangten, und von wo aus ihre zweispännigen Reisewagen, schwer beladen mit großen Musterkasten, ins Land hinein fuhren.
Oben am Marktplatz lag die Kirche, in die an jedem Sonntag die Generalin ihre Pflegebefohlenen führte. Und diese Kirche mit hölzernen Emporen, der kleinen, merkwürdig geschnitzten Kanzel und den niedrigen Glasfenstern, durch die das Sonnenlicht viele bunte Strahlen hereinschickte, mit der alten schönen Orgel, den seltsamen Kirchenstühlen, in denen man eingepreßt saß wie in großen Holzkoffern, mit der schweren Eichentür am Eingange, die nach Schluß des Gottesdienstes weit geöffnet wurde und durch die dann in breiten Massen das helle Tageslicht hereinflutete, – diese Kirche mit ihrem Gottesfrieden war für Lena die Krone des Märchens. Sie hatte alle großen Kirchen der Christenheit gesehen: St. Pauls Church in London, Notredame in Paris, den Dom zu Köln und den Riesen von St. Peter in Rom. Hin und wieder war sie in den vielen Reisejahren von Schwerin, der das bisweilen liebte, in den Gottesdienst mitgenommen, aber das waren flache, undeutliche Erinnerungen. Die kleine Kirche von Oldeslo, auf deren Empore sie Georges Gesicht sah, hatte Gefühle von einer Innigkeit in ihr wachgerufen, wie sie sie nie gekannt hatte.
Dann war da der Bahnhof! Der kleine, lächerliche Bahnhof ohne Halle, durch den die Kurierzüge und Schnellzüge mit unverminderter Geschwindigkeit hindurchjagen, als ob es eine Stadt Oldeslo überhaupt nicht gäbe. Die Generalin liebte ihn, wie alle Leute von Oldeslo ihn liebten, und wie vielleicht alle Einwohner kleiner Städte ihre Bahnhöfe lieben, – und wenn es im Hardisberge regnete und draußen die Wege in Feld und Wald unpassierbar waren, so ging die Generalin die Breite Straße entlang, links über den Kirchhof weg zum Bahnhofe. An jedem Nachmittage um fünf Uhr, oder kurz vor fünf, sah man dann fernher aus der Ebene eine kleine Wolke aufsteigen, die sich schneller und schneller näherte und das Kommen des Paris-Petersburger Expreßzuges bedeutete. Er flog durch den Bahnhof, und zehn Sekunden später war er hinter der Böschung verschwunden. Aber für die Generalin und für alle Mädchen und schließlich auch für Lena war sein Vorüberbrausen immer ein kurzer aufregender Moment.
Die Generalin liebte es, den Zug zu erläutern, seine Abfahrtszeit von Paris und seine Ankunftszeit in der russischen Hauptstadt. Er bedeutete für sie vielleicht jedesmal eine wehmütige Erinnerung an vergangene Tage, während er den Mädchen ein Symbol der Zukunft war. Einmal würde der Tag kommen, wo auch sie in die große Welt hinausfliegen würden, die allermeisten von ihnen wohl schwerlich mit dem Paris-Petersburger Schnellzuge, aber doch mit irgend einem andern, in irgend eine unbekannte Weite.
Ja, auch der Bahnhof hatte zu Lenas Märchen gehört. Er war gewissermaßen der Torweg, durch den sie in die fremde Welt hereingeschritten war, und der Torweg, durch den sie einst wieder hinausziehen würde. Er bedeutete die Freiheit, eine Freiheit freilich, nach der Lena sich im Laufe dieses ersten Vierteljahres nie gesehnt hatte. – – – – – – – –«
Nun war der Traum vorbei.
Sie ging an der Seite der kleinen Freundin den Berg hinab und sah drüben den Bahnhof liegen, – sie gingen die Breite Straße entlang und kamen an den Marktplatz und die Kirche, – sie schritten an der »Kaiserkrone« vorüber, aus deren Gastfenstern ein paar Geschäftsreisende lehnten, – sie sah die Häuser, die Menschen, und über dem allen lag nichts mehr von der lächelnden Stimmung des Märchens.
Ja: etwas sehr Feines war in ihrem Herzen klirrend zersprungen.
Sie kamen nach Hause. Irgend jemand, die Generalin oder Fräulein v. Baggersen, bemerkte, daß sie erstaunt sei, die beiden Mädchen so spät kommen zu sehen; wo sie gewesen seien, und daß es ungehörig sei, sich in solcher Weise umher zu treiben, – und Lena antwortete irgend etwas darauf, – sie erinnerte sich später nicht was. Aber sie sagte es in einem Tone so kühl und so ganz von oben herab, daß die andre sie anstarrte und, ohne eine Antwort zu finden, Lena vorbei ließ.
Sie ging allein in ihr Zimmer und setzte sich auf das Fensterbrett und schaute hinaus in die Gärten, auf die roten Dächer, hinüber zur Kirche und über die Stadt fort nach dem Hardisberge.
Sie empfand ein Schmerzgefühl. Das alles da unten hatte sie sehr lieb gehabt . . . die Stadt, die Häuser, die niedrigen alten Mauern und die Heckengänge, vielleicht auch die Menschen, vielleicht auch dieses Haus hier, das ihr zum ersten Male etwas wie eine Heimat geworden war. Eine Heimat.
Drüben rechts, verdeckt von Bäumen, lag Georges Haus. In diesem Hause wohnte seine Mutter, und diese Mutter würde mit allen Mitteln George festhalten wollen, ihn hier einzwängen in Oldeslo, ihn lebendig begraben. Ihn, und dann mit ihm auch Lena!
Ein Haß gegen die Stadt stieg in ihr auf. Die Poesie, mit der sie das alles umkleidet hatte, war zerstoben. Es war nicht mehr die kleine Märchenstadt, sondern der tote, weltvergessene Ort, in dem man, müßte man ewig in ihm leben, ersticken würde. Sie hatte die große Welt ohne ein Gefühl des Bedauerns hinter sich verschwinden gesehen; nie in dieser ganzen Zeit war auch nur der Schatten einer Sehnsucht aufgestiegen; nun plötzlich regte es sich in ihr, und sie sah mit großen starren Augen über die Stadt und die Felder hinweg, in eine Weite, aus der es zu locken und zu winken schien: »Komm wieder, Lena!« Ihr Blick glitt das graue Kleid entlang, und sie fuhr leicht mit der Hand darüber hin, wie jemand, der etwas fortwischen will.
– – »Komm wieder, Lena – –!«
*
An diesem Nachmittage beliebte es der Generalin, mit den Mädchen den Weg nach dem Hardisberg einzuschlagen. In der Stadt gingen die Damen mit ernsten und strengen Gesichtern, draußen im Felde begann das Schwatzen und Lachen, nur Lena ging in der ersten Reihe, ohne ein Wort zu sprechen. Sie durchkreuzten den Hardisberg, dann wollte es der Zufall, daß die Generalin in den alten grasverwachsenen Weg einlenkte, der unten am Berge herführt und auf dem Lena ihre glücklichste Stunde verlebt hatte. Man ging gemächlicher, man suchte Blumen, die Generalin selbst beugte sich und schnitt für die Porzellanvasen im Speisesaal lange Gräser ab. Lena stand in der Mitte des Weges und wartete auf die andern. Sie bückte sich nicht, sie sagte kein Wort, ihre Augen gingen nur müde im Kreise.
Dann, ganz unvermittelt, hatte sie die Empfindung, daß dieses Lachen und Schwatzen und das Zerraufen der Blumen und Gräser auch die letzte ihrer sonnigen Erinnerungen zerstörte.
Dort drüben hatte George sie umarmt, und an derselben Stelle kniete die hagere Generalin im schwarzen Kleide und schnitt mit dem verbrauchten Federmesser, das man aus der Zeichenstube kannte, in das Gras.
Dann allmählich, als ob das der Höhepunkt der Krisis gewesen sei, wurde Lena wieder ruhiger.
Sie gingen bergab, heimwärts, und Lena sah die Stadt in einem freundlicheren Lichte: lohnte es sich, das kleine, dürftige Nest zu hassen –? Bloß deshalb zu hassen, weil man es fürchtete? Lena hatte nichts zu fürchten. Sie würde die Siegerin bleiben, leicht, mühelos, – George mit sich nehmen und ihn draußen emporführen zu einer Größe, zu einer Höhe, – bis er Oldeslo vergessen haben würde und alles, was ihn hier gekettet hatte. Ja, von nun an würde sie ihn schützen müssen und für ihn sorgen!