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II.

Das schönste Zimmer der vornehmen Etage, die Professor Jules Mirebel am Quai Voltaire bewohnte, war unstreitig das Arbeitskabinett. Prächtige Werke füllten die im Empirestil gehaltenen Bücherschränke, Spiegeltischchen, Marmorbüsten, kostbare Bronzen und Elfenbeinschnitzereien, wohin das Auge blickte. Auf einer Staffelei das Porträt des Gelehrten, von einem berühmten Meister gemalt, auf dem Kaminsims ein Pastell Latours, vor den Fenstern, die auf die Seine und die Tuilerien hinausgingen, gelbseidene Vorhänge, der Fußboden bedeckt mit einem herrlichen Perserteppich – so sah das Gemach aus, in welchem der ernste Dichter, der allverehrte Philanthrop seine liebsten Stunden verbrachte. Und er fühlte sich so wohl an dem riesigen Mahagonitisch mit den vergoldeten Bronzebeschlägen, der ihm als Schreibtisch diente, daß er strenge Weisung gegeben hatte, niemand einzulassen, wenn er sich in seinem Tuskulum befand. Nur an den festgesetzten Stunden des Tages empfing er Freunde und Bittsteller, Depeschen durften ihm unverzüglich überbracht werden, dem Telephon jedoch, dieser teuflischen Erfindung, die nach seiner Ansicht ein Attentat auf den Frieden ruhiger Menschen darstellte, blieb sein Haus fest verschlossen.

Während er damit beschäftigt war, eines seiner Sonette zu dichten, die er demnächst der Oeffentlichkeit unter dem Titel »Sancta Justitia« zu übergeben gedachte, wurde leise an die Türe seines Heiligtums geklopft.

Herein! rief er streng und setzte eine ernste Miene auf, um den Störenfried einzuschüchtern oder ihn wenigstens seine Ungehaltenheit fühlen zu lassen.

Aber der Ernst war bei ihm stets mit Wohlwollen gepaart. Trotzdem er sich den Sechzigern bedenklich näherte, war er mit seiner jugendlichen Elastizität, dem rosigen Teint, den leuchtenden Augen und feinen Lippen unbestreitbar ein schöner Mann. Die große, starke Nase und hohe Stirn verliehen seiner Erscheinung etwas Würdevolles, das durch ein gewisses Embonpoint und durch seine vornehme, elegante Kleidung noch gehoben wurde. Er machte in allem einen imponierenden Eindruck, selbst auf seinen Kammerdiener, den er trotzdem mit herablassender Vertraulichkeit zu behandeln pflegte.

Der gnädige Herr verzeihen, daß ich störe, aber dieser Brief ist soeben durch einen Beamten überbracht worden, der um Quittung darüber ersucht.

Der Diener überreichte auf einem silbernen Tablett den voluminösen Brief, den man vor einer Stunde im Hause des Erhängten gefunden hatte.

Jules Mirebel zerriß den Umschlag. Als er ein Heft darin erblickte, das die Inschrift trug: »Geschichte eines Verbrechens«, glaubte er, daß das Manuskript die Arbeit irgend eines Studenten sei, der sein Talent beurteilt zu wissen wünschte. Mirebel war an dergleichen Ansuchen gewöhnt. Er las selten, was man ihm einsandte, aber beantwortete jeden Brief und prophezeite dem jugendlichen Schreiber, der seine Feder in den Dienst des Schönen oder Edlen und Wahren zu stellen bestrebt war, eine glänzende Zukunft.

Was soll der schlechte Witz, sagte er ärgerlich zu seinem Kammerdiener. Es ist doch kein richtiger Beamter, der Ihnen das hier übergeben hat!

Und mit verächtlicher Bewegung warf er das Heft zurück auf das Tablett, das der Diener mechanisch in den Händen gehalten hatte.

Ich weiß nicht … Aber hier ist der Schein, den der gnädige Herr unterschreiben soll.

Mirebel unterzeichnete und nahm das Manuskript wieder zur Hand, indem er sich im stillen vornahm, es nicht nur nicht zu lesen, sondern auch den Autor keiner Antwort zu würdigen, um ihn für die impertinente Art zu bestrafen, mit der er es ihm zuzustellen verstanden hatte.

Wie heißt doch der Absender? – Vincent Rousset. Halt, sagte er laut.

Die Erinnerung an einen seiner schönsten Siege stieg in ihm auf. Vincent Rousset war ein Mann, den er vor dem Kerker, ja vielleicht vor dem Schafott gerettet hatte und der, nachdem seine Freisprechung erfolgte, ohne ein Wort des Dankes plötzlich verschwunden war. – Umso schlimmer für ihn, dachte er. Erkenntlichkeit birgt eine größere Freude für den in sich, der sie bezeugt, als für denjenigen, dem sie gelten soll.

Das Lächeln, das um die Lippen Mirebels spielte, verschwand. »Geschichte eines Verbrechens«. Was mag das zu bedeuten haben? Suchte Vincent Rousset etwa einen Verleger, eine Zeitung für sein Werk?

Dem Roman mußte entschieden ein Brief beigefügt sein. In der Absicht, ihn zu finden, durchblätterte der Dichter das Heft, dessen Seiten so eng beschrieben waren, daß sie wie mit Kienruß bedeckt aussahen. Aber es kam kein Brief zum Vorschein. Mirebels Neugier wurde dadurch noch stärker gereizt, er setzte seine Pincenez auf, stützte beide Arme auf den Tisch und begann die erste Seite zu lesen.

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