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Neuntes Kapitel.

Andre Städtchen kommen freilich,
          andre Mädchen zu Gesicht,
ach, wohl sind es andre Mädchen,
          doch die eine ist es nicht!

Schippenbach

 

Sie kamen nach Klausen.

Schweigsam und gedankenvoll waren sie diese zwei Stunden her nebeneinander hin geschritten. Es war heller Tag geworden indes, ein schöner, kalter Wintertag. Auf dem Eisack zu ihrer Linken lagen zwar noch dichte, schwere Nebel, aber der ›Kuntersweg‹ Malerische Felsschlucht südlich von Brixen; die Herstellung des Weges durch sie wird einem Bozener Bürger Heinrich Kunter (14.Jahrh.) zugeschrieben. vor ihnen glitzerte und funkelte voll zerrinnender Reiftauperlen, und auf den Kuppen der Talwände lag der wundervollste, rosigste Morgensonnenschein.

»Kehren wir ein?« brach endlich der Seiler das bange Schweigen – sie standen auf dem Marktplatze von Klausen.

»Warum nicht gar?« meinte Hecker, »ich hole mir mein Geschenk in aller Geschwindigkeit, mache einen Sprung zu dem Schneider und zeige ihm an, dass wir morgen in Bozen und übermorgen in Meran sind. Will er mit, ist's gut, aber aufhalten tun wir uns nicht. – Geh' derweil langsam voraus! Vor Kollmann Dorf südlich von Klausen. weiß ich eine Schänke, wie es weitum im Lande keine zweite gibt. Dort rasten wir und halten Mittag, gefochten wird nicht, solange noch ein Sechser im Sacke klingt!«

Er verlor sich in ein Seitengässchen, um den Klausner Gerber um das Geschenk zu ›strafen‹.

Der Seiler ging langsam voraus.

»Halloh!« rief es nach etwa einer halben Stunde hinter ihm. »Halt Deine Rosse an, Fritz, ich komme schon! – Uff! Das heiß' ich gerannt! Na, was Neues, Fritz, der Schneider hat eine Nase wie ein Trüffelhund, denk' dir, er ist – doch das muss ich dir mit den Worten seines Meisters sagen, ›hat sich das Beest angeschlampt die Feiertäg in Wein und Bratl, und gestern läuft er davon wie ein Dieb bei g'schlagener Nacht, pfui!‹ Wörtlich so klagte mir der Klausner Schneider sein Leid. Da holen wir den lieben Stephan Fasching, der auf einen Schneider verdammt wenig Sitzfleisch zu haben scheint, in Bozen oder jedenfalls in Meran ein. – Wir nehmen natürlich in Bozen keine Arbeit, wenn sich's träfe?«

»Nein, so nahe nicht, ich wenigstens nicht!«

»Ei, ich auch nicht!«

Damit hatten sie wieder auf eine gute Weile ausgesprochen, wie das schon zu gehen pflegt, wenn man einen Ort verlässt, in dem man sich ein wenig sattgegessen:

› – so traurig ist kein Nest,
wo man eine Woch verweilet,
dass es einem nicht das Herz abpresst,
wann man von dannen eilet.‹

sagt das Lied. Wenn es nun vollends ein Ort gewesen, an dem man das Herz zurückgelassen!

Sie kamen nach Bozen.

Auf der Herberge erfuhren beide, dass sie Arbeit finden, sie sprachen daher lieber bei keinem Meister zu und marschierten des anderen Tages früh nach Meran weiter.

Von dem Schneider hatten sie nichts gehört.

Es war am Donnerstag abends, als sie in der Meraner Herberge, unstreitig der nobelsten der Welt, ›Zum Erzherzog Johann‹ geheißen, einwanderten.

Jede Herberge, selbst die unflätigste, pflegt das Pandämonium und der Zusammenkunftsort sämtlicher Lungerer und Fechter eines Bezirkes zu sein. Dass die Meraner Herberge also voll und überfüllt von solchem Straßenungeziefer lag, war nicht verwunderlich. Aber dies Stoßen und Drängen, diese Musterkarte von Strolchen aller Sorten und aller Länder, wie die Herberge an diesem Tage aufwies, war so ungewöhnlich und absonderlich, dass selbst der Hecker, der sich doch für vollkommen ›abgeschossen‹ hielt, sich nicht erwehren konnte, erstaunt und verblüfft dreinzuschauen.

»Das sind doch unmöglich lauter Handwerksburschen?« fragte er sich nach dem ersten Blicke über die vollgedrängte, lange Schankstube.

Waren's! Mit geringen Ausnahmen waren es alle noch gewesen vor ganz kurzer Zeit, ehe sie Bündel und Wanderstab von sich warfen, verblendet durch das klingende, funkelnde Gold des Werbetisches, der droben, Bludenz gegenüber, auf der Schweizerseite des Inn aufgerichtet stand zum Fange lockerer Vögel, die es vorzogen, statt dem harten, aber freien Brote der Arbeit und Entbehrung auf heimatlicher Erde das entehrende des Söldners zu essen im fremden, undeutschen Lande, dafür aber auch des Soldgebers Lied zu singen.

Schweizer waren es zumeist, die hier Rast hielten auf dem Marsche über Livorno nach Neapel, wohin sie als ›Futter für Pulver‹ spediert wurden, Schweizer, welche die Freiheit, errungen mit dem Herzblute ihrer Väter, schmählich verkauft um eine Handvoll blinkender Frankenstücke und die jetzt hinab zogen nach dem Süden, der Knechtschaft, dem Heimweh – dem Tode zu.

Eine eigentümliche Aufregung machte sich in dem Wesen des Gerbers bemerkbar, als er erfuhr, was es hier absetzte, und sein Gesicht glühte, sein Auge flammte, als er sich durch die lärmenden, tollenden Haufen nach dem Hintergrunde der Stube drängte, wo an einem gedeckten, wohlbesetzten Tische die Führer des Rekrutentransportes, ein neapolitanischer Capitano im langen, blauen, bordierten Überrocke und ein Uffiziale in halb bürgerlicher Kleidung tafelten.

Der Seiler, der sich vor Lärm nicht verwusste, drängte sich ihm traurig nach und setzte sich an seine Seite, als dieser endlich zwei schmale Plätzchen in einer Ecke erobert hatte.

Sie waren kaum warm geworden auf ihrem Sitze, als sich auch schon ein verschmutzt aussehender, ziemlich alter Kerl in blauer Wollbluse zu ihnen gesellte.

Der Seiler schien ihn vorerst zu interessieren. Sein Kennerauge musterte dessen tatkräftige, gedrungene Gestalt, und sein lauterer Blick haftete lange an dem traurigen-leidvollen Gesichte des Schwaben, ehe er ihn ansprach: »Cosi in lutto, fratello! Haben kein Geld? Ah, sein nicht traurig, Freund Amadeo bringt vino, birra, l'arrosto – tutto quello, che vuole!« Und er setzte während dem Reden ins Werk, was er versprach, langte behände und auffallend ungeniert von dem Tische der neapolitanischen Herren zwei volle Weinflaschen und eine gehäuften Teller mit Braten herüber, pflanzte selbe vor den erstaunten Burschen auf und forderte sie mit der gewinnendsten Artigkeit auf, ihm den Gefallen zu tun und zuzulangen.

Der Seiler teilte dem Italiener verlegen und stammelnd mit, dass er gar nicht wisse, wie er zu der Ehr' komme, der Hecker aber warf einen scharfen, durchdringenden Blick nach dem Spitzbubengesicht des neapolitanischen ›Zubringers‹, wofür er ihn sogleich erkannte, stand rasch auf, winkte ihm, nachzukommen und drängte sich abermals durch die Stube bis auf den Flurgang hinaus.

»Ho, Gerber!« rief es in diesem Augenblicke von der Treppe hinauf. – Der Schneider stand unten, das Felleisen auf dem Rücken, eben angekommen.

Bei diesem Anblicke leuchtete das glühende Gesicht Heckers noch höher auf, ein leiser Ton, der wie ein wildes Jauchzen klang, entschlüpfte seinen Lippen. Er streckte dem Ankommenden die Hand entgegen und rief: »Schön Willkomm, Stephan! Hör' mal, ich lass mich engagieren bei den Neapolitanern, so was hab' ich noch nicht probiert, hast du nicht auch Lust dazu? Ist nicht alle Tage Gelegenheit dazu!«

»Warum denn nicht? Meinst, ich hätt' keine Courage? – Lass mich das Ding näher anschauen – mein Häusel im Mühlviertel läuft mir nicht davon!« sagte der Schneider, im Heraufkommen lachend.

»Eccomi, mio caro amico!« klang es hinter dem Rücken Heckers. Der ›Zubringer‹ war da.

»Geh, nur hinein, Stephan! Hint in der Stube sitzt der Seiler trübselig und allein – ich komme gleich!« sagte der Gerber hastig und wandte sich, als der Schneider in die Türe trat, zu dem Italiener mit der kurzen Frage: »Wie lange muss man dienen?«

»Oh, nur ein' Spann Zeit vier kurzer Jahr'!«

»Handgeld?«

»Achsig Frank! Halb hier, hab in Livorno auf königlichem Schiff!«

»Engagiert Ihr hier?«

»Si – perogni dove! Nur kein Austriaco!«

Der Gerber lächelte: »Wenn man Euch das nicht sagt, wisst Ihr's ja nicht!«

»A maraviglia!« rief der Italiener, entzückt über die feine pfiffige Rede.

»Gut also, bis Abend mehr!« Hiermit verabschiedete sich der Bursche und ging, gefolgt von dem zufrieden lächelnden ›Zubringer‹, wieder in die Schankstube. Der Schwabe kannte bereits seinen Kameraden zur Genüge, um zu wissen, dass er vor nichts zurückschrecke, was für ihn den Reiz der Neuheit und Abenteuerlichkeit habe. Er ahnte sogleich, wo das hinauswolle, als er ihn mit dem Menschenmäkler verkehren sah, und fühlte sein Herz von unnennbarer Angst und Bekümmernis erfüllt. Nicht dass er für den Hecker gefürchtet hätte, in dem hatte er längst einen jener Menschen erkannt, die ›nirgend verloren gehen‹, wie man sagt. – Für sich fürchtete er, und ohne sich über den Grund seiner bangen Ahnung irgendwie Rechenschaft geben zu können, zog er sich scheu vor dem lachend Zurückkehrenden zurück und beschloss, Herz und Augen offen und wach zu halten vor etwaiger Versuchung.

Der Schneider hatte ihn ausgelacht, als er ihm seinen Verdacht mitteilte: »Der wird sich hüten, sich oder andern zu raten, dem Kalbfell nachzuzappeln«, meinte er, »er hat's ja selber schon versucht! Wär wohl dabei geblieben, wenn da was zu fangen gewesen wäre! das ist nur sein Spaß, glaub' mir!«

»Du kennst ihn nicht! Der ist alles imstand. – Sieh, wie er vergnüglich lacht!«

»Vielleicht hat er den Seelenverkäufer angesetzt!« Angeschmiert, getäuscht. flüsterte Stephan leise, den der Beredete stand bereits an dem Tische bei ihnen.

»Ho, was soll denn das!« rief er, »du hast ja nicht einen Bissen angerührt, und die Flaschen sind auch noch voll! Das wäre mir das Wahre! Trinkt, esst, langt ohne Weiteres zu, ich lasse mir die Zeche abrechnen von meinem Handgelde!«

Er sprach dies ernst und langsam wie die volle Wahrheit und zerlegte dabei den Braten und füllte die Gläser: »Nie ohne Toast! Ihr wisst schon, dass ich's so halte, stoßt also an mit mir, auf gute Fahrt übers Meer und viel Glück in Neapel! – Ich gehe wirklich mit den Strolchen da hinunter in die Heimat der Lazzaroni. Vielleicht kuriert dieser Marsch meine Wanderlust, ein italienisches Sprichwort wenigstens sagt, wer Neapel gesehen hat, könne ohne Weiteres sterben!«

»Du wolltest wirklich –« »Pah, Hecker, du spaßest!« riefen die beiden Burschen.

»Ich spaße? Ja, die Geschichte ist selbst mir ein wahrer Spaß, obwohl sie mein voller Ernst ist. Warum sollte ich's nicht versuchen? Mich hält nichts, mich bindet nichts, ich habe nichts zu verlieren. Was sind denn vier Jahre? Ein Pappenstiel! Ich hab's bereits sieben Jahre versucht einmal und bin nur davongegangen, weil mir's zu langweilig wurde! Aber heute ist eine andere Zeit! Krieg überall! Da wird einem die Zeit nicht lang, und wenn, so hat man alle Tage die schönste Gelegenheit, sich totschießen zu lassen. – Nun, wollt ihr's nicht auch versuchen? Du, Stephan, aus Jux und um der Welt zu zeigen, dass auch im Mühlviertel kecke Burschen wachsen, du, Seiler, aus Liebesgram oder dergleichen. Sucht euch eine Ursache, wenn ihr's nicht wie ich aus reiner Passion tun könnt!«

Der Schwabe sah den Schneider ernst an: »Sagt ich' nicht?«

»Oh, fürcht' dich nicht, Schwabenherz! Ich zwing' dich nicht!« rief der Hecker mit scharfem Tone. Er hatte den Blick des Seilers aufgefangen und verstanden. »Ich treff' den Weg schon allein, lasst nur den Trubel hier ein bisschen verlaufen, dann sollt ihr sehen, wie kurz ich's mache. Doch genug derweil davon! – Wie kommt's denn, Stephan, dass wir dich überholten, du bist doch schon dienstags aus Klausen fort?«

Der Schneider lächelte, wie von einer angenehmen Erinnerung berührt: »Ja, es wäre nicht geschehen und ich schon gestern hergekommen, aber vor Bozen in Rentsch traf ich einen Landsmann von mir, einen Linzer, den ich eben von dort her kannte, der hielt mich auf und traktierte mich wie ein Graf. Er war in Bozen in Arbeit gestanden und nach Brixen verschrieben mit fünf Gulden Reisegeld, die haben wir auch redlich verputzt beim Rentscher Wirt!«

»Nach Brixen? Ein Schneider?« fragte Hecker erstaunt.

»O nein – bei uns setzt's kein Reisegeld, 's war ein Seiler und es – Blitz!« unterbrach sich Stephan plötzlich auffahrend und zu dem Schwaben gewendet: »Blitz, der ist sicher an deine Stell' verschrieben! Heißt die Witfrau nicht Riedeggerin?«

»Judith Riedegger!« stammelte der Schwabe mit bleichen Lippen.

»Richtig, sie ist's! Ich habe den Namen auf dem Verschreibzettel gelesen!«

Der Gerber tat einen leisen Pfiff und streifte den Schwaben mit einem sonderbaren Blicke: »Was ist's denn für einer, der Linzer?« fragte er den Schneider.

»Ah, ein netter, lustiger Bursch, voll lustiger Schnacken, und singt wie eine Nachtigall!«

»Du – die will nicht lang feiern, deine Judith!« flüsterte der Gerber mit schadenfroher Miene dem Seiler zu. Doch der schien nichts zu hören, er saß mit geschlossenen Augen da und war bleich wie der Tod.

Die beiden Burschen sahen ihn erschrocken an, er seufzte schwer auf und legte den Kopf auf den Tisch.

Stephan sah fragend von dem Seiler zu Hecker auf. Dieser verständigte ihn mittels eines vielsagenden Blickes von dem Herzenszustande des Schwaben und versenkte sich dann in den Wein und in seine Gedanken.

Er bemitleidete den armen Fritz – gewiss, trotz allem. Aber er beneidete ihn zugleich – darum, dass er so sinnig und heiß lieben konnte, dass sein Herz mit solcher Kraft an dem Gegenstande seiner Wahl hing, dass es von demselben so ganz erfüllt und ausgefüllt war, während das seine sich verzehrte in der fruchtlosen Jagd nach einem wesenlosen, nebelhaften Phantome! Dieses neidische Gefühl war es, was den Vagabunden drängte, seinen mächtigen Schatten auf den Weg des harmlosen Burschen zu werfen, was ihn aufstachelte, ihn mit sich zu ziehen fort und hinaus, wo immer hin, er wusste, dass es der Weg zum Glücke nicht war, den er ging.

Als der Seiler den Kopf erhob, wies er ein wildes, grauenvoll verzerrtes Gesicht, wie einer, der ›inwendig geweint‹ hat, wie man sagt, und griff wie alle schwachen, verlassenen Menschen nach dem Troste des Weines.

Der Gerber warf dem ›Zubringer‹, der die drei Burschen nicht aus den Augen gelassen hatte, einen Blick des Einverständnisses zu und – schenkte fleißig ein.

Auch der Schneider trank. Flasche um Flasche wurde gebracht und geleert, »auf Abschlag des Handgeldes«, wie der Gerber sagte.

Es ging auf den Abend, die vollgezechten Rekruten suchten einer nach dem andern ihr Nachtlager auf, und es wurde Raum in der Stube.

Die drei Burschen tranken immer noch, der Seiler zumeist.

Er sprach nicht, aber sein stieres, trübes Auge erzählte von seinem bitteren, tiefen Herzweh.

Plötzlich unterbrach er den Gerber, der, sichtbar benebelt, dem Schneider haarsträubende Geschichten aus seinem Soldatenleben vorlog, indem er die Hand auf dessen Arm legte und mit kaltem, festem Tone sagte: »Ich geh' mit dir, Hecker! Es ist beschlossen, ich werde auch Soldat!«

»Du verflucht!« schrie der Schneider verwundert auf. Der Gerber sagte nichts, aber aus seinem Auge sprühte ein Blitz wilder Freude.

»Ich hab' mir's überlegt«, sprach Fritz weiter, »'s wird so am besten sein, 's mag ausfallen, wie's will. So oder so – entweder trifft mich eine barmherzige Kugel, oder in vier Jahren – in vier Jahren kann man viel vergessen!«

»Perle von einem Schwaben!« rief der Gerber aufspringend, »so lass ich mir's gefallen, so spricht und tut der Mann. Aber jetzt – nie ohne Toast! – Jetzt lasst uns anstoßen!«

Der Seiler stand wankend auf und hob sein Glas.

Und der Schneider, nicht faul, sprang ebenfalls auf, schenkte sich ein, ergriff das Glas und rief: »Und ich tu auch mit nach Neapel! Hol's der Teufel!«

Hecker schlug ein johlendes Freudengelächter auf – da legte sich eine leichte Hand auf seine Schulter und eine tiefe Stimme flüsterte ihm leise, aber drängend ins Ohr: »Auf ein Wort, Landsmann, um Gotteswillen, auf ein Wort!«

Der Gerber sah sich erstaunt und von dem seltsam dringenden Tone fast bestürzt um. Vor ihm stand einer der Schweizer Rekruten, ein Mann in seinem Alter, von starkem, sehnigem Baue, aber bleichem, kummervollem Aussehen.

Hecker wollte fragen, was es gebe, aber der Mann ließ ihn nicht dazu kommen. Er fasste ihn bei den Rocklappen und flüsterte ihm abermals flüchtig zu: »Nur eine Minute, Freund! – Dann könnt Ihr tun, was Ihr wollt!« Und er zog ihn halb mit sich hinaus auf den Flurgang.

»Nun, was soll's? Was habt Ihr mir zu sagen?« fragte der Gerber unfreundlich.

Der Mann sah ihm einen Augenblick scharf in das Gesicht, in das unwillkürlich und ahnungsvoll eine leise Röte stieg, dann sprach er ernst und feierlich: »Weißt du, was du tust, Unglückseliger! Weißt du, was du auf dein Gewissen nimmst? Mensch, hast du ein Recht, diese armen Jungen zu verderben?«

Der Gerber trat einen Schritt zurück und erbleichte.

»Sage mit nichts, ich weiß alles!« fuhr der Schweizer hastig fort, »ich saß neben euch, ich hörte jedes Wort eures Gespräches, und was ich nicht hörte, das las ich in dem traurigen Gesichte des schwäbischen Burschen und in dem deinen – es ist ein gefährliches Gesicht! Ich kann und darf dich nicht hindern, zu tun, wie du willst, aber ich muss es versuchen, dich abzuhalten davon – es ist eine heilige Pflicht, die mich dazu verbindet. Höre mich an – doch wisse vorerst, dass ich nicht dich abhalten will, der Wälschen Handgeld zu nehmen, nein – ich weiß, dass du aus einem andern Holze bis als die Burschen d'rin, aus dem zähen, harten Holz, das nur bricht und nie in Splitter geht, du magst's versuchen, aber allein! Höre mich, meine kurze, traurige Geschichte, dann tue, was dir beliebt!«

»Sprich!« sagte der Gerber dumpf.

Der Schweizer trat mit ihm in eine Fenstervertiefung und erzählte: »Ich bin ein Bündner und in Klosters Hauptort der Prättigau (in Graubünden), einem rechten Nebental des Rheintales. im Prettigatal daheim. Ich hatte früh, als Bub schon, Vater und Mutter verloren und wuchs auf, hoch und gerade wie die Bäume unserer Forste, aber auch wild wie sie. Ein Handwerk lernte ich nie. Ich lungerte herum im Nichtstun, nur wenn die Not mich drückte, stand ich in einem Hofe zu kurzer Arbeit ein. Da einmal – es sind fünf Jahre – hört' ich, dass sie in Mayendorf Wahrscheinlich Maienfeld bei Ragaz im Rheintale, das »oben« ist freilich nicht recht verständlich. oben werben für die Regimenter in Italien. Das Ding ging mir zu Kopfe, und ich beschloss, es zu versuchen. Aber allein wollt' ich nicht gehen. Da hatt' ich einen Kameraden im Orte, einen bildsauberen Burschen, den fasst' ich aufs Korn und redet' so lange in ihn hinein, bis ich ihn mit auf dem Wege nach Mayendorf hatte. Wir nahmen richtig beide Handgeld und dachten keiner mit keinem Gedanken der lieben Schweiz – solange die Silberstücke aushielten. Dann wurde es freilich anders, aber da half's nichts mehr. – Mein Kamerad aber stand nicht allein in der Welt wie ich. Er hatte ein altes Mütterchen daheim in Klosters und einen Bruder, der war ein halber Kretin. Nun, wir hatten beide das letzte Jahr schier abgedient – voriges Jahr um diese Zeit herum – da holten sie meinen Kameraden auf einmal ab bei der Nacht und führten ihn auf das Fort. Es hieß, er habe es mit den Rebellischen gehalten, die den König stürzen wollten. Es war auch richtig so, er erzählte mir's selber im Gefängnisse, er sagte, die Weiber hätten ihn dazu verführt.

Mein Gott, da hat's wohl nicht viel gebraucht! Bei uns daheim lernen ja die Kinder in der Schule mit dem Katechismus ganz frei dasselbe, weshalb sie drunt die Leute aufs Schafott und auf die Galeere schicken. – Er kam aufs Schafott, der arme Junge! – Damals war ich nicht mehr in Neapel, hatte schon meinen Abschied und war wieder in Klosters daheim. Eines Tages schickte seine alte Mutter nach mir – sie hatte seinen Totenschein vom Regimente bekommen. Ich weiß, sie hätt' es ruhig hingenommen, wenn er wie andere Leute auf den Schragen Auf das Totenbett. gekommen wäre, aber dass er auf den Schindanger kam, das konnte die alte Frau nicht verwinden, sie starb. Er war kein Segenswunsch, den sie mit erstarrenden Lippen rief über mich, der ihr Kind verführt. – Nun, es war freilich das Häusel da nach ihrem Tode als Heimat für den armen Trottel, der ja betteln gehen konnte. Aber es waren auch einige Lasten da, und es sollte versteigert werden, wenn die nicht gelöscht wurden. Das hörte ich, und da ich so nicht mehr taugte unter die einfachen Leute bei uns, das Arbeiten hatt' ich vollends verlernt, so dacht' ich mir, du gehst hin und nimmst noch einmal Handgeld. Damit wird das Häusel schuldenfrei, und dem Trottel ist geholfen. Und ich tat's. – Ich bin fertig, jetzt geh und tue, was du willst!«

Also schloss der Schweizer seine schlichte Erzählung.

Der Gerber hatte ihn schweigend angehört. Jetzt erhob er den Kopf, schaute den Schweizer mit einem innigen, dankbaren Blicke an und drückte ihm stumm die Hand.

»Gottlob!« rief der Schweizer und trat aus der Fensternische hervor.

Da schlug von der Schenkstube her wildes Gläserklingen und lautes, gellendes Evviva-Geschrei an ihr Ohr.

Der Gerbers bemächtigte sich eine furchtbare Angst. »Zu spät!« stöhnte er, und sein geistiges Auge sah die Unglückssaat, die er gesät, aufgegangen zu giftiger Frucht.

Mit einem dumpfen Wutschrei sprang er gegen die Türe und riss sie auf – »Zu spät!« ertönte es traurig klagend hinter ihm, in der Mitte der Stube standen, Gläser in den Händen, blaue, gelb berandete Mützen auf den Köpfen, die beiden Burschen, umtanzt von trunkenen, singenden Gestalten, aus dem Kehricht aller Nationen zusammengelesen.

»Halt!« schrie plötzlich eine mächtig dröhnende Stimme von der Türe her und mit kräftigen Fäusten rechts und links niederstoßend, was ihm den Pass Den Weg, den freien Weg. verrannte, brach der Gerber zu seinen Kameraden durch. »Halt!« rief er, sie an sich ziehend, und schlug ihnen mit einem flinken Schlage die Mützen von den Köpfen. »Diesmal werdet Ihr euch die Lust vergehen lassen müssen, Herr Uffiziale! Die Burschen sind Österreicher!«

»Diavolo!« knirschte der Zubringer. Der Capitano sah ihn fragend an: der zuckte die Achseln und flüsterte: »Credo di si!«

Der Kapitän biss sich in die Lippen und trat zurück: der Wirt und mehrere Gäste waren hinzugetreten – an Gewalt war nicht zu denken, hier ging sie auch nicht vor Recht.

Aber die beiden Burschen schienen nicht Willens, den Dienst Neapels so schnell zu verlassen: »Ich bin ein Österreicher, ein Mühlviertler, aber ich will Soldat werden!« schrie der Schneider.

»Ich bin ein Schwab'! Ich kann's beweisen, dass ich kein Österreicher bin!« rief der Seiler wild und suchte sich dem Gerber zu entringen. Aber der hielt ihn fest. Den Schneider ließ er los, legte die so freigewordene Hand rasch auf den kreischenden Mund des Schwaben, hob ihn auf wie ein Kind und trug ihn im Fluge aus der Stube.

Der Schneider war aus der Hand des Gerbers in die des Wirtes gefallen, der ihn auf die Seite zog und ihm mit eindringenden Worten zu Gemüte führte, dass sein Monarch denn doch nähere Ansprüche auf seine heldenmütigen Dienste habe als der stockfremde König beider Sizilien, was der gute Mühlviertler endlich zugab, sowie auch, dass man ihn nach seiner Schlafstelle führe.

Der Gerber aber hatte noch arge Not mit dem Schwaben, als der Wirt mit dem Schneider in den Schlafsaal kam. Fritz tobte wie ein Toller, schlug und stampfte nach dem Gerber und dem Wirte, bis ihn endlich der Rausch und die wilde Aufregung zu Boden warfen. Jetzt erst gelang es den vereinten Bemühungen der beiden Männer, ihn, angezogen wie er war, zu Bette zu bringen.

»Herr Vater!« wandte sich dann der Gerber zu dem Wirt der Herberge, »die Zeche, ich meine den Wein, den uns der Italiener bestellt, bezahlt ich!«

»Da wärst du ein Narr, Gerber!« lachte der Wirt, »werd' ihn den Seelenverkäufern schon anrechnen. Gut' Nacht!«

Der Gerber stand lange sinnend da, dann trat er mit gesenktem Haupte, das Herz voll tiefer, reuiger Trauer, an die Lager der Schlafenden und lauschte ihren schweren, unruhigen Atemzügen.

»Vergelt's Gott, braver Schweizer! – Jetzt will ich schlafen!« rief er endlich mit einem dankbaren Blicke zum Himmel, blies das Licht aus und warf sich angekleidet auf sein Lager.


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