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Zweites Kapitel

Ach, wer den Weg doch wüsste
ich das Schlaraffenland!
Mich dünket wohl, ich müsste
dort finden Ehr' und Stand

Lieder eines fahrenden Schülers.

 

Der ›Rechte‹ war ein rüstiger Bursche von gefälligem, etwas keckem Aussehen; gut, fast modern gekleidet und dem Anscheine nach ungefähr ein Dreißiger.

Er trug das blonde Haar lang und den Bart voll; dem Hute und seiner Rolle nach, zwischen deren Halteriemen er Stiefel, Bürsten und Schmierbüchse stecken hatte, gehörte er zu einem geschenkten Handwerke Geschenkte Handwerke nennt man diejenigen, deren wandernde Glieder bei den Meistern auf das sogenannte Handwerksgeschenk und Nachtlager einsprechen konnten, es sind dies die Kupferschmiede, Hutmacher, Gerber, Färber, Kaminfeger und andere, bei denen sich noch die alten Handwerksbräuche erhalten haben. Eine Bearbeitung und Veröffentlichung dieser Gebräuche, eines gewiss interessanten Volkstumsschriftsteller Ph. Leutner in Meran. (Meßner), und zwar zur Gerberzunft.

Er kam rasch und leicht die Straße herab geschritten, ohne von seinem Reisestocke, einem modernen spanischen Rohre anderen Gebrauch zu machen, als die helle, frische Luft damit zu durchfuchteln.

Als er die Gesellschaft unter dem Vogelbeerbaume gewahrte, machte er eine raschen Schwenkung von der Straße ab und nahte ihr auf dem grünen Alleeraine, von Weitem grüßend: »Guten Tag, Kameraden! Ei, da habt ihr euch ja ein wunderbar schönes Rastfleckchen ausgesucht vor dem Sprunge ins alte Tirolerland! Oder haltet ihr Rat, wohin ihr euch wenden sollt, da hier so viele Auswege in Versuchung führen?« Er deutete dabei lachend auf die hohen, rundum aufragenden Bergriesen, die nur der Drau und dem Straßenzuge nach Lienz unten Raum ließen.

»Guten Tag, und zugerückt! – Woher des Weges?« fragte der Tischler, den Ankömmling mit freundlichen Augen musternd.

»Ihr geht nach Lienz?« fragte dieser statt einer Antwort entgegen.

»Jawohl!«

»Nun, dann kommen wir eines Weges, mein lieber Alter, aus dem guten Lande Kärnten, das der Himmel, wenn er die gerechten Klagen armer Handwerksburschen berücksichtigte, längst vom Erdboden vertilgt haben müsste. Na, Gott sein Dank, dass ich da bin! – Will mich einmal wieder gehörig ausrasten im lieben Tirol – hab's weiß Gott nötig!« sagte der ›Rechte‹, indem er seine Rolle ablegte und sich neben dem Seiler ins Gras warf.

»Lang auf dem Marsche?« fragte der Tischler wieder, dessen Augen bei dem ›einmal wieder‹ des Burschen heller aufleuchteten, das sie ihn vollends überzeugten, dass der Angekommene schon ›im Lande‹ gewesen, mithin seiner Vorhersagung nach gewiss der Rechte sei.

»Auf dem Marsche? Passiert!« antwortete dieser, »es ist die achte Woche; komme von Oberösterreich her.«

»Von Oberösterreich? I Gott, da bin ich daheim«, rief der Schneider erfreut.

»So? Wo denn?«

»Im Mühlviertel!«

»Da bist du der erste Mühlviertler, der mir so weit von seiner Heimat begegnet; sie gehen sonst nicht gern weiter als bis Linz!« sagte der Fremde lächelnd, indem er einen jener Witze losließ, die unter Handwerksburschen über gewisse Volksstammsplitter traditionell gang und gäbe sind.

Der arme Schneider errötete in Ermangelung einer passenden Antwort, und der Tischler, dem daran lag, nichts Zwieträchtiges zwischen ›seinen Leuten‹ aufkommen zu lassen, benützte die Pause, um den Angekommenen in Kenntnis der Sachlage zu setzen, was er folgendermaßen tat: »Mit Gunst, Gesellschaft! Mit dem Worte »Gesellschaft« pflegen ihres Namens nicht kundige Gesellen einander anzureden. (Meßner) Ich traf heut' mit den zwei Burschen da zusammen, weshalb wir hier warteten, bis noch einer käme. So frag' ich dich nun, ob du mithalten willst – alle für einen und einer für alle?«

»Ei, warum denn nicht? geh' auch nicht gern alleine!« gab der Gerber zur Antwort.

Der Seiler, der an ihm Gefallen zu finden schien, legte bei diesen Worten seine Hand mit einer freudigen Gebärde auf seine Achsel, was der Tischler mit Missfallen bemerkte, denn er sagte spitz: »Ho, der scheint dir besser zu behagen als ich, he? Hat noch einen ganzen Rock! Nun, wollen's gleich sehen, ob dich das Los ihm zugesellt oder mir; – ist übrigens alles eins! – nicht wahr, Gerber, wir zwei losen um unser Teil?«

»Du meinst, welcher von den Burschen mit dir und mit mir ziehen soll?« sagte der Gerber nachdenklich, »Ich bin's zufrieden! Doch denk' ich, wären da zuvor – das heißt, wenn's gelten soll, wie du sagtest: einer für alle und alle für einen – noch verschiedene Punkte auszugleichen und vorher vollständige Verabredung zu treffen, wie wir es halten wollen mit der Kompagnie!«

»Wie wir es halten wollen?« fragte der Tischler erstaunt; »nun, wie es von jeher gehalten ward in solchem Falle; wir gehen zu zweien Ort um Ort ab, kommen an bestimmten Plätzen zusammen, und da wird geteilt, was eingekommen ist!«

»Ehrlich?« fragte der Gerber kurz und mit einem sengenden Blicke über den alten Fechter.

»Du traust mir nicht, Kamerad!« sagte dieser mit gekränktem Tone und legte die Hand aufs Herz: »Ehrlich, bei meiner armen Seele!«

Der Gerber lächelte: »Bist kein Preuße, sonst hättest du dein Ehre geschworen, was ohne besonderes Risiko geschehen wäre. – Gut also! Soweit gilt's, aber wie du gemeint, in einem gewissen Zwischenraume auf einem Wege, das halte ich nicht für gut! Ich hätte einen anderen Vorschlag!«

»Ei, und er wäre?«

»Ich kenne das Land genau, bin durch alle seine Täler gegangen und weiß, was hier zu ›machen‹ ist. Während das offene Tal, das die Straße durchzieht, überlaufen wird von bettelnden Lugerern aller Art, ist in den reichen Gehöften des Mittelgebirges eben ›ein Arms‹ Die landesübliche Bezeichnung für Bettler. (Meßner) ein seltener und darum gern gesehener Gast; wer es sich nicht verdrießen ließe, den Weg über die grünen Berghänge dort zu nehmen, dem wären offene Türen und Herzen gewiss; darum meine ich, wenn wir schon zusammen wirtschaften wollen, so schlage eine Partie die Straße ein, die andere den Bergsteig; bei jedem Pfarrort führt der Kirchweg von oben nieder, da finden wir uns dann nach Gutdünken hie oder da zusammen und teilen das Ergebnis unserer Fahrt!« So sprach der Gerber und schaute seine drei Genossen aufmerksam um des Eindruckes willen an, den sein Vorschlag gemacht.

Den beiden jungen Burschen schien er ganz plausibel zu sein; nicht so dem Tischler, der ihn mit missbilligendem Kopfschütteln anhörte; jedoch war es nicht das Wesen des Vorschlages, was er verwerflich fand, sondern die freie, brüske, keines Widerspruches gewärtige Art, mit der er gemacht wurde; der Gerber schien ihm in diesem Augenblicke doch nicht der ›Rechte‹, dafür aber ganz der Mann dazu zu sein, ihm seinen so sauer erworbenen Primat Primat = Vorrang. über die beiden jungen Gesellen mir nichts dir nichts vor der Nase wegzukapern. Diesen aufzugeben war er aber keineswegs gewillt; er sprach mit geringschätzigem Tone: »Freund Gerber! Dein Vorschlag mag gut gemeint sein, dahinter aber ist nicht viel; ich bin mit alten Stammgästen dieses und anderer Täler zusammen gekommen, die ein gar trübselig Liedel sangen von den offenen Türen und Herzen der Gebirgseinschichten!«

Dieser Schlag nach dem Gerber sollte dem alten Bummler den Stand der Dinge zeigen, denn er konnte nur dann treffen und wirken, wenn der Respekt vor seiner Terrainkenntnis und seine Autorität die des Gerbers überwog; er schien insofern getroffen zu haben, als die beiden jungen Burschen sich mit gespannter Erwartung nach dem Gerber wandten.

Dessen Antwort fiel kurz aus; sie bestand in der trockenen an den Tischler gerichteten Frage: »Warst du oben?«

»Nein! Das nicht – aber –«

»Lass nur!« unterbrach ihn der Gerber lächelnd, »es ist erlogen, mit Gunst, was du da vorgebracht hast; denn glaube mir, der ich den Weg nicht einmal gemacht, es ist ein Stück Arbeit, ihn zu gehen, und Arbeit, mein Lieber, selbst lohnender, ist dasjenige nicht, was deine ›alten Stammgäste‹ suchen!«

Der Tischler biss sich in die Lippen und schwieg, die jungen Burschen aber gaben dem Gerber durch laute Akklamation ihren Beifall und ihre Zustimmung zu diesem Vorschlage kund.

Dieser aber schien die Sache hiermit noch keineswegs für abgemacht zu halten, denn er sprach, zu dem Tischler gewandt, also weiter: »Von dir nicht zu reden, Bruderherz, mein' ich, kann es für jeden dieser zwei jungen Kerle nur ein Vergnügen sein, vom Lose – wie du es vorgeschlagen hast – für die Bergroute getroffen zu werden; denn es ist ein köstlich Wandern durch diese an Naturschönheiten reichen, leider fast gänzlich unbekannten Gebirgsgaue, und ich bin es von ganzem Herzen zufrieden, wenn mich das Los hierzu trifft; wenn du also sonst noch gewillt bist, mitzutun, so schreiten wir beide zum Werke: Kopf oder Wappen! Kopf hat den jüngeren der Burschen und das Gebirg – Wappen den andern und die Heerstraße! – Du wirfst zuerst. Hier ist ein alter Batzen, der mit mir schon zweimal als Heckpfennig Nach altem Brauche gibt nie ein Handwerksbursche auf der Wanderschaft den letzten Kreuzer aus, sondern behält ihn als »Heckenpfennig«. (Meßner) den Weg durch Tirol gemacht!« Damit reichte er dem Tischler einen der verrufenen, kupferroten schweizerischen Silbermünzen dieses Namens hin.

Die Situation war in diesem Augenblicke augenscheinlich eine andere, und der Viertangekommene offenbar der Leiter der kleinen Bettelgesellschaft geworden; davon zeugte ebenso wohl der abermalige einverstandene klingende Zuruf des jungen Burschenpaares als die Widerstandslosigkeit, mit der der alte Fechter den dargebotenen Heckpfennig entgegennahm und mit einem dumpfen, »es sei!«, in die Höhe schnellte.

Der leichte Batzen fiel und tanzte eine Weile im Grase herum, ehe er sich auf eine Seite legte; sie zeigte die abgegriffene Schrift, die bei der republikanischen Scheidemünze die Stelle des Kopfes auf dem Averse vertrat.

»Kopf!« riefen drei Stimmen zugleich.

Der Tischler musste auf die Berge.

Er sagte nichts, doch sein Blick hing finster über der ungefälligen Münze.

»Du hast gewonnen, Landsmann!« sprach der Gerber mit einem leichten Anflug von Ironie und wandte sich fragend an die jungen Burschen: »Wer von euch ist der jüngere?«

»Der Schneider, mein' ich; ich bin dreiundzwanzig«, sagte der Seiler, seinem willkommenen Partner zulächelnd.

»Ich bin erst neunzehn«, bestätigte der Mühlviertler mit einem Seufzer.

»So brechen wir auf!« sagte der Tischler kurz und sprang auf, indem er sein ›Gepäck‹ aufnahm, das er an einer Schnur über der Schulter trug und die kaum mehr oder etwas anderes als seine Reisedokumente enthalten mochte.

»Ei mit nichten! Wohin denn so früh?« meinte der Gerber, indem er sich eine frische Pfeife stopfte, »wir haben ja noch gut drei Stunden bis zum Mittag! Das wäre mir die saubere Kompagnie, die sich, auf Wochen vielleicht, zusammengetan für Freud und Leid, ohne aller andern gegenseitigen Bekanntschaft als der vom Begegnen auf der Straße her! Bleib sitzen, Tischler und lass' uns ein Stündchen verplauschen! Wir müssen uns einander wenigstens so weit kennen lernen, um, wenn wir allerweile zusammenkommen, auch andere Berührungspunkte im Gespräche zu haben als die alltäglichen von Wetter und ›Geschäft‹; lasst uns einander mitteilen von unseren Schicksalen, was leicht gesagt werden kann; es schwatzt sich gar so gut in der Fremde von der Heimat, in der wohl jeder was Liebes rückgelassen hat, dessen er gerne gedenkt! Fang an, Tischler, du bist der älteste!«

Auch dieser Vorschlag wurde mit Freuden angenommen, selbst von dem Tischler, der dem Gerber leise zunickte und dann eine Weile nachdenklich vor sich nieder sah, als ob es ihm mühsam erginge, lang begrabene Erinnerungen zu wecken. Endlich begann er:

»Ich bin ein sogenannter Seestädter und in Wismar daheim, wenn ich den Ort, wo ich geboren wurde, deshalb so nennen darf; denn bald nach meiner Geburt wurde ich durch den Tod meiner Mutter eine Waise. Ich wuchs im Waisenhause auf, ward, als ich groß und stark genug dazu war, in die Lehre getan und nach den fünf üblichen Jahren frei. – Das ist schon lange her – an Trinitatis Am Dreifaltigkeitssonntage waren es zweiundzwanzig Jahre.« Er hielt inne, als ob er auserzählt hätte, aber sein trauriger Blick, der matt niederglitt an seinem kümmerlich bedeckten Leibe, der nahm das Wort an seiner Statt und erzählte, wie es damals gar wohl und gut bestellt war um seinen Eigner, der, ein helles Bild im Herzen, rüstig schaffte in der freundlichen Fremde und emsig Stein auf Stein trug zu einem wonniglichen Hoffnungsbaue, bis – bis –

Er begann selbst wieder zu erzählen: »Nach vier Jahren voll arbeitsamen Schaffens und Sparens kehrte ich wieder heim nach Wismar, wo mein Schatz in Lieb' und Treuen meiner harrte – ja, in Lieb' und Treuen! – Ich hatt' ein goldenes Ringlein mitgebracht mit schwereren, kostbareren Ketten und Spangen – ich ließ zur Nacht das arme Ringlein fallen in die tiefe, brausende See und nicht das Ringlein nur – mich auch! Doch sank ich langsamer, viel langsamer unter als der goldene Reif und – noch bin ich nicht auf dem Grunde!« So sprach der alte Landstreicher mit tiefer, hohler Stimme, das erdfahle Antlitz stier zu Boden gewandt, in kurzen, von schweren Seufzern unterbrochenen Sätzen, die seinen von mitleidigen Schauern ergriffenen Zuhörern wie das Rollen der Wogen vorkamen, die den Unglückseligen trieben, hoben und zogen – hinab.

»Die alte Geschichte!« flüsterte endlich der Gerber, düster vor sich hinblickend; die jungen Burschen schwiegen und beschäftigten sich mit ihren Pfeifen, die ihnen beiden ausgegangen waren.

»Die alte Geschichte!« wiederholte der Gerber mit einem mitleidigen Blicke auf die verkommene Leidensgestalt des alten Gesellen; dann schüttelte er sich und rief: »Alloh! Der zweite heran, der ein lustiges Liedel pfeift, du, Seiler!«

Der junge Bursche lächelte verschämt und sagte treuherzig: »Ne! Trauriges wüsst' ich mein Seel' nichts zu erzählen, als dass ich kein Vater und keine Mutter und niemand nicht haben tu und dass ich in Schwäbisch-Hall am Kocher auf die Welt gekommen bin, wessenthalben mich die Leute alleweil ein' dummen Schab heißen, und ich kann doch nichts davor! Aber Lustiges weiß ich auch nichts, als dass ich erst dreiundzwanzig Jahre alt bin, und – sonsten weiß ich aber auch mein Seel' nichts mehr!«

Der helle Blick, den er nach diesen kindlich naiven Enthüllungen über sein armes, reiches Leben zu seinen Zuhörern aufschlug, schreckte jedoch von dem finsteren, neidisch verzerrten Gesichte des Tischlers zurück, glitt rasch über das ausdruckslose des Mühlviertlers und blieb erst an dem freundlich schauenden des Gerbers rastend haften, der lächelnd sprach: »Behüte dich der liebe Himmel fürder, du ehrliches Schwabenherz, dass du je was anders, im Schlimmen wie im Guten zu ›verzählen‹ kriegst! Und was ist's mit dir, mein Schneiderlein?«

»Hm, mit mir? Na, viel Besond'res weiß ich grad auch nicht, als dass ich gar viel geflennt hab', als ich in die Fremde musst' – ja musst', weil's der Vater nicht anders haben wollt', und eh' meine drei Wanderjahr' nicht vorbei sind auf die letzte Stund', eh' dürft' ich nicht wiederkommen, meint' er; und als ich vollends hinter Lambach kein' blauen Fürfleck Die Nationaltracht der Mühlviertler besteht außer den allerwärts gebräuchlichen Kleidungsstücken in einer kurzen blauen Schürze (Vor-, Fürfleck) und schwarzer Schlafhaube. (Meßner) und keine schwarze Schlafhaube mehr sah, da ging's Flennen erst recht an. Aber jetzt hab' ich's doch schon gewöhnt in der Fremd' und in ein' Jahr geh' ich heim ins liebe Mühlviertel, übernehm' die Wirtschaft meiner Alten und werde Meister und mache Janker (Jacken) und Hosen und –«

»Ehrst Vater und Mutter im Ausgedingstübel, auf dass du lange lebest und es dir wohl ergehe auf Erden!« unterbrach der Gerber lachend die Schilderung des zukünftigen Stilllebens des bescheidenen Schneiders. – »Bei meinem Bart! Wie seid ihr alle drei doch fertige Leute! Der arme Tischler weiß, dass er endlich doch ›auf den Grund kommt‹, der Seiler hat es so gewiss, als er ein ›dummer Schwab‹ bleibt, dass er alle Jahr' um eins älter wird, und auf den Schneider warten mit offenen Armen Vater und Mutter, Wirtschaft, Meisterrecht und die Hölle Der Raum unter dem Tische der Schneider, in welchen der auf dem Tische Sitzende die Beine streckt. – ich meine die unterm Werktisch – daheim – aber ich?«

Er legte den Kopf sinnend in die hohle Hand und begann, ohne aufzuschauen, und bloß durch das beredte Schweigen seines aufmerksamen Auditoriums aufgefordert, mit eigentümlich scharfem, fast ironischem Tone also: »Bin auch geboren, wie ihr seht, und seit dem Tage – ein 5. April war's – etliche dreißig Jahre alt und lang geworden. Es müssen die Lerchen an dem Tage besonders gut aufgelegt gewesen sein und die Finken geschlagen haben, was das Zeug hielt – weiß Gott, ich höre sie immer singen und schlagen und nicht, wie sie's für anderer Leute Ohren produzieren, mit Getriller und Pinkpink, nein, mit Text, mit leibhaftigen Worten: ›Auf! Uns nach!‹ rufen sie, ›hinaus – hinauf‹! Wohin, weiß der Himmel! Aber ich horche ihren Worten, wie das Kind dem Wiegenliede lauscht, und folge ihrem Lockruf, wie jenes dem seiner Gespielen! Hm – ist mir spaßig ergangen damit, recht spaßig. Zuerst hab' ich studiert –«

»Ich ha'n mir's denkt!« flüsterte der Seiler.

Der Erzähler sah nicht auf: – »ein hübsch paar Jahre; hatt' den Kopf voll lateinischem, griechischem und anderem Teufelszeuge – da hört' ich sie verlockend singen und schlagen – ich warf die Bücher von mir und zog ihnen nach. – Dann wurde ich Soldat –«

»Das dacht' ich mir!« brummte der Tischler in sich hinein, indem er die schlanke, sehnige Gestalt des Gerbers maß.

»– abermals ein hübsch paar Jahre«, fuhr dieser ruhig fort; »ich war dabei – sine ira et studio, wie der Lateiner sagt, auf Deutsch: nicht kalt, nicht warm und blieb dabei, bis ich sie abermals singen und schlagen hörte; patsch, warf ich den Säbel von mir und –«

»Ja, konntest du?« – fragte der Seiler schüchtern.

Der Gerber sah ihn verwundert an. »Ich wollte!« sagte er ernst. »Dann versuchte ich – dies und das; 's wollte nichts recht flecken, denn wie ich wo warm zu werden anfing, hoben auch die ihr Singen und Schlagen wieder an und aus war's. Da wurden denn nun meine Alten zuerst verzagt, dann böse über mich – sie glaubten mir's nicht, wenn ich's ihnen sagte, warum ich's nicht aushalten könne auf einem Fleck, und schalten mich einen Träumer, einen Narren – einen Lumpen! – Das focht mich nun zwar wenig an, aber von Stund' an sinniert' ich, spintisiert' ich Tag und Nacht, ob's denn auf der weiten, närrischen Welt gar keinen Stand gebe, dem man angehören könne als Träumer, Narr und Lump, und bei dem es nichts verschlüge, ob und wann immer die alten Kameraden ihren Lockruf erhöben. Da schlug's in mich wie ein Blitz: Handwerksbursch' wirst du! – und ich ward's!«

In den Gesichtern der drei Burschen zuckte keine Miene; in ernstem, feierlichem Schweigen sahen sie zu dem so kunstlos beredten jungen Mann auf, der ihnen mit förmlicher Prophetenwürde das Evangelium des echten Handwerksburschentums verkündete, dessen Urwesen, der Wandertrieb, derselbe Himmel in das Herz mancher Menschen gelegt, der dem Zugvogel gebot, heimatlos und ohne Rast über die grüne Erde zu schweifen.

Und sie wagten und versuchten ein Lächeln erst, als der Gerber also fortfuhr: »Und weil mir meine Alten schon lange nicht mehr grün waren von wegen des Mangels an Sitzfleisch, so tat ich mich nach andern Zugehörigen um und ging unter die sogenannten guten Kerle – eine großmächtige Familie, weit ausgedehnt durch alle Stände und über alle Länder der Erde. Nahmen mich willig und freundlich auf, die guten Kerle, aber gebracht hab' ich's zu nichts in der Welt, wie die meisten von ihnen. ›Hinaus‹ – bin ich, rechtschaffen weit, aber ›hinauf‹ wie die Vögel riefen, hinauf ging's und geht's nicht. Na, ich reiße mir drum den Kopf nicht ab, ich denke mir die Menschen hier auf der miserablen Erde in zwei Reihen, wie bei einer Löschanstalt, angestellt, die eine, mit leeren Eimern oder Beuteln, hinab, die andere, mit den vollen, hinauf, und mich – hat's halt zu der ersten Reihe getroffen!«

Mit dieser kleinen Probe seiner philosophischen Lebensanschauung, deren Klarheit und Bündigkeit nur von der ihr folgenden Resignation übertroffen wurde, beschloss der Gerber die gedrängte Erzählung seines Lebens, von dessen poetischen und prosaischen Konflikten und Stürmen indes die drei tiefen Furchen seiner markierten hohen, fast kahlen Stirne ungleich mehr verrieten.

Doch der Mann schien nicht geneigt, mehr zu wecken von dem, was hinter jenen Falten lag, als was er eben geboten in eigentümlich kaustischer Rede; ob darum, weil er es für genügend hielt, seinen Kameraden einen kurzen, ahnenden Blick nach dem hellen, unverlöschbaren Feuerzeichen werfen zu lassen, das Gott auf seine Stirne gedrückt – den Stempel des Genies und dessen Fluch – oder weil es ein trauriges, schmerzhaftes war?

Er sprach nichts weiter, nahm Ranzen und Stock auf und erhob sich zum Weitermarsche.

Seine drei Gefährten taten fügsam und schweigend desgleichen; gepaart, wie das Los gefallen, schritten sie langsam über den grünen Anger hin: doch während das hintere Paar, der Tischler kalkulierend, der Mühlviertler gedankenlos, in die Ferne schauten, leuchtete aus den treuen Augen des jungen Seilers der helle Strahl des Vertrauens und des Stolzes seinem Gefährten entgegen, der, raschen Schrittes vorschreitend, wohl nicht ahnen mochte, dass sich in diesem Augenblicke eine Seele zu Wohl und Wehe in seine Hand gelegt, eine arme, ehrliche Schwabenseele. –

Nach kurzem Wandern kamen sie an eine Schleusenbrücke, deren erste Geländersäule eine Tafel mit der Inschrift: Herzogtum Kärnten – Kreis Villach – Amt Greifenberg trug.

Hier machte der Gerber halt und rief: »Wir sind an der Grenze – hier lasst uns scheiden! B'hüt Gott, Kameraden und grüßt mir die grünen Almhöhen! Denk' daran, Tischler, dass ich dir gesagt, du werdest es nicht bereuen, den steilen Weg gemacht zu haben. Erzähle den guten Leuten oben ein wenig, wie es aussieht draußen in der närrischen Welt, die der Wahnsinn und die Zwietracht regieren von der Eider bis weit hinter die Tiber hinab zum tyrrhenischen Meere und von der Seine bis zur Weichsel; wie allüberall dort der grimme Schlachtentod blutige Ernte hält, dieweil die guten Almbauern droben sich begnügen, ihre Sensen durch dürres Maisstroh fahren zu lassen und unempfindliche Kohlköpfe abzusäbeln. Lüg' sie ein wenig an, wenn dir der Faden ausgeht, 's geht denen draußen auch nicht besser! Halt den Schneider brav zur Arbeit an, und – und so weiter!«

Er reichte den beiden die Hand und – »Halt, noch etwas!« rief er plötzlich lustig auf; »Bruder Schneider, es steht geschrieben, dass jeder ehrliche Christenmensch die Blößen seines Bruders verdecken möge nach Tunlichkeit und Kraft – darum denke ich, warum sollst du bei jedem Begegnen vor unserem Anruf »Schneider!« erröten müssen, da es gewisslich selbst im ›buckligen‹ Mühlviertel Christenbrach ist, jedwedem Menschenkind einen Stiel zum Anfassen – vulgo einen Namen anzuheften bei dem ersten kalten Bade des Lebens! Sprich, Schneider, auf welchen Namen hörst du sonst?«

Der Tischler schmunzelte, der Seiler lachte, der Schneider aber sagte kleinlaut: »Stephan heiß' ich – Stephan Fasching!«

»Oh, Stephan Fasching! Ein pompöser Name!« scherzte der Gerber mit einem tiefen Kompliment. »Glück auf den Weg also, Brüder, und fröhlich Wiedersehen übermorgen am Abend in der Herberge zu Bruneck!«

Er ließ, den Hut schwenkend, die Kontributoren Die von den Gebirgsbewohnern Tribut (hier Almosen) einhebenden Gefährten. des Gebirges an sich vorüber und rechts steigend wandern, dann legte er seinen Arm in den des Seilers, und sie gingen über die Brücke, an deren letzten Pfeilerpfosten zu lesen war:

Gefürstete Grafschaft Tirol An dem Eisack und im Pustertale.


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