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Keinem hat's den Schlaf vertrieben,
dass ich am Morgen weiter geh';
sie konnten's halten nach Belieben –
von einer aber tut mir's weh!
L. Uhland.
Jeder Handwerker, selbst der faulste, wird es erfahren haben, wie langweilig und eklig mehrere nacheinander kommende Feiertage sind, wie man sich förmlich sehnt nach der Wiederkehr der Arbeit und wie freudig und eifrig man dann an selbe geht.
Diese Erscheinung hat ihren Grund weniger in dem Mangel an Geldmitteln, die Feierzeit gehörig totzuschlagen, als in der Gewohnheit, der zweiten und manchmal stärkeren Natur des Menschen als seine erste.
So ging es auch den Gesellen des Gerbers Unterberger Stuffers zu Brixen – mit Ausnahme Heckers, der diese Nacht außerordentlich lang geschwärmt hatte, als Dienstag früh der Wecker und darauf die Stimme des Altgesellen ein hallendes »Auf, zur Arbeit!« rief.
Sie sprangen auf und fünf Minuten darauf – in Werkstattgewand schlüpft sich's leicht – rumorte es bereits unten in der hell erleuchteten Werkstatt laut und eifrig, was das Zeug hielt.
Eine gute Stunde mochte vergangen sein, während die vier Gesellen einander die kleinen Abenteuer dieser Feiertage erzählten, die durch ihre Länge und ihre landesübliche, kostspielige Begehungsweise den kleinen Kapitalien der Gesellen gar empfindliche Schläge zugefügt.
Es verlief eine zweite Stunde – die Frühstücksglocke rührte keine Zunge.
Der Altgeselle, ein griesgrämiger, schweigsamer Mann, er war in Hohenstadt in Mähren daheim, sah bedenklich nach dem Himmel und fragte: »Die Uhr ist doch recht gegangen?«
»Ganz recht! Ich habe sie gestern selbst aufgezogen!« sagte der Hecker leicht.
Die Gesellen arbeiteten schweigend fort. Das leise Gezische der Eisen auf den starren Häuten dünkte Hecker wie das höhnende Gelächter kleiner, böser Geister über die genarrten, um den Schlaf betrogenen Gesellen.
Endlich – es mochte bereits wieder eine Stunde vergangen sein – legte der Altgeselle das Schabeisen ernst auf den Baum und verließ die Werkstelle, um nachzusehen, was heute die Frühstücksstunde so auffallend aufschiebe.
Der Hecker glaubte ein leises Gekicher hinter sich zu hören, er wandte sich rasch um – der Weißenhahn stand an der Pumpe und hielt sich den Bauch.
Hecker verlor kein Wort an den Jungen, aber er versetzte ihm einen kräftigen Schlag, der ihn zu Boden streckte, und kehrte, als wäre nichts geschehen, zu seinem Baume zurück, um wieder fortzuschaben.
Doch das sollte nicht lange dauern.
Der Altgeselle kam zornbleich mit der Nachricht zurück, dass es noch stockfinstere Nacht draußen und im ganzen Hause außer ihnen keine lebendige Seele wach sei.
Ein Schrei der Entrüstung schlug gellend an die Gewölbedecke der Werkstätte, sämtliche Hände feierten und aller Augen richteten sich nach dem Altgesellen, der zornfunkelnden Blickes nach den Lehrbuben starrte. Diese mussten die Verbrecher sein.
Doch wer beschreibt das Erstaunen der Gesellen, als der Hecker langsam sein Eisen in das Leimleder warf, aus dem Schutzgestelle, in dem die Lederarbeiter stehen, heraustrat und laut rief: »Ich hab's getan, Hohenstädter! Die Buben sind unschuldig!«
»Hecker, du? Und aus welcher Ursache?«
»Ihr wisst, Kameraden!« sprach der Besagte hervortretend, »dass ich schon vor den Feiertagen die Arbeit verlassen wollte. Der Meister und ihr selbst wolltet es nicht haben – nun, es blieb mir kein anderes Mittel übrig, als mich in der Werkstätte unmöglich zu machen! Das hab' ich hiermit getan. Ich habe gestern den Wecker auf ein Uhr gerichtet – ich hoffe, ihr werdet nicht mehr arbeiten mit mir, nachdem ich euch das geboten!«
Die Gesellen sahen einander eine gute Weile schweigend und fragend an, dann entschied der Areopag einstimmig also: »Der Meister muss ihn gehen lassen!«
Dieser Ausspruch bewegte und rührte Hecker aufs Tiefste. Er kannte wie einer, was in solchen Fällen überall für gerecht befunden worden und geschehen wäre, und hatte sich auf eine heiße Attacke gefasst gemacht, obwohl er wusste, dass ihm seine Nebengesellen gut waren.
Dass dies aber in einem hohen Grade der Fall wäre, dass sie diesen Frevel an der ›Gesellschaft‹, der einen Schlag ins Gesicht an Kühnheit bei Weitem überbot, also hinnahmen, das ergriff ihn so mächtig, ihn, der sonst derlei Manifestationen als selbstverständlich und als einen ihm gebührenden Tribut hinnahm, dass er, die Hände aufs Herz gelegt, sich tief vor den Gesellen neigte und mit weichem Tone sprach: »Ich wusste mir nicht anders zu helfen, Brüder, und bitt euch, mir zu verzeihen. Ich verlasse heute noch das Haus!«
Die Gesellen sprachen nichts, sie blickten ihn traurig an und boten ihm die Hände.
Er ging, sein Ränzel zu schnüren.
Die Gesellen saßen beim Frühstück. – Der Meister wusste bereits, was geschehen war, da tat sich die Stubentüre langsam auf, und Hecker trat ein.
Er sah bleich aus, und seine Stimme zitterte, als er den Spruch hersagte, mit dem der Geselle vom Meister Abschied nimmt.
Der Meister sah ihn nicht an und reichte ihm schweigend die Hand.
Der Alte, die Meisterin und die Kinder waren nicht da. Hecker bat, sie alle von ihm herzlich zu grüßen, trat dann vor die Gesellen und sprach in dem herkömmlichen, halb singenden Tone: »Mit Gunst, Gesellen! Sag' euch geziemenden Dank für freundliche Aufnahm' und gute Kameradschaft und alles, was ihr an mir getan habt. Sollt' heut oder morgen einer von euch zu mir kommen, so will ich an ihm tun, wie ihr an mir getan.«
»Spar' deine Wort', Gesellschaft«, gab der Altgesell im Namen der anderen zur Antwort, »und denk, 's ist gern geschehn.« – Er sagte seinen Spruch nicht weiter her, aber indem er ihm die Hand reichte, sprach er: »B'hüt Gott, Hecker! 's ist alles gut zwischen uns. Du warst uns allen ein lieber Kamerad! Glück zu!« Mit »Glück zu« grüßen die Gerber, Kupferschmiede und Hutmacher. (Meßner)
Jetzt trat der Meister vor und rief: »Bleib, Hecker! Die Gesellen haben dir dein Stückl verziehen – musst du denn gehen?«
»Ich muss!« sagte der Hecker bestimmt, rief allen noch ein herzliches »Glück zu« zu und verließ das Haus.
»Ei, Gerber! Nicht möglich! Was ist geschehen?« rief die Herbergsmutter verwundert, als er marschfertig als ›fremd‹ bei ihr eintrat, um, bevor er den Seiler holte, das Ränzel abzulegen und eine kleine Stärkung einzunehmen.
»Was wird denn geschehen sein? Fremd bin ich!«
»Ei du Liebe Gottes! Saß gestern noch ganz lustig und fidel unter den Burschen da!«
»Ja, Mutter! Das war gestern, gut Rat kommt über Nacht!«
»I Blitz, gut Rat? Dass nur der Hecker nicht einmal noch leidlich an die Unterberger Werkstatt denkt! Und was wird denn die Sybilla sagen?«
»Hm! Adieu wird sie sagen, wenn sie so gut erzogen ist, wie es scheint!«
»I verdunnerter Hecke!« rief die Wirtin kopfschüttelnd und ging nach Weine.
»Merkwürdig! Wenn das, was niemandem recht ist, Unrecht ist, so hab' ich jedenfalls unrecht oder kein Recht, fortzugehen, wenn ich will – das bitt' ich mir aus!« brummte der Gerber, warf seine Rolle auf eine Bank und ging mit großen Schritten in der Stube auf und ab, um nachzudenken, wie allen Chancen, die sich etwa für das Hierbleiben des Seilers ergeben sollten, wirksam begegnet werden könne.
Er stürzte den Wein rasch hinunter und machte sich auf den Weg.
Die Witfrau empfing den Freund ihres Ketzers kalt und zurückhaltend. »Der Gesell«, nicht einmal Fritz sagte sie mehr, »der Geselle hechelt nebenan!« sie wies auf die Kammertüre.
Hecker schien dies gespreizte Benehmen ebenso sehr nach seinem Geschmacke als nach seinem Wunsche zu finden. Er lachte vergnüglich in sich hinein, als er in die Kammer trat, und rief dem Schwaben, der traurig an einem Hechelkamme lehnte, schon unter der Türe zu: »Feierabend, Fritz! Ich bin ›fremd‹.«
Der Seiler ließ den Hanfschnalz, den er in der Hand hielt, fallen und band die Schürze los. »Komm!« sagte er dann und schritt dem verwundert schauenden Gerber voran in das Zimmer seiner Herrin, die nicht hätte vom ›Handwerk‹ sein müssen, wenn sie nicht schon beim Eintreten des Gerbers gewusst hätte, was da kommen würde.
Sie nahm die Aufkündigung ihres Gesellen kalt und mit Würde entgegen und sprach die Hoffnung aus, dass er sie nicht ›ausrichten‹ werde in der Fremde, was der Schwabe fast weinend gelobte. Endlich bat sie ihn, ehe er ginge, noch auf einen Sprung hereinzukommen.
Bisher hatte sich der Seiler ziemlich zur Zufriedenheit seines Kameraden aufgeführt. Als sie aber in das kleine Gesellenstübchen kamen, in dem Fritz so süße, minnigliche Träume geträumt, da warf er sich laut schluchzend auf das Bett, und sein tiefes, schweres Liebesleid tat sich kund durch heißes, bitteres Weinen.
Der Gerber sah nachdenklich nach ihm hin. Ihm fing zu bangen an um seine Marschgesellschaft. Der eigentümliche, höhnische Zug um seinen Mund erschien wieder, und er sprach leise: »Wenn ich den anschaue, so weiß ich, dass ich wirklich niemanden liebe – nicht einmal mich! – Armer Teufel! Wie er da weint? Wenn er nun noch den ›Sprung‹ zu der schönen Judith macht, allein, ohne meinen Beistand, so wird er ein Feueranbeter, wenn sie's verlangt!«
Übrigens ließ er dem armen Schwaben genügend Zeit, sich auszuweinen, lehnte sich ins Fenster und sah aufmerksam nach dem Dachfirste hin, auf dem sich ein zwitscherndes Spatzenpaar, unbekümmert um die unter ihnen rumorende Welt und den über ihnen blinkenden, hellen Mittagshimmel, mit den unanständigsten Späßen die Zeit vertrieb.
Endlich – der Seiler machte noch immer keine Miene, sich einer anderen, nützlicheren Beschäftigung zuzuwenden, als bitterlichem, monotonem Weinen – ward es ihm zu viel, und er erklärte, dass er gewillt sei, wenn er schon warten müsse, dies an einem anderen, erquicklicherem Orte zu tun, als welchen er die Herberge an der Eisackbrücke angab. »Doch werde ich dich recht sehr bitten«, sagte er im Gehen, »es zu versuchen, ob sich Weinen und Bündelschnüren nicht vereinigen lassen – dann, wenn du den Sprung zur Frau Judith machst, kurz und bündig zu sein – langes Ade tut hundertfach weh – und kurz, mich nicht lange allein sitzen lassen. Bis Klausen dürften wir heut noch spielend kommen. Wenn es geht, nehmen wir dort den Schneider mit, obwohl nicht viel an ihm ist, wie ich meine!«
Der Seiler nickte ihm zustimmend zu, und er ging.
Der gute Bursche schritt nun auch wirklich zu der härtesten Arbeit seines Lebens – seine Rolle zu packen! Es war ihm, als grabe er sein Grab!
Als er fertig war damit und sie umhing, wollte ihm das Herz brechen. »Der Hecker hat recht, langes Ade tut hundert Mal weh! Fort also, mit Gott!« rief er wehmütig, warf noch einen raschen Blick voll Liebe durch das Kämmerlein, das nun beziehbar wurde für einen anderen, rechtgläubigen Seilergesellen, und wankte über die Treppe hinab.
Jetzt kam der ›Sprung‹.
Als er die Türe leise aufklinkte, sah er auf den ersten Blick, dass auch die Witwe sich indes die Zeit auf eine ähnliche Art vertrieben habe wie er. Er fand sie, was man sagt, in Tränen gebadet oder schwimmend.
Als er eintrat, empfing ihn der laute Jammerruf: »Ach, Fritz, wenn du es nur gleich gesagt hättest!«
Konnte es ihm die ›schlaue Witwe‹ deutlicher sagen, dass sie ihn noch immer und trotz allem liebe und dass die Herzenswunde, die ihr sein Ketzertum geschlagen, eine unheilbare sei? Durfte sie ihm um ein Jota mehr sagen, wenn sie nicht ihres Seelenheiles unwiderruflich verlustig gehen wollte?
Kein anderer als ein Schwabe hätte dies verkannt, und kein anderer hätte darauf geantwortet, was der unsere:
»Oh! Frau Meisterin!«
Das war alles, was er sagte, und als sie ihn darauf lang und innig anschaute mit ihren schönen, dunklen, ach, jetzt so trüben, verweinten Augen, senkte er seinen Blick scheu zur Erde, und als sie ihm die volle weiße Hand bot, wusste er denn, ob zum Abschiede? – beugte er sich schluchzend darüber nieder und ließ eine heiße Träne darauf fallen, und dann fand er sich plötzlich, ohne zu wissen wie, auf der Gasse, bereits weitab von dem Hause der Witfrau.
Der Hecker schlug einen Heidenrandal, als die trübselige Gestalt des Schwaben in der Herbergstüre erschien.
»Nun? Der Sprung vorüber? Glücklich abgelaufen?« fragte er in offenbarer Weinlaune. »Nun, gehen wir heut noch weiter, Fritz?«
»Ich – ich möchte mich am liebsten schlafen legen!« sagte der Seiler traurig und müde.
»Ho – ich dachte gar sterben! Na, meinethalben, schlafe dich aus, und morgen in frischer Frühe brechen wir auf nach Bozen!«
»Nach Bozen? Und von da?«
»Nu – weiter! Nach Meran, ins Vintschgau, nach Bayern und so fort. 's führen ja alle Wege nach Rom! – Nun lass uns aber ein ehrliches Valet trinken, Bruderherz, auf das Andenken von Brixen!«
Diesmal stieß der Seiler herzhaft an, dass es weithin klang, erhob das Glas hoch, und seine Lippen bebten, als flüsterten sie einen heimlichen Toast. – Dann trank er es rasch aus.
Der Gerber lächelte über diesen Trauergottesdienst seines verliebten Freundes, doch sagte er nichts.
Er ging bald darauf, wie er sagte, von Sybille Abschied zu nehmen.
Der Schwabe, den das laute, geräuschvolle Treiben der Schenke qualvoll anwiderte, ließ sich bald auf das Zimmer führen, das ihn und seinen Kameraden zum letzten Male beherbergen sollte in der Bischofsstadt, und tat, als ob er schlafen wolle.
Der Gerber kam spät in der Nacht. Fritz war noch auf.
»Nun, wie hast du dich von der schönen Sybille beurlaubt?«
»Hm, gut! – Ich sagte: ›Leb' wohl, Kind, ich gehe!‹ und sie sagte: ›Wirklich?‹«
»Wie und sonst nichts?«
»Sonst nichts, fragt der Narr. Was denn noch sonst? – Hast du schon dein Lebtag einmal so ein ›wirklich‹ gehört? Gewiss nicht. O, es liegt eine Welt von Gedanken in sie einem ›wirklich‹!« Der Ton, mit dem er dies sprach, klang hohl, unheimlich und wild.
Der Seiler fragte nicht weiter, und bald darauf wurde es stille in dem Zimmer, beide schienen zu schlafen.
Mit dem Morgengrauen des anderen Tages brachen sie auf.
Sie mussten an dem Hause Sybillens vorüber.
Der Gerber hielt an daselbst und warf einen seltsamen, glühenden Blick nach den Fenstern empor, hinter denen sie schlief.
»Muss ihr doch ein kleines Stammblatt hinterlassen!« sagte er, an die weiß angestrichenen Taverntüre tretend, zog einen Bleistift hervor und schrieb auf einem Flügel mit großen, scharfen Zügen hin:
›– Keinem hat's den Schlaf vertrieben,
dass ich am Morgen weiter geh';
sie konnten's halten nach Belieben,
von einer aber tut mir's weh'!‹
So, schlaf wohl, Sybille! Allons! Nach Bozen!« rief er, warf den Stift zu Boden und zog den Seiler rasch mit sich fort.