Max Messer
Wiener Bummelgeschichten
Max Messer

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Rendezvous!

Endlich raffte ich mich auf. Ich schrieb ihr:

»Verehrtes Fräulein! Es ist schon länger als ein Jahr her, dass wir beisammen waren. Aber Sie erinnern sich gewiss noch an mich. Werden Sie es auch nur mit einem kleinen Theil jener Gefühle thun, die jetzt in mir leben, da ich Ihnen schreibe? Meine Sehnsucht sagt mir zu dieser Frage: ja. Meine Sehnsucht aber – wir waren ja damals auch aufrichtig miteinander – will mehr als die Erinnerungen, sie will – ich hasse alle Umschweife – ein Wiedersehen, französisch und deutlicher ausgedrückt: ein Rendezvous!

90 Liebes Fräulein Helene, erschrecken Sie nicht, zerreißen Sie den Brief nicht, besudeln Sie mein Angedenken nicht in Ihrer Seele – ich bitte um ein Rendezvous. Da ich es aber wirklich nicht bloß als poetische Figur will, so muss ich aus der hohen Region, in der mein Herz in diesem Moment zittert, zu der Prosa der Wiener Straßen- oder Parknamen herabsteigen. Nicht wahr, ein Park ist schöner, einsamer, poetischer?! Sie wohnen in Döbling, also sei es der Türkenschanzpark – – – Morgen um elf Uhr vormittags erwartet Sie dort Ihr Sie innig verehrender Edi H . . . . .«

Diesen Brief schrieb ich ihr in aller Eile. Bevor ich ihn jedoch aufgab, fiel mir ein schweres Bedenken ein. Ja, wird sie ihn auch erhalten? Wenn man ihn unterschlägt? Wozu sollte ich die Arme compromittieren! Ich zerriss also das Couvert, dessen kühn geschwungene Adresse sicher ihrer Mama aufgefallen wäre, und beschloss, gleich jetzt zu einer meiner vielen Freundinnen zu gehen, um dem Brief eine neue Adresse mit weiblichen Schriftzügen zu geben. Für alle Fälle mussten aber die neugierige Mutter oder der eifersüchtige Papa 91 für die eventuelle Verletzung des Briefgeheimnisses gestraft werden. Ich fügte demnach ein Postscriptum folgenden Wortlautes bei: »An die auch verehrten P. T. Eltern! Ich bin jung, wie man behauptet, auch schön, bin vollkommen gesund und habe ein jährliches Einkommen von 3400 fl. Sie können also mir und Ihrer lieben Tochter das Vergnügen gönnen.«

Dieses Postscriptum war heiter und ernst gemeint. Heiter für den Fall, dass die Eltern Helenens sich ärgerten und ihr das Rendezvous verboten, ernst für den Fall, dass sie als praktische Leute an die Zukunft ihrer Tochter dachten. – – –

Ich hatte Helene vor einem Jahre bei meinem Sommeraufenthalte in Weidling bei Wien kennen gelernt. Eines Tages im August kam zu meiner Nachbarin ein junges Mädchen, wurde mir als ihre Nichte vorgestellt. Sie bliebe zwei Tage zu Besuch . . . . Den ganzen Sommer über war ich traurig und einsam gewesen. Etwas wie eine unglückliche Liebe hatte mich verstört, mich trübe und träge gemacht, mein heiteres und launiges Wesen geändert. Da kam dieses junge, starke, blonde 92 Mädchen. Schon als ich sie zum ersten Male erblickte, spürte ich in mir, wie sich die Nebel und Schleier von meiner Seele hoben und ein blauer Himmel sich in ihr auszubreiten begann. Meine gesunde und frohe Natur wurde durch Helene wiedererweckt. An diesem ersten Tage unserer Bekanntschaft unternahmen wir in einer großen Gesellschaft einen Ausflug. Mir sind die Einzelheiten dieses Tages verschwunden. Ich weiß nur, dass ich mit Helene entweder vor oder hinter dem großen Zuge marschierte, mich zwei Mal verirrte, so dass es erst durch ein halbstündiges Brüllen von meiner Seite und von Seiten der Ausflügler wieder möglich wurde, den Leuten voran zu laufen, und dass ich in diesen paar Stunden Weges mehr sprach, als ich den ganzen Sommer über gesprochen hatte.

Hingegen ist mir der Schluss dieses Tages in unvergesslicher Erinnerung. Wir waren am Abend in einem Dorf angelangt, das ziemlich weit entfernt von Weidling lag. Man beschloss daher ein Fuhrwerk aufzutreiben.

Ein hoher Landstellwagen wurde aus irgend einem Stall herausgezogen und mit 93 einem alten tauben Knecht als Kutscher ausgerüstet. Ich und Helene, die vor Freude über diese Romantik außer Rand und Band kamen, waren so klug, während die übrigen in den Wagen stürmten, um die besten Plätze zu ergattern, uns beiseite zu halten und arglistig zu verspäten.

Schon wollte der Kutscher losknallen, als wir, scheinbar sehr bestürzt, keinen Platz mehr zu finden, hervorstürzten. Da man im Wagen nicht mehr enger zusammenrücken konnte und wir doch schon ein bisschen zu alt waren, um auf dem Schoß anderer Platz zu nehmen, acceptierte alles freudig und ohne Verdacht den Vorschlag des tauben, aber wie er jetzt bewies, feinsinnigen Kutschers: »Kummen's nur auffi auf'n Bock, Gnö Herr und Fräul'n!«

Innerlich jubelnd und äußerlich verlegen, ceremoniös, nahmen wir nach einem kurzen Zaudern und nachdem wir uns fest angeschaut hatten, das Anerbieten an. Die blonde, wie ein Bursche kräftige und gelenkige Helene sprang auf das hohe Rad und kletterte auf das Dach des Wagens. Ich, ihre Grazie, Geschicklichkeit und schönen Füße bewundernd, humpelte nach, gelangte mit Mühe und Gefahr, da ich in 94 diesem kostbaren Moment nicht nur auf das Trittbrett schauen wollte, hinauf.

Als wir oben nebeneinander saßen, unter uns den schmutzigen Lederhut des Kutschers, den Helene voll Bosheit oder Koketterie immer mit der schönen Fußspitze verschob – und die lärmenden Freunde, deren Blicke das Dach schutzreich abhielt, vor uns die schöne Waldstraße und die in breiten, rothen Fluten untergehende Sonne, athmeten wir auf, als ob wir Lungenturnen übten. – Helene ließ bald den schmutzigen Lederhut des leider nur tauben Kutschers ruhig – und lehnte sich an mich. Meine Aufgabe bestand darin, sie zu küssen und die Zweige der Bäume, die unser hohes Dach streiften, von dem Gesicht Helenens fernzuhalten, das durch die Abendröthe und die Freude über unsere Situation hinreißend schön und verführerisch war.

Ebenso süß und rasch verlief der zweite Tag. Wir erlaubten uns schon, einen kleinen Ausflug in den an unseren Garten angrenzenden Wald allein zu unternehmen und verirrten uns gar nicht. Als wir heimkamen, waren Tante und Onkel sehr erschrocken und musterten uns mit prüfenden Blicken – konnten 95 aber nichts entdecken. Ich dachte gar nicht daran, dass wir uns morgen schon verlassen mussten. Erst als Helene mich beim »Gute Nacht« leise bat, sie zum Bahnhof zu begleiten,. wurde ich mir meines Schicksals bewusst. Ich nahm mir heilig vor, um sieben Uhr früh (dies war die verabredete Stunde) im Garten zu sein und mit Helene alles Künftige zu besprechen. Als ich den nächsten Tag erwachte, war es – neun Uhr. Ich schämte und kränkte mich tief. Die Tante richtete mir schadenfroh und doch von Sorgen erleichtert den Gruß Helenens aus.

Seit damals sah ich sie nicht wieder. Die heimtückische Tante lud Helene aus Vorsicht und Eifersucht nicht mehr ein, aufs Land zu kommen. Ich verbrachte den Rest des Sommers einsam, träge und trübe, so etwas wie eine zweite unglückliche Liebe mit mir herumschleppend. Als ich wieder in der Stadt war, dachte ich ein ganzes Jahr im Trubel der Zerstreuungen und neuen Bekanntschaften nicht an Helene. Erst vor einer Woche, ohne jede äußere Veranlassung – es war nur der Frühling wieder gekommen – erwachte in mir eine heftige und nicht einzudämmende Sehnsucht, Helene wiederzusehen. Ich wusste, dass ich 96 mich blamiert hatte und dass es ja aus sein musste, aber irgend eine geheime Hoffnung und Unruhe ließ nicht früher von mir, als ich den Brief geschrieben . . . .

Um 10 Uhr früh – am Tage des Rendezvous – machte ich mich auf den Weg zum Türkenschanzpark. Ich schritt langsam die Mariahilferstraße hinunter, in der ich damals wohnte. Je weiter ich gieng, desto mehr vergaß ich meinen eigentlichen Zweck. Ich gieng auf in der Bewunderung der Stadt, die ich noch nie in so leuchtender Frühlingsschönheit gesehen hatte. Die Mariahilferstraße, die mit dem breiten, großstädtischen Treiben und den alten, niedrigen Häusern wie ein Kind ausschaut, das die Geberden und Worte eines Erwachsenen annimmt, lag lustig, wie vom Schlaf erwacht, im klarsten Licht des Morgens da. Dann bog ich in den Burgring ein, wo ich den wunderbaren Himmel, der heute sein Vergissmeinnichtkleid angezogen hatte, begrüßte.

Die Quadermauern der Museen – links– blinkten ganz freundlich, vom Gold der Sonne aufgeheitert; der Volksgarten – rechts – erquickte meine Augen mit einem Gesprenkel 97 von hellstem, singendem Birkengrün und den stummen Farben der Tannen.

Auf einer Allee, mir gegenüber, gehen drei Mädchen mit ihrer Mutter. Sie gehen an ihrer Seite, junge, liebe, unschuldige Gesichter. Auf die Mutter fällt ein Schimmer dieser Heiterkeit und Jugend, sowie auf den Rathhausthurm, vor dem ich jetzt in wonnigem Stolz defiliere, all die Erker, Thürmchen, Fähnlein zurückwirken und ihm den schlanken, hohen und zierlichen Schein geben.

Immer langsamer wird mein Schritt, um die Herrlichkeit des Franzensringes ganz in mich zu ziehen, wo heute jedes Gebäude, jeder Thurm, jede Kuppel wie in neuer Fassung, in zweiter, verschönerter Ausgabe glänzen. Dann bleibe ich vor der Votivkirche stehen, deren Grazie und Leichtigkeit der Formen in dieser dünnen, von weißen Sonnenlichtern durchblitzten Luft unter dem Edelsteinglanz des Himmels sich zu unerhörter Schönheit steigern. Wie betend stehe ich vor ihr, demüthig dankend für die Gnade dieses Anblickes . . .

Da fällt plötzlich mein Auge auf die steinerne Thurmuhr – 11 Uhr!! – – Ich erwache bestürzt aus meinem Traume. Unter 98 bitteren Selbstvorwürfen laufe ich davon, erreiche schwitzend und auch innerlich begossen einen Tramwaywaggon und flüstere mit der letzten Kraft meiner versagenden Lungen dem Conducteur: »Türkenschanzpark« zu –

Auf dem Vehikel werde ich wieder ruhig und gerathe in den normalen Aerger, der mich jedes Mal in diesem neunten Bezirke befällt. Der Alsergrund ist der Parvenü unter den Wiener Bezirken. Er hat sehr wenig innere Berechtigung, schön zu sein, und will das in einzelnen neuen Gassen, wo er den hereinschauenden Kahlenberg schlau ausnützt, doch erzwingen.

Indem ich auf diese Weise einen anderen Gegenstand als mich selbst gefunden hatte, an dem ich mich bis zur vollkommenen Seelenruhe und Heiterkeit ausärgern konnte, beginne ich auch wieder lebhafter an Helene zu denken. Aber die alte Empfindung, die noch gestern so stark und noch heute früh lebendig in mir war, kehrt nicht zurück. Schon wieder hat der Genuss an meiner Stadt, die Freude an äußeren Schönheiten mir eine menschliche Beziehung in meiner Seele vernichtet, sich in ihr rücksichtslos breit gemacht . . .

99 Aber ich verzweifle gar nicht. – Im Gegentheil, als ich mein Vehikel verlasse und in den Türkenschanzpark eintrete, wundert und kränkt es mich sehr, dass Helene nicht schon erwartend dasteht, mit geöffneten Armen und – – Alles ist leer – –

Auf ein paar Bänken sitzen alte Weiber, Kinder spielen mit dem Sand vor ihren Füßen. Mir wird es ein bisschen bange . . . Ich gehe auf die Spitze des Hügels. Ah! – – Ah! – – Wieder wurde ich eine halbe Stunde überrumpelt und vergaß Helene, mich, Franzensring und die Menschen.

Der Himmel über mir wiegte sich im leuchtenden Blau. Am Horizont, über den weichen Linien der Berge, thürmten sich schneeweiße Wolken, die wie Tempelmauern am Eingang des Himmels standen. Zwischen den Wiesen wanden sich die Landstraßen träge hin, wie dicke, gelbe Schlangen. Der Kahlenberg, dieser älteste Bürger von Wien, stand lächelnd da, wie nach einem frischen Morgentrunk von Grinzinger Heurigem.

Die Dörfer und zahllosen Villen schmiegten sich an die grünen Flächen. Alles so fern, ländlich und doch im Leibe der Stadt! 100 Kinderstimmen jauchzten von unten her. In Pausen flötete die Amsel ihr kurzes Lied – –

Nach einem letzten tiefen Blick zum Westen auf die grüne Kette der Berge und Wiesen und zum Osten auf das leuchtende Häusermeer der Stadt verließ ich die Anhöhe und gieng träumend unten im Parke spazieren. Ich kam mir in diesem Moment, wo ungerufen eine Schar süßer Stimmungen in mir einzog, mich über das Gegenwärtige hob und das Vergangene mit meinem Zukünftigen verband, wie ein Mensch vor, der einen Garten voll blühender Blumen in sich trägt und sich freut über die seltenen, starken Farben und den Thauglast, der auf allem liegt, und die daraus schwärmenden Gerüche. Für eine Blüte, die welkt und vergeht, blühen hundert neue darin! Die Leute, die ihn sehen, wissen nicht, warum lächelt der Mensch so vergnügt und abwesend? Er trägt den Garten voll tausend schöner Wunder mit sich! – –

So wandelnd, vergaß ich beinahe ganz auf Helene. – Entweder hatte ich das Rendezvous versäumt, oder sie war gar nicht gekommen, tröstete ich mich. –

101 Schon wollte ich den Türkenschanzpark verlassen, ohne Sieg, und meiner Freundin Alice, die in der Nähe wohnte, mein Pech klagen, als ich drei junge Mädchen in die Seitenallee einbiegen sah. Helene war nicht darunter. Das fühlte ich gleich. Umso besser! Ich bemerkte, dass sich die hübschen, kleinen Dinger nach der Reihe umwandten und mich anschauten. Wie sie das thaten, kam mir ganz eigenthümlich vor. Es war keine Aufmunterung in diesen Blicken, nicht einmal Koketterie, aber auch kein Aerger, keine Abweisung. Wenn ich es recht verstand, war es eine Art Musterung. Sie blickten mich von oben bis unten an und tuschelten dann lächelnd zu einander.

Ich beobachtete das so lange, bis es mir zu dumm wurde. Ich trat rechts vor, wo die Schönste von ihnen gieng, an der ich auch am meisten menschliches Interesse an mir ablas, und sprach sie, roth vor Zorn, folgendermaßen an:

»Meine hochgeehrten Fräulein! Bin ich einer, der aus dem Landesgericht entsprungen ist, und sind Sie Detectives? Oder bin ich der Pavian aus dem Thiergarten? Ich bin doch keines von beiden, sondern heiße Edi H . . .«

102 In dem Moment fuhren alle drei auf und setzten eine Miene auf, die sagte: »Na, jetzt ist's ans Licht gekommen. Er ist's« – Ich ließ mich nicht einschüchtern, sondern erzählte keck und unschuldig des langen und breiten, warum ich hergekommen. Ich bat die Kleine neben mir, die jetzt entzückend verlegen wurde, um Verzeihung, dass ich mich jemals für ein anderes Mädel der Welt interessiert habe, begann unsinnig über Helene zu schimpfen, nannte sie eine hässliche, alte Urschel, die mich zum besten halten wollte; aber jetzt, wo ich erst das wirklich Gute und Reizende gesehen habe, sei nichts mehr imstande – –

Hier unterbrach die Kleine neben mir meinen feurigen Schwulst und sagte: »Herr Edi, jetzt ist's Zeit, dass ich Sie unterbreche. Ich bin die Schwester von Helene, das sind unsere Freundinnen. Mama hat natürlich den Brief geöffnet. Helene durfte nicht ausgehen. Da bat sie uns, statt ihrer herzukommen und Ihnen diesen Brief zu geben. Als Kennzeichen gab sie an: Schlanker, junger Mann, blonder Schnurrbart, hellblaue Augen und sicher eine blaue Cravatte. Aber Sie begreifen, dass wir jetzt, nach dem, was Sie über Helene geredet 103 haben, Ihnen den Brief nicht geben können. Adieu, Herr Edi! Gute Unterhaltung anderwärts.« – –

Ich stand da wie ein Blödsinniger. Erst als die drei Mädchen fort waren, fasste ich mich. Ich begriff, dass es durch diese zweite Blamage mit Helene aus für immer sei. Noch einmal stieg die Sehnsucht nach dem schlanken, blonden, lustigen Mädchen in mir auf und that meinen Augen ein bisschen weh – – Ich verjubelte den Tag mit meiner alten Freundin Alice, die nicht wusste, wie sie wieder dazu kam. – – – 104

 


 


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