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Er war ein lieber Kerl, der Edi Hoffinger. Wenn man irgend einen seiner Bekannten oder »Freunde« ganz vertraulich unter den Arm nahm und fragte: Sie, was halten Sie denn eigentlich von dem Edi Hoffinger? – was die Leute da antworteten, der eine mit den Augen zwinkernd und den Kopf wiegend, der andere die Lippen spitzend und die Luft zu einem leisen, bedeutsamen Pfiff einziehend, das waren immer wohlwollende Variationen zu der Melodie:
Der Edi Hoffinger ist ein lieber Kerl.
Bei der Frau Sophie Grünthaler und ihrer Tochter Mizzi war er sogar noch etwas mehr, da war die Melodie durch eine Octave verstärkt, da galt er als ein allerliebster Kerl. 2 Die Frau Sophie Grünthaler war eine Hofrathswitwe, zu der Edi jeden Samstag – ob schön, ob Regen – zum Nachtmahl kam, zu einem gewöhnlichen Wiener Nachtmahl, nicht zu viel, nicht zu wenig, Braten oder »Kaltes«, einige Krügel »Pils« und Cigarren. Sie war ihm gegenüber nicht nur von jener vulgären Liebenswürdigkeit, von der »Man kann nicht wissen«-Liebenswürdigkeit der meisten betöchterten Frauen, sondern auch von einer gewissen hätschelnden, ja koketten Zärtlichkeit: sie hob ihm lächelnd mit ihren wammigem beringten Fingern das Kinn, schäkerte ihm gern in die Augen, streichelte ihm einen leichten Schlag auf die Wange oder zerraufte ihm, seinen Kopf an sich drückend, die Haare.
Meistens vertrug Edi diese Mütterlichkeiten, aber manchmal konnte er doch darüber verlegen werden, wenn gerade die Mizzi, »Fräulein Blauerl« wegen der Farbe ihrer Augen von ihm genannt, dabei war und so eigenthümlich lächelte, zugleich spöttisch und duldsam . . . .
Die regelmäßigen Sonntagsbesuche hatten bald nach dem Tod seines Vaters begonnen. Pünktlich um sechs Uhr machte er sich auf den 3 Weg, mit Bonbons in der Tasche, oder Blumen, auch manchmal Bücher bringend, z. B. einen Band Stifter, den er sehr liebte. Dann blieb er bis 10 Uhr dort und schwätzte mit der Alten, die immer dicker wurde, und lachte oder zankte mit der Jungen, die immer schöner wurde. In der besten Laune verstieg sich die Grünthaler oft, ihrem Liebling einen fetten Kuß auf den Kopf zu drücken, was er immer zum Anlaß nahm, sich am Mund der Mizzi zu revanchieren. Sonst duldete das die Mutter in ihrer Gegenwart nicht.
Schon früher, als noch der alte Hoffinger, wie der alte Grünthaler lebten, hatten die beiden Familien in intimem Verkehr gestanden. Edi war dort, wie Mizzi hier das einzige Kind. Immer war man überzeugt, dass die ein Paar werden müssen, und man verhehlte es nicht vor ihnen. So war es gekommen, dass sie, obwohl sie sich schon als kleine Kinder gern hatten »wie die Alten« und tausendmal Mann und Frau gespielt hatten, älter geworden, sich oft mißtrauisch voneinander wandten. Auch begannen sie sich ihrer Liebe zu schämen, weil alles von ihr wußte und sie für selbstverständlich hielt.
4 Edi war so zu einem Sonderling geworden. Er suchte Gefühle und Leidenschaften, die allen übrigen fremd blieben, und indem er seine Liebe zu Mizzi unterdrückte, weil sie den »Leuten« selbstverständlich war, pflegte er seine Schrullen umso zärtlicher, je mehr er merkte, dass eben die »Leute« darüber verwundert, ohne Verständnis und spöttisch den Kopf schüttelten.
Er hatte als Beamter im Ministerium ein bequemes Leben. Die geerbten Renten gaben ihm die Mittel, seine vielen Gewohnheiten oder Schwächen zu befriedigen. Von zwei solchen konnte man die Namen auf kleinen Täfelchen, welche über den Fächern eines altmodischen Schrankes in seinem Schlafzimmer befestigt waren, gold auf schwarz lesen. Ueber dem Fach rechts stand nämlich »Cravatten«, über dem Fach links »Cigarren«. Seine schwächste Schwäche aber trug er im Herzen und in nette Rondschrift übertragen auf einer weißen, goldgeränderter Karte in seiner Brusttasche. Und die hieß Wien. Was war Edi Hoffinger ohne Wien? – Ein Falter ohne Blumen und Wiese, ein Franzensring ohne Rathhaus . . .
5 Außer dem bisschen Arbeit täglich, bestand sein Leben nur aus Bummeln und aus Bummeln Denken. Letzteres that er am liebsten zu Mittag. Man musste ihn nur so ansehen, wie er behaglich hingerekelt, an seinem Fensterecktisch in der »Kugel« saß. Das war sein Stammrestaurant. Schon der Name so sympathisch, wienerisch, gemüthlich: »zur Kugel«, ihn zuerst an eine liebe, ältliche, dicke Dame erinnernd, dann, weil sie die Mutter von ihr war, an eine jüngere – – –
Gleich nebenan die Feuerwehrcentrale! War das nicht die angenehmste Erregung, wenn so mitten in der Beschäftigung mit einem Nierenbraten oder dergleichen Harmlosem es auf einmal herausschmetterte und die Wagen über das Pflaster knatterten – der mit der Riesenleiter, wie Fafner aus der Höhle – die Helme in der Sonne funkelten, die Menschen zuliefen. Dann immer ferner, gedämpfter, durch die Scheiben hallende Signale, bis der gleichgiltige Straßenlärm wieder alles verdeckte.
Auch lag das Restaurant so ziemlich im Centrum der Stadt, war somit bequem für seine Hauptschrulle: jeden Tag nach dem Mittag sich ausbummeln. Wo und wann, 6 stand auf jener goldgeränderten Karte geschrieben. Diese »Spaziermenukarte« war überhaupt das einzige Werk, an dessen Abfassung und periodischer Verbesserung er mit Liebe und Mühe gearbeitet hatte. Um mit ihr seine Persönlichkeit vollständig zu geben, hatte er auf die Rückseite seine Photographie geklebt. Vorn aber standen die Tage der Woche in rother Tinte zierlich geschrieben und daneben die Namen von Straßen, Gärten und Plätzen. So zum Beispiel war für Dienstag bestimmt: Votivkirche, Rossauerlände. Da sah er sich die Kirche zuerst vor der Front an, wo die zwei spitzen Thürme zart und zierlich in die Bläue ragen. Lieber aber war ihm die Seiten- und Rückansicht, wo die schroffen und sich wirrenden Theile ein neues, fremdartiges Bild geben und dieses Bild, wenn man die Schwarzspanierstraße herabgeht und durch die drei Gässchen schaut, dreimal wechselt: die großen Thürme verdeckt, das kleine spitze Thürmchen mit dem durchbrochenen und verschlungenen Vorwerk allein in die Luft stechend oder endlich ein Thurm den anderen bergend. – Hatte er diese seine Lieblingskirche, zu der er in einem intimen Augenverkehr stand, 7 genossen – der »Stefan« war ihm zu hoch und unbehaglich ernst – so gieng er den Ring hinab bis zur Augartenbrücke und sah die Straße zurück, die der breite, klare Bau der Universität schief schließt. Dann die Rossauerlände, längs der verfallenen, elenden Häuschen, die wie pockiges Geschwür sich an den Leib der Stadt heften, und das Ufer des Donaucanals entlang. Dort laden Flösse und Schiffe ab. Auf einem schmalen Brett karren Slovaken oder derlei fremdes Volk aus. Er betrachtet sie gern und staunt über die Sicherheit, mit der sie es thun. Manchmal wird er auch gerührt, wenn er in die verstaubten, breiten Gesichter schaut und ihr triefender, starrer Blick ihn trifft. Er schenkt ihnen Cigarren. Sie verderben aber seine Freude, weil sie ihm gleich die Hände küssen wollen. Aergerlich eilt er weiter. Immer näher schieben sich die Berge, immer grüner scheint der Wald her. Da winkt das weiße Kirchlein vom Leopoldi wie ein steinerner Heurigenbusch und drüben zacken sich die Villen vom Kahlenberg. Ganz versteckt, als ob er sich seiner Plumpheit schäme, blinkt der rothe Thurm der Warte auf. Und weiter rechts die Königin der Warten: 8 am Hermannskogel. Burggleich schrofft sie sich in die Luft, sie sieht aus wie ein versteintes, übermüthiges Hornsignal eines Ritters der Minne- und Frouwenzeit. – Er schreitet schnell die Spittelauerlände hinab, längs den Gemüsegärten, Holzplätzen und Magazinen der Franz Josefs-Bahn, wo eine rußige und öde Strecke beginnt. Dann biegt er nach Nussdorf ein. Die Lust zum Bergsteigen ist schon geschwunden, andere Lüste drängen ihn jetzt: Zum Bockkeller, zwei Stunden Rast, dann im Fiaker nachhaus' . . .
Nur für Sonntag war die Rubrik in der »Spaziermenukarte« leer, da nahm ihn seine Phantasie an der Hand und führte ihn, wohin sie mochte, weiter hinaus in die Berge, Wiesen, Weingärten, Brauereien. Das war ihm alles ebenso »Wien«, wie der Stefansplatz. In allen Zonen hatte er seine bestimmten Plätzchen, die ihm besonders lieb waren, und die benannte er auch für sich mit eigenen Namen. Da war das »Paradiesplätzchen«, ein kleiner, blumenreicher Wiesenfleck am Abhang des Leopoldsberges, mit dem Blick auf die blauen, langsam strömenden Wellen tief unten und die schründigen Flächen des Bisamberges, 9 der ihm wie ein mürrischer Riesenköter vorkam, an der blauen Kette der Donau zur Wacht vor Wien hingekauert. Da war der »Bummelfriede«, eine reckenhafte Eiche, auf der Gaadener Seite des Anninger, mit einem kleinen Wiesenrondeau herum. Den hatte er zum Daueraufenthalt bestimmt. Doppelten Proviant von Cigarren nahm er sich für ihn. Dort konnte er stundenlang liegen, den Kopf an den moosigen Stamm gelehnt, den Arm um einen Wurzelknorren, träumend den blauen, so nahen Himmel schauen und den blauen, durch die Aeste kräuselnden Rauch betrachten, die im Lufthauch wiegenden Blätter, die Falter, die selig taumelten von Blüte zu Blüte, rastlos und ungenügsam . . . .
Freilich ward ihm das manchmal doch langweilig, und er sehnte sich dann hinunter und südwärts; denn schließlich kann man Luft nicht trinken, nur athmen. Ein kleines Tischchen unter einem breitschattenden Kastanienbaum. Liesinger Bräuhaus. »Suffruhe.« Regelmässig gieng an den der »Suffruhe« geweihten Tagen die Fähigkeit, Eindrücke zu bewahren, gegen 10, 11 Uhr abends verloren. Was von da an mit ihm geschah, konnte er 10 nie ersinnen. Genug, dass er sich den nächsten Mittag immer in den traulichen Wänden seines Junggesellenzimmers fand, das er Rauschfriede taufte, allwo nämlich sein Rausch Friede fand. – –
Derlei war freilich nur für den Sonntag und Sommer. Aber wenn Edi Hoffinger im Frühling oder Herbst durch die Straßen der Stadt schritt und das zarte, blumige Wiener Blau vom Himmel hieng mit den wie Blütenstaub darauf gestreuten, zersplissenen Wölkchen und in all diese obere Seligkeit von unten auf ein Bau nach dem anderen seine Glieder tauchte, die Museen ihre breiten Kuppeln und das Rathhaus all die lustigen, übermüthigen Thürmchen, Erkerchen und Fähnchen, da funkelte auch Edis blaue Seele in lauter Sonnenglanz und fuhr ihm die Freude nur so in die Beine hinein. Aufspringen hätte er mögen, auffliegen und dem lieben, eisernen Mann da oben oder dem Apollo dort oben einen schallenden Kuss aufschmatzen. Er konnte nicht satt werden, zu beobachten und zu schauen in seinem Wien. Er fühlte sich so eins und gleich mit diesem zarten Himmel, all diesen lustigen und prächtigen Bauten und diesen 11 Plätzen und Straßen, die ihm winkten wie liebe Erinnerungen und ihn grüßten wie Freunde. Und schwand irgend ein graues, morsches Gemäuer der Stadt, wurde er traurig, als wenn ein Verwandter ihm gestorben. Stand aber dann das Neue da mit den weißen, reinen Mauern und den modischen Thürmchen, so freute es ihn wieder: Le roi est mort, vive le roi.
So verlebte er mehr auf der Gasse als im Zimmer; wo es was Schönes gab, war er der erste, und für alles Neue war er dankbar. – Dabei blieb er für sich, hatte zwar viele, sehr viele gute Bekannte, aber was man einen Freund nennt, nicht. Also ganz allein – bis auf Samstag abends und seine Cravatten. Mit den Cravatten war es ähnlich, wie mit seinen Lieblingsplätzchen in den Bergen. Er hatte für jede seine bestimmte Stimmung zurechtgelegt. Er hätte verdient, unter Cravattencuratel gestellt zu werden. Er kaufte so viele, dass er gar nicht alle tragen konnte. Besonders liebte er die blauen, trotz der Leute, die ihm sagten, das sei geschmacklos. Jeden Tag bot es ihm neue Zerstreuung und Lust, sein Magazin zu mustern und dann 12 eine, dem Wetter oder Stimmung gemäß, draus zu wählen. Er personificierte sie geradezu, er sprach zu ihnen, er liebkoste seine seidenen Geschöpfe. – –
War aber – jeden Mittag fand die Musterung statt – irgend eine Cravatte zur Heldin des Tages erhoben, dann geschwind noch – die Cigarren. In allen Sorten lagen sie da, im linken Fach seines Schrankes. Die langen, dürren Stengel, die wie versengte Halme aussehen; breite, protzige, gebänderte Bouquets, kleine, schmale Galanes mit ihrem weichen Duft. Er hatte seinen Gaumen und seine Finger nicht auf irgend eine gewöhnt. Er liebte sie alle, wie alle seine Cravatten, alle Plätze, Bauten, Berge, Biere. Nur das feine Abwägen seiner jeweiligen Stimmung, das Streben, ihr alles bis ins kleinste anzupassen und so ein jedes, auch das unscheinbarste Ding täglich in neuer Wendung zu sehen und zu genießen, gab seinem Leben einen eigenen feinen Reiz. –
Ein Sonntag im Mai.
Edi bummelt verdrießlichen Gesichtes dem Prater zu. Er hat keine Augen für den 13 silberblauen, wie geschliffenen Glanz des Himmels. Wenn ein hübsches Mädel im lichten Frühlingskleid vorbeigeht, schaut er sich nur mechanisch, gewohnheitsmäßig um. Heute hat er nicht den lieben, bewundernden, lächelnden Blick, der ihm sonst für diese Fälle eigen ist. – – –
Nein, er wird die Mizzi nicht heiraten. Ans Gernhaben oder nicht denkt er kaum. Nur heiraten will er sie nicht. Wie sie gestern ungemüthlich war. Auch geweint. Das hatte sie schon lange nicht gethan. Und warum das alles? Natürlich ganz grundlos. Er kann doch nicht ihrethalben für das bissel Gutsein am Samstag abends alle seine Gewohnheiten aufgeben. Die Mädeln gehören einmal auch zu seinen Gewohnheiten. Und weil sie ihn mit einer eingehängt gesehen hat! Er begriff das nicht. Vielmehr, er begriff nicht, wie er das je aufgeben könnte. Und darum – er muss mit Mizzi brechen.
Wenn man's ihr nur klar machen könnte, dass das noch keine gefährliche Leidenschaft ist, so ein kleines »Neben der Liebe«-Verhältnis. Was ist denn Wien ohne Mädel? Und was wird uns Edi Hoffinger ohne Wien? Er hat ja noch nie eine von denen so »geliebt«, dass Mizzi hätte 14 eifersüchtig sein können. Aber das kann er ihr wieder nicht sagen, dass es jede Woche eine andere ist, dass er an der einen nur die leichte, zarte Art zu gehen, an einer andern nur die Farbe der Augen, an einer dritten den Klang der Stimme, an der vierten gerade das blaue Kleid gern hat, so dass alles aus ist, wenn er z. B. die vierte in einem braunen Kleid sieht. Er schwor sich, dass es mit Mizzi aus sei, und freute sich der eisernen Gründe, die ihn dazu zwangen. Er sei ein Mensch, der ohne fortwährenden Wechsel nicht leben könne, darum sei er ein Künstler im Bummeln, wo jede Bummelsecunde ihm Neues bringe, darum liebe er neben der Mizzi jeden Monat ein anderes Mädel. Und selbst sein Wien wäre ihm langweilig, wenn es ewig bliebe wie im Moment und nicht Stimmungen, Farben, Töne, Licht und Schatten drin wechselten, wie in seiner Seele.
Nur ein kleiner Kern sei in ihm, der unveränderlich bliebe und der sozusagen den Wechsel dirigiere, Tempo und Takt zu seinem Leben gäbe. – –
Nachdem er also zu einem innerlichen Resultat gelangt war, schritt er, ledig der 15 Sorgen, in die von Menschen, Wagen, Pferden wimmelnde Hauptallee des Praters. Doch empfand er eine Leere in sich, als wären zwar die Kümmernisse weg, aber nichts Neues statt dessen in ihn eingezogen.
Er gieng wie in einem Taumel, ohne zu beobachten und darüber, wie es seine Gewohnheit war, stille Monologe, Witze, Sentenzen zu bilden, ohne mit einer von diesen ein Mädel anzusprechen. Es war ihm eine Zeitlang, als sei sein Gehirn wie eine erfrorene Hand, unfähig, seine Thätigkeit aufzunehmen. Aber je tiefer er hineindrang, wo das Lachen, Kreischen, Wagengeknarr, Vogelgezwitscher, Militärmusiken oft zu zweien, dreien ineinander spielend, sich zu einem eigentlich verfluchten Spectakel vermischte, desto rascher trat die Starrheit in ihm zurück. Die Strecke vom Vivarium bis zum dritten Kaffeehaus brachte ihm geradezu eine Genesung.
Alle Gesichter waren vergnügt. Flott und lustig ward den Mädeln nachgestiegen, Körbe wurden lachend vertheilt, ein Plauschen und Rauschen, Flüstern und Knistern lief durch die wogenden Reihen der Menschen; eine allgemeine Fröhlichkeit und Stimmung des 16 Genusses, die wie ein langes Band durchwallte und jeden der hierher kam, verstrickte.
Es ward dämmerig. Die Lichter flammten auf. Jetzt wird alles frecher und toller. Die Spießer schauen den jungen Leuten fröhlich zu. Auch über sie ist es wie ein Rausch geflogen . . . Eben hat beim Ronacher der neueste Straußwalzer unendlichen Jubel erregt. Man haut mit den Biergläsern auf die Tische, schreit, quietscht, brüllt Beifall; am meisten die armen Teufel draußen vorm Gitter, die bloß hören und nichts trinken können – – –
Edi Hoffinger ist wieder der Alte geworden. Wieder spielt ein gutmüthiges und zugleich herausforderndes Lächeln um die Lippen und hebt die Spitzen seines Schnurrbartes. Fünf Mädeln, zählt er nach, hätte er auf dem Weg zum Ronacher ansprechen können, darunter zwei schon von früher bekannte. Aber er wollte heute noch nicht mit dem alten Leben anfangen. Früher musste er mit Mizzi abrechnen . . .
Er findet nahe dem Musikpavillon an einem Tisch Platz. Gerade wird der neue 17 Strauß-Walzer zum drittenmal gespielt; der populärste Wiener Kapellmeister mit den gestriegelten, schwarzen (böse Zungen sagen gefärbten) Haaren gab Takt, den rechten Arm pendelartig, automatisch hin- und herschwingend. Edi tippt mit dem Fuß den Rhythmus auf den Sand, in der rechten Hand eine Cigarre, den Zeigefinger der linken um den Henkel des Bierkrügels gelegt.
Da hört er mitten zwischen den Trillern der Flöten hinter sich ein leises Kichern mit ungemein sympathischem Klang. Er wendet sich nicht um – wer weiß, wie sie ausschaut? – und lauscht mit dem einen Ohr auf den Walzer, mit dem anderen auf das liebe, helle Lachen, das ja gerade über seine aufgeregten Nerven weich und kühl plätschert. Die tollen Pläne, die ihm nach den ersten Gläsern den Kopf durchschwirrt hatten, zertheilten sich und schwanden vor diesem, nach kurzen Pausen immer wieder anhebenden Frauenlachen . . . Jetzt war's ihm so ruhig und leicht geworden und all das – erstaunlich doch – . . . er hebt das volle, aufschäumende Glas an den Mund – er macht einen tiefen Schluck, dann noch – da schwingt's wieder heran und klingt 18 wie aus einer Harfe geschlagen – er reißt sich um und schaut hin, verkutzt sich dabei, das Bier tröpfelt über die Cravatte und das Gilet . . . Er springt vom Sessel auf, zieht das Taschentuch heraus, prustet hinein; während er an seinem Rock wischt, zuckt eine Secunde lang ein tiefer Schmerz um seine ruinierte Cravatte in ihm. Schnell verschluckt er Schmerz und Verlegenheit.
Während neuem Gejohle und Geklatsche, das nach dem Schluss des Walzers aufstürmt, verbeugt sich der Kapellmeister mit Grazie in infinitum. Zum viertenmal spielen sie das Stück. Doch Edi hört nicht. Er hatte sie gesehen, g'rad' wie's ihm zum Ersticken war, sie gesehen und wie sie direct auf ihn gelacht hat.
Er wird ganz toll. Gar nicht mehr der alte, ruhige, liebe. Doch der leichte, fadendünne Walzerrhythmus und ein Schluck aus dem frischen Glas sänftigen ihn. Sein Humor kehrt wieder. »Was is denn los,« meditiert er, »ein herrliches Frauenzimmer, in das Du Dich vernarrt hast, d. h. in ihr Lachen, nichts weiter.« Und er sinnt nach, wie anknüpfen? Da fährt ein zufrieden schlaues Lächeln über sein Gesicht, 19 gerade, als der Walzer zum viertenmal geschlossen und die Leute endlich Ruhe gaben.
So, noch einen Schluck – den Schnurrbart aufgewirbelt, ein Ruck. Er steht auf, nimmt sein sechstes Krügel zwischen die Finger, immer noch lächelnd – wieder ein echter Edi Hoffinger – wendet sich zu seiner Begeisterung, die am nächsten Tisch mit einer ältlichen Person, so etwas von einer Gesellschafterin, sitzt, und spricht, höflich den Hut ziehend, sich zierlich verneigend, die geflügelten Worte: »Fräulein, da Sie früher – schönes Fräulen, durch Ihr allerliebstes Lächeln – eh – eh – schuld waren an dem Untergang meiner mir theuersten Cravatte, so werden Sie mir gewiss die Genugthuung gönnen, hier auf diesem leeren Sessel – eh – eh – die schöne Uebelthäterin in der Nähe zu betrachten . . .« &c. &c.
Das Fräulein sah ihn zwar anfangs groß und verwundert an, gewann aber dann, von seiner endlosen Einleitung und bebierten Cravatte versöhnt, ihr lustiges Lachen wieder. Eine Viertelstunde darauf plauderten die zwei wie uralte Bekannte.
Um zwölf Uhr begleitete Edi die Schöne bis zu ihrem Hause. Unterwegs erzählte sie 20 ihm, was er gleich gemerkt hatte, dass sie eine Italienerin sei. Sie habe ihre Tante, die alte Dame mit ihr, nach Wien begleitet und fahre diese Woche in die Heimat zurück. Es graue ihr schon davor, die weite Reise allein machen zu müssen . . . .
Am Heimweg sann Edi darüber nach, wie er von seinem Hofrath einen Urlaub ablisten könnte.
Auf den sanften und hellen Mai ist ein sehr unbehaglicher Juni gefolgt. Es ist heiß wie im August, nur hat man jetzt nicht den Trost des nahenden Herbstes wie im August. Die Passagiere des Triester Schnellzuges wälzen sich von Bank zu Bank. Man eilt rathlos vom Fenster zum Gang, vom Gang zum Fenster. Alle Ventilationen der Waggons und der Kleider werden geöffnet, die Buffets in den Stationen um Eis und kaltes Bier gestürmt. Schon hat ein findiger Kopf die Idee gefasst, einen Badewagen für Eilzüge zu construieren, und vergisst über der Berechnung seiner enormen Verdienstaussicht alle persönliche Hitzequal.
21 Der einzige Mensch, der ruhig in seinem Coupé sitzt und sich nicht um Hitze und Bier schert, ist Edi Hoffinger, der von seinem Liebesabenteuer aus Italien heimfährt. Er macht aber eine dämliche Visage, so hat er wohl früher nur ausgesehen, wenn er nach einer verlumpten Nacht um 8 Uhr früh aufstehen musste. Er hat sich das Coupé reserviert und kümmert sich nicht um seine Mitreisenden, scheint aber nach der Zahl der in dem Aschenbecher liegenden Stummel schon ein Dutzend Cigarren consumiert zu haben. Und doch, wenn er so manchmal die Augen hebt oder einen Blick zum Fenster wirft, scheint der verkaterte Mann nicht ganz unzufrieden zu sein.
Jetzt hat er sich's bequem gemacht, Rock und Gilet abgestreift, einen neuen Glimmstengel in Brand gesetzt und sich rücklings auf die weiche Bank gelegt. Er hat einen Entschluss gefasst. Er will mit einem Gewaltstreich der fortwährenden Qualen los werden, die ihm seine Erinnerungen, einzeln und ohne Zusammenhang durch den Kopf schwirrend, bereiten. Dabei fällt ihm folgender Vergleich ein und bekräftigt seine Absicht: Wenn man sich unter eine kalte Douche stellt, den Hahn 22 nur ein wenig aufdreht und das Wasser behutsam, tropfenweise auf die verschiedenen Körpertheile spritzen lässt, wird das bei weitem lästiger sein, als wenn der volle Strahl auf einmal über den Leib strömt.
So nimmt er sich vor, jetzt unerschrocken in seinem ganzen Erlebnis zu baden, um der stichweisen Folterung der abgerissenen Erinnerungen zu entgehen. Ja, er hat noch so viel Humor dabei, dass er sich eine Disposition dafür macht, die er bei seiner stillen Erzählung benützen will. Sie lautet:
Er beginnt sich also zu erzählen, und dabei war noch ein feines Lächeln über seinen Lippen:
»Mit Mühe erhielt ich von meinem Chef einen einmonatlichen Urlaub. Mit noch größerer Mühe verschaffte ich mir durch einen Pump 23 die nöthigen Reisecapitalien. Als ich, quasi im Brautstande, Julietta vor der Reise besuchte, fand ich erfreut keine Tante mehr. Ich legte dem Umstand keine Bedeutung bei, obwohl Julietta, von mir befragt, durch einen unglaublichen Roman die plötzliche Abwesenheit ihrer Verwandten mir erklärte . . .
Ich spielte auf der Fahrt nach Triest mit Julietta die köstlichsten Liebesscenen und zeigte mich nicht so wie sie, die Heuchlerische, darüber verwundert, dass der Conducteur uns für ein hochzeitsreisendes Paar hielt und demgemäß durch mancherlei Rücksicht entzückte. Die Flitterwochen, die bis zur Ankunft in Rom herrlich dauerten, erweiterten auch meine Kenntnisse heilsam, denn Julietta war ein ausgezeichneter, wenn auch, je tiefer in der Heimat, desto kostspieligerer Cicerone . . . .
In Rom bummelte ich schon theilweise ohne Julietta. Sie gab vor, alle möglichen Bekannten besuchen zu müssen. Mein Bummelgenie bewährte sich auch hier. In zwei Wochen kannte ich mich in Rom so wie am Graben aus. Die alten, winkligen, obgleich schmutzigsten Theile der Stadt, wohin am seltensten die Fremden kamen, waren mir am liebsten. Ich 24 war oft in toller Begeisterung. Es gieng in Liebe und Schauen, Küssen und Bummeln selig weiter bis gerade zur Zeit, als der Urlaub aus war und ich telegraphisch von meinem Chef eine Verlängerung erpressen wollte – Vorher sagte ich der Julietta, dass ich allein auf zwei Tage in die Umgebung spazieren wollte, überlegte mir das aber und benutzte die ungebundene, kurze Zeit, um mir Rom einmal junggesellenhaft anzusehen. Da . . ., da . . . .«
Edi unterbrach plötzlich seine Sicherzählung und besichtigte mit ernsten Blicken seine Fingernägel, puffte locomotivisch aus der Cigarre und stierte dann mit halb traurigen, halb spöttischen Augen vor sich hin.
»Also ich sah sie Arm in Arm mit einem anderen gehen. Erst fuhr mir die Wuth so in die Arme und Beine, dass mich ein kleines Kind hätte umwerfen können. Als ich, sie fortwährend verfolgend, besonnener wurde, beschloss ich, um einen Scandal auf der Straße zu vermeiden, sie ungesehen solange zu begleiten, bis sie in irgend ein Haus treten würden. Ich brauchte nicht lange zu warten. Das Haus, in welches sie traten, war das Hotel, 25 in welchem ich und Julietta wohnten. Ueber dieser ungeheuren Frechheit gewann ich meine Kaltblütigkeit wieder, ja sogar ein bisschen Laune. Ich ließ sie ruhig hinauf. Beim Portier lieh ich mir einen dicken Knüppel, wartete aber absichtlich einige Minuten, um sie zärtlich verbunden zu treffen. – Als ich die beiden überraschte, liefen sie in dem Zimmer herum, wie die Hühner in einem Hühnersteig, wenn man mit einem Holz hineinstochert. Ihr sagte ich in gut Wienerisch meine Meinung, dann prügelte ich sie beide hinaus. Ich hab' die Genugthuung, ihn im Gilet über die Straße laufen zu sehen, sie hatte noch Zeit gehabt, über das Corset ihren breiten Kragen zu werfen . . .«
– Edis Miene wird noch finsterer, er stöhnt dumpf –
»Wie ich dann meine Sachen zusammenpackte, merk' ich, dass mein Geld fehlt. Jetzt muss ich von einem anderen als meinem Chef per Telegraph erpressen.« –
Er stützt den Ellbogen auf die Lehne und den Kopf schief auf den Polster. Ein zagsames Lächeln um die Lippen; wird wohl das gewisse Sehnen sein, so ein Heimweh 26 und Bangen nach »Paradiesplätzchen«, Bummelfriede, Cravatten, Rathhaus und – Samstag abends. –
Mit einem lieben, wieder ganz Hoffinger'schen Lächeln schlummert er ein . . . .
Er ist wieder bei seinen Cravatten und Cigarren. Er hat mit dem Rathhaus Wiedersehen gefeiert. Auch hat »Rauschfriede« seinen Zweck schon einmal erfüllt, aber Samstag abends war er noch nicht »dort« gewesen. Und er hatte wenig Hoffnung, je wieder hin zu kommen.
Bald nach seiner Heimkehr hatte er ein lichtblaues Couvert auf seinem Schreibtisch gefunden. Drinnen stand, dass sie alles wisse und dass es jetzt für ewig aus sei. Seine Geschenke behalte sie aus Rücksicht für die gute Freundschaft von früher . . . .
Nach einer Woche war es dem Edi klar geworden, dass es nicht aus sein dürfe, und er hatte glänzende, unwiderlegliche Argumente erdacht, die sein Theorem von jenem unseligen Pratermaitag wiederlegten . . .
27 Im Gegentheil, er müsse Mizzi heiraten. Wie leicht sei er in seinem naiven Vertrauen und seiner Bummelsucht bösen, kostspieligen Abenteuern ausgesetzt. Gewiss sei in seinem Wesen nur ein kleiner Kern unbeweglich, und um ihn flatterten seine Schrullen, wie die Wagen im Ringelspiel um den »chinesischen Mann«. Aber was liege daran, diesem Kern eine kleine Gebietsvergrößerung zukommen zu lassen? – Gewissermaßen der Kern in zwei Hälften, so dass sein Leben von einem Edischen und einem Mizzi'schen Theil geleitet wurde. Das würde ja eine starke und in alles dringende Veränderung bringen. Er würde alles mit noch zwei lichten, blauen Augen sehen, und bei dem Bummeln würde noch ein Herz, noch zwei Beine froh mithüpfen –
Aber wie die Versöhnung herbeischmeicheln? Er beschloss, weil es das Schnellste war und weil er die Erfahrung hatte, dass es in solchen Affairen mit Offenheit, ja sogar frechen Bekenntnissen am besten gehe, sie ohne Einladung zu besuchen . . . .
Das Dienstmädchen, welches dem Edi die Thür öffnet, ist freudig überrascht. »Der junge 28 Herr is schon wieder g'sund? Wer's gleich dem Fräul'n melden, dass Besuch da ist.« Edi wehrt ab und bewegt die Verdutzte, in die Küche zu treten. Er wolle unangemeldet hinein. – Er steht ein paar Minuten im Vorzimmer vor dem Spiegel. Er bewundert seine Cravatte, die er nach einstündigem Auswählen für den wichtigen Tag bestimmt hat. Er bemerkt im Spiegel, dass er sehr blass aussieht, und freut sich, fast zitternd vor Erregung, darüber. – Dass man ihn für krank ausgegeben, kann eine passende Einleitung abgeben. Also! Er spaziert zum letztenmal die vier Wände des Vorzimmers ab, das Taschentuch zerknüllt er und behält es in der Hand, für eventuelle Thränen . . . Da ist die Thüre in ihr Appartement. Hineinstürmen, wild, toll auf die Knie fallen, um Verzeihung bitten, scheint ihm das Beste. Er stellt sich vor, wie Mitterwurzer das machen würde, und copiert vor der Thüre dessen nervös zappelnde Geberden, Händereiben und sich gleichsam durch den Körper Zureden . . .
Doch als er die Klinke berührt, fällt die geplante Pose von ihm wie eine schlecht sitzende Maske. Er hat alle Vorsätze vergessen und thut unbewusst, wie's Edi Hoffinger thun 29 muss. Leise, ganz leise öffnet er die Thüre und schleicht über den dicken Teppich zum Fenster, wo er Mizzi in dem blauen Sammtkleid, das er so närrisch gern hat, lesend, mit dem Rücken gegen ihn, in den Schaukelstuhl gelehnt sieht. Still wie auf Katzenpfoten schleicht er, ist hinter ihr, legt rasch die Hände über ihre Augen und flüstert: »Mizzi, wer ist?«
Sie lässt das Buch auf die Knie gleiten und bleibt noch einen Moment lang unbeweglich, als halte sie die Süssigkeit der Berührung fest. Dann aber springt sie auf und befiehlt ihm mit einer heiseren, fremden Stimme, das Zimmer zu verlassen. Wie er sie so mit ihren entzündeten Augen und dem blassen, von wahrem Schmerz gezeichneten Gesicht sah, wuchs zugleich mit dem Mitleid seine Liebe so mächtig, dass er auf einen Moment sich selbst verabscheute. Im nächsten Moment fühlt er sich dadurch gereinigt und sinnt auf einen Witz, die peinliche Scene zu beenden. Er wirft sich plötzlich in den leeren Schaukelstuhl und setzt ihn in die heftigste Bewegung. Zugleich sagt er ihr, und ein Lächeln über dem erregten, verlegenen, beschämten Gesicht macht ihn reizender: »Mizzi, ich schwör' Dir, entweder 30 nicht lebend oder mit Dir verlobt geh' ich aus dem Zimmer.« Sein Gesicht, seine Worte und die Schauklerei ziehen ein Lächeln auch über ihre Lippen. Er ergreift die Halbversöhnte bei der Hand, und halb lachend, halb weinend erzählt er und hört sie zu.
Er erzählt von allem Anfang an, wie sie beide noch so klein waren und ihre ersten Worte waren: Edi lieb – Edi bah, womit das kleine Mizzikind seine Empfindungsextreme ihm gegenüber ausdrückte. Er erzählt, wie sie dann durch die Leute auseinandergebracht wurden, die alle überzeugt waren, dass sie ein Paar werden müssen.
So sei der Reiz ihres Verhältnisses zerstört worden. Wie die Liebe aber nach innen gegangen sei und sich, bei ihm wenigstens, hinter seltsamen Schrullen verbarg. Wie diese Schrullen ihm allmählich so lieb wurden und er in seinem Wien Trost, Freude, ewigen Genuss fand, so daß er eine Zeit glaubte, allein, gleichsam mit Wien verheiratet, leben zu können. Wie ihn aber sein letztes böses Abenteuer belehrt habe, dass er ein Windbeutel sei und dass er ein Schnürchen brauche, an dem ihn eine geschickte und weiche Hand leite, sonst 31 würde sein seliges Bummeln zu einem Verbummeln . . . Erst jetzt nach der langen Trennung habe er gemerkt, wie sie allein jeden Reiz habe, denen er an anderen Mädeln einzeln nachgejagt sei, und dass ein Wien ohne sie ein halbes Wien, er ohne Mizzi nur ein halber Wiener sei . . .
Sie schwieg, ihre blauen Augen aber schimmerten wieder so rein, dass er darin ihre Vergebung erkannte – – – Nachdem sie sich eine halbe Stunde nichts als geküsst hatten, kam Frau Grünthaler, die, von dem Dienstmädchen über den Besuch benachrichtigt, eine Zeitlang befriedigt mit dem Kopf schüttelnd, durch das Schlüsselloch gesehen hatte, dann erst hineintrat und mit den Worten: »Na also, no siehst es« mit der linken Hand dem Edi in den Haaren kraute und mit der rechten die Mizzi über die Wangen streichelte. –
Der Vollmond schmunzelt über Wien. Ein Juliabend. Auf der Volksgartenallee des Franzensringes gehen drei Leute. Links ein schlanker Herr, seine hellblaue Cravatte schimmert im Mondlicht etwas ins Grüne, rechts 32 an seinen Arm geschmiegt ein blondes Mädchen, etwas kleiner. Rechts von ihr eine würdige Matrone, noch etwas kleiner und etwas – dicker. Edi Hoffinger hat, um dem Samstag seine außerordentliche Geltung zu erhalten, da er jetzt jeden Abend bei den Grünthaler nachtmahlt, einen abendlichen Samstagbummel eingeführt, in Gesellschaft seiner Braut und der Frau Grünthaler, die ihr künftiger Beruf als Schwiegermutter noch nicht verdorben hatte.
Die zwei jungen Leute schweigen. Sie sind in dem gewissen Zustand, wo man nicht weiß, geht man, fliegt man oder schwebt man. – Und weil die schweigen, obwohl sie sich in einer stillen Sprache sehr gut zu unterhalten scheinen, bringt das dicke Frauchen ein Opfer, eigentlich ein Heldenopfer und – schweigt auch. – Man sieht das Rathhaus aufsteigen, weiß, von dem lichtgrünen Strahlennebel umflossen, so dass es nicht wie sonst kühn und voll Jugend aufgereckt scheint, sondern müd' und weich in das Seidenpolster des Himmels gelehnt. Der Mond steht gerade über dem Kopf des eisernen Mannes, wie ein Heiligenschein. Der junge Herr, der bislang seine zärtlichen Blicke auf die Begleiterin rechts gerichtet hatte, 33 bemerkt plötzlich das Bild, drückt ihren Arm an sich und stammelt etwas. Beide schauen hinaus; er zittert vor Lust. Dann scheint noch ein Kuss vorgefallen zu sein – – –
Ende Juli ist Hochzeit bei Frau Grünthaler. Die Gäste schmausen weiter, ohne sich darum zu scheren, dass das Brautpaar schon unsichtbar geworden ist. Fräulein »Blauerl« und Edi Hoffinger haben aber ihre Hochzeitsreise angetreten. In den letzten Zug der Zahnradbahn auf den Kahlenberg sieht man sie einsteigen. Es ist eine warme, blaue, ausgestirnte Nacht. –
Der Zug keucht mühsam, scheppernd hinauf, über Wiesen, dann durch Wald, immer höher. Ihnen ist's, als ob in die Sterne hinein! –
»Alles aussteigen!« Endstation. Sie treten ins Hotel, wo das Paar, dem eine prächtige Wohnung bestellt ist, schon erwartet wird. Sie schreiten langsam über die Terrasse, und wie sie ins Haus treten, verklingt im Garten der letzte Walzerklang der Kapelle. –
Die Wangen aneinandergedrückt, unter Küssen, schauen sie vom Kahlenberg nach Wien hinunter. Tausende Lichter winken her, 34 Hochzeitsfackeln. Eine tiefe blaue Nacht liegt zwischen den Sternen des Himmels und den Sternen der Stadt.
Jetzt hat Edis scharfer Blick das matt leuchtende Band der Donau bemerkt. Kaum nimmt es das Auge wahr. – Es ist, als flimmerte ein Streifen Erde im Wechsel auf und verschwände wieder. Er weist sie dorthin. – Endlich die Blicke von Wien, Sternen, Wald und Donau trennend, treten sie in das von Blumen duftende Gemach zurück. 35