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»München!« schrie der Schaffner . . .
Edi entwankte dem Coupé. Sechs Krügel bayrisch Bier hatten seinen zarten, an »Pils« gewöhnten Organismus schläfrig und müde gemacht. Wie eine Fahne, die früher lustig und leicht im Winde flatterte und jetzt vom Regen patschweich baumelt, sah er aus.
Willenlos tappte Edi aus dem Centralbahnhof in den erstbesten Hotelomnibus, der ihm vor der Nase stand. In dem ungeheuren, dunklen Gefährte, das ihm wie die Nachbildung des Bahnhofes en miniature erschien, entschlummerte er leicht in süßen, trunkenen Phantasien . . . .
74 Fuhr er nicht durch die Mariahilferstraße zu seiner Mizzi? Wie werden ihre blauen Augen überrascht glänzen, da er so rasch und unvermuthet vom Urlaub heimkehrte nach dem schnöde verlassenen Wien? . . .
Ach nein! das war kein Traum, kein Rausch – diese rumplige Reise von Wien nach München. Während der ganzen Fahrt hatte er die Empfindung, als ob der Eiserne Mann ihn mit seiner Faust beim Genick packen wollte und zurückziehen, zurückschrauben nach Wien und zu seiner Mizzi. Jedesmal, wenn dieser Spuk ihn bedrückt hatte, war ein tiefer Schluck aus der Cognacflasche seine Rettung und half ihm Wien und Mizzi vergessen, einfach vergessen!
Er glaubte nicht, dass Mizzi ihm in Wien so ganz treu bleiben würde, trotzdem er vorgegeben, dass sein Urlaub nur acht Tage dauere. Er fand sich damit ab, dass Mizzi seine Luftveränderung zu einer Luftveränderung in ihrem Sinne ausnützen werde.
Aber schließlich: Freiheit war die Grundbedingung ihres Verhältnisses. Frei wollte er auch in München leben und sich vor allem die ihm neue Species von Weibern – 75 Münchnerinnen – ansehen. Er wusste ja, dass es in München mehr Weiber gäbe als Pflastersteine, blonde, reizende, graziöse, feine, verführerische – mit braunen Augen . . . .
Krrr – krr –! Der Hotelwagen hielt an.
Edi entfuhr seinen Träumen und fand sich wahrhaftig in einer fremden Stadt. Oben im Zimmer wusch er sich und kleidete sich um. Die Kälte des Wassers und der Lufttemperatur machten ihn fast nüchtern.
Er besah sich im Spiegel und fand sich neugeboren, tadellos, frisch, siegbereit . . .
Er schritt die Treppe hinab und gieng auf die Straße.
Also, das ist München, Athen an der Isar und das gelobte Meer des Bieres! . . .
Eine breite Straße, mit breiten elektrischen Bogenlampen beleuchtet, die den wogenden Nebel aufzufangen schienen. Wagen, Menschen, blaue elektrische Tramways. Die Nationalfarben: blau-weiß, seine Herzensfarben!
Und wie dankbar war er für diesen wunderbaren, weichen Nebel, der in den Fluten des mild leuchtenden Lichtes webte!
Das brachte ihm wieder seine Entzugsstimmung, verschwommen, weich und lass, in 76 ungreifbaren Phantasien verschwebend und doch von einem frohen, mächtig-milden, innerlichen Glanz erhellt.
Edi bewunderte diese Reihe glühender elektrischer Monde, die auf das bewegte Straßenleben gleichmüthig und wie sanfte Augen herabschauten.
Edi gieng immer langsamer und überließ sich wie ein Rückenschwimmer den Wellen des Menschenstromes. Er schlenkerte im leichtesten Wiener Tempo, mit kleinen, elastischen, tänzelnden Schritten.
Plötzlich stand er still . . . . staunend und einen leisen Pfiff des Entzückens aus dem Mund stoßend. Links von ihm thürmte sich etwas Kolossales im Nebel auf, wie das Massive eines Gebirges. Aus ihm ragten hoch in die Luft etwas wie zwei Arme, zwei Fühlhörner einer Riesenschnecke, zwei Elephantenrüssel, deren runde Contouren in den Nebel überflossen.
Edi starrte und staunte . . . Die Leute brandeten rechts und links an ihm vorbei.
Endlich frug er einen, der ihm auf die Zehen getreten hatte: »Monsieur, was ist das?!«
77 »Na, geb'n S' acht, wenn S' net woll'n, dass man Ihna auf d' Füß' tritt.«
»Was ist das?« fragte Edi und wies auf die Thürme.
»Das? D'Liebfrauen-Kirchen,« antwortete der Treter und schüttelte den Kopf, eiligst wegbiegend.
Edi schaute und starrte wie verloren auf diese zwei runden, herrlichen Thürme, die im Nebel verschwanden und ihm Halt! zu gebieten schienen.
Edi stand und starrte . . .
Plötzlich begriff er München. Er verglich im Geiste die Rathhausthürme in Wien, ses premiers amours, giebelig, spitz, schlank, kokett, bissig, ironisch-decadent, fast frozzelnd, mit diesen Liebfrauen-Armen, treu, fest, voll, rund wie in kraftvoller Gesundheit.
München wurde ihm plötzlich ein Begriff, eine Vorstellung. Die Liebfrauen-Arme schienen ihn zu begrüßen.
Das weiße Blatt, das München in seinem wienerischen Innern bisher gewesen, wurde ausgefüllt.
Es zeichneten sich zwei mächtige, runde, wie ausgestreckte Arme ragende Thürme 78 hinein – Liebfrauen-Arme, die ihn begrüßten. Und hohe Bogenlampen milden grünen Lichtes leuchteten wie festliche Lampions zu seiner Begrüßung . . . darüber dämpfend, einhüllend weicher, wallender, leuchtender Nebel.
Edi schritt weiter durch die drängende Menge, den Kopf immer nach links gewandt, wo die zwei Thürme im Nebel sich leise zu strecken und zu dehnen schienen . . . Jetzt waren sie schon ganz ferne und kaum wahrnehmbar in ihren zarten Contouren, zart wie Mädchenarme.
Plötzlich stand er still. Die Thürme der Kirche waren verschwunden. Rechts und links blinkten die Bogenlampen aus dem schleierigen Nebel und schnitten Scheiben mondhellen Lichtes heraus.
Edi lauschte der Bewegung seines Inneren.. Die Sehnsucht nach Mizzi und Rathhaus, Franzensring und Pilsner Bier verkroch sich und erstarb. Der Rathhausmann drohte nicht mehr mit eiserner Faust und schien den Flüchtling freizulassen. Noch ein ganz leises Beben im Herzen, piano, pianissimo, diminuendo^ – und die Heimatschwäche war wieder überwunden.
79 Edi drehte sich nach rechts um und gewahrte, in ein Haus hineinblickend, eine glitzernde Reihe elektrischer Glühlichter, die sich an einem langgestreckten, reichverzierten Plafond schier unabsehbar aneinander reihten. Er las »Münchner Bürgerbräu« und sah auf der Mittelscheibe als Brauzeichen die Liebfrauen-Kirche mit ihren zwei Thürmen eingraviert!
Obwohl er weder Hunger noch Durst spürte, trat er ein, um das Bier, das unter dem Symbol seiner letzten Begeisterung gebraut ward, zu kosten.
Noch immer wie in einen leichten Rausch gehüllt, schritt er durch ein Gewühl fröhlicher, lärmender Menschen geradeaus. Er setzte sich an einen Tisch, an dem einige blaubetuchte Soldaten und breit lachende Civilisten sich unterhielten, indem jeder abwechselnd an vorüberhuschenden Damen, die Bier trugen, zupfte. Sein leichter Gruß wurde mit tiefen Complimenten beantwortet.
Die Damen trugen schwarze Kleider, hatten helle Rüschen um den Hals und Blumen vor den Busen gesteckt.
80 »Hell oder dunkel?« frug ihn eine der Vorüberhuschenden. Sie hatte schwarze, wunderbar kühn frisierte Haare, war schmal wie ein Nippefigürchen, hatte ambragelben Teint und sah aus wie eine Creolin.
»Natürlich dunkel!« murmelte Edi und versank in Betrachtung.
Die Creolin flog hin und her, trug Speisen und Trank, räumte auf und ab, wurde gezwickt, gedrückt und geküsst.
Edi fixierte sie unaufhörlich.
Nach einigen Minuten fühlte er, dass diesen grauschwarzen, funkelnden Augen Strahlen entfuhren, die sich mit den milden, schmachtend-begehrenden Blicken seiner blauen Augen vermengten . . . .
Edi trank, aß, trank, trank, trank. Dazwischen verflochten sich seine Blicke dichter und dichter mit den Augen der Gazelle, die da alle durstigen Kehlen mit braunem, erquickendem Saft versah.
Nach dem dritten Glas umschloss er eine weiche, zarte, langfingerige Hand.
»Wie heißt Du?«
»Marianetta –«
81 »Das wird zu compliciert sein, mein süßes Mizzerl,« murmelte er zu ihrem Gesicht hinauf. Da fuhr ihm eine weiche, zarte, langfingerige Hand durch die Haare, und er spürte einen tosenden Druck an der Schläfe.
Das Local wurde leer, leerer . . . .
Nur an einem langen Tisch rothbetappter Studenten summte und sauste es wie gährendes Leben.
Plötzlich fuhr Edi auf und saß gerade da, wie ein Habt acht! commandierter Soldat. Die Creolin hatte ihm von rückwärts die Arme um seine Schultern gelegt und drückte ihn an ihre Brust. Edi schob seine Cravatte zurecht und tauchte, sein Haupt auf ihre weiche Brust zurückneigend, seine blauen Augen in die grauen Juwelen, die zärtlich auf ihn herab funkelten. Er drückte ihre Arme noch fester an sich und sagte bebend: »Liebfrauen-Arme!«
»Was spinnst Du da zusammen?«
»Fräulein Mizzer'l, ich bin Strohwitwer und heute zum ersten Mal in München. Allein find' ich nicht nach Haus'.«
»No ja, unser Hausknecht kann Sie schon hinführ'n. Mit dem unterhalt man sich gut.«
82 »Creolin! – schwarze Griechin aus München-Athen! – Venus Ana–« ^
»Ich heiß' ja Marie, nicht Anna, was spinnst denn da in einer Tour? Wenns'd noch a halbe Stunde wartest, aber nicht da vor der Thür' draußen, sondern unten am Eck von der Straßen, so zeig' ich Dir den Weg. Weil's gleich is! Servus, schöner Wiener! . . .«
Edi wollte ihr die Hand küssen, aber schon war sie bei dem Studententisch, und alle zehn Finger in Bierhenkeln verfangen, zappelte sie in einem Netz von unzähligen Männerarmen.
Edi richtete sich auf und suchte durch die verschobenen Sessel und Tische den Ausgang.
Er wanderte die Straße hinab bis zum Eck. Da sah er auf einmal von ferne hinter den Giebeln die zwei ragenden Thürme der Liebfrauen-Kirche, so freundlich, so fest und klar.
Er stand und stand, sah und sah . . . .
Noch einmal dachte er an Mizzi und dass es eigentlich schlecht sei, ihr so untreu zu werden. Packte ihn nicht schon wieder der eiserne Mann am Genick, der sie beide so oft zu seinen Füßen liebend wandeln gesehen und wollte ihn zwingen, allein heimzugehen? –
83 Da schob sich ein schmaler Frauenarm unter seine Achsel, und eine lachende Stimme frug ihn ins Ohr:
»Du, Weana, ob Du mir's glaubst oder nicht – das is noch keinem von mir passiert, dass ich ihm auf's erstemal den Heimweg zeig', weil er z'viel getrunken hat . . . Aber weißt . . .«
Er stützte sich fester auf die »süße Creolin«, die zwitschernd und lachend neben ihm schritt und dunkle Fluten aus ihren Augen auf ihn niedergoss. Edi sprach nichts und träumte, presste den eingehängten Arm fester an seine Brust.
»Wie lang bleibst denn hier in München?«
»Acht Tage!«
Edi versank wieder in Träume, berauschte sich an der Nähe des entzückenden Geschöpfes, träumte von zwei weichen, runden Armen, die hoch in den nebligen Himmel ragten und ihn als erste in der fremden Stadt begrüßt hatten, die ihn jetzt, liebgeworden, hinaufzogen in ihre Höhe und Seligkeit.
»Mir scheint, Du spinnst schon wieder?«
»Was, Schatzerl??«
»Du spinnst!«
»Was?«
84 »Na, wenn's D' net amal Deutsch kannst, so fahr' glei' nach Wean zurück!«
»Aber, Schatzerl, musst mich halt's Deutsch lehren!«
Und sie erklärte ihm, was der Münchner »Spinnen« heißt.
Edi lachte und sagte: »Du hast aber an mir die größte Spinnen gefangen, die's Dein Lebtag g'seh'n hast! . . .«
So plauderten sie weiter, jeder Satz im Sprechen eine Pause im Gehen.
Endlich standen sie vor dem Hotel. Ein Diener öffnete.
Im Zimmer flackerte das Feuer vom Ofen über alle Wände und zog lustige Kreise und Spitzen, Ringe und Wellen.
Er zog die Creolin an das Fenster. In herrlicher Klarheit und Größe ragten die Thürme seiner Kirche auf.
»Liebfrauen-Arme!« murmelte er, presste Marianetta an sich und küsste sie, küsste sie, dass ihm der Athem vergieng.
»Mein Schatz, das is' g'scheit, dass D' zu spinnen aufg'hört hast. Na aber sag' im Ernst, wie lang bleibst denn da, »Weana Bua«?
85 »Acht Monate! Man muss die Frauen an Treue gewöhnen. Mein Mizzerl in Wien erlangt sonst nie Uebung drin. Uebrigens kann sich das Mizzerl in Wien nicht beschweren. Ich betrog sie wenigstens mit einer Namensschwester . . . . Mizzi! Mizzianetta! süße Griechin aus Athen an der Isar! . . .«
»Fangst schon wieder zum Spinnen an?!«
»Nein, Schatzerl – jetzt hör' ich endgiltig auf.«
Er sah noch einmal auf die Thürme der Liebfrauen-Kirche, die sich da draußen in das blaue und mild erhellte Meer des Himmels streckten.
Er umschlang Marianetta. Er küsste ihre Arme und legte sie um seine Schultern. Dann zog er sie sanft vom Fenster weg.
Noch nie hatten ihn zwei Mädchenarme so sanft umschlungen! Mit ihrem weichen Druck lösten sie den mahnenden Griff des eisernen Mannes von seinem Herzen, der ihn der Untreue bezichtigte.
Liebfrauen-Arme! 86