Prosper Mérimée
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Prosper Mérimée

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VI.

Nach dem Frühstück kehrten wir nach Medintiltas zurück. Als ich dort den Doktor Fröber allein traf, sagte ich ihm, ich hielte den Grafen für krank, er hätte schreckliche Träume, wäre vielleicht Nachtwandler und könnte in solchem Zustande gefährlich werden.

»All das hab ich gemerkt,« sagte der Arzt zu mir. »Bei seiner athletischen Konstitution ist er nervös wie ein hübsches Frauenzimmer. Vielleicht hat er das von seiner Mutter . . . Verteufelt wild ist sie heute morgen gewesen . . . Ich glaube nicht so recht an die Angst- und Lustgeschichten schwangerer Weiber; sicher aber ist die Gräfin wahnsinnig, und Wahnsinn ist durch Blut übertragbar . . .«

»Doch der Graf,« erwiderte ich, »ist vollkommen vernünftig; er besitzt gesunden Menschenverstand, ist sehr viel gebildeter, als ich gedacht hätte, das muß ich Ihnen schon gestehen, liebt die Lektüre . . .«

»Gewiß, gewiß, mein lieber Herr; aber oft ist er sonderbar. Mehrere Tage lang schließt er sich manchmal ein; häufig streift er nachts umher; liest unglaubliche Bücher . . . über deutsche Metaphysik . . . Physiologie, was weiß ich! Gestern erst hat er einen Ballen voll aus Leipzig gekriegt. Gerade heraus, ein Herkules hat eine Hebe nötig, 's gibt hier sehr hübsche Bäuerinnen . . . Samstag abends nach dem Bade möchte man sie für Prinzessinnen halten . . . Jede würde stolz sein, den gnädigen Herrn zu zerstreuen. In seinem Alter wollte ich, der Teufel soll mich holen . . . Nein, er hat keine Geliebte, verheiratet sich nicht und tut Unrecht daran. Er braucht ein Ablenkungsmittel.«

Des Doktors plumper Materialismus war mir äußerst peinlich. Jäh beendigte ich die Unterhaltung mit den Worten, ich würde es von Herzen wünschen, daß der Graf Szemioth eine seiner würdige Gattin fände. Nicht ohne Überraschung, muß ich gestehn, vernahm ich des Doktors Bemerkung über des Grafen Vorliebe für philosophische Studien. Solch ein Husarenoffizier, solch ein passionierter Jäger las deutsche Metaphysik und befaßte sich mit Physiologie, das wollte mir nicht in den Kopf. Und doch hatte der Doktor die Wahrheit gesagt und noch am nämlichen Tage erhielt ich den Beweis davon.

»Wie erklären Sie sich, Herr Professor,« sagte er plötzlich gegen Tafelende zu mir, »wie erklären Sie sich die Zweiheit oder die Duplizität unserer Natur? . . .«

Und da er merkte, daß ich ihn nicht richtig verstand, fuhr er fort:

»Haben Sie sich niemals oben auf einem Turme oder am Abgrundsrande befunden und zugleich die Versuchung, sich in die Tiefe zu stürzen, ins Leere hineinzustürzen und ein durchaus entgegengesetztes Angstgefühl verspürt? . . .«

»Aus rein physischen Gründen läßt sich das erklären,« sagte der Doktor; »erstens bewirkt die Ermüdung, die man bei einem Aufstiege spürt, einen Blutandrang nach dem Gehirne, das . . .«

»Hören Sie von Blut auf, Doktor,« rief der Graf ungeduldig, »und wählen wir ein anderes Beispiel. Sie halten eine geladene Waffe. Ihr bester Freund ist da. Ihnen kommt der Gedanke, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen. Sie haben den größten Abscheu vor einem Morde, und doch haben Sie den Gedanken an ihn gehabt. Ich glaube, meine Herren, wenn alle Gedanken, die uns im Verlaufe von einer Stunde durch den Kopf gehen, . . . ich glaube, wenn alle Ihre Gedanken, Herr Professor – und ich halte Sie für einen weisen Mann – niedergeschrieben würden, sie vielleicht einen Folioband füllten, auf Grund dessen es keinen Rechtsanwalt, der nicht erfolgreich für Ihre Mundtoterklärung plädierte, keinen Richter gäbe, der Sie nicht im Gefängnis, oder besser in einem Narrenhause festsetzte.«

»Dieser Richter, Herr Graf, würde mich gewiß nicht verurteilen, weil ich heute morgen länger als eine Stunde dem geheimnisvollen Gesetze nachgegrübelt habe, wonach die slavischen Verben in Verbindung mit einer Präposition futurale Bedeutung annehmen. Wenn ich aber zufällig einen anderen Gedanken gehabt hätte, was könnte man deswegen wider mich beweisen? Nicht mehr bin ich Herr meiner Gedanken als die äußeren Zufälle, die sie mir suggerieren. Weil ein anderer Gedanke in mir aufsteigt, daraus kann man noch nicht einen Ausführungsbeginn, ja nicht einmal einen Entschluß folgern. Nie hab ich den Gedanken gehabt, jemanden zu töten; wenn mir aber ein Mordgedanke käme, ist meine Vernunft denn dann nicht da, um ihn abzuweisen?«

»Sie haben gut von Ihrer Vernunft reden; doch ist sie stets, wie Sie sagen, da, um Sie zu leiten? Damit die Vernunft spricht und sich Gehorsam verschafft, bedarf's der Überlegung, das heißt, der Zeit und der Kaltblütigkeit. Hat man die eine und die andere immer? In einem Kampfe seh ich eine Prellkugel auf mich zufliegen, ich weiche ihr aus und setze meinen Freund ihr aus, für den ich mein Leben hingegeben haben würde, wenn ich Zeit zur Überlegung gehabt hätte!«

Ich versuchte, ihm von unseren Menschen- und Christenpflichten zu sprechen, und wie wir dem Krieger der heiligen Schrift nacheifern müßten, der immer kampfbereit sei; kurz, suchte ihm klar zu machen, daß wir im ständigen Kampfe wider unsere Leidenschaft neue Kräfte erwürben, um sie abzuschwächen und zu bändigen. Ich hatte, fürcht ich, nur den Erfolg, ihn zum Schweigen zu bringen; und überzeugt schien er nicht.

Noch zehn Tage blieb ich im Schlosse. Ich machte einen anderen Besuch in Dowgielly, aber wir schliefen dort nicht. Wie beim ersten Male zeigte Fräulein Iwinska sich als Eulenspiegel und verzogenes Kind. Auf den Grafen übte sie eine Art Zauber aus, und ich zweifelte nicht, daß er sehr verliebt in sie sei. Indessen kannte er ihre Fehler wohl und machte sich keine Illusionen. Er wußte, sie war kokett, leichtfertig, und allem gegenüber, was nicht Unterhaltung für sie war, gleichgiltig. Häufig merkte ich, daß er innerlich unter ihrem so wenig vernünftigem Wesen litt; sobald sie ihm aber eine kleine Liebenswürdigkeit erwiesen hatte, vergaß er alles, erhellte sich sein Gesicht, strahlte er vor Freude. Am Tage vor meiner Abreise wollte er mich ein letztes Mal nach Dowgielly schleppen, vielleicht, weil ich plaudernd bei der Tante blieb, während er allein mit der Nichte im Garten lustwandelte. Aber ich hatte viel zu arbeiten und mußte mich, wie inständig er auch bat, entschuldigen. Zum Essen kehrte er zurück, obwohl er uns gesagt hatte, wir sollten nicht auf ihn warten. Er setzte sich zu Tisch und konnte nichts essen. Während der ganzen Mahlzeit war er finster und übler Laune. Von Zeit zu Zeit näherten sich seine Brauen einander und seine Augen nahmen einen düstern Ausdruck an. Als der Doktor aufstand, um sich zur Gräfin zu begeben, folgte mir der Graf in mein Zimmer und sagte mir alles, was er auf dem Herzen hatte.

»Sehr bereue ich's,« rief er, »Sie verlassen zu haben, um die kleine Närrin zu besuchen, die sich über mich lustig macht und nur neue Gesichter gern sieht; glücklicherweise ist aber alles zwischen uns aus, sie ist mir gründlich verleidet und ich will sie niemals wiedersehn . . .«

Seiner Gewohnheit nach durchschritt er einige Zeit das Zimmer der Länge und Breite nach, dann fuhr er fort:

»Sie haben vielleicht geglaubt, ich sei in sie verliebt? Das denkt nämlich der Tropf von Doktor. Nein, ich habe sie nie geliebt. Ihre lachende Miene unterhielt mich. Ihre weiße Haut zu sehen, machte mir Freude . . . Das ist alles, was gut an ihr ist, die Haut besonders, von Hirn keine Spur. Nie hab ich in ihr etwas anderes als eine hübsche Puppe gesehn, die man gern betrachtet, wenn man sich langweilt und kein neues Buch hat . . . Zweifelsohne muß man sie eine Schönheit nennen . . . Ihre Haut ist wunderbar! . . . Herr Professor, das Blut, das unter dieser Haut fließt, muß besser sein als das eines Pferdes! . . . was meinen Sie dazu?« Und er brach in ein Gelächter aus, doch war's unangenehm, dies Lachen zu hören.

Am folgenden Morgen verabschiedete ich mich von ihm, um meine Forschungen im Norden des Palatinats fortzusetzen.

 


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