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IV.

Kaiserin Jelisaweta Alexejewna verwahrte ihr Tagebuch in einer eigenen, stets verschlossenen Schatulle. Sie führte es seit dreißig Jahren und zeigte es niemand, außer ihrem alten Freund, Karamsin.

Als sie sich, im Frühjahr 1825, schwer krank, und wie sie glaubte, sterbend, zu einer Reise aus Petersburg nach Zarskoje und von dort nach Taganrog rüstete, brachte sie alle ihre Papiere in Ordnung, »um auf alles, und selbst auf den Tod bereit zu sein«; am gleichen Tage schrieb sie auch an ihre Mutter.

Spät nachts, als sie sich allein in ihrem Schlafzimmer befand, öffnete sie die Schatulle, holte das Tagebuch hervor und begann darin zu lesen. Das Tagebuch war französisch mit einzelnen russischen und deutschen Sätzen geschrieben. Sie las es nicht fortlaufend, sondern nur jene Stellen, die ihr besonders denkwürdig erschienen. Früher hatte sie nie darin geblättert; erst in den beiden letzten Jahren 1824–25 las sie öfters darin.

Sie las:

* * *

»Der Blume entströmt Duft, dem Leben entströmt Trauer; gegen Abend duften die Blumen stärker, und im Alter ist das Leben trauriger.«

* * *

Als Karamsin einmal hörte, daß ich halb tot zur Welt gekommen war, sagte er:

›Sie waren im Zweifel, ob Sie das Leben annehmen sollten.‹

Ich glaube, daß ich auch noch heute darüber im Zweifel bin. Ich habe es nie verstanden, das Leben hinzunehmen, ins Leben einzudringen.

* * *

Die Leiden des Menschen sind finstere doch zuverlässige Spiegel: man muß in sie schauen, um sich zu sehen und zu erkennen. Ich sehe mich in meinem finsteren Spiegel nicht als ihre Majestät, die Kaiserin von Rußland, sondern als das kleine Kind, das nicht zur Welt kommen wollte, oder als Greisin, die nicht sterben will.

* * *

Den 11. März. Jedes Jahr begebe ich mich an diesem Tage mit dem Kaiser in die Peter-Pauls-Kirche zum Trauergottesdienst für den Kaiser Paul. Der Kaiser gedenkt der vergangenen Jahre und sagt mir jedesmal mit immer tieferer Trauer:

›Wo werden wir nächstes Jahr diesen Tag verbringen? Werden wir noch zusammen sein?‹

Die Jahre vergehen. Dreiundzwanzig Jahre sind dreiundzwanzig Augenblicke. Je mehr Jahre darüber vergehen, um so deutlicher sehe ich jenen Tag vor mir; als ob es erst gestern geschehen wäre.

Wir sprechen nicht darüber, doch wir denken uns dasselbe. Wir denken an unser Gespräch am Vorabend jener schrecklichen Nacht vom 11. März:

›Und wenn Blut fließen soll?‹ fragte er. ›Warum schweigst du? Oder glaubst du, daß wir uns auch über das Blut hinwegsetzen müssen? ...‹

›Ich weiß nicht ...‹ begann ich; doch er unterbrach mich:

›Nein, nein, schweige, untersteh dich nicht! Wenn du es aussprichst, wird es Gott nie verzeihen ...‹

Ich sprach aber doch zu Ende:

›Ich weiß nicht, ob es Gott verzeihen wird, aber wir müssen.‹

Damals wußte ich, daß wir es mußten. Jetzt weiß ich es nicht mehr. Oder wie er damals sagte: ›Wir müssen und müssen nicht; man muß und man darf nicht, man darf nicht und man muß.‹

Später saß er während der Krönungsfeierlichkeiten in Moskau stundenlang unbeweglich, die Augen starr und sinnlos auf irgendeinen Punkt gerichtet. Man fürchtete damals für seinen Verstand. Nur der Fürst Czartoryski ging manchmal zu ihm hinein und versuchte, ihn zu trösten und zu ermutigen.

›Nein, Sie können mir nicht helfen,‹ antwortete ihm der Kaiser. ›Ich muß leiden. Wie können Sie verlangen, daß ich nicht leide? So wird es immer, immer bleiben!‹

Ja, so blieb es immer. Zeitweise trat es zurück und kam dann immer wieder. Dreiundzwanzig Jahre sind dreiundzwanzig Augenblicke. Je mehr Jahre darüber vergehen, um so deutlicher sehe ich jenen Tag vor mir; als ob es erst gestern geschehen wäre.

Ein Schwert hat seine Seele durchbohrt. Hat nicht dieses Schwert auch uns voneinander getrennt? Wir wollen uns wieder einander nähern, doch wir können es nicht. So nahe sind wir einander und doch so fremd. Liegt nicht jenes Blut zwischen uns als ein unüberbrückbarer Abgrund?

Hätte ich damals nicht gesagt: ›wir müssen‹, so wäre es vielleicht nicht geschehen. Nicht er, sondern ich allein bin an allem schuld. Möge Gott nicht ihn, sondern mich strafen!

* * *

Ich denke an seine Krankheit. Jetzt, da die Gefahr vorüber ist, verheimlicht man nicht mehr vor mir, daß er in höchster Lebensgefahr schwebte: die Entzündung am Fuß konnte leicht in Brand übergehen. Ich habe ihn noch nie seine Leiden so sanft ertragen sehen. Dies ängstigte mich am meisten.

Jetzt ist er beinahe wiederhergestellt. Als er am 22. Februar seine erste Ausfahrt unternahm, knieten die Leute auf den Straßen vor ihm nieder, bekreuzigten sich und weinten vor Freude.

Auch ich freue mich; und doch tut mir etwas leid. Sehne ich mich vielleicht nach jener Zeit zurück, als er krank war und litt, und ich mit ihm leiden durfte? Ja, wir waren damals immer zusammen, so nahe einander, wie seit langem nicht. Ich weiß noch, wie er mir einmal mit jenem wehmütigen Lächeln eines kranken Kindes, das ich bei ihm nie zuvor wahrgenommen habe, das ich fürchte und zugleich liebe, sagte:

›Lise, wenn ich mich erhole, so werde ich es nur Ihnen zu verdanken haben, Ihnen allein.‹

Wie war ich glücklich! Ich schäme mich sogar, daß ich so glücklich sein konnte, während er litt.

Das war nach der ersten Nacht, die er, dank dem von mir erfundenen Kissen, ruhig verbrachte. Er mußte sitzend schlafen, denn, wenn er sich legte, stieg ihm das Blut in den Kopf. Mein Kissen befreite ihn von diesem Zustand. Ich erfand auch einen Schemel für das kranke Bein, der ihm im Sessel vor dem Tisch zu sitzen erlaubte.

Ich verbrachte mit ihm Tage und Nächte. Ich fürchtete nicht, wie sonst, ihm lästig zu werden. Er gehörte mir ganz, und wir waren für uns allein, tausend Meilen von allen jenen entfernt, die ihn belästigen und quälen, wenn er gesund ist. Niemand wagte, uns zu stören. Es war so schön, so gemütlich, so still.

›So schön ist es, Lise. Wenn es immer so bliebe!‹ sagte er.

Er machte mir den Hof und war so liebevoll, daß ich mir nicht als Gattin, sondern als seine Geliebte vorkam.

Jetzt ist alles zu Ende. Ich bin wieder allein. Ich bin ihm nichts. Weder Gattin, noch Geliebte. Wie eine Krankenschwester, die ihren Lohn bekommen hat und gehen darf. Ich fürchte wieder, ihm lästig zu sein, und vermeide ängstlich jede Begegnung mit ihm. Ich taste mich an den Wänden entlang, damit mich niemand bemerkt. Ich stehle mich des Nachts zu ihm hinein und küsse ihn im Schlafe: wenn er schläft, gehört er noch mir.

Nun, soll es nur so bleiben. Ich bin es gewohnt. Im Wachen sind wir getrennt, im Traume – vereinigt; vielleicht werden wir auch im Todesschlafe vereinigt sein. Alles, was im Leben ist, trennt uns, und alles, was außerhalb des Lebens liegt, verbindet uns. Unser Bund ist nicht von dieser Welt. Wir sind nicht Mann und Frau, sondern zwei für ewig getrennte Liebhaber.

Man sagt, daß ein Nachtvogel einen Tagesvogel überschreit. Ich war immer ein Nachtvogel, doch es gelang mir nie, den Tagesvogel zu überschreien. Ich bin ein unheilverkündender Vogel: wenn ich in seiner Nähe bin, geht es ihm schlecht. Ihm geht es schlecht und mir gut. Je schlechter es ihm geht, um so besser geht es mir. Er muß krank, unglücklich oder in Gefahr sein, damit ich ihm nahe bin. So war es am 11. März, so war es im Jahre 12. So ist es auch jetzt. Wird es denn immer so bleiben?

Ja, ich verstehe, warum er mich nicht liebt, warum er mich zu lieben fürchtet!

* * *

Die Tage vergehen und bringen mir immer mehr Leiden. Doch ich klage nicht. Es liegt so in der Ordnung der Dinge. Alles geht den alten Gang. Alles ist so, wie es sein muß. Ich gebe mir Mühe, mich an mein Leid als an etwas Natürliches zu gewöhnen. Es gelingt mir aber nicht immer. Sophie Stroganow hat recht, wenn sie mir Mangel an christlichen Gefühlen vorwirft. Ich will glauben, daß der Herr meine Seele durch die hiesigen Leiden für das zukünftige Leben erziehen will. Ich will mich Ihm, an Armen und Beinen gefesselt, hingeben. Ich sage: alles geschehe nach Seinem Willen; doch ich möchte wissen, was ich tun soll? Denn oft weiß ich es nicht und kann vieles nicht begreifen. Wenn ich es aber nicht begreifen kann, so brauche ich es wohl auch nicht zu wissen, – behauptet Sophie.

Es gibt wohl Menschen, die nicht unfähig sind, glücklich zu sein, die aber nicht glücklich sein dürfen. Wenn ich glücklich bin, habe ich den Eindruck, daß ich mir etwas Fremdes aneigne, daß ich stehle; ich schäme und fürchte mich, denn ich weiß, daß ich dafür gestraft werde. Ich darf hier auf Erden auf nichts hoffen, ich muß mich von allem lossagen, mich demütigen und alles schweigend tragen; eine andere Rettung gibt es für mich nicht.

Ich darf nicht glücklich sein, – das ist das Geheimnis meines Lebens, – ich muß leiden. Der Herr weiß, warum ich es muß, aber Er will nicht, daß ich es weiß. Sein Wille geschehe. Er möge mich lieber als die letzte der Sünderinnen hinnehmen, als mich ganz verwerfen.

* * *

Heute ist Lisas Todestag. Sie wäre jetzt 18 Jahre alt.

Ich war heute auf dem Friedhofe des Alexander-Newskij-Klosters, wo Lisa und Mascha, mein Mäuschen, beerdigt sind. Neben ihrem Grabe ruht auch Aljoscha. Die Inschrift auf seinem Grabsteine lautet: ›Hier ruht der Stabsrittmeister der Chevaliergarde Alexej Jakowlewitsch Ochotnikow, gestorben am 30. Januar 1807, in seinem 26. Lebensjahre.‹

Niemand wird erfahren, was diese Inschrift für mich bedeutet.

Als ich ihn zum letztenmal vor seinem Tode besuchte, sagte er zu mir:

›Ich sterbe als Glücklicher, geben Sie mir aber etwas zum Andenken.‹

Ich schnitt mir eine Locke ab und gab sie ihm. Er ließ sie sich in den Sarg mitgeben. Sie liegt noch heute dort. Der Herr möge mich strafen, ich werde es nie bereuen und werde nie zurücknehmen, was ich ihm geschenkt.

Ich ging lange auf dem Friedhofe umher. Im Schatten lag noch Schnee, doch in der Sonne gab es junges Gras und gelbe Frühlingsblumen. Ich pflückte drei Sträußchen: das eine legte ich auf das Grab Lisas, das zweite auf das Grab Mäuschens und das dritte auf das Grab Aljoschas.

Nicht alle, die ich liebte, doch alle, die mich liebten, ruhen hier. Alle drei ruhen Seite an Seite auf dem Friedhof wie in meinem Herzen.

* * *

Man sagt: wenn die alten Wunden schmerzen, schlägt das Wetter um. Schmerzen mir meine alten Wunden vor einem Gewitter?

Ich denke an den Tod Mäuschens und an den Tod Lisas; es gibt für mich wieder keinen Begriff von Zeit: je mehr Jahre darüber vergehen, um so deutlicher sehe ich jene Tage vor mir; als ob alles erst gestern geschehen wäre.

Mäuschens Zustand war sehr schlimm, doch ich hoffte noch immer. In der letzten Nacht hatte sie schreckliche Krämpfe und Erbrechen; gegen Morgen wurde sie etwas ruhiger und schlief ein. Ich legte mich im gleichen Zimmer auf ein Sofa und schlief gleichfalls ein, denn ich hatte viele Nächte nicht geschlafen. Als ich erwachte, sah ich, daß sie starb. Vielleicht hatte sie früher nach mir gerufen, und ich hatte es überhört. Sie lag tot in meinen Armen, doch ich konnte es noch immer nicht glauben. ›Was ist es?‹ fragte ich sinnlos.

Dann schien mir, daß es kein größeres Leid geben könne. Als aber später auch Lisa starb, litt ich doppelt so viel. Das ist eben so schrecklich: man weiß nie, was für Leiden einem noch bevorstehen, wie groß die Leiden noch sein können und ob sie eine Grenze haben. Ich glaube, daß sie keine Grenze haben. Wenn ich nicht an Gott glaubte, hätte ich Selbstmord begangen.

Alle diese Tage irre ich im Schlosse umher wie eine unbußfertige Seele. Ich kam neulich in Lisas Zimmer, und plötzlich fiel mir wieder alles ein. Ich ging wie eine Wahnsinnige im Zimmer hin und her, wiederholte alle ihre Worte und versuchte, sie mit ihrer Stimme zu sprechen. Sie sagte ›Na, na‹ statt ›nein‹, und wenn sie auf die Arme genommen werden wollte, sagte sie englisch › Up, up‹. Wenn ich sie fragte: ›Bist du meine kleine Lisa?‹, sagte sie ›Ja! Ja!‹ mit so schlauem Ausdruck, als ob sie mich verstände. Als man ihr das heilige Abendmahl reichte, wandte sie sich ab und schrie gleichfalls englisch: › No! No!‹ An den Kaiser konnte sie sich nie gewöhnen; sie fürchtete ihn und weinte, so oft sie ihn sah.

Ihre letzten Worte vor dem Tode waren: ›Tanze! Tanze! – Dance! Dance!‹, denn sie liebte es, wenn man sie während ihrer Krankheit auf einem Kissen im Zimmer herumtrug und dabei ein lustiges Lied sang. Wie oft habe ich ihr unter Tränen vorsingen müssen!

Dies alles fiel mir heute wieder ein, und der Schmerz ist noch immer der gleiche. Nicht die ersten Augenblicke nach dem Verlust sind die schrecklichsten: ihre Bitternis berauscht und betäubt den Schmerz; den größten Schmerz empfindet man erst später, wenn der Rausch verfliegt, alles seinen gewohnten Lauf nimmt, man den Verlust halb vergißt, und er plötzlich in der Erinnerung auftaucht.

Lisa starb in zehn Tagen am Zahnen. Die Ärzte beruhigten mich immer, und nur im letzten Augenblick bekamen sie plötzlich Angst und verloren den Kopf. Man gab ihr Moschus. O, dieser Geruch von Moschus im halbfinsteren Zimmer mit den heruntergelassenen Vorhängen! Sie bekam Krämpfe und Erbrechen wie Mäuschen. Dann erstarrte sie und schien erstickt. Man zog die Vorhänge auf und trug sie zum Fenster. Um zu erfahren, ob sie noch lebe, rief ich: ›Lisa!‹ Sie war schon ganz blau, doch hob sie plötzlich ihr Händchen und berührte meine Wange. Ihr Gesicht hatte damals einen so unkindlichen wehmütigen Ausdruck, daß mir noch heute das Herz bricht, wenn ich daran denke.

Als sie im Sarge lag, begannen plötzlich im Nebenzimmer ihre Lieblingsvögel zu singen.

Warum müssen die Kinder so leiden? Wir Erwachsenen leiden, um unsere Sünden abzubüßen. Warum aber die Kinder? Vielleicht der Erbsünde wegen? Nein, ich kann es unmöglich begreifen.

Wie Hiob könnte ich meinen Tröstern zurufen: ›Ich habe solches oft gehöret. Ihr seid allzumal leidige Tröster und unnütze Ärzte!‹

Ja, jetzt bin ich noch viel weniger dem Schicksal ergeben, als in den ersten Augenblicken des Schmerzes. Mein Gott, mein Gott, welche Geduld muß man doch haben, um nicht Gott zu fragen: Warum? Wofür? Ich sage mir immer wieder: wir leben hier auf dieser Welt nicht um glücklich zu sein, sondern um zu leiden, und Gott weiß besser als wir, warum es so sein muß. ›Alles ist zu unserem Besten!‹ pflegt der Kaiser zu sagen. Mir hilft es aber nicht.

Sophie hat recht: ich habe zu wenig christliche Gefühle. Ich will nicht heucheln, ich will nicht besser scheinen, als ich bin. Hätte ich mich dem Schicksal ergeben, so hätte ich wohl weniger gelitten. Doch ich hätte dann den Eindruck, daß ich diejenigen, die ich liebe, verrate.

Ich will nicht weniger leiden, ich will mich nicht ergeben. Ich will mit Gott rechten, wie Hiob: ›Er möge entscheiden zwischen dem Mann und Gott, zwischen dem Menschenkind und seinem Freunde. Siehe, ob ich schon schreie über Frevel, so werde ich doch nicht erhöret; ich rufe, und ist kein Recht da!‹

Warum liebe ich mein ganzes Leben lang einen Menschen, der mich nicht liebt? Warum liebte ich Aljoscha? Warum wurde er getötet? Warum ist Mäuschen gestorben? Warum ist Lisa tot? Warum? Warum? ...

Zuweilen scheint es mir, daß ich es doch weiß.

* * *

Ich liebe zu viel. Ich liebe die Menschen mehr als Gott, und darum straft Er mich. Wenn ich jemand lieb gewinne, nimmt Er ihn mir. Besser wäre es, wenn ich niemand liebte. Ich fürchte zu lieben.

* * *

Es ist eine schlechte Gewohnheit, in seiner Seele zu wühlen und seine alten Wunden aufzureißen.

›Sie beobachten sich zu viel,‹ sagte die verstorbene Kaiserin von Österreich zu mir.

Der Leibarzt Wyllié sagt, daß man statt Arzneien zu nehmen, lieber ›unsinnig leben soll‹.

›Ich wünsche Ihnen Ruhe und gesunde Gleichgültigkeit, wie sich die philosophierenden Mediziner ausdrücken,‹ schreibt mir Karamsin. Mein Freund, der Baschkir, der mir in Zarskoje Ssjelo Kumys bereitet, sagt mit mitleidsvollem Blicke zu mir:

›Du bist krank, Mutter, weil du zu klug bist und zu viel denkst; die Arzneien, die man dir gibt, schaden dir nur.‹

Nun, ich will versuchen, ›sinnlos zu leben‹. Ich glaube, Figaro hat in seiner Behauptung recht: ›Alle klugen Leute sind Dummköpfe.‹

Warum soll ich mir selbst mein Leben verderben? Ich muß es nehmen, so wie es ist, – dann werde ich das Bitterste nicht mehr spüren. Man darf nicht das Leben beriechen, wie die Luft in einem Sterbezimmer.

Die patriotische Gesellschaft, das Waisenhaus, die Emeritalkasse, das Gewerbehaus, Modellieren, Malen, Kartenspiel, Dame, Hölzchenspiel, – ich habe wahrlich viel zu tun!

Im Sommer kann ich aber reiten und schwimmen. Wenn ich untertauche, im Wasser die Augen öffne und das geheimnisvolle Halbdunkel sehe, oder beim Reiten den Wind um die Ohren pfeifen höre, vergesse ich alle Bitternisse des Daseins.

Einmal war ich mit der Großfürstin Anna, der ersten Gemahlin Konstantins, in Oranienbaum; wir liefen barfuß im seichten Wasser am Seestrande herum, lachten und waren so ausgelassen, daß sich die Staatsdame bei der Kaiserin beschwerte. Dies liegt schon ein Vierteljahrhundert zurück. Doch das gleiche lustige Mädchen wohnt noch heute in meiner Brust.

Wirklich, ich liebe noch vieles von dem, was das Leben gibt. Ich liebe es, in Peterhof abends auf einem Stein am Meeresufer zu sitzen und, ohne an etwas zu denken, mit den Blicken die Möwen und die Segelschiffe zu verfolgen. Ich liebe es, am frühen Morgen, wenn die Fensterläden noch geschlossen sind und alle schlafen, auf der Kamennyj-Insel, auf jenem einsamen Pfad zu spazieren, auf dem ich so oft mit Aljoscha gewandert bin. Ich liebe den seltsamen Nachtigallengesang in den weißen Nächten. Ich liebe den Duft der Birken im Frühjahr beim Regen, der so warm und still ist wie Tränen der Freude.

Sophie nennt alle diese Freuden ›Blumen am Fuße des Kreuzes‹. Warum so hochtrabend?

Neulich fand ich in meiner Schatulle Stricknadeln, und ich konnte mich anfangs gar nicht besinnen, woher ich sie habe. Endlich fiel es mir ein, daß wir im Jahre 12 für die Soldaten wollene Strümpfe gestrickt haben.

Eine Masche folgt der anderen, ein Tag folgt dem anderen, so werde ich mein ganzes Leben wie eine alte gutmütige Deutsche einen wollenen Strumpf stricken.

* * *

Ein neuer Todesfall: Sophie Naryschkin. Das arme Kind! Sie war mir wie eine Tochter.

Der Kaiser ist wieder unglücklich und wieder mit mir. Ob für lange?

Spät nachts kam er von der Naryschkinschen Villa zurück, wo er von der Verstorbenen Abschied genommen. Er kam nicht zu mir herein, sondern schickte mir einen Zettel: ›Sie ist tot. Ich bin für alle meine Verirrungen bestraft.‹

Ich fürchte so sehr, ihm lästig zu sein, daß ich heute früh nicht wagte, mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Man sagt, daß die alte Wunde auf seinem Fuß sich wieder geöffnet habe.

Morgen reist er mit Araktschejew ab, um die Militärischen Siedlungen zu besichtigen. Er muß früher oder später zu mir zurückkehren: wohin sollte er sich denn wenden?

* * *

Er kann sich auch zu einer anderen wenden: zu Frau Naryschkin. Sophies Tod hat sie wieder einander genähert. Er braucht jetzt uns beide: ich bin Krankenschwester und Geliebte, sie ist Gattin und Mutter. Das habe ich noch nie erlebt, daß sie mit ihm auch im Unglück ist: es war immer so, daß sie mit ihm im Glück, und ich mit ihm im Unglück war. Nun ist er mit uns beiden.

* * *

Ich beobachte ihn und erfahre auf Umwegen, wann er sie besucht. Ich brauche es übrigens gar nicht erst von den anderen zu erfahren, denn ich weiß es immer von selbst. Ich habe in dieser Beziehung die Spürnase eines Hundes. Mir scheint, daß ich an ihm ihren Geruch, den Geruch von Moschus wahrnehme, der mich an das halbfinstere Zimmer mit den herabgelassenen Vorhängen erinnert.

Bin ich denn noch immer auf diese Kreatur eifersüchtig? Sie ist wirklich nur eine Kreatur; ich gebrauche das Wort nicht als Schimpfwort, sondern als die einzig richtige Bezeichnung. Darf man denn eine Frau auslosen, wie er sie mit Platon Subow ausgelost hat? Kann man denn jemand lieben, den man verachtet? Er glaubt übrigens, daß man es gar nicht anders kann.

›Um eine Frau zu lieben, muß man sie ein wenig verachten,‹ sagte er einmal vor vielen Jahren zu mir, als wir beide noch von der Liebe sprachen.

Das war ein Kompliment: er achtet mich zu sehr, als daß er mich lieben könnte. Er war anscheinend immer der Ansicht, daß wir geistige Zwillinge, Bruder und Schwester seien, und daß eine fleischliche Liebe zwischen uns Blutschande wäre.

Wen er am meisten von allen verachtet, weiß ich nicht.

Einmal (es war vor etwa zwanzig Jahren, doch es ist mir, als ob es erst gestern gewesen wäre) fragte ich auf einem Hofball die Naryschkin:

›Wie geht es Ihnen?‹

›Nicht ganz gut,‹ sagte sie, mir in die Augen blickend, ›ich glaube, ich bin schwanger.‹

Sie wußte, daß ich wußte, von wem sie schwanger war. wenn sie aber mich verachtet, so verachtet sie auch ihn.

* * *

Ich habe mich schon längst von jeder Liebe, selbst von der platonischen, losgesagt. ›Es ist Zeit, daß ich in Pension gehe,‹ sagte der Kaiser neulich zu einer Dame, der er einst den Hof machte.

Er liebt es, mir von seinen Herzensangelegenheiten zu erzählen und ist von meiner Teilnahme überzeugt.

Wenn er jemand wirklich je geliebt hätte, wäre es mir leichter, meinen Zustand zu ertragen. Er hatte so viele Liebesgeschichten und doch keine einzige Liebe. Es waren Kaufmannsfrauen, Schauspielerinnen, Frauen von Adjutanten und Stationsaufsehern, blonde deutsche Mennonitinnen; auch die Königin Luise von Preußen und die Königin Hortensie waren darunter. In vielen Fällen kam es höchstens zu Küssen.

›Die Männer verstehen nie, rechtzeitig aufzuhören,‹ sagt er. ›Die Liebe ist keine Geometrie: in der Liebe ist oft ein Teil mehr als das Ganze.‹

Vielleicht liebt er die Frauen nicht, weil er selbst zu sehr Frau ist. ›Eine Kokette‹ nannte ihn Königin Hortensie. Ein unverbesserlicher Geck, bewundert er in den Augen der Frauen wie im Spiegel nur sich selbst.

Während des Wiener Kongresses erschien er einmal auf einem Ball im schwarzen Frack, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, er wollte, daß die Damen den Kaiser in ihm vergessen.

›Ich bin zwar ein nordischer Barbar, doch ich verstehe es, in Damengesellschaft galant zu sein.‹

Wie die alten Kavaliere am Hofe Ludwigs XIV. setzt er an Stelle der Liebe – Galanterie.

Die blauäugige junge Deutsche Emilie spielt Klavier; er steht an ihrer Seite, den rechten Fuß mit gezierter Grazie vorgesetzt, hält den Hut in der Hand, wobei der Knopf der Kokarde zwischen zwei Fingern sichtbar ist, blickt durch ein Lorgnon und wendet ihr die Noten um. Er flüstert ihr zu:

›Ich kann es unmöglich glauben, daß Sie mich fürchten ...‹

›Ich fürchte, Eurer Majestät zu mißfallen ...‹

›Vergessen Sie doch um Himmels willen meine Majestät! Lassen Sie mich doch einfach Mensch sein, dies macht mich so glücklich.‹

Eine andere Deutsche (bei den Deutschen hat er überhaupt Erfolg), Amalchen, singt ihm vor dem Abschied: ›Es war ein König in Thule‹, und ihre Tränen fallen auf den blauen Beutel, den sie ihm zum Abschied strickte.

Einmal ritt er einen ganzen Sommer lang jede Nacht zu einem Stelldichein nach Pargolowo; um den Weg abzukürzen, ritt er mitten durch die Saaten. Die Bauern legten Gräben an. Er sprang aber herüber. Die Bauern wußten nicht, wer der Reiter war und beschwerten sich wegen Flurschaden. Er ließ sie reichlich entschädigen und freute sich über das Abenteuer. Er liebt es, Boccaccio mit Werther, das Zweideutige mit dem Empfindsamen zu vermischen.

Es war im Jahre 12 zu Wilna im Hospital, wo in dem großen Leichenhaufen sich zuweilen auch Lebende regten und verwundete stöhnten; die schöne Polin, Panna Dorothea zupfte Charpie; er küßte ihre Händchen und sagte:

›Um diese Charpie zu benützen, möchte ich gerne verwundet sein.‹

›Ça ne tire pas à conséquence,‹ (Das kann keine Folgen haben) – tröstete ihn Napoleon zu Erfurt, als er ihm seine Liebesaffären beichtete. – ›Doch müssen Sie, mein Lieber, auch an einen Thronerben denken.‹

Er fragte ihn auch nach meiner körperlichen Konstitution aus und gab ihm medizinische Ratschläge, wohl mit der gleichen herablassenden Miene, mit der er seine Adjutanten am Ohre zupfte.

›In der Welt gibt es nichts Ewiges, und selbst die Liebe kann nicht ewig dauern,‹ sagte kurz nach unserer Trauung die alte Kupplerin, Gräfin Schuwalowa, zu uns. Dies merkte er sich; er befolgte auch sein ganzes Leben lang diese Weisheit. Liebesspiel ist für ihn Hölzchenspiel.

Was geschah?

›Sie ist tot. Ich bin für alle meine Verirrungen bestraft.‹

Hat er es vielleicht doch begriffen, daß es Folgen haben kann?

* * *

Alle diese Tage ist meine Seele wie ein Stück rohes Fleisch.

Er hat noch immer nicht herausgefunden, wen er jetzt notwendiger braucht, – mich oder die Naryschkina. Von mir eilt er zu ihr, und von ihr zu mir. Heute sagt er zu mir: ›Sie sind mein Schutzengel, der erste nach Gott!‹ – Und morgen gibt er mir zu verstehen, daß er meine Liebe nicht mehr braucht. Es ist ein ewiger Aufstieg und ein ewiger Sturz. Meine Seele ist dadurch ermüdet bis an den Tod.

Ich habe gelitten, ich leide und werde leiden. Kann aber nicht die Geduld auch zuweilen Gemeinheit sein?

Ich bin wie ein Hund, der unter dem Messer des Vivisektors noch im Sterben die Hände seines Herrn leckt.

* * *

Als ich heute nachts durch die Schloßsäle ging, hörte ich Musik. Ich blieb stehen und sah durch das offene Fenster in den Nebensaal hinein. Da fiel es mir ein, daß die Kaiserinmutter heute einen Ball hatte.

Ich stand im Georgssaal, in dessen Tiefe sich der Kaiserthron befand, und sah vor mir in den erleuchteten Fenstern tanzende Paare wie Schatten vorbeihuschen. Es war eine weiße Nacht. Es war so hell wie am Tage. Die Flammen der Lampen und Kerzen leuchteten wie Beerdigungskerzen, und die lustigen Polkas klangen traurig wie die Lieder kranker Kinder.

Wenn die Seelen der verstorbenen die Lebenden besuchen, so empfinden sie wohl dasselbe, was ich in diesen Augenblicken empfand. Die armen Menschen! Die armen Kinder! Vielleicht werden wir dort darüber lachen, worüber wir hier geweint haben, und die Jahre der Trauer, die Jahre der Trennung werden uns wie ein Augenblick erscheinen.

Aljoscha, Mäuschen und Lisa waren mit mir; wir blickten alle zusammen aus jener Welt in die jetzige. Und die Nacht war hell, wie das Lächeln aus dem Gesichte eines verstorbenen, wie der Widerschein eines abendlosen Tages.

* * *

›Des Menschen Feinde sind sein eigen Hausgesinde‹, dies habe ich selbst erfahren.

Karamsin sagt mir:

›Sie sind unter den Menschen wie eine Porzellanvase unter gußeisernen Töpfen.‹

Wenn ich auch keine Porzellanvase, sondern nur ein unglücklicher irdener Topf bin, wie glücklich sind dagegen die gußeisernen! Die Kaiserinmutter ist aber die glücklichste, die gußeisernste.

Seit einiger Zeit kann man sie nicht wiedererkennen: sie war immer so geziert, auf die Etikette versessen; plötzlich, auf ihre alten Tage, umgibt sie sich mit blutjungen Hofdamen, blutjungen Offizieren und tollt in dieser Gesellschaft, als ob sie nicht sechzig, sondern sechzehn Jahre alt wäre. Es gibt ununterbrochen Bälle, Picknicks, Maskeraden, Soupers, Konzerte, Feuerwerk und italienische Nächte. Sie ist immer unterwegs: aus Petersburg nach Pawlowsk, aus Pawlowsk nach Gatschina, aus Gatschina nach Zarskoje Ssjelo, und alle rennen über Hals und Kopf ihr nach. Mir schwindelt davon der Kopf, sie fühlt sich aber dabei sehr wohl.

Seit einiger Zeit trägt sie beim Reiten männliche Kleidung: einen goldgestickten violetten Leibrock, einen runden Hut mit einer Feder und weiße enganliegende Trikots an den Beinen. Da es bei ihrer Korpulenz nicht sehr dezent wirkt, ist der Park für das Publikum gesperrt: der diensthabende Kammerpage läuft vor ihr her mit einer gußeisernen Ratsche in der Hand, um alle zu verscheuchen.

Ja, es ist wirklich indezent, doch wie appetitlich ist ihr ganzes Leben. Wie appetitlich trinkt sie ihren starken Kaffee und spielt ihre Grand-Patience. Sie atmet so appetitlich die kühle Luft ein und hält immerfort alle Fenster geöffnet, wobei sich alle andern erkälten. Sie wirtschaftet so appetitlich in ihrer Meierei zu Pawlowsk und ist so rosig, weiß und frisch, daß sie wie eine Viehmagd nach warmer Milch zu riechen scheint. Sie spricht so appetitlich: ›Meine lieben Kühe und Kälber! Mein liebes Pawlowsk mit allen meinen lieben Kindern!‹ Am appetitlichsten ist es aber, wenn sie ihre Seele mit Philanthropie zu retten sucht: ›Ich hätte lange nicht so viel Freude am Leben, wenn es nicht die Armen gäbe.‹

Vielleicht beneide ich sie nur darum, weil ich selbst so unappetitlich lebe? Zuweilen sage ich mir: so muß man sein; sie ist ordentlich ins Leben eingedrungen und zweifelte nie, ob sie es annehmen, ob sie zur Welt kommen wolle. Ohne zu zweifeln kam sie zur Welt, ohne zu zweifeln gebar sie ihre Kinder. Die Großmutter sagte zu ihr: ›Madame, Sie sind wirklich eine große Meisterin im Gebären!‹ Vielleicht ist dies die wahre Religion: in allen Dingen auf die göttliche Gnade bauen und sich durch nichts aus der Fassung bringen lassen.

Wie dumm bin ich dagegen!

* * *

Pawlowsk ist ein Paradies. Doch vor diesem Paradies ekelt es mich.

Die Arbeiter, die die Teiche zu reinigen haben, ziehen zuweilen aus dem Schlamm bei der Liebesinsel eine tote Katze oder ein Zeitungsblatt hervor. In den ewigen Nebeln vermengt sich der süßliche Geruch des Torfbrandes mit dem Kampfergeruch der Sümpfe. Es riecht nach Rosen und nach Fröschen. Hier ist ein wahres Reich von Fröschen. Die Kaiserin liebt sie sehr, und ihr Hofdichter Schukowskij bereitet in einer silbernen Pfanne vorzügliches Froschfilet mit einer sauren Sauce. Alle lecken sich die Finger danach, doch mir wird davon übel.

* * *

Im Rosenpavillon kam heute beim Teetisch die Rede auf die Leibeigenschaft der Bauern.

Schukowskij, Karamsin, Krylow, Neledinskij, der neue Minister Schischkow und noch einige Greise, sieche Senatoren waren sich darüber einig, daß die Befreiung der Bauern Unsinn wäre. Ich beging die Dummheit, ihnen zu widersprechen. Ich sagte, was ich immer dachte:

›Die Abschaffung der Leibeigenschaft ist das erste, was in Rußland geschehen muß.‹

Plötzlich verstummten alle und wurden verlegen, als ob ich etwas Unanständiges gesagt hätte. Karamsin begann dann vorsichtig zu widersprechen und bewies, daß unser Volk, das weit davon entfernt sei, seinen Zustand für Sklaverei zu halten, mit Leib und Seele an seinem Zustand hänge und darin sein Glück sehe. Als auch die Kaiserinmutter dieser Ansicht zustimmte, fielen alle über mich her.

Im Garten gab es ein Konzert von jungen Fröschen, und im Rosenpavillon – ein Konzert von alten Kröten.

›Aber erlauben Sie, die russischen Bauern leben ja in Herrlichkeit und Freuden,‹ rief Schukowskij aus. ›Es steht außer jedem Zweifel, daß das Leben unserer Bauern bei einem guten Gutsherrn das beneidenswerteste in der Welt ist.‹

›Für die Bauern, die sich nur äußerlich vom lieben Vieh unterscheiden, wäre die Freiheit mit Nichtstun und Zügellosigkeit gleichbedeutend,‹ fiel Neledinskij ein.

›Die Gutsherren sind im Staat dasselbe, was die Finger an der Hand sind: wenn man die Zügel nur ein wenig lockert, können die Pferde einen zum Teufel tragen!‹ lallte ein Greis.

›Man kann sich gar nicht ausmalen, was für ein Teufelsbrei aus der Freiheit entstehen würde!‹ lallte ein anderer.

Schischkow wurde bleich und zitterte an allen Gliedern.

›Haben denn alle Schrecken Europas uns noch nicht den Beweis geliefert, daß die Freiheit, das Idol der blinden Ausländer, nur zu Raserei, Unzucht und Umsturz führt? Die Hand des Höchsten hat uns bisher beschirmt. Was können wir uns denn noch wünschen?‹

Die allerdickste Kröte, Krylow, schwieg; ich konnte aber auf seinem Gesicht lesen, was er von der Freiheit dachte.

Ich fühlte, daß ich mich nicht beherrschen und noch mehr Dummheiten sagen würde; ich erhob mich von meinem Platz und ging fort.

Schukowskij holte mich ein. Er weiß, daß ich ihm wenig gewogen bin, und dies beunruhigt ihn: ich bin ja immerhin eine Kaiserin.

Er begann sich wegen der Meinungsverschiedenheit im Gespräch über die Freiheit zu entschuldigen und fragte mich, ob ich ihm dafür zürne.

›Lassen Sie es, Wassilij Andrejewitsch. Sehen Sie lieber, wie schön doch der Mond scheint!‹

Wir gingen durch eine einsame Allee am Seeufer.

›Daß diesen Mond der Kuckuck!‹ sagte er, das Gesicht verziehend. ›Ich werde wohl wieder einen Bericht darüber schreiben müssen ...‹

Er muß für die Kaiserin gereimte Berichte über alle Pawlowsker Mondnächte schreiben.

Dennoch versank er beim Anblick der schönen Mondnacht in Gedanken und begann zu philosophieren:

›Der Tod ist in seinem wahren Sinne besser als das Leben. Auf der Erde gibt es nichts Unvergängliches; es erwartet uns jenseits des Grabes. Das Beste, was man noch in diesem Leben tun kann, ist zu träumen ...‹

Ich hörte ihm zu und fragte mich: warum liebe ich ihn nicht? Er ist gut und klug; seine Gedichte sind entzückend. Und doch liebe ich ihn nicht.

Er ist dick, rund und kahl, wie ein Porzellanchinese im Schaufenster eines Teeladens, der immer nickt und zu allem zu sagen scheint: ›Alles ist zu unserem Besten!‹ Auf dem Gesicht seiner Exzellenz kann man lesen: ›Lob sei dem Herrn der Erde und des Himmels! Ich bin mit allem zufrieden, wie mit meinem Gehalt, so auch mit den Gratifikationen.‹

Von der alten romantischen Schwermut hat er Verstopfungen in der Leber; auf ärztlichen Rat reitet er täglich zur Motion auf einem Schaukelpferd.

Als man Goethe fragte, was er von Schukowskij halte, sagte er: ›Er wird es noch weit bringen! Ich glaube, er ist schon jetzt wirklicher Staatsrat?‹ Wjasemskij hat über ihn gesagt: ›Obwohl Schukowskij noch lebt und sich des besten Wohlseins erfreut, hat man doch Lust zu sagen: ein ausgezeichneter Mann war der Verstorbene, Gott hab ihn selig!‹

Der auf den Rosen von Pawlowsk ruhende Hofdichter und Hofkoch für Haferbrei und Froschfilet verteidigte neulich die Todesstrafe. Er sagte, daß man aus ihr ein christliches Sakrament machen müsse.

›Es kann keine andere Philosophie als die christliche geben: von Gott zu Gott,‹ sagte er, die Augen auf den Mond gerichtet. ›Etwas sehnsüchtig herbeizuwünschen bedeutet, sich in die Angelegenheiten der göttlichen Vorsehung zu mischen. Der Mensch muß in allen Fällen die Mitte wählen ...‹

›Den goldenen Mittelweg?‹ platzte ich heraus und lachte. ›Wissen Sie noch, Exzellenz:

Kinder, der Haferbrei steht auf dem Tisch. Setzt euch und betet ...‹

›Der Haferbrei ist wirklich meine Schwäche, Majestät; auch Sie werden ihn einmal lieb gewinnen.‹

Ich blickte in seine chinesischen Augen und sagte nichts. Ich glaube aber, daß er begriff, wie sehr es mich ekelte.

* * *

Die Reise des Kaisers durch die östlichen Provinzen ist für den Herbst angesetzt. Er wird im August abreisen und im November zurückkehren. Ich denke schon jetzt mit Grauen daran, daß ich allein in Zarskoje zurückbleiben muß. Mit welcher Freude würde ich ihn begleiten! Er will aber davon nichts hören.

Diese ewigen Reisen sind das Unglück meines Lebens. Wenn er in einem Jahre nicht seine zwölftausend Werst zurückgelegt hat, so fühlt er sich nicht wohl. In seinem ganzen Leben hat er nicht weniger als 200 ;000 gemacht. Es ist eine wahre Krankheit. ›Am wohlsten fühle ich mich in meinem Reisewagen,‹ sagt er: ›nur im Reisewagen habe ich Ruhe.‹

In steter Hast rennt er kopfüber hin und her und hetzt zahllose Pferde zu Tode. Wegen der geringsten Verzögerung gerät er außer sich. Er sagt: ›Ich habe auch so schon eine halbe Stunde gegen die Marschroute Verspätung!‹

Er ist immer pressiert, als ob er irgendwohin zu spät zu kommen fürchtete. Er behauptet, er müsse irgend etwas besichtigen; dies ist aber nur ein Vorwand: er reist ganz ohne Ziel. Er lacht selbst über sich:

›Ich bin wie der Ewige Jude. Ich tauge zu nichts anderm, als zum ewigen Herumirren in der Welt, als ob auf mir die Prophezeiung lastete: Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.‹

* * *

Er ist abgereist. Ich wohne allein in Zarskoje. Im Herbst ist es hier so schön, einsam und still. In klaren Nächten blickt zu mir der Mond herein; er ist mein einziger Genosse. Trotz meiner vierzig Jahre träume ich wie ein dummes junges Mädchen beim Mondschein von meinem Geliebten.

Karamsin ist auch hier. Wir sehen uns recht oft. Ich lese ihm aus meinem Tagebuch vor. Einzelne Stellen kann ich nicht laut vorlesen; dann reiche ich ihm das Buch, und er liest die Stelle selbst, ohne etwas zu sagen. Zuweilen sehe ich in seinen Augen Tränen, doch ich schäme mich ihrer nicht: er liebt mich. Er sagt:

›Ich verstehe es, Sie aus der Ferne mit jenem Gefühl anzublicken, das ich auch ins Jenseits mitnehmen werde: dieses Leben ist für die wahre Liebe zu kurz.‹

Wir wandeln Seite an Seite durch die einsamen Alleen, wo das welke Laub von den Bäumen fällt.

›Mein abendliches Leben ...‹ sagte er einmal. Wie schön ist das gesagt! Wir sind beide alt, müde und abendlich. Wir klagen einander unser Leid vor.

›In rheumatischen Dingen habe ich, Majestät, neue Erfahrungen gesammelt,‹ sagt er, sich auf seinen Stock stützend und etwas hinkend. ›Trotz der wohltuenden Wirkung der atmosphärischen Luft fühle ich bei meinen täglichen Spaziergängen eine beinahe krankhafte Müdigkeit ...‹

Wir irren Seite an Seite durch die leeren Alleen, und um uns her fallen gelbe Blätter.

Im Spätherbst und gerade hier, in Zarskoje, bemächtigen sich meiner die Jugenderinnerungen wie sonst nirgends. Hier auf dieser Wiese, die einst von allen Seiten mit Rasenstücken umpflanzt war und daher ›Rosenfeld‹ hieß, saß oft die Kaiseringroßmutter; sie war um jene Zeit schon recht gebrechlich und wurde in einem Rollsessel gefahren; wir Kinder liefen vor ihr her und spielten alle möglichen Kinderspiele. Mein Bräutigam war ein sechzehnjähriger Knabe, und ich, die Braut, ein vierzehnjähriges Kind.

Großmutter war sehr ungehalten darüber, daß man nachts Rosen stahl, und ließ daher hier einen Wachtposten aufstellen. Es vergingen Jahre, die Rosen sind verwildert, doch der Wachtposten steht noch an der gleichen Stelle wie vor einem halben Jahrhundert und bewacht die nichtexistierenden Rosen, – die Rosen der Erinnerungen. Und es ist mir, als ob ich hier noch den sechzehnjährigen Knaben mit dem vierzehnjährigen Mädchen herumlaufen sehe.

Gott Amor wollte Psychen einst
Im Spiele fangen ...

Jetzt ist alles leer; die letzten Rosen sind verwelkt, ihre Blütenblätter sind abgefallen und haben die schwarzen Herzen entblößt.

›Alles ist wie im Traum, doch dem Herzen tut es weh, wie im Wachen,‹ sagt Karamsin mit seiner leisen Stimme, die wie das Rascheln des herbstlichen Laubes klingt. ›Selbst vor Freude werde ich oft schwermütig. Die Welt verschwindet vor meinen Augen, oder ich verschwinde für die Welt; es soll aber so sein: man muß die Welt verlassen, ehe sie uns verläßt. Es lebe die Vorsehung! Ich möchte beinahe ausrufen: es lebe der Tod! ...‹

Neulich las er mir eine Epistel an Elise, – an mich – vor:

Hier ist ja alles Traum. Doch kommt einst ein Erwachen!
Ich sah dich schon einmal in einem Traume lachen;
Erkennen werd' ich dich, auch wenn der Traum verrinnt ...

Er begann zu weinen und küßte mir die Hand; ich küßte ihn auf seine kahle Stirn.

Während die hellen Herbstfäden um uns her schwebten und im Niedersinken die schwarzen Herzen der verwelkten Rosen umspannen, wiederholte ich seine Worte:

›Alles ist wie im Traume, doch es tut dem Herzen weh, wie im Wachen.‹

* * *

Neben Karamsin wohnt im Chinesischen Häuschen der Kammerjunker Fürst Valerian Golitzin, ein Neffe des früheren Ministers. Er war krank und kämpfte mit dem Tode; jetzt erholt er sich allmählich. Manchmal sehe ich ihn aus der Ferne.

Karamsin sagte mir, daß Golitzin ein Mitglied der Geheimen Gesellschaft sei.

›Welcher Geheimen Gesellschaft?‹

›Wissen Sie es denn nicht?‹

›Nein, ich weiß nichts.‹

Er war zuerst verlegen und wollte nichts sagen; ich bat ihn aber so lange, bis er mir alles erzählte.

Es gibt hier in Petersburg, wie auch in der Armee des Südens, eine Verschwörung, die die Einführung einer Verfassung anstrebt. Die Verbrecher wollen das Heer aufwiegeln und, wenn es notwendig sein sollte, den Kaiser töten.

Der Kaiser soll es schon längst wissen, warum hat er mir bisher noch nichts davon gesagt?

Jetzt weiß ich, was meine Vorahnungen zu bedeuten haben. Ich versuchte immer zu ergründen, was er auf dem Herzen hat, was ihn so quält und seine Gedanken beschäftigt. Jetzt weiß ich es.

* * *

Es gibt noch eine Neuigkeit: Großfürst Nikolai ist Thronfolger. Ich erfuhr es zufällig aus einem Gespräch der Kaiserinmutter mit Nixe und Alexandrine, das sie in meiner Gegenwart führten, vor mir genieren sie sich überhaupt nicht. Die Kaiserin fragte mich:

›Hat Ihnen denn der Kaiser nichts gesagt?‹

Sie sah, wie ich mich schämte und wie es mir weh tat: vielleicht hatte sie auch nur zu diesem Zweck das Gespräch begonnen.

* * *

Karamsin hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit noch Verschiedenes erzählt; er fürchtet, daß es der Kaiser erfährt und ihm dann zürnt.

Nikolai ist Thronfolger, dies ist beschlossene Sache. Konstantin hat auf die Thronfolge verzichtet, und auch der Kaiser hat schon möglicherweise bei Lebzeiten zugunsten Nikolais abgedankt. Es gibt darüber ein Manifest, Testament oder dergleichen, das irgendwo versteckt ist; niemand weiß darüber etwas Genaues zu sagen.

Auf Grund eines geheimen Testaments wird Rußland wie ein Privateigentum aus einer Hand in die andere übergehen. Das Schicksal des Volkes wird wie eine Familiensache behandelt: nach dem Tode des Hausherrn wird man das Testament öffnen und erfahren, wem Rußland gehört.

Ich kann mich an diese Neuigkeit nicht gewöhnen: Nikolai, Nixe – Selbstherrscher von Rußland!

Ich besinne mich noch gut an die ewigen Schlägereien zwischen Nixe und Michel. Nixe war ein ungezogener Bengel: wenn er in Wut geriet, schlug er mit einer Axt alle seine Spielsachen entzwei und haute den armen Michel mit einem Stock, oder was ihm gerade in die Hand fiel. Dafür konnte er es noch als Knabe im Exerzieren mit dem besten Gefreiten aufnehmen. Ich habe später noch nie ein Buch in seiner Hand gesehen; seine einzige Beschäftigung sind Frontübungen und Soldaten.

›Ich habe nie an eine Thronbesteigung gedacht,‹ sagt er selbst, ›man hat mich zu einem Brigadegeneral erzogen.‹

Er war bereits erwachsen, als er in Twer im Garten der Großfürstin Katharina zum Scherz eine Apollostatue mit Pulver in die Luft sprengte. Auch er selbst ist schön wie Apoll, doch leider meistens schlecht gelaunt: ein Apoll, der Zahnweh hat.

Neulich nannte er bei einer Übung alle Offiziere vor der Front ›Schweine‹ und drohte, allen ›Philosophen‹ die Schwindsucht in die Gurgel zu jagen. Jemand hatte von ihm gesagt: » Il y a beaucoup de praporchique en lui et un peu de Pierre le Grand.« (Praporschtschik – russisch Fähnrich.)

Wie wird er wohl regieren?

Ich weiß übrigens nicht, wer besser ist, – Nikolai oder Konstantin?

Konstantin ist die Abneigung gegen den Thron angeboren.

Er sagt: ›Mich wird man wohl auch erdrosseln, wie man den Vater erdrosselt hat.‹

Wenn ich sein Gesicht mit der aufgestülpten Nase, den trüben, blauen Augen, den hellen zusammengezogenen Brauen und den hellen Härchen auf der Nasenspitze, die sich, wenn er zornig wird, sträuben, sehe, ist es mir, als ob ich ein Gespenst des Kaisers Paul vor mir hätte.

›Ich begreife gar nicht,‹ pflegte die Großmutter zu sagen, ›woher Konstantin diese Sansculotterie hat!‹

Einmal sagte er von seiner Mutter, als sie schwanger war:

›Mein Lebtag habe ich noch keinen so dicken Bauch gesehen: da ist mindestens für viere Platz!‹

Ich habe mit eigenen Augen einen Brief von ihm an Laharpe gesehen, den er ›l'âne Constantin‹ unterschrieb, vielleicht ist es auch die echte Selbstdemütigung eines Sansculotten; denn er ist auf seine Art aufrichtig und gutmütig.

So oft ich ihn sehe, erscheint vor mir der Schatten der im Marmorpalais, wie in einer Räuberspelunke, geschändeten und ermordeten Madame Arranschuo; auch der Schatten Aljoschas, den der Dolch eines gedungenen Mörders aus dem Hinterhalt traf.

Und doch ist Konstantin immer noch besser als Nikolai.

Jetzt verstehe ich, warum sie alle plötzlich so stolz sind: die Regierung Kaiser Alexanders ist zu Ende, die Regierung Kaiser Nikolais hat begonnen.

Es scheint mir zuweilen, daß sie alle den Kaiser verraten und verkauft haben.

Was soll nun mit Rußland werden?

* * *

Ich muß immer an die Geheime Gesellschaft denken.

Das schrecklichste ist, daß diese Verbrecher wirklich im Besitze einer Wahrheit sind, warum nenne ich sie ›Verbrecher‹? Haben wir denn nicht selbst am 11. März das Beispiel gegeben?

Vielleicht verstehe ich auch nichts von der Politik. Mir scheint aber, daß es in Rußland nicht so zugeht, wie es zugehen sollte.

Ich besinne mich auf mein Gespräch mit dem General Kisseljow, dem Generalstabschef der Südlichen Armee, wo doch das Nest der Verschwörer ist. Man behauptet, er stehe auf ihrer Seite; doch ich glaube es nicht: er ist dem Kaiser treu ergeben.

›Vierundzwanzig Jahre lang hat uns die Regierung selbst mit liberalen Ideen gefüttert,‹ sagte Kisseljow. ›Wenn man jetzt jemand für seine freiheitliche Gesinnung verfolgt, so ist es doch dasselbe, als wenn man einen Blinden, dem man den Staar aus den Augen entfernt, bestrafen wollte, weil er das Licht sieht. Im Jahre 12 predigte man uns in vielen Aufrufen, Manifesten und Befehlen freiheitliche Ideen. Man verlockte so das Volk, das alles mit gutem Glauben hinnahm und freudig Blut und Gut opferte. Napoleon wurde gestürzt, Europa befreit, und der Kaiser kehrte mit dem Siegerlorbeer heim, hat aber das Volk, das ihm zu diesem Ruhme verholfen, seinen Lohn bekommen? Nein! Die zurückgekehrten Krieger begannen zuerst zu murren: Wir haben unser Blut vergossen und müssen nach wie vor in der Leibeigenschaft schmachten; wir haben das Vaterland von Tyrannen befreit und müssen das Joch der Gutsbesitzer tragen. Alle, Soldat und General, sagten: wie schön ist es doch in fremden Ländern; warum ist es bei uns nicht so?‹

›Dies ist der Ursprung der freiheitlichen Ideen in Rußland,‹ schloß Kisseljow. ›Um die Wurzel zu vernichten, muß man die ganze Generation, die unter der jetzigen Regierung geboren und erzogen ist, vernichten.‹

Ich füge dem hinzu: dies ist auch der Ursprung der Geheimen Gesellschaft. Sie besitzen eine Wahrheit. Der Kaiser weiß es und darum quält er sich so. Warum hat er es mir doch nicht gesagt? Warum quält er mich so?

Ich muß mit ihm unbedingt darüber sprechen. Mag kommen was will.

* * *

Ich war den ganzen Winter über krank; ich hatte mich bei der Überschwemmung erkältet.

Jetzt geht es mir besser; so behauptet man wenigstens. Ich weiß es nicht. Mir ist alles gleich. Ich bin ganz teilnahmslos. Ich bin so schwach und kraftlos, daß ich am liebsten einen Löffel voll Leben, wie einen Löffel voll Medizin einnehmen möchte; nur dies könnte mir helfen.

* * *

Es gibt wieder Bälle, Maskeraden, Konzerte, Soupers und Visiten, unzählige Visiten, unzählige Verwandte, vierzigtausend Verwandte: von Württemberg, Oranien, Weimar und Rußland; alle sitzen sie mir auf dem Halse. Ich muß gegen alle freundlich sein; doch kaum gehen sie fort, so breche ich wie ein müdegehetztes Pferd zusammen.

* * *

Gestern mußte ich mich trotz starker Kopfschmerzen zu einem Ball ankleiden. Ich stand vor dem Spiegel. Kaum hatte man mir meinen armen Kopf mit Blumen und Brillanten geschmückt, als ich plötzlich Erbrechen bekam. Nach dem Erbrechen fühlte ich einige Erleichterung und begab mich auf den Ball; ich blieb bis zum Souper da und floh erst vor dem Geruch der Speisen. Als ich wieder allein war und mich im Spiegel erblickte, erschrak ich: ich sah wie eine Leiche aus.

* * *

Heute saß ich im kalten Empfangszimmer bei Alexandrine, wo es entsetzlich zog, besuchte dann die Kaiserin, der ich höchst ungelegen kam, und mußte noch nachts auf einen Maskenball. Und dabei sagt man mir: ›Sie müssen sich erholen!‹

* * *

Der Kaiser schickte mir einen Zettel: ›Wenn Sie meine Hilfe benötigen, will ich gerne alle diese Visiten abstellen; ich flehe Sie aber an, Ihrem Martyrium ein Ende zu machen.‹

Der Leibarzt Stoffregen sagte ihm geradeaus, daß sie mich morden.

Wenn ich die Treppe im Winterpalais – es sind 73 Stufen – hinaufgehe, habe ich das Gefühl, daß ich hier einmal tot zusammenbrechen werde.

Ich bin wie ein Wachtposten, der seinen Platz nicht verlassen darf. Ich will nicht mein Brot umsonst essen und ich kann es nicht vertragen, wenn man mich bemitleidet. Zuweilen sitze ich in meinem Zimmer mit verschleiertem Gesicht, um nicht alle die mitleidsvollen Blicke zu spüren: ›Ach, diese arme Frau! So krank, so unglücklich!‹

Es ist dasselbe Martyrium, wie wenn jemand nackt, mit Honig beschmiert und gefesselt hingestellt wird, um von Insekten gefressen zu werden.

* * *

Die Ärzte meinen, ich hätte die Schwindsucht. Ich glaube ihnen nicht.

Seit vielen Jahren fühle ich das Schlagen einer Ader unter dem Herzen; etwas zittert in mir wie ein angeschossener Vogel.

Ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat: ›Im Leben eines jeden Menschen tritt einmal die Zeit ein, wo sein Herz entweder versteinern oder brechen muß.‹

Mein Herz ist nicht versteinert, folglich muß es brechen. Der arme irdene Topf unter den gußeisernen Töpfen!

* * *

Die Ärzte meinen, ich sei krank, und mir scheint es, daß ich sterbe. Mein Körper ist wie ein altes Kleid; jede Kleinigkeit verursacht ein Loch, und es läßt sich nichts daran flicken, denn es gibt keine Stelle, an der man eine Naht anbringen könnte.

* * *

Ich glaube, daß man mich im Herbst nach Taganrog verbringen wird. Mir ist es gleich. Ich will nur nicht nach Italien: der Einblick einer kranken Kaiserin, die von Stadt zu Stadt transportiert wird, muß schrecklich sein.

Ich könnte nirgends außer in Rußland leben, selbst wenn mich die ganze Welt vergessen sollte. Ich will auch in Rußland sterben.

Der Kaiser wird mich nach Taganrog bringen und für den Winter nach Petersburg zurückkehren. Ich werde allein bleiben, wieder allein.

* * *

Ich sehne mich nach einem einsamen grünen Winkel am Meeresstrande, doch nur an seiner Seite. Dies wäre aber für mich ein allzu großes Glück. Ein jeder kann sagen: ›Ich reise dahin und dorthin.‹ Mein Stallmeister sagt: ›Ich gehe in ein Seebad.‹ Ich kann es aber nicht sagen.

* * *

Ich wäre längst gesund, wenn man mir erlaubt hätte zu reisen, als ich noch Lust dazu hatte. Der Kaiser wollte es aber durchaus nicht erlauben, ich weiß nicht warum. Jetzt ist es zu spät.

* * *

Ich habe immer gebetet, Gott möchte mir helfen, mich selbst zu überwinden und jeden Wunsch in mir abzutöten. In großen wie in kleinen Dingen opferte ich mich immer für den Kaiser auf. Anfangs fiel es mir schwer, wenn er aber sagte: ›Sie sind ja so vernünftig‹, machte ich alles, was er wollte. Ich vermischte meine Verehrung für ihn mit der Verehrung für Gott, und dies war meine Religion. Ich sagte mir: ›Er will es so‹, und sofort wurde das Schwere leicht und das Bittere süß. Es wurde immer leichter und süßer.

Nun habe ich mich wirklich überwunden. Ich habe weder Wünsche, noch einen Willen, rein gar nichts; als ob ich selbst nicht mehr wäre.

Warum habe ich nun plötzlich diese Angst? Warum weiß ich nicht, ob ich im Rechte bin? Ob er im Rechte ist?

* * *

›Du hast ein falsches Schamgefühl,‹ sagt Mamachen oft zu mir. ›Wenn man dich zurückdrängt, versteckst du dich sofort, beginnst dich zu schämen und schleichst an den Wänden entlang, damit dich niemand bemerkt. Man muß mit größerem Selbstvertrauen auftreten. In deiner Lage ist es durchaus notwendig.‹

Ja, mein ganzes Leben lang schleiche ich an den Wänden entlang. Ich stelle mich so, als ob ich gar nicht da wäre. Wie es in der Schrift heißt: ›Lasset eure Weiber schweigen.‹

Ich bin nur Weib, zu sehr Weib.

* * *

Habe ich auch Recht getan, als ich mich überwand, als ich mich ihm aufopferte? Vielleicht mußte ich mich auflehnen? Vielleicht täte ich besser, wenn ich mich auflehnte?

Jetzt ist es aber zu spät. Jetzt braucht er mich notwendiger als jemand anderen; er braucht meinen Willen, meine Kraft und meine Hilfe; doch ich kann ihm nichts geben, denn ich habe selbst nichts. Ich bin eine Tote an der Seite eines Lebenden. Zuweilen nähert er sich mir, scheint noch immer auf etwas zu hoffen, will etwas sagen und wartet, daß ich etwas sage; ich finde aber keine Worte und wir schweigen beide. Und wenn wir sprechen, so ist es ein Gespräch von Taubstummen.

Ich weiß nicht, was mit ihm vorgeht, ich sehe nur, daß er in einer so schweren Bedrängnis ist wie noch nie. Und ich kann nicht helfen, kann nichts unternehmen. Ich muß zusehen, wie er untergeht, und kann nichts, rein gar nichts machen.

Wir sind wie zwei Ertrinkende: wir halten uns fest, umklammert und sinken beide auf den Grund.

Wenn ich allein an allem schuld bin, verzeihe mir, o Herr! Du hast mich selbst so geschaffen. Ich kann nichts, ich will nichts, ich weiß nichts, – ich liebe nur.

Wenn wir aber beide schuld sind, so bestrafe mich und nicht ihn, nimm meine Seele statt der seinigen ...«

* * *

Sie schloß das Tagebuch mit dem Gefühl, daß sein Ende auch ihr Ende bedeutete.

Roter Siegellack tropfte wie Blut auf das weiße Papier. Sie versiegelte es mit der altertümlichen Petschaft, die sie noch aus ihrer Mädchenzeit hatte, mit dem Wappen von Baden. Sie brachte auch eine Aufschrift an: »Nach meinem Tode soll dies verbrannt werden.«

Sie legte das Tagebuch in die Schatulle und schloß sie zu.

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie betete noch immer, daß der Herr sie allein strafen und ihn begnadigen möchte.

In ihrer Seele war noch ein anderes Gebet, doch sie wußte beinahe selbst nichts davon; hätte sie es aber gewußt, so würde sie erstaunen und erschrecken: es war das Gebet, das Gott ihr vergeben möchte, so wie sie Ihm vergab.


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