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V.

»Die schöne Julie seufzt um ihren geliebten Liodor und irrt mit milden Schritten, bleich, traurig und gesenkten Hauptes in der finsteren Öde eines Birkenhains, während der herbstliche Boreas die Erde mit vergilbtem Laube bestreut; das Bild des Herbstes flößt ihrem von Leid zerrissenen Wesen Empfindungen ein, die trüber sind, als die schwärzeste Melancholie.«

Das Buch hieß »Liodor und Julie, oder die belohnte Standhaftigkeit. Eine ländliche Novelle.« So oft Alexander, in den Tagen des Kaisers Paul, im Arrest auf der Hauptwache zu Gatschino saß, pflegte er sich die langen Herbstabende mit der Lektüre ähnlicher Romane und Novellen zu verkürzen. In den späteren Jahren kam er nicht mehr zum Lesen. Jahrelang nahm er nichts als Zeitungsausschnitte und Armeeberichte in die Hand. Doch während der letzten Krankheit hatte er wieder Geschmack an Lektüre gefunden.

Je langweiliger, dümmer und altmodischer ein Roman ist, um so beruhigender wirkt er aufs Gemüt. Es ist wie ein altes Wiegenlied. Die vergilbten Seiten rauschen wie das gelbe Laub des Herbstes; ihnen entströmt der Duft des Herbstes, der traurige und süße Duft der Vergangenheit, dessen, was einst die Jugend war und inzwischen eine längst vergessene Vergangenheit geworden ist. Fünfundzwanzig Jahre sind erst darüber vergangen, er empfindet sie aber als zweieinhalb Jahrhunderte: so sehr hat sich alles verändert, so sehr ist alles und auch er selbst gealtert.

»Als aber der Winter vergangen war, kehrte der geliebte Liodor zu seiner Julie zurück. Bei den Wurzeln wohlduftender Fliederbüsche ruhend, atmeten sie den Duft lenzlichen Ambers ein. Der milde Mond schwamm auf der emaillenen Hemisphäre.

– »Wie herrlich ist das Theater der jungen Reize der Natur!« rief Julie aus, sich in den Armen ihres Liodors einer höchst bewegten Ermattung hingebend.

– »O heilige Natur! – entgegnete Liodor, – nur in deinem Tempel kann ein tugendsamer Mensch wahrhafte Seligkeit empfinden. Ich möchte die ganze Welt verliebt an mein melancholisches Herz drücken, wie ich jetzt dich, o Julie, an mich drücke! ...«

Er saß mit dem Buche in der Hand in einem bequemen Lehnsessel; das kranke Bein ruhte auf einem Schemel mit einer weichen Saffianrolle: diese Vorrichtung hatte für ihn die Kaiserin Jelisaweta Alexejewna, die ihn während seiner Krankheit gepflegt hatte, ersonnen.

Die bösartige Entzündung auf dem linken Bein war die erste ernsthafte Krankheit in seinem ganzen Leben. Die eiternde Wunde ging bis zum Schienbein durch; die Ärzte befürchteten sogar einen Brand. Jetzt war alles verheilt. Er mußte sich aber noch sehr schonen. Manchmal hatte er noch Schmerzen; zuweilen, wenn er lange stehen mußte, wie z. B. heute in der Kirche beim Totenamt, schwoll das Bein wieder an. Heute ist ja der 11. März, der Todestag Kaiser Pauls I.: der 11. März 1801 – der 11. März 1824.

»So stehe ich schon mit einem Fuß im Grabe!« sagte er sich, sein krankes Bein mit jenem bitteren Lächeln betrachtend, das in der letzten Zeit immer häufiger auf seinen Lippen spielte.

Infolge der allzu langen Unbeweglichkeit war das Bein eingeschlafen, gleichsam erstarrt. Er mußte die Lage ändern, doch war er zu faul, sich zu rühren.

Er hatte sich vorhin vorgenommen, um fünf Uhr an die Arbeit zu gehen; die Uhr schlug fünf, halbsechs, sechs, er hatte aber noch immer nichts begonnen.

Nach der Krankheit überkam ihn jetzt sehr oft eine unbezwingbare Trägheit, eine grauenhafte, tödliche Schläfrigkeit; er war imstande, stundenlang so dazusitzen, ganz unbeweglich, den Blick auf irgendeinen Punkt geheftet, ohne zu arbeiten, ohne zu denken, während seine Seele einschlief und erstarrte, wie das kranke Bein; in seinem Kopfe regten sich nur unbedeutende Gedanken, zufällig haften gebliebene Worte, was im Geiste dasselbe Prickeln erzeugte, wie das Blut in einem eingeschlafenen Gliede. Heute pochte in seinem Gehirn unausgesetzt und eintönig wie ein Uhrpendel ein dummes Liedchen. Eine Verszeile hatte er vergessen; er gab sich die größte Mühe, auf sie zu kommen; sie wollte ihm aber nicht einfallen. Ohne diese Zeile waren die Verse sinnlos:

Wie eitel und lose ...
Es hat sich zur Rose
Der Wermut gesellt.

Was für Reime gibt es denn auf »gesellt«? Geld? Bellt? Zelt? Nein, einer unsinniger als der andere. Doch je unsinniger etwas ist, umso zudringlicher bestürmt es die Gedanken.

Dann kam ihm noch etwas Ähnliches in den Sinn: als ihm neulich Jelisaweta Alexejewna riet, statt der langweiligen russischen Romane doch lieber Werke von Walter Scott zu lesen, fiel ihm eine Anekdote ein, die er von seinem Bruder Konstantin Pawlowitsch, einem großen Liebhaber ähnlicher Wortspiele, gehört hatte: Als eine alte Dame aus der Provinz zufällig über den Dichter Walter Scott sprechen hörte, machte sie die Bemerkung: »Herr Voltaire ist ja allerdings ein großer Freigeist, doch darf man ihn deswegen noch nicht ein Vieh nennen« (russisch heißt Skot – Vieh). – »Walter Scott, Voltaire Skot; Walter Scott, Voltaire Skot«, wenn man es schnell vor sich hersagt und die Namen auf der ersten Silbe betont, so klingen beide Wortkombinationen wirklich sehr ähnlich.

»Die Entzündung kam eben auf jene Stelle, wo der Fuß schon einmal verletzt war!« ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Es fiel ihm wieder ein, daß vor drei Jahren, bei einem Kavalleriemanöver ein wildes Pferd nach ihm ausgeschlagen und dabei diese Stelle – das linke Schienbein getroffen hatte. So war es auch in seiner Seele: die Wunde war anscheinend verheilt, und doch fühlte er ab und zu wieder Schmerzen: Wunde auf Wunde, Schlag auf Schlag; das Schlimmste aber ist, daß sich daraus immer noch ein Brand entwickeln kann. Nein, lieber nicht daran denken. Lieber wieder der Unsinn: »Walter Scott, Voltaire Skot.«

Wie eitel und lose ...
Es hat sich zur Rose
Der Wermut gesellt.

Er stand auf, reckte sich und gähnte ganz langsam, und so krampfhaft, daß ihm die Backenknochen wehtaten. »Zuweilen ist das Gähnen schwieriger als das Weinen,« ging ihm sein alter Gedanke durch den Kopf. »Wer weiß, vielleicht ist in der Hölle nicht Heulen und Zähneklappern, sondern nur ein Gähnen, eine Langeweile, eine Ewigkeit von Langeweile?«

Die Uhr schlug etwas. »Wie spät ist es? – Die Ewigkeit. – Wer hat es eigentlich gesagt? Ja, der verrückte Dichter Batjuschkow; Schukowskij hatte es ihm neulich erzählt. Stunde auf Stunde, Ewigkeit auf Ewigkeit, Wunde auf Wunde, der 11. März und der 11. März ... Nein, lieber nicht daran denken ...«

Er ging an den Schreibtisch und wollte arbeiten. Da bemerkte er auf dem Malachittintenfaß Staub. Der Dienerschaft war es verboten, seinen Schreibtisch abzustauben: er fürchtete, daß sie dabei seine Papiere durchstöbern könnten. Er wischte mit einem Stück Sämischleder den Staub vom Tintenfaß. Dann bemerkte er, daß einer der Armleuchter, die auf dem Kamin zu beiden Seiten der Uhr standen, fehlte. Wenn die Ordnung im Zimmer irgendwie gestört war, konnte er unmöglich arbeiten. Er holte aus dem Ärmelaufschlag sein altes einfaches Schildpattlorgnon hervor und sah sich mit seinen kurzsichtigen Augen nach dem fehlenden Armleuchter um.

Das Arbeitszimmer war ein Eckzimmer, und seine Fenster gingen auf die Newa und das Admiralitätsgebäude hinaus. In der Einrichtung gab es weder Vergoldung, noch Schnitzarbeit; die Wände waren grau und kahl. Auf der Decke waren in dunkelgrüner Farbe geflügelte Siegesgöttinnen, Trophäen, Streitwagen und Reiter im altrömischen Geschmack gemalt. Die Möbel im Stile des Napoleonischen Kaiserreichs, waren rot lackiert und hatten Bronzebeschläge; wenn irgendein Möbelstück einen Fleck oder eine Schramme bekam, wurde es sofort durch ein neues ersetzt; alle Möbel steckten in billigen rosagestreiften Überzügen, die dreimal jährlich gewaschen wurden. Der Parkettfußboden war glatt und schlüpfrig wie Eis. An der einen Wand stand zwischen den Fenstern ein großer Schreibtisch; mitten im Zimmer standen noch mehrere kleine, mit grünem Tuch bedeckte Tische, die wie Spieltische aussahen; auf einem jeden Tisch lagen Akten eines bestimmten Ressorts, standen ganz gleiche Tintenfässer mit ganz gleichen Bündeln von Gänsefedern: jede Feder wurde vom Kaiser nur ein einziges Mal benützt; wenn sie auch nur zu einer Unterschrift gedient hatte, wurde sie sofort durch eine neue ersetzt; darauf hatte der Kammerdiener Melnikow zu achten, der für das Beschneiden der Federn ein Jahresgehalt von dreitausend Rubel bezog. Unter allen Tischen lagen ganz gleiche blaugemusterte rote Teppiche. Überall lagen saubere Staublappen und Stücke Sämischleder herum. Zwei ganz gleiche Kamine standen einander genau gegenüber: über dem einen ein Pallaskopf, über dem anderen ein Junokopf; hier eine Bronzeuhr mit einem Achilles, dort eine mit einem Hektor; hier zwei Kandelaber und dort zwei Kandelaber. Alles war hier symmetrisch, regelmäßig und einheitlich. »In allen Dingen liebe ich die Einheitlichkeit,« pflegte Araktschejew zu sagen und Alexander ihm nachzusprechen.

Endlich entdeckte er in einer entfernten Ecke auf einem Schachtischchen den fehlenden Armleuchter; er stellte ihn sofort auf den richtigen Platz zurück.

Auch die fehlende Verszeile fiel ihm ein:

Wie eitel und lose
Ist das Glück dieser Welt:
Es hat sich zur Rose
Der Wermut gesellt.

Dies gewährte ihm die gleiche Befriedigung wie der wiedergefundene Armleuchter. Jetzt war alles in Ordnung. Er setzte sich beruhigt an den Schreibtisch.

Vor ihm lagen zwei Denkschriften des Reichsratmitglieds und Admirals Mordwinow. Sie behandelten die Todesstrafe und die Knute.

»Die Todesstrafe wurde in Rußland vor mehr als siebzig Jahren abgeschafft,« schrieb Mordwinow. »Ihre Wiederaufnahme in das unter der Regierung des Kaisers Alexander I. neu herausgegebene Strafgesetzbuch erfüllt mein Herz mit Sorge und Trauer. Ich wage nicht daran zu glauben, daß diese Strafe unter der glücklichen Regierung seiner Majestät notwendiger geworden ist, als sie es in jenen Tagen, wo sie abgeschafft wurde, war.«

»Ja, sie ist jetzt wirklich notwendiger,« sagte sich Alexander. »Wenn es einmal zu einem Gericht über sie kommt ...«

Er fuhr zusammen wie vor plötzlichem Schmerz; legte die Denkschrift fort und nahm die andere, die von der Knute handelte, vor.

»Seit jener für die ganze Menschheit denkwürdigen Zeit, als alle Völker Europas die Tortur abgeschafft haben, hat nur Rußland die Knute behalten, was den ausländischen Nationen das Recht gibt zur Behauptung, daß unser Vaterland sich noch in einem barbarischen Zustande befinde. Die Knute ist ein entsetzliches Werkzeug; sie zerfetzt den menschlichen Körper, reißt das Fleisch von den Knochen, läßt ganze Blutströme emporspritzen und berieselt mit ihnen den Körper; diese Tortur ist grausamer als alle bekannten, denn alle anderen Torturen sind von kürzerer Dauer: zwanzig Knutenschläge nehmen eine ganze Stunde in Anspruch; wenn aber eine größere Zahl zudiktiert ist, dauert diese Qual oft von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.«

Die Denkschrift schloß mit dem Vorschlag, »die Knute, als eine dem heutigen Stande der Aufklärung und Sittlichkeit des russischen Volkes nicht mehr entsprechende Strafe für immer abzuschaffen.«

Vor sieben Jahren erging an den Reichsrat der kaiserliche Befehl, die Knute abzuschaffen; in diesen sieben Jahren war aber noch immer nichts geschehen; wenn er es dem Reichsrat wieder befiehlt, werden wieder sieben Jahre vergehen, ohne daß etwas geschieht.

Wäre es denn nicht einfacher, jetzt gleich die Feder zu ergreifen und auf dem Rande der Denkschrift die Worte hinzuschreiben: »So ist unser Wille?« Ja, wenn er nicht einmal das darf, wozu taugt dann die ganze Autokratie? Und doch darf er es nicht. »So ist unser Wille« – und nichts geschieht.

Was wird dazu Araktschejew sagen? Nur das, was er schon einmal gesagt hat: »Ich kann Ihnen nur das eine sagen, Väterchen: Mordwinow ist ein Hohlkopf. Ich will gerne mit ihm darüber sprechen, ich weiß aber im voraus, daß er mir nichts Vernünftiges sagen wird.« Die altersschwachen Senatoren werden aber gleich zu tuscheln anfangen: »Rußland kann nicht ohne Knute bestehen!« Nach ihrer Ansicht bedeutet das Ende der Knute den Anfang der Revolution.

Er dachte an den Ukas, durch den die absolut überflüssigen, auf allen Straßen des Reiches aufgestellten Schlagbäume abgeschafft werden sollten; denn sie kamen nur den alten Invaliden zugute, die jeden Reisenden um ein Trinkgeld anbettelten und bei Verweigerung eines solchen den Schlagbaum fallen ließen und so das Wagenverdeck ruinierten. Der Ukas war bis auf die Unterschrift fertig; der Kaiser überlegte sich aber die Sache und unterschrieb ihn nicht. »Was du dir auch ausklügelst, alles bleibt doch beim alten,« pflegte Araktschejew zu sagen; und er hatte recht. Lohnte es sich denn, im alten Misthaufen herumzuwühlen?

»Sie sollten doch die Wand neu tünchen lassen,« sagte jemand zu Krylow, auf einen vom Kopf der Dichters herrührenden Fettfleck hinweisend.

»Nein, mein Lieber: kaum ist der eine Fleck weg, so sitzt schon ein neuer auf der gleichen Stelle. So käme man aus dem Tünchen nie heraus,« erwiderte Krylow.

So ging es auch ihm. Die Fett- und die Blutflecken genierten ihn nicht mehr; er hatte schon längst jeden Gedanken, sie zu beseitigen, aufgegeben. Vor Jahren hatte er sogar den Absolutismus abschaffen wollen; er konnte aber nicht einmal mit den Schlagbäumen fertig werden; natürlich wird er auch die Knute nie abschaffen. »Was du dir auch ausklügelst, alles bleibt doch beim alten.«

Es gab aber eine Zeit, als er an die Möglichkeit eines neuen Rußlands glaubte. »Man mag von mir sagen, was man will, – in der Tiefe meiner Seele bin ich Republikaner, und ich werde mich nie daran gewöhnen, autokratisch zu regieren.« Wenn er sich nicht gleich bei seiner Thronbesteigung vom Absolutismus lossagte, so nur darum, weil er vor der Verleihung der großen Freiheiten an das Volk, seine gesetzmäßige Macht zu einem Staatsstreich von der edelsten Art benützen wollte. Der Krieg mit Napoleon hinderte ihn zunächst an der Ausführung dieses Vorhabens. Nach der Niederwerfung des äußeren Feindes war er freilich auf die Idee einer inneren Befreiung zurückgekommen. War denn sein wichtigstes Lebenswerk – die Heilige Allianz etwas anderes, als die letzte Befreiung der Völker? Sie setzte ja an Stelle von Gesetzen das Evangelium, an Stelle von Menschenmacht die Macht Gottes. Wenn alle Könige der Erde ihre Kronen zu Füßen des einen Himmlischen Königs niederlegen, so daß der Heiland selbst zum einzigen und unbeschränkten Beherrscher der christlichen Völker wird, werden die Worte des Vaterunsers »Dein Reich komme, dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden« in Erfüllung gehen. Daran glaubte er fest.

Ja, er glaubte und glaubt noch heute daran. Doch – was du dir auch ausklügelst, alles bleibt doch beim alten.

»Ein harmloses Geschwätz, ein hohles klingendes Monument,« hatte Metternich von der Heiligen Allianz gesagt.

Das Evangelium ist eben eine Sache für sich, und die Knute wieder eine Sache für sich.

Die Blutströme sollen nun weiter emporspritzen, das Fleisch soll von den Knochen gerissen werden – zwanzig Knutenschläge in der Stunde, alle drei Minuten ein Schlag, und so vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, vielleicht wird auch jetzt, während er dieses denkt, die Strafe an irgend jemand vollzogen ...

Wenn man die Strafe nicht ganz abschaffen kann, so kann man sie vielleicht doch irgendwie mildern? ... Eine Milderung der Knutenstrafe. »Eine wattierte Knute« hatte jemand von ihm gesagt; er kannte diesen Ausspruch aus einem Berichte der Geheimpolizei. Er liebte es, solche Worte und Äußerungen zu sammeln: sie waren wie Salz für seine Wunden.

Es fiel ihm auch noch folgendes ein: als er die Verfassungsrede für den Polnischen Landtag vorbereitete und wie ein Schauspieler vor einem Spiegel schöne Gebärden und wirkungsvolle Mienen einübte, überraschte ihn bei dieser Tätigkeit ein Adjutant; er muß noch heute bei der bloßen Erinnerung erröten. Die polnische Verfassung wurde später die »Spiegelverfassung« genannt; er wußte warum.

»Herr Alexander ist von Natur aus großer Schauspieler und Liebhaber schöner Gebärden,« hatte von ihm die Großmutter gesagt.

Ist dem wirklich so? Ist denn an ihm alles Trug, Lüge, Gebärdenspiel vor dem Spiegel? Ist denn jenes Gefühl, das sich seiner wieder bemächtigt – der Ekel vor sich selbst – die letzte Wahrheit?

Wenn es noch wenigstens ein Grauen wäre! Er empfindet aber kein Grauen, sondern nur jene ewige, gähnende Langeweile, die schrecklicher ist, als Heulen und Zähneklappern.

Vielleicht ist der alte Zustand doch noch besser und beruhigender? Sich wieder in den bequemen Sessel sinken lassen, das kranke Bein auf dem gepolsterten Schemel ausstrecken und in der Lektüre von »Liodor und Julie« fortfahren? Oder den Blick unbeweglich an irgendeinen Punkt im Zimmer heften und unbeweglich, ohne etwas zu tun und ohne an etwas zu denken, dasitzen, bis die Seele erstarrt und einschläft, im Kopfe das gleiche Gefühl entsteht, wie in einem eingeschlafenen Bein und im Gehirn sich wieder nur ganz unbedeutende Gedanken regen: »Walter Scott, Voltaire Skot« ...?

Er machte eine ungeheuere Anstrengung und erhob sich mit solcher Eile, als ob er fürchtete, daß seine Kräfte im letzten Augenblick versagen könnten. Er ging zum großen Schreibtisch, machte in fieberhafter Hast eine Schublade auf und holte einige Schriftstücke hervor.

Es war ein Bericht des Generals Benkendorf über die Geheime Gesellschaft und eine vom Kaiser selbst auf Grund dieses Berichtes verfaßte Denkschrift.

Der Bericht behandelte ausführlich die Geschichte, die Entstehung und die Entwicklung der Geheimen Gesellschaft, ihre Einteilung in zwei Sektionen – die Nordsektion, mit dem Sitz in Petersburg, und die Südsektion – mit dem Sitz in Tultschin, Wassilkow und Kaminka; er nannte die Namen der Direktoren und die Ziele der Gesellschaft; bei der Nordsektion – bestanden sie in der Beschränkung der Monarchie, bei der Südsektion – in der Einsetzung einer Republik; ihre Mittel: bei den einen geheime Propaganda, bei den andern – militärischer Aufstand, Revolution und Zarenmord.

Auf Grund dieses Berichtes wäre es ein Leichtes gewesen, die Verschwörung im Keime zu ersticken und das Verschwörernest mit einem Griff auszunehmen.

Vor vier Jahren hatte er diesen Bericht erhalten, und vier Jahre lang ruhte das Schriftstück in seiner Schublade. Nachdem er ihn nur einmal gelesen, sperrte er ihn im Schreibtisch ein und nahm ihn nie wieder heraus, als ob er die ganze Sache vergessen hätte. Er hatte nichts unternommen und mit niemandem über die Sache gesprochen. Dem Benkendorf wich er seitdem immer aus und vermied es, ihm in die Augen zu sehen; der General konnte den Grund dieser Ungnade unmöglich begreifen.

Es war so, als ob er alles vergessen hätte; in der Tat hatte er aber gar nichts vergessen. Wie ein Verbrecher, der ohne an sein Verbrechen zu denken, es doch immer vor Augen hat; wie ein Schwerkranker, der, ohne an seine Krankheit zu denken, sie doch immer fühlt, – so konnte auch er während dieser vier Jahre für keinen Tag, für keine Stunde und für keine Minute vergessen finden.

Gleich unter dem ersten Eindruck des Berichts begann er für sich eine Denkschrift zusammenzustellen, um sich zu beruhigen und seine eigenen, allzu nahen, schrecklichen und verworrenen Gedanken zurückzudrängen und zugleich zu klären; anfangs wollte er auch Araktschejew in alles einweihen; er fand aber später nicht die Kraft dazu. Kaum hatte er seine Abhandlung begonnen, als ihn auch sofort die Kräfte verließen: das Denken war ihm schwer, das Sprechen oder Schreiben aber – unmöglich.

Jetzt las er den Bericht wieder durch. Er überflog auch seine eigene unvollendete Denkschrift. Sie begann mit den Worten:

»Ich höre, daß der verderbliche Geist der Freidenkerei sich bereits stark in der Armee verbreitet hat, oder sich zumindest stark verbreitet ... Die Verseuchung der Geister ist eine allgemeine ...«

An einer anderen Stelle hieß es französisch:

»Diese Herren wollen mir Angst machen; sie verfügen über eine große Macht und können jedermann erhöhen oder zugrunde richten. Es ist die Rede vom Ausfindigmachen von Mitteln zum Kampfe gegen den sogenannten Zeitgeist, jenen satanischen Geist, der schnell und heimlich wie in Europa so auch in Rußland die Herrschaft des Bösen verbreitet. Nur der Heiland allein kann uns mit Seinem göttlichen Worte ein Mittel angeben. Wollen wir Ihn also aus der Tiefe unserer Herzen anrufen, auf daß Er uns Seinen Heiligen Geist sende. Die Karbonari sind jetzt überall verbreitet. Doch mit Hilfe der Göttlichen Vorsehung will ich Europa und folglich auch Rußland vor der Pest der Revolution schützen ...«

Auch jetzt fühlte er sich wieder außerstande, in diesen Betrachtungen fortzufahren. Er mußte schweigen, geduldig tragen und die schreckliche und beschämende Wunde vor allen verheimlichen.

Er wußte genau, was seine Untätigkeit für Folgen hatte: er wußte, daß er keinen Tag, keine Stunde und keine Minute zögern durfte; daß die Verschwörung während dieser vier Jahre gewaltige Fortschritte gemacht hatte, daß er durch seine Untätigkeit das Böse begünstigte und Rußland zugrunde richtete, und daß er sich dafür vor Gott zu verantworten haben werde. Er wußte alles und unternahm nichts.

Worin fand er aber Trost und Rechtfertigung?

Er führte immer ein Taschenbuch bei sich, das ihm einst Fürst Metternich, sein erster Ratgeber im Kampfe gegen die Revolution, geschenkt hatte. Auf dem Titelblatt standen die Worte: »Nicht vorwärts kommen lassen«; weiter folgte ein alphabetisches Verzeichnis aller verdächtigen Personen, sowohl in Rußland, wie auch im Auslande. Metternich hatte die Liste begonnen, Alexander – hatte sie vervollständigt, wenn ihm eine neue Persönlichkeit vorgestellt wurde, schlug er zuerst im »Sibyllinischen Buch«, wie Maria Antonowna das Taschenbuch nannte, nach; wenn er darin den betreffenden Namen fand, so ließ er den Menschen nicht vorwärts kommen und verfolgte ihn offen und heimlich. In der Liste standen auch viele Mitglieder der Geheimen Gesellschaft; in den vier Jahren waren viele Namen hinzugekommen, die in Benkendorfs Bericht noch nicht erwähnt waren. Und dies war sein Trost: »Ich habe sie alle,« sagte er sich, »in meiner Hand; wenn die Zeit kommt, will ich sie vernichten.«

Auch, jetzt suchte er Trost in diesen Listen: er holte das Taschenbuch hervor, las die Namen und machte unter »G« eine neue Eintragung: »Kammerjunker Golitzin, mit der Brille.«

»Mit dem sollte ich eigentlich sprechen. Er ist ja Sophies Freund und kann also nicht mein Feind sein. Ihn überführen, ihm ins Gewissen reden und so erreichen, daß er alles bereut. Zuerst ihn vornehmen und dann die andern. Wer weiß? vielleicht ist alles übertrieben. Vielleicht ist das Ganze keine Verschwörung, sondern nur ein Kinderstreich? Etwas abwarten, vielleicht verzieht sich alles von selbst?«

Er suchte Trost und fand ihn nicht. Es war so, als ob jemand eine Pestbeule auf seinem Körper betrachtete und sich dabei sagte: »Es ist nichts ... Ein kleines Bläschen, wird schon von selbst vergehen.« Jetzt wußte er aber, daß es von selbst nicht vergehen konnte und daß sein Taschenbuch als Werkzeug gegen die Geheime Gesellschaft nur so viel bedeutete, wie ein Läppchen mit Öl für eine Pestbeule.

Und wieder kam ihm Krylow, der Faulenzer Krylow in den Sinn. Über dem Sofa, auf dem der Dichter ganze Tage zuzubringen pflegte, hing ein großes schweres Bild; einer der beiden Aufhängehaken war herausgefallen, und so hing es nur auf einem Haken und ganz schief.

»Nehmen Sie sich in acht, Iwan Andrejewitsch,« sagte jemand zu ihm: »wenn das Bild herunterfällt, sind Sie auf der Stelle tot!«

»Nein. Nach den Gesetzen der Mechanik wird das Bild eine Kurve beschreiben und an meinem Kopfe vorbeifliegen.«

»Es wird vorbeifliegen« – so dachte er einmal von der Verschwörung. Jetzt wußte er aber, daß es ihn doch treffen werde.

Während seiner Krankheit hatte er es in Erwartung des Todes eingesehen, daß er seinem Rußland unmöglich diese Erbschaft hinterlassen durfte; er hatte sich den Eid geleistet, im Falle der Genesung etwas gegen die Geheime Gesellschaft zu unternehmen. Und gerade diesen heutigen Tag, den für ihn heiligsten und schrecklichsten Tag im Jahre, – den 11. März, hatte er sich festgesetzt, um irgend etwas zu beschließen.

Was sollte er aber beschließen? Einen Prozeß gegen die Verschwörer? Eine Reihe von Hinrichtungen?

»Ich darf sie weder richten, noch strafen: ich habe einst selbst ihre Ideen geteilt und begünstigt und trage selbst die allergrößte Schuld.« Diese Worte entfuhren ihm bei der ersten Nachricht von der Geheimen Gesellschaft, die ihm einst General Wassiltschikow noch vor dem Berichte Benkendorfs gebracht hatte.

Ja, das erste und schuldigste Mitglied der Geheimen Gesellschaft war er selbst. Das »Nichtöffentliche Komitee«, das einst in diesen Räumen des Winterpalais seine Versammlungen abhielt und aus vier jugendlichen Verschwörern – Cartoryski, Nowossilzew, Kotschubej und ihm selbst, dem Kaiser Alexander Pawlowitsch – bestand, das war die Wiege der Geheimen Gesellschaft.

Der Benkendorfsche Bericht enthielt im Anhang die Statuten des »Wohlfahrtsbundes«. Auf dem Programm des Bundes standen: Beschränkung der Monarchie, Volksvertretung, Abschaffung der Leibeigenschaft, öffentliche Rechtsprechung, Freiheit der Presse und des Gewissens; das waren lauter Dinge, die er einst selbst gewünscht hatte.

Wie oft hatte er sich schon gesagt: Ich wünsche dies oder jenes zu tun, wo nehme ich aber die Leute her? Wen soll ich damit betrauen? Hier sind die richtigen Leute. Sie kamen selbst zu ihm, er wies sie aber ab. Wenn sie jetzt an ihm vorbeigingen und gegen ihn waren, wer war schuld daran?

Er sprach, und sie vernahmen es. Er lehrte, und sie lernten von ihm. Er befahl, und sie führten es aus. Er war seinen eigenen Lehren untreu geworden, sie blieben aber treu. Wofür soll er sie richten? Wofür strafen? Wenn sie die Schlinge verdienen, so verdient er den Mühlstein um den Hals, denn er hat diese Geringsten geärgert. Wenn er sie richtet, so richtet er nur sich selbst. Wenn er sie straft, so straft er nur sich selbst.

Er ist der Vater, sie sind die Kinder. Und wenn er sie hinrichten läßt, begeht er Kindermord. Mit dem Vatermord hat er begonnen und wird wohl mit dem Kindermord enden. Im Blute hat er seinen Thron bestiegen und wird ihn im Blute wieder verlassen. Der 11. März und wieder der 11. März.

Dieses Grauen, das er herbeisehnte, sollte ihn aus dem schrecklichen Todesschlafe wecken. Nur aus diesem Grauen konnte er schließen, daß seine Seele noch lebte.

Nein, er wird nie etwas beschließen, nichts unternehmen. Was auch kommen mag, er wird schweigen, dulden und die schreckliche, beschämende Pestbeule vor allen verheimlichen.

Er packte die Papiere zusammen, legte sie in die Schublade zurück und verschloß sie mit dem Bewußtsein, daß er sie nie wieder herausholen werde.

In der Tiefe der Schublade bemerkte er noch ein einzelnes vergilbtes Papierblatt. Es war ein sehr alter Brief. Er wußte genau, von wem er war, an wen gerichtet und wovon er handelte. Er wollte ihn anfangs lesen, überlegte es sich aber und beschloß, ihn später einmal vorzunehmen. Er legte den Brief ganz obenhin, so daß er ihn immer gleich zur Hand haben konnte.

Er trat ans Fenster und sah hinaus. Der Nebel hatte sich verzogen; offenbar war es kälter geworden. Die nassen Schneeflocken fielen nicht mehr. Man hörte das Knirschen der eisernen Schaufeln, mit denen der Quai vom Schnee gesäubert wurde, – das bekannte Petersburger Frühjahrsgeräusch. Man bestreute die Granitplatten mit gelbem Sand: der Kaiser liebte, in dieser Jahreszeit auf dem Quai zu spazieren. Der von eingesteckten schiefstehenden Tannen flankierte Schlittenweg über die weiße Fläche der Newa war bereits schwarz geworden. Die leuchtende Turmspitze der Peterpaulsfestung ragte in die dunkelvioletten Wolkenstreifen und in die hellgrünen Himmelstreifen hinein. Im Westen, über dem Börsengebäude, das mit seinen zahlreichen Säulen einem antiken Tempel glich, war der Himmel noch blasser, noch grüner, noch goldiger; er war so unendlich klar und so unendlich traurig wie ein Blick ... Wessen Blick?

»Nein, nein, nicht daran denken ...« wollte er sich sagen. Es war aber zu spät: die Erinnerungen standen schon wieder vor ihm.

Es war die letzte Familientafel bei Kaiser Paul I., am Vorabend der schrecklichen Nacht; sie alle, seine Frau und seine Kinder glaubten, daß er verrückt sei, und er, der Vater, glaubte, daß sie alle Mörder seien. Sie aßen und tranken, sprachen und scherzten, als ob nichts bevorstünde. Nach Tisch ging aber Paul auf Alexander zu, umarmte und küßte ihn zum Abschied, bekreuzte ihn, legte ihm beide Hände auf die Schultern und blickte ihm so liebevoll in die Augen, wie noch nie zuvor. Einen Augenblick lang schien es beiden, daß sie einander alles sagen und alles vergeben würden.

Nun blickt ihm wieder der hellgrüne Himmel in die Tiefe seiner Seele; er ist so unendlich klar, so unendlich traurig wie jener letzte Blick. Jetzt können sie sich aber nichts mehr sagen, nichts mehr vergeben.

Beide Augenblicke erschienen ihm plötzlich zu einem einzigen Augenblick verschmolzen, als ob zwischen ihnen gar keine Zeit vergangen wäre, als ob die Zeit nicht vorwärts, sondern rückwärts gegangen wäre. Die Vergangenheit näherte sich ihm; nun ist sie schon da, und sie wird nie wieder hinter ihm versinken. Die letzten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens, – Napoleon, der Brand von Moskau, die Einnahme von Paris, die Siege, der Ruhm, die Macht, – alles verschwand wie ein Traum; alles war nie gewesen; dieser ewige Augenblick aber war, ist und wird für immer bleiben.

Jetzt verstand er erst, warum er die Verschwörer nicht richten durfte.

Er ließ sich in den Sessel fallen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Jemand klopfte an die Türe. Er fuhr zusammen, wandte sich um und erbleichte, – wie in jener schrecklichen Nacht.

Er ließ eine geraume Weile vergehen, bis er auf das Klopfen antwortete. Als nach einigen Minuten der Kammerdiener Melnikow Licht hereinbrachte, (es war inzwischen dunkel geworden,) – und den Archimandriten Photius meldete, saß der Kaiser wieder in seinem Sessel, das kranke Bein vor sich hingestreckt, das Buch in der Hand. Sein Gesicht war so ruhig, daß niemand erraten konnte, was er erst eben durchgemacht hatte.


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