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Zu Rylejew kamen so viel Leute ins Haus, daß der Klingelzug im Vorzimmer schließlich zerriß. Der geschickte Diener Filjka machte die Klingel provisorisch mittels eines Bindfadens fest. »Es ist auch kein großes Unglück, wenn irgendein Besucher nicht herein kann: sie kommen doch meistens ohne wichtigen Anlaß!« brummte Rylejew, den die vielen Besuche ermüdeten und der außerdem krank war: er hatte sich wohl während des Eisganges eine Erkältung zugezogen.
Als er einmal Ende April noch am späten Nachmittag in der Direktion der Russisch-amerikanischen Kompagnie arbeitete, fiel es ihm plötzlich ein, daß er einige wichtige Schriftstücke in seiner Wohnung vergessen hatte. Die Direktion lag zwei Stockwerke über seiner Wohnung. Er ging hinunter und öffnete ohne zu läuten die Wohnungstüre mit dem Schlüssel, den er ständig in der Tasche trug. Filjka schnarchte im Vorzimmer auf einem Koffer. Rylejew ging, ohne die Wohnungstüre zu schließen, in sein Arbeitszimmer, holte ein blaues Aktenheft mit dem Titel »Die Kolonie Roß in Kalifornien« und wollte wieder in die Direktion hinaufgehen, als er plötzlich im Gastzimmer Stimmen hörte. Er war sehr erstaunt, denn er hatte geglaubt, daß niemand zu Hause sei: seine Frau war ausgegangen und wollte auch ihre Cousine Glafira mitnehmen, wer war nur im Gastzimmer? Er lauschte an der Türe und erkannte die Stimmen von Glafira und Jakubowitsch.
Rylejew hatte schon längst bemerkt, daß es zwischen den beiden etwas gab. Er bat auch seine Frau, das Mädchen schleunigst nach Tschuchloma zu den Tanten zurückzuschicken, damit kein Malheur geschehe. Jakubowitsch ist ja keine Partie, kann aber leicht dem Mädchen Schande antun. Dazu ist er ja auch »vom Schicksal gezeichnet«. Rylejew hatte bereits vor nicht allzu langer Zeit ein Duell wegen einer anderen Verwandten seiner Frau gehabt; es war ein ganz ähnlicher Fall. Soll er sich denn jetzt wieder wegen dieser dummen Gans Glafira duellieren?
»Ich bin das Wrack eines untergegangenen Schiffes, den der Sturm an einen wüsten Strand gespült hat,« redete Jakubowitsch. »Warum hat nicht ein mörderisches Blei in den kaukasischen Bergen mein Sein vernichtet ... Denn was ist mein Leben? Es ist ein welkes Blatt unter gefallenem Herbstlaub, es ist die Flagge eines untergegangenen Schiffes, die nur noch einen Augenblick lang über dem Abgrunde weht ...«
»Ein liebendes Herz wird Sie erretten!« girrte Glafira.
»Nein, es wird mich nicht erretten!« stöhnte Jakubowitsch aus. »Meine Seele ist ein Ozean, auf dem schwere Nebel lasten ...«
Rylejew war erstaunt: die gleichen Worte vom Ozean hatte er schon einmal von Bestuschew gehört, wer hat sie nun beim andern entlehnt?
Die Worte erstarben in einem leidenschaftlichen Geflüster; dann kam der jungfräuliche Aufschrei:
»Alexander Iwanowitsch, was tun Sie, was tun Sie? Lassen Sie es um Gottes willen ...«
Rylejew öffnete die Türe und erblickte Glafira in Jakubowitschs Armen; aus der Art, wie er sie küßte, war es klar, daß er es nicht zum erstenmal tat.
Glafira kreischte auf und wollte ohnmächtig werden; da sie aber doch großen Respekt vor dem »lieben Vetter«, wie sie Rylejew nannte, hatte, zog sie es vor, in die Küche zu flüchten und sich in der Speisekammer einzusperren; wie ein sechzehnjähriges Mädel, das man mit einem Kadetten erwischt hat.
Rylejew nahm Jakubowitsch am Arm und ging mit ihm ins Eßzimmer.
»Ich gratuliere! Wann soll die Hochzeit stattfinden?«
Jakubowitsch schwieg.
»Antworten Sie doch, mein Herr, und erklären Sie sich über Ihre Absichten ...«
»Siehst du, mein Freund ... Ich wäre selbstredend glücklich ... Du kennst aber meine Verhältnisse: ich kann einfach nicht heiraten! Ich habe nicht das Recht, ein junges Leben an das meinige zu binden ...«
»Aber sie zu entehren, dazu hast du das Recht?«
»Höre einmal Rylejew, ich glaube, Glafira Nikitischna ist kein Kind mehr ...«
»Gewiß ist sie kein Kind. Eine alte Jungfer ist sie. Solange sie aber in meinem Hause ist, werde ich es nicht dulden, daß ...«
»Warum ereiferst du dich so sehr? Ich habe ja mit ihr eigentlich nichts gehabt ...«
Hätte sich das Ganze im Kaukasus abgespielt, so wäre Jakubowitsch der Forderung nicht ausgewichen: denn er war ehrgeizig und verstand gut zu zielen, während Rylejew ein schlechter Schütze war. Doch hier in Petersburg, in der Nähe des Kaisers bedeutete ein neues Duell eine neue Verbannung; wie leicht könnte da seine Karriere endgültig zusammenbrechen, vielleicht sogar auch die Geheime Gesellschaft aufgedeckt werden, was doch sein sicheres Verderben wäre.
»Du weißt, mein Freund, daß ich kein Feigling bin und immer bereit bin, Kugeln zu wechseln. Doch kann ich unmöglich meine Hand gegen dich erheben. Auch sehe ich wirklich keinen Grund dazu ...«
»Du weichst also aus, Schurke!« schrie ihn Rylejew an; der widerspenstige Schopf erhob sich drohend, wie es bei ihm schon in der Kadettenzeit vor jeder Schlägerei war. »Du willst dich also nicht schlagen? ...«
Noch im Anfang dieses Gesprächs wurde an der Wohnungstüre geläutet. Dann zum zweiten-, zum dritten-, zum viertenmal. Die schlecht reparierte Klingel bimmelte traurig und kaum hörbar, endlich verstummte sie ganz: die Schnur war wohl wieder gerissen.
»Wen bringt schon wieder der Teufel? Filjka schläft wohl noch immer, der Hund! ...« ging es Rylejew durch den Kopf, was seine Wut noch verstärkte.
»Du wirst dich also nicht schlagen? Nein? ...« Er ging blaß und mit geballten Fäusten auf seinen Gegner los.
Rylejew war von kleinem Wuchs und schwächlich; Jakubowitsch erschien vor ihm wie ein Riese und Athlet. Die feinen zusammengepreßten blassen Lippen Rylejews, seine brennenden Augen und sogar der Haarschopf drückten aber eine solche Tollkühnheit aus, daß Jakubowitsch vor ihm langsam zurückwich; hätte ihn Rylejew in diesem Augenblick genauer angesehen, so hätte er wohl gemerkt, daß der »tapfere Kaukasier« gar nicht so tapfer war, wie er aussah.
»Kondratij Fjodorowitsch Rylejew?« fragte eine Stimme.
Rylejew wandte sich um und erblickte einen ihm unbekannten jungen Offizier in dunkelgrüner Armeeuniform mit hohem roten Kragen und den Achselklappen eines Stabsoffiziers.
»Entschuldigen Sie, meine Herren,« sagte der Fremde unentschlossen, bald Rylejew und bald Jakubowitsch anblickend, »ich habe geläutet, doch niemand kam heraus; vielleicht ist die Klingel entzwei. Die Wohnungstüre stand aber offen ...«
»Was wünschen Sie, mein Herr?« schrie ihn Rylejew an.
»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle,« fuhr der Gast mit kaum merkbarem Lächeln fort. »Oberst Pawel Iwanowitsch Pestel.«
»Pestel! Pawel Iwanowitsch!« rief Rylejew ihm entgegenstürzend. Sein Gesicht erstrahlte: dieser plötzliche Stimmungsumschlag war für ihn bezeichnend.
»Ich will nicht stören, meine Herren. Ich kann ja ein anderes Mal wiederkommen ...« begann Pestel.
»Nein, was fällt Ihnen ein, Pawel Iwanowitsch! Sie sind mir herzlich willkommen!« Rylejew drückte ihm beide Hände und nahm ihm seinen Hut weg. Jakubowitsch schien er ganz vergessen zu haben. Dieser glitt an ihnen vorbei, rannte ins Vorzimmer, nahm Hut und Mantel und machte sich aus dem Staube.
Der Hausherr führte den Gast ins Arbeitszimmer und machte ihm mit übertriebenem Eifer den Hof.
»Darf ich Ihnen eine Pfeife anbieten?«
»Danke, ich rauche nicht.«
»Gott sei Dank, daß wir Sie endlich zu sehen bekommen!« sagte Rylejew, sich überstürzend und stotternd. »Ich fürchtete schon, daß Sie fortreisen würden, ohne uns besucht zu haben.«
»Ich werde beobachtet und mußte daher abwarten.« Pestel sprach ein gutes, doch etwas zu deutliches und korrektes Russisch: daraus konnte man auf seine deutsche Abstammung schließen. – »Ich bin mit dem General Kisseljow, dem Chef des Generalstabs hergekommen. Der Kaiser hat sich sofort nach mir erkundigt. Wir müssen also sehr vorsichtig sein. Wer war der andere Herr?«
»Jakubowitsch.«
»Aha, ich weiß schon. Ich. glaube, die Türe ist nicht verschlossen? Ihr Diener schläft.«
»Ach ja, richtig!« Rylejew eilte ins Vorzimmer, weckte Filjka, befahl ihm, noch auf die gnädige Frau zu warten und kehrte ins Arbeitszimmer zurück.
»Nun, was gibt es bei Ihnen im Südbund?« Er wußte nicht recht, wie er das Gespräch einleiten sollte. Er war etwas verlegen und musterte Pestel.
Dieser war in den Dreißigern. Hatte ein etwas aufgedunsenes Gesicht von ungesunder gelblicher Hautfarbe, wie sie Menschen, die eine sitzende Lebensweise führen, eigen ist. Sein schwarzes Haar lichtete sich bereits; an den Schläfen war es nach vorn gekämmt, wie es beim Militär Sitte war. Sein Kinn war sorgfältig rasiert. Die steile, glatte Stirn schien aus Elfenbein geschnitzt. Der Blick der schwarzen glanzlosen, weit voneinander abstehenden und tiefliegenden Augen war so schwer und gespannt, daß man den Eindruck hatte, als ob er etwas schiele. Sein ganzes Wesen schien schwerfällig, erstarrt, unbeweglich, gleichsam versteinert. Man sprach von seiner Ähnlichkeit mit Napoleon. Wenn eine solche Ähnlichkeit wirklich bestand, so lag sie nicht in den Zügen, sondern irgendwo anders.
Er war klein von Wuchs, schlecht gebaut und seine eine Schulter war etwas höher als die andere, wie es oft bei Menschen, die viel schreiben, vorkommt. Seine Kleidung war recht schäbig. Der langschößige Waffenrock saß sehr schlecht und war offenbar von einem elenden jüdischen Provinzschneider zugeschnitten; das grüne Tuch war im Rücken braun, das Gold der Achselstücke dunkel geworden. Er hatte den Wladimirorden mit Band, den Annenorden, den Pour le mérite und einen goldenen, für Tapferkeit verliehenen Degen: er war ja ein Held vom Jahre 1812.
»Mir scheint, daß er wirklich den Napoleon spielt!« dachte sich Rylejew. Der Gast hatte in ihm ein unerklärliches feindseliges Gefühl erweckt, und er beschloß, vor ihm auf der Hut zu sein.
Pestel begann ohne Umschweife.
»Ich bin nach Petersburg gekommen, um Ihnen die Vereinigung des Nordbundes mit dem Südbunde anzutragen,« sagte er, auf Rylejew seinen unverwandten, schweren, gleichsam schielenden Blick richtend. »Zunächst müßten wir aber ganz genau die Absichten der hiesigen Direktion und auch Ihre persönlichen Absichten, Kondratij Fjodorowitsch, kennen lernen. Ich möchte also wissen, welche Regierungsform Sie als die für Rußland geeigneteste halten?«
Das Gespräch dauerte über zwei Stunden. Pestel brachte nacheinander die Nordamerikanische Republik, das Napoleonische Kaiserreich, den Terror der Revolution, die Englische, die Französische und die Spanische Verfassung in Vorschlag. Er lobte die Vorzüge einer jeden dieser Staatsformen, sobald aber Rylejew auf die Mängel hinwies, stimmte er ihm eilig zu und kam auf eine andere Staatsform zu sprechen. Es war wie ein gerichtliches Verhör oder wie ein Schulexamen.
»Sie bedienen sich der sokratischen Methode,« bemerkte Rylejew, auf das Unpassende dieses Verhörs anspielend.
»Ja, ich liebe überhaupt die Antike,« erwiderte Pestel, der die Anspielung nicht begriff oder nicht begreifen wollte, und fuhr fort, Rylejew zu examinieren.
Rylejew war wütend; doch je wütender er wurde, um so mehr lieferte er sich aus. Zur gleichen Zeit verschaffte ihm dieses Gespräch einen hohen Genuß, wie ein kluges Buch, von dem man sich nicht losreißen kann. Er mußte an Puschkins Urteil über Pestel denken: »Ein kluger Mensch im vollen Sinne dieses Wortes.« Was er auch sprach, – es war immer ein Genuß, ihm zuzuhören. Schon der Tonfall seiner Sprache wirkte sanft-überzeugend, und die Logik seiner Worte nahm einen gefangen wie Frauenreiz.
Die Zeit verging ungemein schnell, und Rylejew staunte, als es zu dunkeln anfing: es war ihm, als ob das Gespräch nicht zwei Stunden, sondern höchstens eine halbe Stunde gedauert hätte. Er verfiel unter dem Eindruck der pestelschen Worte in eine eigentümliche, angenehme und unheimliche Erstarrung, in eine Art von magnetischem Schlaf, in den Zustand, in den eine Schlange unter Einwirkung von Musik verfällt. Vielleicht war es auch nur ein neuer Fieberanfall; ab und zu überlief ihn ein leichter Schüttelfrost, eine angenehme Müdigkeit, wie man sie oft beim Beginn eines Fieberanfalls spürt.
»Hören Sie einmal, Pestel,« versuchte er den Zauber von sich abzuschütteln, »bei Ihnen ist alles so klar und einfach wie das Einmaleins. Die Politik ist aber keine Mathematik, Menschen sind keine Ziffern und Gefühle sind keine Gleichungen ...«
»Gewiß!« stimmte ihm Pestel bei. »Die Politik ist keine abstrakte Spekulation, sondern das Fleisch und das Blut der Völker, ihr Leben und ihre Geschichte. Wollen wir uns also der Geschichte zuwenden ...«
– Er begann mit Nimrod, – so erzählte später Rylejew über dieses Gespräch, – und untersuchte eingehend alle Änderungen der Gesetzgebungen; er streifte Rom und Griechenland und bewies, daß die Alten, die nichts von einer Volksvertretung wußten, die richtige Freiheit nie verstanden hatten; das Mittelalter, das die bürgerliche Freiheit und die Aufklärung verschlungen hatte, berührte er nur flüchtig; bei der Französischen Revolution hielt er sich länger auf, ohne jedoch unerwähnt zu lassen, daß auch sie ihr Ziel nicht erreicht hatte; schließlich langte er bei Rußland an und führte mich in seine Republik ein. –
»Ich muß gestehen, daß alle unsere Vorgänger in der Neuschaffung von Staatsformen nur Schüler und Anfänger waren, und daß diese ganze Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckt!« rief Rylejew entzückt aus.
Pestel überhörte aber dieses Lob und fuhr in seinem Examen fort.
»Wir sind also einig?«
»Ja, in allen Punkten!«
»Wie stellen Sie sich nun die Schritte vor, mit denen wir beginnen sollen?« fragte Pestel langsam, jedes einzelne Wort betonend.
Rylejew hatte diese Frage vorausgeahnt; er sah sie im magischen Traumzustand, in dem er sich befand, wie die Schlange den beschwörenden Blick des Gauklers sieht. Er sah, daß Pestel ganz anders war, als alle die Romantiker, Literaten und Schwärmer, mit denen er sonst verkehrte, und zu denen er selbst gehörte; für ihn bedeutete begreifen – beschließen und sagen – handeln. Rylejew sah jetzt zum erstenmal ein, daß alles, was in der Phantasie so leicht erschien, in der Tat unheildrohend, schwer und verantwortungsvoll war.
»Ich weiß nicht ...« sagte er verlegen, unwillkürlich die Augen niederschlagend; obwohl er ihn gar nicht sah, fühlte er doch auf sich Pestels schweren Blick lasten. – »Wir sind noch nicht fertig und haben in vielen Punkten noch nichts beschlossen ...«
»Sie haben nichts beschlossen? Sie wissen nicht? Euer Nikita Murawjow schreibt immer Verfassungsentwürfe. Wir müssen aber nicht mit Federn, sondern mit andern Waffen handeln. Zwischen Spekulation und Ausführung liegt ein weiter Weg. Wie denken Sie es sich nun, Kondratij Fjodorowitsch?«
»Warum fragen Sie mich, Pawel Iwanowitsch?« Rylejew richtete auf ihn seinen Blick und fühlte, daß seine Wut jeden Augenblick zum Durchbruch kommen könnte. »Wie stellen Sie sich die Sache vor?«
»Wie wir uns die Sache vorstellen?« erwiderte Pestel bereitwillig, doch leise und etwas nachdenklich: »Wir glauben, daß alle ...«
»Was – alle?«
»Daß alle vernichtet werden müssen. Les demimesures ne valent rien; nous voulons avoir maison nette. Sie sprechen doch französisch?«
»Nein, doch ich verstehe etwas.«
»Halbe Maßregeln taugen nichts; wir wollen reinen Tisch machen,« übersetzte er für jeden Fall. Im Nebenzimmer wurden Schritte hörbar.
»Wer ist dort?«
»Meine Frau.«
»Darf man in ihrer Gegenwart ...?«
»Ja!« Rylejew mußte lächeln. »Doch wenn Sie sich fürchten ...«
»Nein, nein, was denken Sie! Ich glaube ... verzeihen Sie, um Gottes willen ... Ich bin oft sehr zerstreut und habe etwas anderes im Kopf ...« Pestels Gesicht erstrahlte in einem unerwartet gutmütigen Lächeln und war plötzlich wie verändert: er schien schöner und jünger.
– Ein sonderbarer Kauz! – sagte sich Rylejew, und es kam ihm plötzlich vor, daß Pestel, wie unverwandt er ihn auch anblickte, ihn doch nicht sähe, sondern über ihn hinweg, oder durch ihn, wie durch eine Glasscheibe, hindurchblicke.
Im Nebenzimmer wurde es wieder still.
»Ja, was sagte ich doch eben? ...« fuhr Pestel fort. »Ob wir alle, oder nicht alle ...? Sie haben es noch nicht beschlossen? Sie wissen es nicht?«
»Ich weiß nur das eine,« Rylejew war wieder nahe daran, wütend zu werden. »Wenn wir alle hinrichten, so wird das Blut auf uns fallen. Die Mörder werden dem Volke verhaßt sein und wir auch. Bedenken Sie nur, welches Grauen diese Morde wecken müssen! Wir werden ganz Rußland gegen uns haben ...«
»Wir haben selbstredend daran gedacht und beschlossen, entsprechende Maßregeln zu ergreifen. Die zu dieser Tat Ausersehenen müssen außerhalb der Gesellschaft stehen. Sobald sie ihre Aufgabe ausgeführt haben werden, wird sie die Gesellschaft hinopfern und so jeden Verdacht der Mittäterschaft von sich lenken. Wir dürfen uns in keinem Fall mit Blut beflecken. Sobald wir den Streich geführt, werden wir den Dolch zerbrechen ...«
Rylejew hatte beinahe den gleichen Gedanken über Kachowskij gehabt; es war sein geheimster, schrecklichster Gedanke. Pestel sprach ihn aber so einfach aus.
»Wieviel habt ihr hier?« fragte er ebenso einfach.
»Was wieviel?«
»Wieviel Leute, die zu der Tat entschlossen sind?«
»Zwei.«
»Wer sind die zwei?«
»Jakubowitsch und Kachowskij.«
»Sind sie zuverlässig?«
»Ja ... Übrigens, ich weiß nicht ...« stammelte Rylejew, dem die Auseinandersetzung, die er eben mit »dem tapferen Kaukasier« gehabt hatte, einfiel. »Jakubowitsch ist vielleicht nicht ganz zuverlässig. Kachowskij ist zuverlässiger ...«
»Also einer oder zwei. Es ist wenig. Wir haben zehn. Macht zusammen elf oder zwölf. Es ist viel zu wenig.«
»Wieviel brauchen Sie denn?«
»Wollen wir einmal nachzählen.«
Er ballte die Finger der Linken zusammen und schickte sich an, mit der Rechten abzuzählen.
Der Abend war hell; vor dem Fenster befand sich aber eine hohe Mauer, und im Zimmer war es daher finster. Die weiße Hand mit dem Diamantring, der vor Rylejews Augen ab und zu schwach aufblitzte, erschien im Finstern noch weißer. Wieder der bezaubernde Blick des Beschwörers und wieder der magische Traumzustand ...
»Nun, nennen Sie mir die Namen ...« sagte Pestel, beinahe befehlend.
Rylejew gehorchte und begann aufzuzählen.
»Eins« – der Daumen der Linken wurde umgelegt.
»Zwei« – der Zeigefinger folgte ihm.
»Drei« – zählte der Mittelfinger.
»Vier« – zählte der Ringfinger.
»Fünf« – zählte der kleine Finger.
Rylejew wurde es finster vor den Augen, – vielleicht war es auch im Zimmer finster geworden; es war ihm, als ob Pestel verschwunden wäre und nur seine weißen, gespensterhaften Hände, vom Körper losgelöst, in der Luft hingen. Die Finger bewegten sich rasch, wie die weißen Knöchel auf einem Rechenbrett. Er nannte immer neue und neue Namen, und die Finger zählten und zählten, und es schien, daß sie nie fertig würden.
»So werden wir nie fertig!« sprach im Finstern eine gespensterhafte Stimme. – »Wenn man die Morde auch aufs Ausland ausdehnt, wird man nie fertig ... Alle Großfürstinnen haben Kinder ... Vielleicht genügt es, wenn man sie alle der Thronfolge für verlustig erklärt? ... Wer wird dann nach diesem blutbesudelten Thron verlangen? ... Was denken Sie darüber?«
Rylejew wollte etwas sagen, seine Stimme versagte aber: er empfand eine schwere Last, eine Art Alpdrücken.
»Wissen Sie, es ist doch ein schreckliches Vorhaben!« begann wieder jene gespensterhafte Stimme im Finstern. »Wir rechnen hier wie die Krämer auf einem Rechenbrett. Es ist aber Blut ...«
Rylejew war es ganz wirr im Kopf, und er wußte nicht, ob er sich selbst diese Worte gedacht, oder ob sie der andere wirklich gesprochen hatte.
»Was soll man tun? Mit Menschenliebe kann man nicht einmal eine Schachpartie gewinnen, geschweige denn Revolution machen. Die Gründer von Republiken haben sich selten durch Empfindsamkeit ausgezeichnet. Ich weiß nicht, wie es mit Ihnen steht, was aber mich betrifft, so habe ich mich längst von allen Gefühlen losgesagt und habe nur noch Grundsätze ... Auch in der Schrift heißt es: ›Wer seine Hand an den Pflug leget und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.‹«
Rylejew erinnerte sich noch, wie er diesen Text neulich Bestuschew zitiert hatte. Wer war es nur? Pestel? Wer ist Pestel? Wo ist er hergekommen? Er ist einfach zur Haustüre hereingekommen. Vielleicht ist es gar nicht Pestel, sondern der Teufel weiß wer?
Rylejew erhob sich mit großer Anstrengung und ging zur Türe.
»Wo wollen Sie hin?«
»Eine Lampe holen. Es ist dunkel.«
Nach einer Weile kam er mit einer Lampe zurück. Der Fremde war wirklich Pestel. Er begann wieder zu sprechen. Rylejew antwortete ihm aber nicht mehr und hörte kaum zu. Er hatte nur ein Verlangen: daß der Gast möglichst schnell fortgehe. Sein Kopf schwindelte. Wenn er die Augen schloß, sah er weiße Hände, die sich auf einem roten Hintergrunde regten.
»Sind Sie unwohl?« fragte endlich Pestel.
»Ja, etwas ... Ich habe Kopfweh ... Es wird bald vorübergehen. Fahren Sie, bitte, fort, ich höre zu.«
»Nein, ich habe Sie wohl ermüdet. Wenn Sie gestatten, will ich Sie lieber ein anderes Mal wieder besuchen. Ich glaube, übrigens, daß wir auch alles besprochen haben.«
Sie gingen ins Eßzimmer.
»Wissen Sie vielleicht, Kondratij Fjodorowitsch,« sagte Pestel beim Abschied, »wo man hier in Petersburg einen Schal kaufen kann?«
»Was für einen Schal?«
»Einen gewöhnlichen Schal, einen persischen oder türkischen. Es soll ein Geschenk sein.«
»Ich weiß wirklich nicht. Da muß ich meine Frau fragen. Natalie, komm einmal her!«
Natalja Michailowna kam aus dem Gastzimmer. Rylejew stellte ihr Pestel vor.
»Pawel Iwanowitsch möchte wissen, wo er am besten einen türkischen Schal kaufen kann.«
»Ist er für eine jüngere oder ältere Dame bestimmt?« fragte Natalja Michailowna.
»Für meine Schwester. Sie ist erst siebzehn.«
»In diesem Falle kaufen Sie lieber keinen türkischen, sondern einen leichten Kaschmirschal. Ich sah neulich bei Aibulatow in der Tuchzeile einen wunderschönen – ›bleu de nuit‹ mit Sternenmuster. Es ist die letzte Mode.«
Pestel fragte nach der Nummer des Ladens und notierte sich alles in sein Taschenbuch.
»Verstehen Sie auch zu handeln?«
»Ja. Ich habe neulich im Englischen Magazin für eine Echarpe trou-trou fünfundzwanzig Rubel und für einen Arschin Blondenspitzen neun Rubel fünfzig bezahlt. Das ist doch nicht teuer?«
»Aber auch nicht billig!« rief Natalja Michailowna lachend. »Herren sollen nie Damensachen einkaufen.«
Nach einer Pause fügte sie höflich hinzu:
»Lebt Ihre Schwester mit Ihnen?«
»Nein, auf dem Lande. Ich habe zwei Schwestern. Es sind richtige Provinzmädchen. Sie warten mit Ungeduld auf die Geschenke aus Petersburg. Eine jede will etwas nach ihrem Geschmack. Darum renne ich auch aus einem Laden in den andern.«
»Sie haben Ihre Schwestern wohl verzogen?«
»Was soll ich tun? Sie sind so schön und so klug. Besonders die Ältere. Wir sind von Kind auf gute Freunde. Die Regimentskameraden wollen mich gerne verheiraten. Ich bin aber der Ansicht, daß eine gute Schwester besser ist als jede Ehefrau.«
»Sie werden sich doch noch einmal verlieben und heiraten.«
»Ich bin ja bereits verliebt.«
»In wen?«
»In meine Schwester.«
»Was sagen Sie? Gott! Darf man es denn?«
»Und noch wie!« erwiderte Pestel lächelnd, wobei sein Gesicht wieder jünger und schöner erschien.
Rylejew sah aber in diesem Lächeln etwas Scheues und Unglückliches, so lächelt ein schwer kranker oder unendlich müder Mensch. Begreifen bedeutet bei ihm beschließen, sagen – handeln; ist er denn wirklich so? Das Abzählen der Morde an den Fingern und die Echarpe trou-trou; er behauptet, keine Gefühle zu haben, und ist dabei in seine Schwester verliebt. Ist er denn nicht auch so ein Träumer, wie sie alle, nur daß er geschickter lügt? Vielleicht spricht er doch mehr als er handelt? »Ein Napoleon ohne Erfolg,« spottete Rylejew; und er beschloß endgültig: »Er ist ein Feind. Er oder ich.«
Pestel ging. Man reichte das Nachtessen. Rylejew aß keinen Bissen und ging zu Bett. Natalja Michailowna prüfte die Haushaltrechnungen, sprach das Abendgebet und ging gleichfalls zu Bett.
Vor dem Einschlafen erzählte sie ihrem Mann, wie jeden Abend, von den Haushaltsorgen: vom Verkauf von Hafer und Heu im Rylejewschen Dorfe Batowo, auch Roschdestweno genannt; von der Heranziehung der Leibeigenen, die bisher einen Pachtzins gezahlt hatten, zur Fronarbeit; von den rückständigen Pachtzinsen, vom betrügerischen Dorfschulzen; von den fälligen siebenhundert Rubeln Lombardzinsen; vom Prozeß ihrer Mutter, bei dem ein Senatssekretär bestochen werden mußte. Schließlich merkte sie, daß er ihr gar nicht zuhörte.
»Schläfst du, Atja?«
»Nein. Was gibt es?«
»Was es gibt? Ich spreche und du hörst mir nicht zu. So bist du immer. Du kümmerst dich um nichts als um deine Gesellschaft. Wenn dir die Gesellschaft wirklich mehr wert ist als alles andere, so sage es mir offen. Du bist ja nicht allein. Verfassung, Revolution, Republik, das sind ja schöne Dinge, doch was können ich und Nastenjka dafür? ...«
Sie sagte es mit weinerlicher Stimme und wartete eine Weile, ob er nicht etwas erwidern würde. Er schwieg.
»Bedenke doch, Atja: wenn dir etwas geschieht, werde ich es nicht überleben! Du wirst mich und Nastenjka zugrunde richten, das mußt du wissen ...«
»Natascha,« sagte er geärgert, sich von einer Seite auf die andere wälzend, »wie oft habe ich dich gebeten, keinen Unsinn zu sprechen. Was ist denn schließlich die Gesellschaft? Nichts als schöne Worte. Du kannst ruhig sein: mir wird nichts geschehen ... Laß es, mein Kind, quäle dich nicht, gute Nacht.«
»Atja, Atja, lieber Atja! ... Was brauchst du die Gesellschaft? Man kann ja auch ohne sie so viel Gutes tun. Du bist ja so gescheit, schreibst so schöne Gedichte, die Vorgesetzten lieben dich! Wenn du nur aus der Gesellschaft austreten wolltest. Wie würden wir dann friedlich, ruhig und glücklich leben. Was willst du denn noch mehr! ...«
Er umarmte sie schweigend. Sie wurde ruhig, seufzte noch einigemal tief auf wie ein kleines Kind, das eben geweint hat und gleich einschlafen wird, und bald darauf hörte er ihr ihm so wohl vertrautes komisches feines Schnarchen. In den ersten Tagen nach der Hochzeit, als er sie in den Versen:
Vollkommenheit, der Schöpfung Krone,
Nun bist du mein! Nun bist du mein!
besang, hatte ihn dieses Schnarchen betrübt und in Erstaunen versetzt. Jetzt lullte es ihn ein wie ein altes Wiegenlied.
Heute konnte ihn aber auch dieses Lied nicht in den Schlaf singen. Es war so schwül, der Ofen war überheizt, das Daunenpfühl des zweischläfrigen Bettes war heiß, sein eigener Körper und der Körper Nataschas glühten, und ihre lieben, schwachen, schläfrigen Arme hielten ihn umfaßt, hielten ihn wie schwere Ketten gefesselt.
Vor Jahren schrieb er die Verse:
Was sind mir der Gesetze Schranken?
Wenn es um dich zu kämpfen gilt,
Will ich den Gott vom Himmel stürzen
Und Thron vernichten und Altar ...
Jetzt mußte er aber sie opfern, um all das andere zu stürzen.
Endlich schlummerte er ein, wachte aber sofort wieder auf. Er hatte im Traume etwas Schreckliches gesehen, konnte sich aber nicht besinnen, was es war. Er wiederholte, von Grauen erfaßt, vor sich hin: »Was war es? Was war es?«
Im Eßzimmer tickte die Uhr, vor dem Heiligenbild brannte ein grünes Lämpchen, Natascha schnarchte leise. Alles war wie immer. Doch in allem lag etwas Neues und Schreckliches, wie im Wachen so auch im Traume. Was war es? Was war es?
Plötzlich begriff er, was es war. Für einen kurzen Augenblick sah er mit jener blendenden Klarheit, mit der nur einer, der plötzlich mitten in der Nacht in vollkommener Stille und vollkommener Einsamkeit erwacht, die Dinge sieht, daß der Tod nicht irgendwo und irgendwann auf ihn lauerte, sondern jetzt und hier vor ihm stand.
War er auch bereit? Hatte vielleicht Natascha doch recht? Sollte er nicht jetzt gleich, so lange es nicht zu spät war, zurücktreten? Der Augenblick verging, der Tod trat zurück, er verstand und sah ihn nicht mehr und sagte sich mit gewohntem Leichtsinn die gewohnte Lüge:
»Nein, es ist zu spät ... Nun, dem Tode kann man sowieso nicht entgehen!«