Emerenz Meier
Aus dem Elend
Emerenz Meier

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2. Kapitel

Sie hatten in einer kleinen, halbverfallenen Hütte außerhalb des Elends gewohnt.

Die Mutter holte im Sommer Gras und Laubspreu aus dem Staatswald für ihre einzige Ziege, ging in den Taglohn und 68 kochte nie etwas anderes als Erdäpfel zur Milchsuppe. Sie war immer blaß und traurig, besonders, wenn ein Brief aus Amerika kam. Dann weinte sie tagelang und betete am Abend vor einem Christusbild: »Lieber Herr Jesus, verzeih ihm's, o verzeih ihm und laß's ihm's guat gehn!«

Wen sie damit meinte, wußte Itta nicht, die dies erzählte, während Burgl sie aus ihren Lumpen schälte.

»Hat sie dir nie was von dein'm Vatern gsagt?« forschte die Witwe.

»I – ja. Sie hat gsagt, i hab koan mehr. Er is gstorbn, eh i auf d' Welt kemma bin.«

»Dann muaßt alle Tag für ihn betn und für dei Muatta auch. Kannst du's Betn?«

Itta nickte vergnügt.

»Freili, den böhmischn Vaterunser kann i; den hat mir der Elendmüllnerbua glernt«.

»So bet ihn amal vor.«

Itta rutschte von dem Stuhl, auf welchen Burgl sie gesetzt hatte, legte beide Fäustchen aufeinander und begann, den »böhmischen Vaterunser« zu beten.

Aber was war das für ein sonderbares Gebet!

Eine Reihe gemeiner Witze mit böhmischen Worten gespickt, eine Verhöhnung alles Ehrbaren und Heiligen, die aus diesem unschuldigen Munde doppelt häßlich klang. Burgl verschloß ihn entsetzt mit der Hand und nahm eine strafende Miene an, vor der die Kleine erschrocken zurücktrat.

»Des is ja fürchterlich, is a Sünd, so zu betn!« rief sie. »Daß i dich so nimmer hör, oder du muaßt furt, muaßt wieder hin, wo du herkommen bist.«

Itta zitterte und blickte mit rührender Angst auf.

»I kann's halt net anders«, sagte sie weinerlich.

»I lern dir's schon noch. So viel seh i vorläufig ein, daß d' auswendig und inwendig vernachlässigt bist, du arms Kind. Z'erst aber wolln wir auswendig sauber wern, gelt?«

Es war keine leichte Arbeit, diese an sich zarte Haut von monatealtem Schmutz zu reinigen und das ungewöhnlich lange blonde Haar zu entwirren. Doch sie lohnte sich reichlich durch den hübschen Anblick, den das Kind nachher bot.

Burgl freute sich innig daran und verglich es im Stillen mit dem süßen, kleinen Engel auf einem über der Kommode 69 hängenden Bild. Es hatte die gleichen lichtblonden Locken und vergißmeinnichtblauen Augen, und irgend etwas in dem schmalen, blassen Gesicht erinnerte sie sogar an ihren verstorbenen Gatten. Es hatte sie schon oft wehmütig gestimmt, daß sie kein Kind von ihm besaß und nun war es ihr, als hätte ihr Gott in diesem heimat- und elternlosen Wesen einen Ersatz geschickt. Mit plötzlich aufwallender Zärtlichkeit schlang sie ihre Arme um die zierliche, nackte Gestalt und drückte sie an sich.

»Von heut an ghörst mein, Itta«, sagte sie leise. »Kannst mi aber auch gern habn?«

»I – ja«, war die nachdrücklich gesprochene Antwort.

»Und du muaßt dir denka, i bin dei Muatter, gelt?«

»Ja. Du bist aber noch braver wie mei Muatter, die jetzt im Freithof draußt liegt.«

Burgl küßte sie und legte sie in das auf einer mächtigen Truhe hergerichtete Bett. Nachdem sie das Kreuzzeichen über die Kleine gemacht und ihr rasches Einschlummern überwacht hatte, begann sie eifrig in Kisten und Kasten zu kramen. Was sie fand, war ein Hemd, das sie einst als Kind getragen, ein buntes Jäckchen mit hohen Bauschärmeln und ein Rock, dem sie durch Einschlagen des Saumes die nötige Kürze verlieh.

Mit diesen Kleidern angetan, wurde Itta am nächsten Morgen in das Vorderhaus geführt, wo infolge des abendlichen Zwistes noch eine ziemlich gedrückte Stimmung herrschte.

Der Bauer ging rastlos in der Stube auf und ab und warf von Zeit zu Zeit einen unruhigen Blick durch das Fenster auf den Hof, den meterhoher Schnee überdeckte.

Er hatte in der Nacht den Sturm um das Haus wüten hören und es war ihm bange zu Mute geworden.

Wenn das fremde Kind das Nachbardorf nicht mehr erreicht hätte und auf freiem Feld geblieben – erfroren wäre? Bis zum Tod würde er keine ruhige Stunde mehr haben, immer würde ihm das furchtbare Wort: »Du hast es hinausgetrieben!« das vorhin der bekümmerten Bäuerin entfahren war, im Ohr wiederhallen.

Am liebsten wäre er jetzt noch auf die Suche gegangen, wenn sich nicht sein Stolz gegen eine solche Selbstdemütigung gesträubt hätte.

70 Die Dienstboten saßen bei der Morgensuppe und Gottfried arbeitete anscheinend an seiner Schulaufgabe, als Burgl mit ihrem Schützling eintrat.

»Guatn Morgn, Sepp«, sagte sie freundlich. »Was ist's, hast dir den Ärger ausgschlafn heut Nacht oder is dei Sinn noch immer so hart?«

Er starrte sie keines Wortes mächtig an, während die Bäuerin einen Ruf der höchsten Überraschung ausstieß.

»Na, i moan, koa stoaners Herz hast doch net im Leib und wenn's so war, der Anblick müaßt 's derwoacha«, fuhr Burgl fort, indem sie Itta, die in kindlicher Angst beide Hände an die Augen drückte, vor sich herschob.

»Schau her, was des für an Elend is: Koan Vater, koa Mutter, koa Hoamat. Und a Maul mehr, zudem so a kloans wie des, macht dich net arm, bringt dir vielmehr Glück und Segn ins Haus. – Geh her da, Itta, heb d' Handerl auf und bitt recht schön, daß d' bei mir bleibn derfst.«

Itta tat wie ihr geheißen und ihre blauen Augen strahlten in feuchtem Glanz aus dem purpurroten Gesicht.

Der Bauer wandte sich schnell ab.

»Mach koane solchen Gschichtn«, sagte er mit etwas rauhklingender Stimme. »I hätt ohnehin nix dagegn ghabt, wenn's gestern dabliebn war, aber ös Mordsweiberleut kunnts unsern Herrgottn aus der Schanier bringen.«

Ein allgemeines Aufatmen war in der Stube hörbar.

»Und was sagst denn du dazu, Gottfried, daß d' jetzt so a saubers Schwesterl kriagst?« fragte Burgl den Knaben, der ruhig in seinem Winkel sitzen geblieben war.

»Schwesterl?« fuhr er fast heftig auf. »Na, des net, – es is vom Elend – aber sunst ist's mir schon recht, wenn's dableibn kann. Es macht uns ja net ärmer.«

Damit wandte er sich wieder seinen Schulbüchern zu.

Erst als sich alle entfernt hatten und auch Burgl für kurze Zeit hinausgegangen war, näherte er sich der regungslos dastehenden Itta mit neugierigen Blicken.

»Hm, du bist ja ganz a hübschs Katzerl«, meinte er nach einer gründlichen Musterung. »Und außaputzt hat dich d' Burgl 71 wie a Docka. Wennst nur koa Böhmin net warst, – es is wirkli schad.«

Daß sie stumm blieb und ihn nur mit ungemein ernsten Augen ansah, machte ihn etwas unsicher und nach einer Pause griff er in die Tasche und zog einen rotbackigen, appetitlich aussehenden Apfel hervor.

»Da beiß drein«, sagte er.

Sie trat zurück und schüttelte den Kopf.

»Ei magst denn koane Äpfel, du gspaßigs Ding?«

»I – ja.«

»Na, so nimm ihn halt.«

»Na – na.«

»Warum denn net?«

Nach langem Zögern stieß sie fast wild hervor:

»I bin net brav, iß'n du selber!«

Diese Worte sollten ihrem verletzten Stolz zum Ausdruck dienen, fanden aber kein Verständnis bei dem Knaben, der sich ärgerlich abwandte.

Er hatte sich schon vorgenommen, Itta gegenüber liebenswürdiger zu sein, ihr Spielzeug anzufertigen, sie auf den Schlitten zu setzen, wenn er mit dem Vater in den Wald fuhr: doch das war nun alles vorbei. Die Sprödigkeit, mit der sie ihn von sich gewiesen, verdroß ihn dermaßen, daß er beschloß, sich nie mehr um das böhmische Mädchen zu kümmern, es keines Blickes mehr zu würdigen. Das tat er in den nächsten Tagen wirklich und auch Itta ging dem dunkeläugigen, hochmütigen Jungen geflissentlich aus dem Weg.

Burgl hatte schon am ersten Abend mit Schrecken die geistige Verwahrlosung ihrer Kleinen erkannt und eifrig war sie bestrebt, ihr die ersten Begriffe von Religion beizubringen. Auch sonst lehrte sie Itta manches ihrem Alter angemessene, erzählte ihr biblische Begebenheiten und Märchen und hatte die Freude, wahrnehmen zu können, wie richtig sie alles auffaßte, wie empfänglich ihr Gemüt, wie treu ihr Gedächtnis war. Und rührend war der Eifer, mit dem sie sich im Hause nützlich zu machen und sich Zuneigung zu erwerben suchte. Der Bäuerin trug sie Holz und Späne an den Herd, dem Bauern stellte 73 sie Stiefel und Schneereifen bereit, wenn er ausgehen wollte und auch den Dienstboten erwies sie nach bestem Können ähnliche kleine Gefälligkeiten, die ihr manche Liebkosung einbrachten. Als ob die kleine Kluge bereute, es mit einem der einflußreichsten Familienmitglieder verdorben zu haben, näherte sie sich endlich auch Gottfried in solcher Weise, fand aber, daß es vergeblich geworden war. Er wies sie mit fast gehässigen Blicken von sich und ließ sie seine Verachtung auch für ihr Kinderherz deutlich genug fühlen. Daß Burgl sich der Kleinen mit so großer Liebe annahm und in der Sorge für sie völlig aufging, stimmte den Knaben durchaus nicht freundlicher, weckte vielmehr ein bitteres Gefühl des Neides in ihm, das er aber unter trotziger Gleichgültigkeit verbarg.

Als die unter ihrem Leid fast zusammengebrochene Witwe vor fünf Jahren zum Reutbauernhof zurückgekehrt war, war er, der hübsche Bub, es gewesen, der ihr das erste Lächeln abgelockt, sie durch sein kindliches Geplauder aufgeheitert hatte. Er wurde dafür von ihr verhätschelt, ihr Liebling genannt, bis – bis das böhmische Kind kam und ihn aus seiner bevorzugten Stellung verdrängte. Wie sonst er, so durfte jetzt Itta in der warmen Stube Burgls, in der es besonders des Abends so traulich und gemütlich aussah, herumspielen, durfte das Ofenrohr nach gebratenen Äpfeln, die Schubladen nach Süßigkeiten durchsuchen und dann zu Füßen der Frau wunderbaren Geschichten und Märchen lauschen. Freilich hätte ihn niemand daran gehindert, an dem allen teilzunehmen, aber er verschmähte es und hielt sich eifersüchtig grollend fern.

Nur manchmal, wenn er sich unbeobachtet wußte, schlich er heimlich in das Hinterhaus, um an Burgls Tür zu horchen und sehnsüchtig durch das Schlüsselloch zu gucken.

 


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