Johann Richard zur Megede
Der Ueberkater Band I
Johann Richard zur Megede

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Viertes Kapitel

Meine Balkonpromenade neulich war eigentlich ein Zufall. Ich war einen Augenblick im Garten, sah das offene Fenster, das Licht, und wollte mich bloß überzeugen, warum es zur selben Zeit bei diesem Rin dunkel war . . . Ich freue mich nur mäßig, daß er meinen Rat doch befolgt. Vorige Woche hätte dieser Erfolg meiner Diplomatie mir wirklich geschmeichelt.

Aber heute? Was heißt eigentlich Diplomatie? Was gehen mich im Grunde Menschen an? Es ist alles Unsinn . . . Ich habe mein Tagebuch in den dunkelsten Winkel des Bodens geschleppt, ich hasse es, ich verachte es. Ich hätte es am liebsten mit diesen meinen Krallen zerfetzt: denn es ist kaltherzige Lüge, baumwollene Phrase! Ich setze diese – Aufzeichnungen nur fort, um damit die vorherigen zu annullieren. Hier sitze ich und will ein Hund sein, wenn ich meine Ansichten je ändern soll: Es gibt keine Staatsweisheit, es gibt keine Diplomatenschliche, es gibt keinen Palazzo Farnese – es gibt auf dieser ganzen Welt nur noch Gargnano und den Palazzo Bettoni! . . . Bei allen Geistern der Unterwelt! Wer streitet dagegen? Meine Feder knirscht. Wer wagt es zu behaupten, daß die purpurblonde Isolde di Gargnano keine echte Marchesa ist, daß sie jemals auch nur mit einem Haar ihres göttlichen Schwanzes einem andern Kater zugelächelt hat? Ich heiße nicht mehr Carlo, ich heiße Tristan! Ich habe den Zaubertrank auf einen Zug geleert, den sie mir mit sanfter Pfote reichte. Ich werde Isolde besitzen, ich werde wahllos treu sein, sie wird ewig in meinem Herzen leben . . . Als wenn dieser Gottfried von Straßburg nicht ein schwachherziger Verleumder wäre, als wenn ich mich je von diesem Engelsbild wenden könnte, als wenn ich wie sein Tristan zum Schluß mit einer ungeliebten, weißpfotigen Isolde abziehen könnte! . . . In meiner Seele glüht ein Vulkan. Ich fühle, wie seine Funken mir aus den Augen sprühen, wie seine Flammen mir die Zunge verdorren . . . Ha! sie sollen kommen, diese Terrier! Und ich werde ihnen beiden zugleich mit einem einzigen Satz auf dem Rücken sitzen und sie so schnell abwürgen, als hätten sie nie gelebt! . . . Wenn dieser Rin Isolde jemals zu Gesicht bekommen sollte und dabei über ihren märchenhaften Stutzschweif witzeln – ich zerrisse sein Tagebuch, ich zerrisse ihn selbst! Ich bin für gemeine menschliche Freundschaften nicht mehr zu haben. Und wenn er ein Mann ist und kein Schwächling, so nimmt er sich die blonde Gräfin oder die braune Komtesse und schert sich den Teufel um den Gatten der einen oder um den Bräutigam der andern. Es gibt nichts Sinnbetörenderes, als sich von einer Delila die Schnurrhaare abschmeicheln zu lassen. Die Liebe ist eine Göttin, die auf rosigen Wolken schwebt, die Moral ein altes Weib, das auf Krücken keucht.

Ach, Isolde, purpurblonde, köstliche! Meine Seele zerschmilzt in Weichheit, die Feder entsinkt mir, ich hauche Liebesseufzer . . . Und du bist so weit von hier, hörst mich nicht, kannst mich nicht hören! Aber du weißt, wer dich liebt, wer für dich sterben will; du kannst unmöglich einen andern erhören, nachdem du die Tiefen meiner Liebe geschaut hast . . . Nicht wahr, Geliebte, du kennst dieses Herz, du allein? Ich möchte zu dir eilen, dich beschirmen, trösten. Ich möchte dich ersticken in Liebesgluten . . . Aber ich kann nicht! Nur diese Nacht noch gedulde dich . . . Tristan muß erst seine Wunden heilen, die ihm ein unebenbürtiger Feind schlug. Und wenn er wieder vor dir steht, steht er als Sieger.

O, dieser verruchte, graue Bäckergeselle, der mit dem alten König Marke nichts gemein hat als das Greisenhaar, mit seinen gemeinen Plebejerhieben, seinen wüsten Attacken, die jeder ritterlichen Fechtkunst spotten! . . . Aber morgen, morgen! Ha, Schurke, dann begnüge ich mich nicht mit deiner schwersten Niederlage, dann will ich dein Herzblut fließen sehen! . . . Ach, morgen, morgen! . . .

Und ich muß hier sitzen – die Pfote verrenkt, das Olympierkleid besudelt – Ich schreibe dieses Tagebuch, weil ich etwas tun muß, weil ich mich nach Taten sehne, die ich heute nicht tun kann. Wenigstens dieses elende Papier soll von dem römischen Geist meiner Ahnen erzählen, jenes Hochgefühl widerspiegeln, das sie einst zu den Horatierkämpfen begeisterte. Und wenn mich vielleicht doch das Blachfeld morgen deckt, wenn ich schon heute meinen Wunden erliege – Isolde soll es wissen, wie ich sie geliebt habe, lieben werde auch in Katerwalhall . . . Sie wird den Schleier nehmen, sich ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, ihre Seelenreinheit . . .

Aber wenn sie am Ende gerade dann diesen Bäckergesellen ehelichte, wenn sie, ein ahnungsloses Kind, einen Banditen erhörte? Denn seltsamerweise finden gerade Kinder an Banditen so großes Gefallen . . . Es kann nicht sein, es darf nicht sein! Tristan lebt.

Und während ich diese düsteren Phantasien niederschreibe, und dabei des zärtlichen Augenleuchtens Isoldens gedenke, das unsern Kampf begleitete und das vielleicht diesem Bäckergesellen mitgegolten hat – gerade vornehme Damen, selbst königliches Blut liebt es in Italien, sich mit Stallknechten zu mischen –, schaue ich von der Bodenluke von Zeit zu Zeit düster auf den Garda. Die dunkle Isola grüßt herüber . . . Ach, wenn doch Isolde dahin geflohen wäre, weil sie wie Penelope inmitten der Freier ihren Ulysses nicht vergessen kann – wenn sie doch da wäre! Ich schwämme hinüber, das feuchte Naß kühlte meine Wunden. Ich sehe sie im Mondenschein auf einem Felsvorsprung träumend sitzen. Sie ahnt nichts. Ich steige lautlos zu ihr hinauf, achte die stacheligen Agaven nicht, unter denen ich blute. Ein Sprung – ich umarme sie glühend, sie schmiegt sich zärtlich an mich . . . Oder wenn sie auf dem bleichen Monte Baldo-Rücken drüben thronte, der so leichenhaft stumm ins Mondlicht starrt – ach, wenn sie doch dort thronte! Schnee kühlt wohl Wunden, aber er löscht die Liebe nimmer aus.

Isolde, Isolde! . . . Ich fühle, wie mir die Nase brennt, wie das Fieberdelirium heranschleicht. Ich kann nicht mehr seufzen, ich muß flöten, singen das wildeste Liebeslied, das bis Gargnano dringt.

Und da höre ich auch schon, wie diese stumpfnüstrigen Hotelgäste ihre Fenster öffnen, wie sie ingrimmig fluchen, diese Barbaren; ich glaube, dieser falsche Graf, dieser Rin flucht auch.

Und es ist etwas Wunderbares um den Kampf, die Gefahr! . . . Bis zum nächsten Nachmittage hielt ich aus, – dann mußte ich fort! Mein Blut siedete, das Auge sah rot. Ich mußte zur Geliebten, zum Kampf. Ha, zum Kampf! Und wie ich mich danach sehnte, wie sich die Muskeln strafften, wie meine Nerven vibrierten! Dieser graue Bäckergeselle stirbt noch heute – ich schwöre es!

Meine Wunden sind noch nicht geheilt, der Durchzieher über der Nase klafft, mein Hermelin sieht aus, als wenn ich vierundzwanzig Stunden unausgesetzt durch Dornhecken gekrochen wäre; auch mein Augenlid zeigt eine schwere Blessur. Was tut's? Weg mit diesen nichtigen Aeußerlichkeiten, dem eitlen Tand! Liebende Frauen möchten nur die große Seele sehen . . .

Je mehr Helmfedern dem Turnierritter geknickt sind, je dunkler das Blut durch den Halsberg sickert, je zerfetzter der Sieger aus dem Sattel steigt zum Damendank – um so heißer blitzen auch die Augen der Schönen, um so leidenschaftlicher fliegen ihm die Herzen zu. Vor dem Tjost verlangen die Frauen die gleißende Rüstung, das zierlich kurbettierende Pferd, die wallende Schabracke, aber im Kampf selbst wollen sie Wunden sehen, tiefe Wunden, als Gewähr, daß der Ritter auch für sie zu sterben bereit war. Vielleicht liegt darin eine reizende Grausamkeit, eine Stimulanz der Sinne, die doch nur größere Freuden in ihren Armen nachher prophezeit. – Gleichviel, sie wollen alle den Kampf sehen. Die schweren Lanzen müssen splittern, die Helmbänder bersten, die Zartfühlendste würde es nie vergeben, wenn der Geliebte für sein Leben auch nur einen Schritt zurückweicht. Sie heischen Männer, Sieger, es gilt ihnen ganz gleich, welch zerhauener Kämpe vor ihnen niederkniet, es muß nur der Sieger sein. Die Liebe ist ein Kampf, weiter nichts als ein Kampf – es ist gut so. Dafür, daß Frauen lächeln dürfen, müssen Männer bluten.

Als ich mich am Nachmittage zum Turniere aufmachte, bebte ich auf den Entscheidungskampf. Der antike Ritter war in mir viel mächtiger als der provenzalische Minnesänger. Hie Colonna, hie Orsini! – So stürmte ich fort die Felsstraße, die nach Gargnano führt. Natürlich eilte ich etwas oberhalb der Straße selbst durch die Villengärten, auf den Vignenmauern, an den Olivenhängen über das braune Geröll, wo die stachligen Agaven sich so dreist eingenistet haben – doch ich kannte keine diplomatischen Umwege, die ich verachte. Ich folgte immer der direkten Straße, die in dieser unheimlich kultivierten Riviera sich durch so viel blühende Ortschaften windet, an so viel unnötigen Felsvorsprüngen vorüberstreicht, und bei jeder neuen Biegung gaukelte mir die vorauseilende Phantasie Gargnano und seinen Bettonipalast vor. Ich war nur noch fahrender Ritter! – Wenn auf der Straße unten ein italienischer Bengel, der seiner Eidechse ein Bohrloch durch den Schwanz gezogen hat und dann an einem Strick das unschmackhafte Tier freundlich auf der Uferbrüstung spazieren führt, auch nur aufsah, fauchte ich wütend; – als ein Maultiertreiber mit der Peitsche knallte, fühlte ich die größte Versuchung, ihm ins Gesicht zu springen, und als ein deutscher Tourist mich mit Steinen bewarf, fuhr ich mit so wildem Schrei an ihm vorüber, daß er mir kopfschüttelnd nachsah. Sie sollen einen Kater auch nur scheel anzusehen wagen, diese Schurken! – Eine Weinbergmaus, die meinen Pfad kreuzte, erstarrte sofort unter meinem Blick. Ich nahm sie nicht, sie wird auch so vor Schrecken gestorben sein.

Endlich Bettoni – der Riesenpalast mit seinem flachen Dach, seinen Wasserspeiern, davor der gepflegte Park mit seinen Terrassen, seinen geschorenen Hecken – Isolde, Isolde! – Jetzt stob ich direkt durch das Nest, denn es konnte Gefahr im Verzuge sein, der graue Brigant hatte vielleicht schon gesiegt oder ein andrer Ritter empfing den Minnelohn, weil die Herolde keinen neuen Kämpen mehr ausriefen. Ich kletterte in den wunderbar verfallenen Garten am Eingang der eigentlichen Stadt, der als Tournierplatz erklärt worden ist, weil er neutral, weil in ihm die dunkelsten Zypressen, die vermorschtesten Oliven, die geheimnisvollsten Schutthaufen gleichmäßig zum Kampfe wie zur Liebe locken. – Ich sah schon im Geiste hier alle Kater der Welt aufgereiht mit glühenden Augen kampfgewappnet in der Dämmerung sitzen. Es war wirklich etwas dämmerig geworden. Doch nur zwei alte Buschklepper trieben sich scheu herum, ein junger Naseweis retirierte auf einen Baum. Ich war enttäuscht. Ich wollte Blut sehen, Herzblut, aber nicht das von Greisen oder Knaben. – Da – Sieg! – stieg der graue Bäckergeselle gerade ahnungslos durch die verrosteten Eisenstäbe der Maueröffnung . . . Gestern hatten wir uns mit Sekundanten geschlagen, und diese engherzigen Lokalpatrioten von Gargnano erklärten, daß die Reiterhiebe des Grauen kommentmäßig, daß man überhaupt im Kampf auf Hieb und Biß den Vorteil nehmen müsse, wo man ihn finde . . . Sehr richtig, meine Herren! Ich werde Ihr Rezept sofort befolgen. – Ich brauche keinen Komment, keine Sekundanten, ich bin ein freier Ritter, der seinen eignen Tourniergesetzen folgt. Und im Augenblick saß ich schon dem Grauen an der Gurgel. Er war völlig überrascht, überlistet durch meine blitzschnelle Attacke, er schlug einen jämmerlichen Lufthieb. Dann rollten wir uns. Ich nahm meinen Vorteil wahr, zerbiß den Verbrecher, aufs Erbarmungsloseste, er rang vergeblich nach Luft, und ich hätte ihm ganz sicher den Garaus gemacht, wenn dieser ehrlose Schurke nicht auf einmal angefangen hätte, mit seinen Bäckerkrallen nach meinem blessierten Bein zu hacken. Das war mir zu gemein; ich ließ ihn halbtot liegen. Wer nach einer solchen Niederlage noch zu leben vermag – wohl ihm! Ich hätte den qualvollsten Tod dieser schimpflichen Gnade vorgezogen.

So stand ich, blutig und groß, neben der dunkelsten Zypresse. Ich suchte vergebens nach Isolden, flehte um den Minnelohn. Und während ich noch sang, kam Isolde wirklich von derselben Zypresse herabgeglitten, an der ich stand, schüchtern, beinahe schuldbewußt, als wenn sie eigentlich dem Bäckergesellen den Sieg gewünscht hätte. Sie ist eben ein ahnungsloses Kind, das leicht auf die plumpesten Schliche hineinfällt. Sie warf auch nur einen halben Blick nach dem Elenden, der sich gerade von seiner Ohnmacht erholt hatte und von dannen schlich. Dann sieht sie mich an mit Augen so märchenhaft leuchtend, wie der Schmelz der köstlichsten Perlen, ein einziges Miau, durch das eine Welt von Leidenschaft zittert – sie ist mein, mein für ewig!

O wonnige, unvergeßliche Nacht – ich werde niemals den Schleier von den Mysterien der Liebe lüften! Niemals! Ich schreibe nur noch mein Tagebuch fertig und kehre nie mehr zurück.

P.S. Isolde schmiegt sich an mich. Ich bin nur noch Liebe.

Gegeben Palazzo Bettoni am 1. März.


Und nun sind wir glücklich mitten drin im Badeleben und unter den Bademenschen, deren drei Lebensfragen heißen: Was wird morgen für Wetter sein? Was werden wir anziehen? Was für eine Partie werden wir machen? . . . Das Schlimmste, was der Himmel schicken könnte, wäre eine Regenwoche. Wir beten darum allabendlich um helle Sonne, blauen Himmel, neue Spaziergänge. Ich bereue keineswegs. Ich gehöre überhaupt nicht zu den Menschen, die bereuen. Das überlasse ich den Frauen, die am Fasching so heiß sündigen und am Aschermittwoch so zerknirscht büßen. Wir Männer handeln und tragen die Konsequenz. Was wären die Religionen ohne die Sünden der Männer und die Buße der Frauen?

Und wir »Neuen« sind keineswegs schlecht! Wir sind gut erzogen, noch besser angezogen, und eine häßliche Wahrheit würde uns weit unangenehmer sein, als die schönste Lüge. Wir unterhalten uns ganz natürlich, wir lachen frei, aber wir kennen sehr genau die Grenze, über die unsre Moral spielend hinwegkommt, die unser Anstand jedoch unbedingt respektiert. Wie die Hoteliers mit der Sauce piquante auch die Schuhsohle schmackhaft machen, so gießen wir eine weiße Sauce über alles, Gutes und Böses, Vornehmes und Gemeines. In dieser Sauce wandeln wir, und niemand fragt, ob derweilen unsre Füße auf ehrlich festem Grunde stehen oder durch den zweifelhaftesten Schlamm waten: die weiße Sauce deckt alles. Wir sind darum weder dümmer, noch verlogener, noch kühler als andre, wir sind nur gleichmäßigere Komödianten. In bessere oder schlechtere Komödianten schied sich doch seit Anbeginn die Welt . . . Wir würden uns die kapitolinische Venus bei einem Galeriegang mit Damen recht genau ansehen, aber scheinbar zerstreut mit einer umwölkten Stirn, wir würden das klassische Profil bewundern, aber niemals bei einer nackten Göttin über den goldenen Schnitt disputieren. Die Plebs stößt sich bei solchen Gelegenheiten heimlich an, kichert, dreht das Marmorbild nach allen Seiten. Das letzte würden wir auch tun, doch erst, nachdem wir uns mehrmals überzeugt haben, daß wir allein sind mit dem formenfrohen Griechentume. – Ich meine doch, in der Schranke, die sich die Gesellschaft zieht, liegt auch eine gewisse Gewähr, daß man sie nicht überklettert.

In solcher Gemeinschaft hält man gut einen Monat aus, dann findet man entweder Geistesverwandte, mit denen man sich absentiert, oder man wandelt allein auf eignen Wegen. Denn wir sind wahrscheinlich alle Eigenarten, mögen uns nur nicht damit lästig fallen. Es liegt ein Reiz drin, bei einer Artusrunde niederzusitzen, die den Helmsturz immer nur scheinbar lüftet. Es müssen doch auch Menschen sein, Herzen, die schlagen! – Aber was für Herzen?

Vorläufig habe ich keinen Grund zur Skepsis. Warum auch? – Wer in Sommerfrischen geht, will Sommerfrischler kennen lernen . . . Und schließlich – der Quedenberg ist nicht dümmer als die Polizei erlaubt, seine Frau nicht kühler als eine Vernunftehe befiehlt, der Kommissionsrat mit seinen Gedankensplittern und seinen Magenschmerzen nicht aufdringlicher als ein sehr vornehmer Uhrenfabrikant a. D. es nötig hat; seine Nichte mit der etwas untersetzten Junogestalt, den weißen Zähnen treibt keinen Mißbrauch mit ihren gutbürgerlichen Tugenden. – Und Angerns? – Ja, über dies Genre bin ich mir allerdings noch nicht ganz klar. Die Liebenswürdigkeit der Mutter ist so natürlich, die kecke Art der Tochter so graziös, daß ich mir sagen muß: die tragen keine Maske, die sind vom Grunde ihres Herzens so . . . Aber sind das eigentlich jemals Menschen, können sie es überhaupt sein? Hat nicht auch das offenste Herz einen geheimen Winkel, in den es sich von Zeit zu Zeit zurückzieht und hohnlächelnd denkt: Wenn ihr ahntet, welches Heiligtum ich hier hüte, oder vor welcher Leiche ich hier knie! – Wenn das bildhübsche Mädchen, die Josefa, an mir nachmittags vorübergeht mit dem täglichen Brief des Bräutigams in der Hand – sie vermißt ihren Peter ganz sicher und sagt das auch; oder wenn sie so schweigsam bei unserm Nachmittagskaffee sitzt – die Augen haben dann etwas warm Verschleiertes; und wenn sie auf einmal kurz auflacht und die hellbraunen Augen zeigen zuweilen ein recht ungutmütiges Flimmern: dann frage ich mich doch, wann eigentlich solche Frauen die Maske tragen. Wenn sie schweigen oder wenn sie lachen?


Dieses helle Auflachen hat übrigens seinen speziellen Grund.

Wir debattierten nämlich an besagtem Kaffeetisch ernsthaft, ob man den Beruf den Menschen unbedingt ansehen müsse! – Ich erklärte: das sei bei außergewöhnlichen Menschen schwer, weil ihre Eigenart im allgemeinen unabhängig sei von dem, was sie gerade treiben; daß aber der Durchschnitt sich unwillkürlich assimiliere, weil er nun einmal das Produkt von Verhältnissen und Umgebung sei, und daß der länger geübte Beruf fast jedem von ihnen auf der Stirn geschrieben stehe. Daher die ganz typischen Handwerksgesichter: der fipsige Schneider, der weibische Friseur, der brutale Fleischer . . . Ob man den Volksschullehrer nicht immer an der halbgebildeten Selbstgefälligkeit, den Subalternbeamten am pedantischen Brillensitz, den Professor an seiner Verbohrtheit erkennen könne? Und nun gar der Pianist mit seiner Haarfrisur! Die Musik wirkt überhaupt meiner Ansicht nach außerordentlich fördernd auf den Haarwuchs . . . Was sich über das Handwerksmäßige des Berufs irgendwie erhebe, habe auch nicht mehr das Handwerksgesicht, die Handwerksart! – Ich sagte das alles natürlich nur scherzhaft und klassifizierte mit Absicht grob. Aber tatsächlich haben sogar die verschiedenen Zeiten ihre verschiedenen Gesichter; was sie hauptsächlich bewegt, ist ihnen aufgedrückt. Die Gesichter passen beinahe zum Möbelstil ihrer Epochen. Man kann sich die kühl wollüstigen Borgiaphysiognomien schwer in der steif spielenden Unnatur eines Rokokosalons vorstellen; auf einem schweren Renaissancesessel würde die geschnürte Schönheit der Dubarry zur geschminkten Puppe. Aber das wüst geniale Pockengesicht Mirabeaus paßt ebenso gut und ebenso schlecht in die Spiegelgalerie von Versailles wie zu der blutbesudelten Bank einer Vorstadtkneipe von St. Antoine. Er trug den Galanteriedegen an der Seite, die Jakobinermütze auf dem Kopfe, und auch der Ausdruck seines Gesichtes gehörte zwei Zeitaltern. Das haben die großen Uebergangsmenschen so an sich, daß sich bei ihnen auch äußerlich die Vergangenheit und die Zukunft widerspiegelt . . . Wenn wir die Geschichte etwas naturwissenschaftlicher betrachteten, würden wir die großen Fragen der Zeit breiter, verschwommener behandeln, wie sie's ja auch in der Tat sind – die großen Männer aber schärfer erfassen, weil sie allein die ragenden Entfernungsmarken auf den langen Wegen der Menschheit sind. Wir würden dann sehen, wie die neue Idee des einzelnen ganz natürlich zu den neuen Formen der Allgemeinheit fortschreitet. Die Kinder in der Schule sollten weniger von den Schlachten des Mittelalters, aber mehr von dem Pendelversuch Galileis wissen. Wir behandeln den kleinen Peloponnesischen Krieg aufs umständlichste: daß der große Perikles an der Pest starb, wird nur ganz nebenbei erwähnt . . . Das Handwerksgesicht unsrer Erzieher guckt da unverkennbar durch . . .

So weit ging ich natürlich bei der Debatte nicht, sonst hätten sie mich am Ende selbst für einen Schullehrer gehalten.

»Und für was haben Sie uns gehalten?« fragte darauf vernünftig die Gräfin Quedenberg.

»Für das, was Sie sind, meine Herrschaften.«

Da sah die Braut von ihrem Brief auf, den sie scheinbar sehr eifrig studiert hatte. »Also auch für Durchschnitt? – Das ist ja sehr schmeichelhaft!«

Die Mutter begütigte sofort: »Aber Josefa, das sind wir doch auch und wollen auch gar nichts andres sein als Durchschnitt im besten Sinne.«

»Das weiß ich aber noch gar nicht, Mama, ob ich das sein will!« – Auf einmal fing sie an zu lachen. »Und wissen Sie denn, für was wir Sie gehalten haben, Herr Rin?«

Die Herrschaften sahen sich dabei ziemlich verlegen an. Die junge Dame aber fuhr triumphierend fort: »Einer hat Sie für einen nervösen Amtsrichter gehalten, einer für einen verbissenen Lothringer, einer sogar für einen Franzosen, der alles Deutsche haßt – keiner hat Sie erkannt. Das wäre ja nach Ihren Theorien auch nicht möglich gewesen . . . Ich aber sagte sofort: Das ist der mißvergnügte Nobile, wie er im Buch steht! – Und, Herr Rin, wenn Sie ganz ehrlich sind . . . im Grunde Ihres Heizens sind Sie eigentlich schrecklich hochmütig und sehen niemand als Ihresgleichen an.« –

Da ist allerdings ein Körnchen Wahrheit drin. Der Insel ist diese Auseinandersetzung sehr pläsierlich.

Ich kann aber auch höflich sein. »Und nun will ich Ihnen etwas sagen, Gräfin: Ich habe von sämtlichen Herrschaften hier sofort eine bestimmte Vorstellung gehabt, wenn ich das aber von Ihnen auch sagen sollte, müßte ich lügen – heut noch.«

Sie sah mich darauf kühl spöttisch an. »Also auf deutsch: ich bin noch nicht fertig? Ich kann noch etwas ganz andres werden, als ich bin? . . . Ich glaube, Herr Rin, da irren Sie sich doch. So wie ich bin, bin ich mir gerade recht, niemand zuliebe, niemand zuleide. Mir wär's ein schrecklicher Gedanke, wenn ich mich mit meinen zweiundzwanzig Jahren noch wirklich ändern sollte . . . Denn sehr viel besser werden? – Ich glaube, zur Heiligen habe ich keine Anlage . . . Oder sehr viel schlechter? – Das möchte ich wenigstens auf keinen Fall . . . Solange ich jung bin, werde ich leben, und wenn ich alt bin, werde ich andre für mich leben lassen. So ungefähr weiß ich doch meine Zukunft, und was anders kommt, das trägt man eben.«

»Es kommt manches anders, liebes Kind,« sagte die Mutter.

»Ja, ja, Frau Gräfin,« echote der Kommissionsrat im besten Sächsisch. »Wenn man dabei nur nicht den innerlichen Halt verliert.«

Die Gräfin Quedenberg zuckte die Achseln. Die älteren Herrschaften fühlten darauf die Neigung, noch im Hotelgarten auf und ab zu gehen, auch der Graf absentierte sich mit einer Zigarette.

Als wir allein waren, sagte die Quedenberg ruhig: »Ja, Herr Rin, wir sind tatsächlich Durchschnitt, nur Durchschnitt. Aber que faire?«

Josefa stritt dagegen: »Das möcht' ich nicht! Durchschnitt, ganz gemeiner Durchschnitt? – Das will ich erst abwarten. Nicht zu weit rechts, nicht zu weit links, aber nicht gerade direkt auf der Landstraße . . . Wenn Peter auch nicht Generalstäbler wird, auf Reitschule muß er unbedingt!«

Die Quedenberg schwieg. Ich kenne den gewissen Blick bei Frauen, der auf einmal so kühl über irgendeinen bestimmten Menschen hinweggleitet. Der Graf war eben wieder in die Verandatür getreten. Seine Gemahlin mochte denken: sei nur erst verheiratet, liebes Kind, dann wirst du schon den Durchschnitt kennen lernen, den ganz gemeinen Durchschnitt. Sie stand auf und lächelte recht freundlich: »Komm, Fritz, wir müssen noch unser Promenadenpensum bis Gardone absolvieren!« Wenn wohlerzogene Frauen einmal mit den Augen eine Wahrheit sagen, müssen sie auch gleich eine Lüge der Lippen draufsetzen.

Unser Kaffeetisch löste sich damit in Wohlgefallen auf. Josefa, die nach dem Kaffee immer ihren Brautbrief schreibt, sagte im Vorbeigehen zu mir: »Damit Sie auch über neulich orientiert sind, Herr Rin: Ich habe mich über Sie geärgert und habe das auch sofort Mama gesagt . . . Warum blieben Sie eigentlich nicht der mißvergnügte Nobile? Nun muß ich umstudieren. Und das tue ich schrecklich ungern.«

»Ja, Gräfin, ich muß bei Ihnen vielleicht gleichfalls umstudieren.«

»Ich hoffe keinenfalls . . . Aber warum ich mich neulich geärgert habe, das können Sie doch nicht verstehen.«

»Und wenn ich es nun zufällig doch verstände?«

»Dann verständen Sie's erst recht nicht!«

Das Mädchen ist ein eigentümlich widerspruchsvolles Geschöpf, aber weder dumm noch flach. Vielleicht gehört sie zu den Frauen, die erst geweckt werden müssen, um sich auf sich selbst zu besinnen . . . Lohnt's? – Ich glaube doch nicht.


Auf die Berge steigen wir auch. Es liegt jenes prickelnde Mousseux in der weichen klaren Luft, das entweder hinaus auf den blauen See zieht oder hinauf auf die blauen Berge.

Ich mache mit. Warum sollte ich nicht? – Wir benehmen uns ja auch so gesittet.

Erst geht's die Landstraße nach Gardone mit dem aufgeschütteten Promenadenweg, den Ruhebänken der Stazione climatica. Am Steilhang kleine Zypressen, wie aus einer Spielzeugschachtel aufsteigend, in den Villengärten die sanft plätschernde Fontäne, die so wundervoll zu den helleuchtenden Rasenbosketts, den dunkeln, glänzenden, immergrünen Blattgewächsen des Südens stimmt. Der Park von Versailles hat für mich immer etwas Schwermütiges, Gewesenes – er ist doch nordisch, trotz seiner künstlichen Pracht, trotz der prunkenden Schloßfront, die ihn so souverän beherrscht, wie der Sonnenkönig Frankreich. Er ist eben nur noch Geschichte. – Hier aber wirkt auch das Künstliche natürlich, und der südliche Duft erzählt nur von Gegenwart. Das nagelneue Landhaus eines italienischen Edeln paßt sich merkwürdig gut den dumpfigen Steingemäuern an der Straße an – in diesem Land der Widersprüche, die die Sonne doch versöhnt . . . Und dazu blaut ein Stück See herauf, so aufdringlich leuchtend wie ein Farbendruck, und doch so wunderbar echt wie dieser ganze lachende Süden in seinem tiefernsten Gebirgsrahmen. Das ist eben der Unterschied zwischen Kunst und Natur, daß die eine nur ahnen lassen darf, was die andre frei verkündet.

Hinter Gardone, am Hotel, biegen wir gewöhnlich ab. Nach der Landstraße heraus liegen die Küchenräume des Riesenhotels, das sich hier schmucklos streckt wie eine endlose Limonenmauer. Das Tellerklirren, die Eßgerüche, die weiße Mütze des Kochs – man denkt an die Table d'hote, aber nicht ans Sterben. Und keine zehn Schritt davon, jenseits der Landstraße, in dem sanft ansteigenden Garten die Kranken in ihren Liegestühlen, die Verwelkten, Alten, die aufgeschminkt Jungen – die gezeichneten Gesichter. Zuweilen schleicht ein Rekonvaleszent vorüber, und man sieht es den Augen an, wie gierig die Lungen die milde Luft trinken, oder im halblauten Gespräch geht ein Paar vom Hotel zum Berggarten hinüber: die Mutter in Schwarz, weil sie vor Jahren den Sohn hier verlor, die Tochter in Weiß, weil sie glückliche Braut ist und so gern heiraten möchte. Aber die zehn Pfund mehr, die der Arzt zur Bedingung macht, wollen nicht kommen trotz allen Ruhens, allen Milchtrinkens. – Und wir sehen das alles und sehen's auch nicht, und unser Mitleid verflüchtigt sich in dem Trost, daß wir, Gott sei Dank, noch sehr gesunde Lungen haben.

Bis zur Kirche von Gardone di sopra, die auf halber Höhe so malerisch und so bequem liegt, gehen wir unter den üblichen Gesprächen gemeinsam im Trupp, und jeder kann die Tugend des andern genau konstatieren. Aber dann wollen die Gräfin Angern und der Kommissionsrat gemächlich die Aussicht genießen, und die Gräfin Quedenberg, die die Natur nur scheinbar liebt, schließt sich an. Josefa aber wird regelmäßig ungeduldig. Je höher sie steigt, desto wärmer werden die Augen, desto voller atmet sie. Und sie hat ihren besonderen Freund, zu dem es sie drängt, den Lorbeerweg, der sich etwas höher hinauf sanft schlängelnd bis hinüber nach Fasano di sopra zieht. Da geht's sich so bequem. Man kann den See unten blauen sehen, und die Schneekuppen oben schimmern, während man selbst unter veritabeln Lorbeerbäumen wandelt. Da macht es sich, daß wir den andern immer weit voran sind. Und anstatt uns der Landschaft zu freuen, hecheln wir unsre Freunde durch.

»Der Kommissionsrat?« antwortet sie schnippisch auf meine Frage. »Ich könnte ihn entbehren. Aber die Nichte ist wirklich ein nettes Mädchen . . . Ist er Ihnen auch so lästig?«

»Ich höre nicht hin, Gräfin.«

»Aber die Gedankensplitter! Denen können Sie doch nicht entgehen . . . Uebrigens bin ich undankbar. Gerade die Gedankensplitter sind manchmal furchtbar amüsant. Und wenn er etwas ganz Tiefsinniges aus dem Daheimkalender oder so woher zitiert hat, muß er es mir immer noch ein zweites Mal genau wiederholen. Ich berichte dann nämlich wortgetreu an Peter. Er lacht sich, glaube ich, tot. Und er läßt auch immer den Kommissionsrat besonders herzlich grüßen, und der Arme hat keine Ahnung, warum er uns eigentlich so sympathisch ist . . . Er ist jedenfalls ein echter Parvenü, obwohl das Mama in ihrer Güte nicht wahrhaben möchte. Denn wer wenigstens so viel Grafen und Fürsten zu intimen Freunden haben will, wie ich ungefähr Menschen bis jetzt gesehen habe im Leben – der hat entweder mal hinter dem Ladentische eines Juwelengeschäfts gestanden und daher die Bekanntschaften, oder er schläft jede Nacht mit einem Almanach de Gotha unter dem Kopfkissen.«

»Ich habe Ihr gutes Herz bis jetzt mißkannt, Gräfin.«

»Ach so, weil ich bösartig bin! . . . Ich behandle doch den guten Mann sehr freundlich, und wenn er mich langweilt, ist es mein gutes Recht, mich über ihn zu mokieren. Anständige Manieren hat er. Das ist aber auch alles.«

»Und wenn ich noch heute hingehe und ihm das alles wortgetreu berichte?«

»Bitte! Aber stürzen Sie sich lieber nicht in Ungelegenheiten, denn er glaubt's Ihnen ja doch nicht . . . Bleiben Sie übrigens mal einen Augenblick stehen!« Sie mißt mich mit einem scharfen, schnellen Blicke: »Nein, Sie petzen nicht!«

Es macht mir eigentlich Spaß, wie sich allmählich das Wahngebilde von der fest gefügten »Insel« verflüchtigt. Die Leute halten nur äußerlich so fest zusammen, weil sie sich innerlich so wenig engagieren . . . Und eine Eigenart ist das Mädchen doch. Wer ihr in die Finger gerät, der kann sich gratulieren.

Ueber Quedenbergs äußerte sie sich ähnlich.

»Sie ist klug, und ich mag sie riesig gern. Nur ihr Klavierspiel gefällt mir nicht. Ich bin allerdings unmusikalisch. Aber wenn jemand so glänzend spielt, müßte er leidenschaftlicher spielen. Ich kann ihr auch unrecht tun. – Doch was ich wirklich bewundere, ist, daß sie es überhaupt so weit gebracht hat. Ich glaube, sie ist ganz arm! Ihre Eltern, preußische Offiziersfamilie, doch sehr guter Adel. Und wenn sie sich nicht verheiratet hätte, dann würde sie sich zur Pianistin oder so etwas ausgebildet haben. Die Energie dazu hat sie. Ich denke auch, es wäre vielleicht besser gewesen. Es muß ja schon schrecklich sein, für Geld vor Leuten zu spielen – und ich brächte es nie fertig! – aber einen Quedenberg könnte ich erst recht nicht heiraten. Für meinen Geschmack schlimmer als der Tod. – Ein Mann muß doch etwas im Leben sein oder es wenigstens werden wollen! Aber nichts weiter als Lackschuhe, seidene Strümpfe und den Riesenbrillanten auf dem kleinen Finger wie dieser Quedenberg . . . Wenn ich jemals Gott auf den Knien gedankt habe, daß wir wohlhabend sind, nein, daß wir sogar reich sind, sehr reich, daß ich nicht zu warten brauche, bis mich einer nimmt . . .«

»Aber Gräfin, die beiden Leute sind wahrscheinlich ganz zufrieden miteinander . . .«

»Wahrscheinlich!«

»Kluge Menschen finden sich überraschend schnell in neue Situationen. Und was noch wichtiger ist: sie halten darin aus.«

»Nun, ich hielte nicht darin aus!« Dann bleibt sie einen Augenblick nachdenklich stehen. »Es ist mir allerdings aufgefallen, wie merkwürdig streng Jeanette Quedenberg über die Ehe denkt. Ich denke natürlich auch streng über die Ehe und kann mir gar nicht vorstellen, wie man neben seinem Mann jemals noch einen andern Mann gern haben könnte . . . Aber in solcher Ehe wäre das ja die einzige Rettung.«

»Dann, Gräfin, ist die Quedenbergsche Ehe eben eine Lüge, wie so viele Ehen.«

»Das soll sie aber nie sein! . . . Ich glaube übrigens nicht, daß Jeanette alles ausspricht, was sie denkt. Es sind eben nicht alle so offene Bücher, wie ich.«

»Offene Bücher?«

»Zu Ihnen natürlich nicht, Herr Rin! Aber ich kann wohl sagen, daß ich vor meiner Mutter auch nicht das kleinste Geheimnis habe, obgleich wir uns manchmal nicht verstehen. – Sie ist so engelsgut, und schließlich behält sie auch immer recht.«

»Und meinen Sie, Gräfin, daß das ewig so bleiben wird?«

»Ja. – Ich wüßte wenigstens nichts auf der Welt, was mich von meiner Mutter trennen könnte.«

Damit hatte sie genug Moral gepredigt. Plötzlich blieb sie stehen und wandte sich um. Der Rest der Gesellschaft folgte in großen Abständen. »Graf Quedenberg – Herr Geheimrat! . . . Wir warten schon so lange auf Sie.« Sie rief das sehr natürlich.

»Aber können Sie lügen, Komtesse!« drohe ich scherzhaft mit dem Finger.

»Gewiß. Und es macht mir Spaß, daß die beiden guten Leute das gar nicht ahnen. Warum soll man nicht Schafen gelegentlich das Fell krauen? – Ich lüge, wenn mir's gerade paßt, weil ich will – aber niemals, weil ich muß.« Und dabei haben die hellbraunen Augen wieder den kaltspöttischen Glanz.

Ich weiß jedenfalls nur, daß dies schöne Geschöpf wunderbar jung und frisch ist, und daß sie vieles ungestraft tun oder sagen dürfte, was andre nicht dürfen.

Nach dem Lorbeerwege wandeln wir wieder hübsch gemeinschaftlich durch das reizende Bergnest Fasano di sopra, um dann nach Fasano hinabzusteigen und auf der Terrasse von Gigola unsern Kaffee zu trinken. Dem hübschen Mädchen sieht dann niemand an, wie sie lügt, wenn sie lächelt. Die Lüge gehört nun einmal zur Gesellschaft, und ich lüge bei allen Tugenden auch. Die Rücktour geht dann sehr schnell. Josefa muß noch ihrem Bräutigam schreiben und drängt nach Hause.

Ich möchte lieber nicht wissen, welche Rolle ich in diesen Briefen spiele.


Ich fürchte, daß das Wetter abflaut.

Und wir haben dadurch auf einmal den Wagemut von Touristen bekommen, die dem Gewitter noch schleunigst entreißen möchten, was sie an guten Tagen bequem zu nehmen unterlassen haben. Die Menschen sind nun einmal so. Irgendwo muß das Schicksal mit gehobenem Finger ins Leben hineinschauen, ehe sie sich besinnen. Dann tun sie's – und gewöhnlich zu spät.

Die heutige Partie nach Gaino geschah unter diesem Druck. Der Wind fächelt einen bald von rechts, bald von links um die Nase, zu guter Letzt schläft er gänzlich ein. Die langen, grauen, öligen Streifen, die sich quer über den See ziehen, haben auch so etwas Ahnungsvolles. Der Monte Baldo schaut wehmütig. Aber sie haben schon ihren Reiz, diese weichen, sich verschleiernden Küstenlinien.

Gaino ist weit. Gut anderthalb Stunden Wagenfahrt über Gardone, Maderno, Toscolano, immer durch diese üppige Riviera, wo sich eigentlich Ortschaft an Ortschaft schließt. Heute erscheinen mir die eingestreuten Millionärsvillen etwas aufdringlich mit ihren auflackierten Fassaden. Aber ohne Kulisse geht's nun einmal nicht in diesem Lande. Ich hätte die Fahrt wahrscheinlich mitgemacht, wenn auch auf dem Pizzocolo gerade die seltenste Blume geblüht hätte. Und es ist auch eine schöne Fahrt, immer die Küste entlang. Der dumpfige Geruch der engen, langen Dorfstraßen hat etwas Anheimelndes, gerade weil durch jedes Seitengäßchen ein Stückchen blauer See lugt, ein Schneeblitz vom weißen Monte Baldo bricht. In Toscolano, das sich wirklich endlos lang streckt, ließen wir die Wagen warten, um noch nach der Kirche am Wasser hinabzugehen. Die Gräfin-Mutter hat nun einmal eine Passion für Kirchen. Die andern Damen dachten wohl mehr an die Seidenfabrik schräg gegenüber, wo die Toscolanerinnen ihre Kopftücher kaufen. Die Kirche roch nach Weihrauch, aber der Blick von der Terrasse davor war wunderhübsch. Die einschlummernde Wasserbläue, der matt und matter blinkende Schneeberg – es war wie ein Abschied. Und wehmütig sahen wir auch auf den Kirchenplatz, wo die Bocciakugel rollte. Dann fuhren wir weiter zwischen hohen Vignenmauern durch, an grauen Olivenhängen vorüber – die blaugrüne Aloe starrt, ein überquellender Blütenbusch winkt. Das Gebirge tritt dann nahe an den See. Zwischen beiden schlängelt sich die eingesprengte Landstraße – jäher Abfall oben und unten. Bis Gargnano scheint dann die Vegetationskraft der Riviera unter einem dünnen Olivenschleier zu schlummern.

Hier zweigt der Weg nach Gaino ab. Wir haben Zeit. Es ist kaum drei Uhr. Die Gräfin Angern, der die Mietspferde leid tun, der Kommissionsrat, der dem abschüssigen Gelände nicht traut, stimmen für den Fußweg. Kein mühsamer Aufstieg etwa, auch keine großartigen Fernblicke unterwegs! Aber schon das Gefühl, wie langsam alles kleiner wird, niedertaucht, versinkt, bis der Berg direkt aus der Flut aufzutauchen scheint und nur der spitze Kirchturm von Toscolano auf grünem Vorsprung wie von einer Insel hinaufgrüßt. Man wächst unwillkürlich beim Steigen, wird freier, und die Welt unten kleiner, gebundener. Das junge Mädchen neben mir hat wohl eine ähnliche Empfindung. Sie ist immer voran und wartet nie an den Wegbiegungen. Das macht nicht etwa die Kirche von Gaino, die bald hervorlugt, bald sich versteckt im Grün, auch nicht etwa die Vegetation, dieser etwas dürre Olivenwald, der mit dem Gestein kämpft; es ist vielmehr der Wunsch, höher zu kommen, freier zu schauen. Man ist jung und frisch, und liebt die Welt von den Höhen. Später kommen die Tälerwünsche, die bescheidene Freude am Kleinen, Intimen. Das Alter weiß, daß alles begrenzt ist, begrenzt sein muß im Leben, es bescheidet sich und liebt schließlich im Tal die malerischen Linien, die seine Gefängnismauer markieren, am meisten. Die Jugend meint gläubig, daß alles grenzenlos sei, grenzenlos sein müsse, und daß nirgends sich die Unendlichkeit besser begreifen lasse, als auf den Höhen. Das ist eben der Kraft-, der Lebensinstinkt, der uns hinauftreibt. Wir stammen von der Sonne, darum wollen wir nach der Sonne!

Ich war noch nie in Gaino. Die Maler reden viel davon. Und ich mag eigentlich nicht die Orte, von denen viel geredet wird. Aber schön war's! Gerade heute in der verschleierten Stimmung. Der See grau, bleiern, so ruhig, daß sich die Kielwelle des kleinen Dampfers überhaupt nicht verlor – die paar winzigen Fischerboote wie eingeschlafen. Die ganze Küste bis Dezensano zu – weich, stumm, wie umflort die scharfen Gebirgslinien. Die riesige Totenmaske Goethes bei Kap Manerba, die traumhaft fern vorspringende Halbinsel Sirmione, der schlanke Turm von San Martino, alles verschlafen, verschwommen, der Hauch von sanfter Melancholie, der gleichmäßig die blaue Flut, die schroffen Uferberge überschattet. Die Isola di Garda schwimmend wie ein langes dunkles Floß. Nur der Monte Baldo weiß, mächtig, aber auch wie im Schlummergewand. Drüben bei San Vigilio soll Böcklin seine Toteninsel gefunden haben. Von hier ist's nur ein gelber, winziger Vorsprung. Aber Toteninseln gibt's bei solcher Stimmung genug am Garda.

Die Herrschaften besahen die Kirche, besahen die Aussicht. Ob sie eigentlich die große, schlummernde Natur verstehen? Ich weiß es nicht. Ich habe persönlich nur die Empfindung, als wenn wir uns gegenseitig unwillkürlich anstießen. Unter sich ist's bei denen wohl anders. Es ist auch da wahrscheinlich das höfliche Aneinandervorübergleiten, Anpassen. Nur um Gottes willen nichts tun oder sehen, was andre nicht schon längst getan oder gesehen haben!

Josefa separierte sich auch hier. Sie stand hinter der Kirche an einem steilen Hang und hatte eigentlich nur Augen für den Monte Baldo und was sich an Bergen hinter ihm ahnen läßt. Da blieb sie sehr lange. Später kam sie zu mir: »Sagen Sie, Herr Rin, wie mag es eigentlich kommen, daß mir der See von hier oben gar keinen so überwältigenden Eindruck macht? Er liegt so dumpf, so eingeschlossen, ich gönne es ihm ordentlich, daß er sich da hinten endlich ins lombardische Hügelland verliert. Ich frage mich vielmehr: Was mag da alles hinter dem breiten Monte Baldo-Buckel liegen, im Schnee begraben und eiskalt . . .? Dahin möchte ich! Wenn ich einen Luftballon hätte, ich gondelte jetzt auf der Stelle. Es würde sich wahrscheinlich viel weniger großartig aus solcher Vogelperspektive machen, aber man wäre mindestens dort gewesen, hätte was andres gesehen, als alle Leute sehen . . . Wissen Sie, ich habe jetzt so oft denken müssen: Warum lockt eine Bergspitze ganz hinten, die kaum 'rausragt, eigentlich immer mehr als der ganze große Bergriese davor? . . . Was kann das zum Beispiel da links am Monte Baldo vorbei für ein Zinken sein, der jetzt eben aufleuchtet, und von dem ich nicht mal unterscheiden kann, ob es Firnschnee ist, der so glänzt, oder nur kahler Fels? . . . Natürlich wissen Sie es auch nicht! . . . Aber ich möchte hin, gleich hin . . . Ob's furchtbar weit sein mag?«

«Das läßt sich gar nicht taxieren,« antwortete ich nüchtern.

Aber dieser Ton ärgert sie. »Ach, Sie sind immer so absprechend, Sie sind überhaupt ein echter Mann! . . . Warum sollen Frauen eigentlich zeitlebens große Kinder bleiben, die Dummheiten tun oder sprechen, solange nicht ein Mann für sie denkt?«

»Wie kommen Sie darauf, Gräfin?«

»Weil uns bei jeder Gelegenheit wieder und immer wieder gesagt wird: ›Das tut man nicht, Josefa, das sagt man nicht. Dazu sind Frauen nicht da. Du mußt dich anpassen lernen, mein Kind!‹ – Aber ich bin nun einmal, wie ich bin. Und wenn's auch noch so töricht ist, ich sage Ihnen, wie ich so jetzt auf Ihren Garda gesehen habe, habe ich eigentlich von der ganzen Aussicht nichts gehabt, weil mich jetzt erst die Berge ärgern, auf die ich nicht kann . . . Sie hätten mich nicht nach Gaino bringen sollen! Ich liebe den See von unten leidenschaftlich, aber nicht von oben. Er liegt so tot, so stumm. Er ist groß und tief, und kann sich doch nicht aus seinen Bergen rühren. Denn er ist ein Gefangener und noch dazu ein ergebener, wie ich sie gar nicht mag. An seiner Stelle würde ich's mit haushohen Wellen versuchen, zwischen diesen Bergen 'rauszukommen.« Und dabei schlägt sie so energisch mit dem kleinen, eleganten Dandystöckchen auf den Boden, daß der silberne Griff mit der Widmung von »Peter« wirklich plötzlich abbricht. Sie sieht's ohne Bedauern. »Er war lange lose. Ich hatte ihn reparieren lassen sollen, schon vorige Woche. Aber wann werde ich mal so gescheit wie meine andern Freundinnen, denen das nie passieren könnte? Ich tue eben alles erst, wenn's zu spät ist. Und dann tut mir's nicht mal leid.«

Darauf geht sie zu ihrer Mutter in die Kirche. Sie hat wohl auch die Ueberzeugung, daß die dumpfe Luft da drinnen größere Wunder tun könnte als der frische Gebirgshauch hier draußen.

Später gingen wir nach dem Dorfe Gaino selbst, das einen Kilometer tiefer ins Gebirge hinein liegt. Ein muffiges Steinnest, in dem man unwillkürlich Briganten wittert. Wir tranken dort in einer sehr reinlichen Osteria spottbilligen Wein. Das Kupfergeschirr an der Wand glänzte. Die Wirtin spülte selbst die Gläser aus. Vor dem Kamin stand der Padrone, der eben heimgekommen war, ein alter Graukopf mit dem zerlumptesten Mantel, dem verwegensten Hut von der Welt. Wie er so stand und auf die kohlenden Holzscheite starrte mit seinen erloschenen Augen, nahm er sich aus wie ein alter Räuber, dem hier die Jugenderinnerungen verglimmen. Und wir modisch angezogenen Leute im Kreise da 'rum: es war wie eine Szene aus Fra Diavolo. Der Kommissionsrat belehrte uns auch gleich flüsternd, daß die Gegend keineswegs geheuer sei, und . . . dabei wurde seine Stimme zum Hauch, weil er den alten Briganten nicht kränken wollte . . . daß neulich in Tremosine jemand beinahe überfallen worden sei . . . Die Damen sahen sich wohl auch schon im Geiste gefangen in die Berge abgeführt. Josefa nahm's weniger tragisch.

»Aber, Mama, so sehen sie doch alle hierzulande aus! Der alte Mann hat so wenig Menschenleben auf dem Gewissen wie du.«

Der Kommissionsrat machte darauf eine vielsagende Handbewegung, die das Ungeheuerlichste vermuten ließ.

Die Herrschaften lachten, aber sie zogen es doch vor, zu gehen. Und bei dem Bemühen, möglichst schnell aus dem unheimlichen Ort zu kommen, passierte es, daß sie sich verliefen und auf einmal am Ende eines Gäßchens standen mit einem köstlich wilden Ausblick auf die überhängende Schneespitze des Pizzocolo und die düstere Gruftpyramide des Castello; dazwischen, tief unten, die mächtig eingerissene Toscolanerschlucht, finster und eng, als könne man sie überspringen.

»Wir könnten auch hier zur Not hinunter,« sage ich. Aber es wurde allerseits bestens gedankt. Sie wollten den bequemen Weg gehen, den sie gekommen. Nur Josefa war andrer Meinung. »Nun haben Sie uns den Mund wässerig gemacht, Herr Kommissionsrat, man könnte vielleicht ein Abenteuer erleben. Sie aber gönnen's einem nicht. Ich möchte gerade den Weg gehen!« Es wurde lebhaft hin und her debattiert, bis endlich ein zerlumpter Bengel für einen Soldo zum Schiedsrichter erklärt wurde. Danach war der Weg steil, aber sicher.

Und jetzt kommt das Wunder. »Nun, wenn niemand will, so gehen wir eben allein, Herr Rin,« erklärte Josefa.

Und wir sind auch gegangen, wir beide. Was das Mädel will, das setzt sie durch. Wiedersehen in Toscolano. – Die Stunde, die Sie uns geben, dürfte etwas lang sein, Frau Gräfin!

Aber nach hundert Schritten wäre die eigensinnige junge Dame beinahe umgekehrt. –

»Peter kommt aber um seinen Brief!«

»Daran möchte ich allerdings nicht gern schuld sein. Gräfin.«

»Ich auch nicht – aber schließlich – eine Todsünde ist's auch nicht . . . Nun gerade! Er riskiert bei jedem Rennen den Hals, und ich muß mich um ihn ängstigen mit Grund, mag er sich auch mal vierundzwanzig Stunden um mich ängstigen ohne Grund . . . Ich verwöhne ihn überhaupt zu sehr.«

»Das scheint so.«

»Haben Sie eigentlich Peter gern?« fragte sie unvermittelt.

»Ich kenne ihn nicht, Gräfin.«

»Ich kenne ihn nicht! So urteilen nur Herren. Wir mögen auf den ersten Blick jemand, oder mögen ihn nicht. Sonst heißt's gleichgültig. Und das ist entweder eine große Lüge oder eine bittere Wahrheit. Wir urteilen instinktiv und kommen, glaube ich, genau so weit wie Sie. Denn erst wirklich kennen lernen! – Wer kennt sich überhaupt? . . . Ich kenne Peter eigentlich auch nicht . . . Man sieht sich, man gefällt sich, man verlobt sich. Ich lernte meinen Bräutigam vorigen August in Baden-Baden kennen, nachdem ich schon zahllose Körbe ausgeteilt hatte. Die Herren denken zuweilen: sehen und siegen müßte immer eins sein. Es ist aber nicht eins! Es war auf dem Rennplatz, wo ich ihn zuerst sprach. Er ritt nicht selbst, aber Pferde von ihm liefen. Und da wir nur noch acht Tage bleiben wollten, beeilte er sich natürlich sehr. Ich liebe Pferde und alles, was irgendwie damit zusammenhängt, leidenschaftlich. Ich bin auch nicht ängstlich und habe sogar mit eignen Augen gesehen, wie Peter mit seinem Pferde am Koppelrick kopfüber ging. Mir wurde ganz grün vor den Augen – und ich hatte ihn furchtbar lieb! . . . Aber daß ich gerade sagen könnte, ich kenne ihn genau – nein. Wenn Herren verliebt sind, reden sie einen fabelhaften Unsinn zusammen, und wir hören's fabelhaft gern. Und was man sich täglich schreibt – es sind ja eigentlich auch nur Alltäglichkeiten, über die man sein Herz ausschüttet. Man versichert mit hundert Worten hundertmal dasselbe. Aber was wirklich Vernünftiges steht nie drin. Da ist zum Beispiel mein erster, den er immer bei sich trägt. Ich habe ihn, als Peter neulich da war, wieder gelesen, und ich mußte erst kniefällig gebeten werden, daß ich ihn nicht zerriß, so unglaublich töricht war er. – Trotzdem, die Torheit ist doch das Beste an der ganzen Brautzeit! Man will ja gar nicht zur Vernunft kommen. Die Vernunft kommt schon von selbst in der Ehe und früh genug . . . Und ist denn die Ehe eigentlich unter allen Umständen so was furchtbar Ernstes? – Natürlich ist sie's! – Aber wissen? – Wissen tu' ich's wahrhaftig nicht!«

Ich erkundigte mich darauf, wo ihr Bräutigam steht, nach dem Regiment und Dingen, die mir sonst fernliegen. ,

»Er ist Kürassier, wie Papa, aber Linie. Und denken Sie mal, an seiner wunderhübschen Uniform habe ich mich beinahe gestoßen. Es war kindisch! . . . Aber ich habe Papa doch eigentlich gar nicht gekannt, ich wurde geboren, nachdem meine Eltern zehn Jahre und mehr kinderlos, und, glaube ich, sehr trostlos darüber gewesen waren, namentlich Mama – und Mama hat immer gesagt, daß Ulanen für ihren Geschmack die hübscheste Waffe seien. Jetzt kann sie sich absolut nicht mehr daran erinnern. Aber ich erinnere mich genau! Und ich habe mich so in diesen Kinderwahn eingelebt, daß ich noch Peter neulich überreden wollte, sich doch zu den Garde-Ulanen versetzen zu lassen. Die Tschapka ist und bleibt doch die hübscheste Kopfbedeckung.«

Noch ist's ein schmaler, aber sanft absteigender Weg, auf dem wir nebeneinander gehen – zwischen verschnittenen Rebstöcken und windschiefen Oliven führt er abwechselnd. Kein rutschendes Geröll, kein Abgrund, keine Absturzgefahr! Der Weg genau so angenehm, wie sie sich den Lebenspfad vorstellt. Und ich denke dabei sehr ernsthaft über die merkwürdigen Gegensätze in diesem Frauencharakter nach. Sie denkt klug, sie denkt frei, sie hatte das Zeug, trotz aller Kinderei in wirkliche Tiefen hinabzusteigen, wie sie auf wirkliche Höhen steigen möchte. Aber Klippen darf's nicht geben! Vor Klippen kehrt man um, ohne den Versuch zu machen, darüber hinwegzukommen – eben weil's Klippen sind. Und schließlich entscheidet in solchem Leben zu guter Letzt doch nur die vagste Aeußerlichkeit. Zum ganzen Glück fehlt nur, daß ihr Peter Ulan wäre wie mein Vater. Vielleicht wird ihr auch noch der Herzenswunsch erfüllt. Und dabei ertappte sich der kluge Herr Rin dabei, daß er selbst an Aeußerlichkeiten klebt wie eine Klette! Das bildhübsche Mädchen neben mir, das so graziös und so wenig zimperlich schreitet, hält deshalb meine Sinne gefangen. Die schlanken, biegsamen Formen dieser hohen Gestalt sind mir weit wichtiger als der Inhalt ihrer Rede. Ich könnte vielleicht für einen warmen Blick aus diesen kühlen Augen eine Torheit begehen. Vielleicht! – Es ist ja auch nicht die Seele, es sind die Lippen eines schönen Kindes, die wir gern küssen möchten . . . Doch ich denke, bei mir hat das keine Gefahr.

Der Weg ist abschüssig geworden, die kleinen Kiesel rollen, wir müssen vernünftigerweise hintereinander gehen. Am scharfen, kurzgrasigen Felshang entlang gleitet der Blick in die schwimmende Tiefe. Mir macht's nichts. Aber wer kennt die Nerven verwöhnter Menschenkinder? – Ich wechselte darum den Platz zuletzt, ging am äußersten Rand neben ihr, um die gefahrlose Innenseite freizuhalten für meinen Schützling. Das behagte ihr scheinbar nicht. Dann aber merkte ich, wie ihr die Augen beim Schauen in die Tiefe leer wurden. Ich kenne den wehen Reiz der Kopfnerven nicht, denen der übrige Körper sofort zittrig nachäfft, doch sie lernte ihn jetzt kennen. Sie sagte auch hastig: »Verzeihen Sie – wir sind sonst im Sommer auf unserm Gut, und da gibt's nur Hügel. An einem wirklichen Abgrund entlang gehe ich heute vielleicht das erstemal in meinem Leben . . . Es ist ungemütlich!« Dann ging sie nur noch mühsam Schritt für Schritt und mit aufeinandergebissenen Lippen.

Ich beruhigte sie natürlich und erklärte ihr, daß dies überhaupt kein Abgrund wäre, sondern nur ein Abhang, den ich zur Not noch hinabklimmen könne, freilich nicht sie. »Halten Sie sich nur dicht an mich und sehen Sie geradeaus!«

Sie gehorchte, aber offenbar nur ungern. Sie befiehlt lieber selbst.

Als wir endlich vorbei waren, auf eine sanfte Halde abgebogen, blieb sie aufatmend stehen. »Es war scheußlich! Ich habe gezittert, reell gezittert. Allein wäre ich sicher umgekehrt . . . Es war zu dumm . . .« Und sie geht ein Weile eigensinnig stumm. Sie kann mir's nicht vergeben, daß ich sie schwach gesehen.

Plötzlich fragt sie: »Kraxeln Sie eigentlich von Jugend auf gern?«

»Ich bin zwischen Schneebergen groß geworden – und mein Beruf bringt's mit sich . . . Ich bin auch sonst ganz respektabel geklettert, und in Südamerika wollten die Eingeborenen nicht mehr mit, weil sie bergkrank wurden.«

Sie sieht jetzt in die Schlucht hinunter, aber ohne Grauen, wo im aufgewühlten Bett der Fluß zwischen großen Steinen durchschäumt.

»Warum haben Sie eigentlich solch sonderbaren Beruf gewählt?«

»Weil's mir Spaß machte.«

»Warum sind Sie nicht Offizier geworden? – Ich kenne zum Beispiel zwei sehr nette Feldartilleristen aus Wiesbaden.«

Dazu kann ich nur lächeln. »Des Dienstes ewig gleich gestellte Uhr, Gräfin? – Dazu tauge ich nicht.«

»Aber Sie hätten doch Offizier werden sollen!« beharrte sie eigensinnig.

Ich erklärte ihr darauf, daß es der direkte Wunsch meines Vaters gewesen sei, daß ich nicht Berufssoldat würde.

»Ach so, ich vergaß – Sie sind ja Schweizer!«

»Nein. Nur meine Mutter war Genferin, mein Vater dagegen sogar kurze Zeit preußischer Offizier.«

»Und das sagen Sie mir erst jetzt?«

»Mein Vater legte auf diese Tatsache nie besonderes Gewicht, und ich tue es auch nicht.«

Darauf inquiriert sie in komischem Mißtrauen weiter: »Sagen Sie mal, heißen Sie denn nun überhaupt Rin? – Bei Ihnen bin ich nächstens auf die wunderbarsten Ueberraschungen gefaßt . . . Uebrigens, ich habe Sie auch noch von einem Grafen Bloome zu grüßen. Es ist ein guter Bekannter von Peter in der Schutztruppe, der gerade auf Urlaub ist und einem Kameraden zufällig erzählt hat, daß er mit Ihnen in Windhuk mehrere Tage zusammen gewesen sei.«

Von da ab wurde mir die Inquisition peinlich. Dieser Bloome war ein netter Mensch, und ich erinnere mich seiner genau, aber ich habe die dunkle Empfindung, daß ich ihm in einer Sektnacht mehr von mir und meinen Familienverhältnissen erzählt habe, als es sonst meine Art ist. Und wie gesagt, hier möchte ich nicht Graf Rhyn sein. Es war ein Unsinn, den Leuten, die auf Namen so viel geben, nicht gleich meinen wirklichen Namen zu nennen und hinzuzufügen, daß mir dieser Name gleichgültig sei. Aber ich habe nun einmal Komödie gespielt, und ich will sie weiter spielen.

Schließlich stiegen wir als gute Freunde hinab in die Schlucht. Es ist wirklich eine wilde, schöne Schlucht, die nur leider durch eine Menge häßlicher Fabrikanlagen entstellt wird. Es ist zwar, glaube ich, das elektrische Licht unsers eignen Hotels, das wir von hier beziehen, aber ich gäb's gern drum, wenn der Fluß sich einmal zur Schneeschmelze ermannte, sein ganzes, tiefes Bett ausfüllte und diese ganze Kultur wegschwemmte in den Garda. Dann wär's die Natur, die ich liebe. Aber ich fürchte, er tut mir den Gefallen nicht.



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