Johann Richard zur Megede
Der Ueberkater Band I
Johann Richard zur Megede

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Zweites Kapitel

Wenn ich gemein veranlagt wäre, ich würde diese kläffenden Schurken einzeln überfallen, einzeln abwürgen. Es wäre mir ein leichtes. Aber ich bin nicht gemein! Ich würde, fürchte ich, das ekelhafte Hundeparfüm nie loswerden. Und man soll sich überhaupt weder im Guten noch im Schlimmen mit dem Pöbel amalgamieren; man soll ihn belächeln, auf ihn herabschauen, vielleicht auch mit einer ganz leisen Bewegung der Schwanzspitze zeigen, wie wenig er in Wahrheit für uns existiert. Der kriegerische Geist meines Vaters war neulich in mir viel zu mächtig. Ein eleganter Sprung hinab – zwei haarscharfe, schmerzende Durchzieher – derselbe elegante Sprung wieder hinauf: dann hätte ich imponiert, mir nichts vergeben. So aber siegte das römische Temperament, ich kam in eine wirkliche Gefahr, ich mußte von einem Menschen gerettet werden. Das ist mir peinlich . . . Aber es war doch wenigstens ein Graf. Es ist immerhin angenehmer, die Gefühle maßvoller Dankbarkeit dem Standesgenossen zu schulden, als sie an Untergebene zu verschwenden. Außerdem wünsche ich auch mit diesem Manne persönlich gut zu stehen. Sein Tagebuch interessiert mich, obgleich daraus mehr der Naturfreund und Gefühlsschwärmer als ein umfassender Geist spricht. Aber er hat mich einen »Ueberkater« genannt. Diese Bezeichnung ist mir sympathisch, sie entspricht der Wahrheit, und ich gedenke sie auch auf meiner Visitenkarte zu führen. »Mein lieber Rhyn, es war wirklich ein guter Gedankenblitz! Es freut mich für Sie, dies hier feststellen zu können.«

Sofort nach der Katastrophe kam eine Deputation der Angestellten des Hotels, um mir in einer Entrüstungsadresse ihre Verwunderung über diesen infamen Hundeübergriff auszusprechen. Es lag darin ein schönes Vasallengefühl, eine echte Dienertreue, die jeden Mausejäger zu den erkenntlichsten Miaus gerührt hätte – ich nahm nur einige Sardinen wohlwollend entgegen. Es war in dem dämmerigen Vestibül, und einige Hotelgäste standen auch dabei. Bei den meisten Deutschen glaubte ich ein stummes Mißvergnügen zu erkennen, als wenn sie mich weit lieber auf dem Blachfeld gesehen hätten. Ich werde diese unsicheren Kantonisten im Auge behalten.

Meine Stellung als Hotelkater hat sich in nichts geändert. Hunden ist der Speisesaal anstandshalber verboten, ich aber sitze bei allen Mahlzeiten in dem geräumigen Glasverschlag am Speisesaal, wo das Büfett steht, wo die Pikkolos mit ihren duftenden Schüsseln vorübereilen, wo die Büfettdame mir von Zeit zu Zeit dienstfertig eine kleine Leckerei überreicht. Die Table d'hote läßt sich hier am leichtesten übersehen, die Fleischgerüche dringen anmutig durch die beiden stets geöffneten Glastüren. Ich kann die essende Menschengesellschaft genau beobachten und ganz gefahrlos, da zwei Sprünge bis zum obersten Büfettaufsatz mich auch vor den plumpen Schlächterattacken eines Neufundländers sichern würden. Ich bettle nie nach Hundeart. – Nur wenn ein besonders pikantes Ragout serviert wird, ertappe ich mich dabei, behaglich schnurrend an den Rücken der hübschesten Damen herumzustreichen. Das sind aber nur Phantasieverirrungen; denn die Inspizierung der Küche vor und nach jeder Mahlzeit gehört ja zu meinen dienstlichen Obliegenheiten . . . Also meistens sitze ich auf dem Stuhl, träumend, schauend, und Mäusejager mögen denken, daß von hier aus ganz besonders glänzende Studien zu machen sind. Für Durchschnittsintelligenzen ja – für mich nicht. Ich beobachte meine Leute höchstens auf ihre äußere Anständigkeit: Ob einer nicht mit dem Messer ißt, oder beim Weintrinken schlürft. Mit den Manieren geht es erträglich . . . Ich suche mir wohl hier auch die dankbarsten Typen aus, die ich später zu beobachten gedenke. Aber ernstlich bei der Table d'hote Menschenseelen sezieren zu wollen, fällt mir nicht ein. Die Leute sind ja zu Tisch extra gewaschen, besser angezogen und je nachdem als gute oder schlechte Schauspieler frisiert, denen man zwar oft das Kostüm mit einem einzigen Ruck gewaltsam abstreifen könnte, die sich aber doch viel natürlicher geben, wenn sie sich ihr Kostüm selbst ausziehen.

Der Tag der Menschen ist Lüge, aber in der Nacht wandelt die nackte Wahrheit . . . Haben Sie, mein lieber Hiddigeigei, einmal von jenem berühmten hinkenden Teufel gehört, der ungesehen an jeder Türe horchte, durch jedes Schlüsselloch kroch, in alle Fenster guckte? – Nun, wir hinken nicht, aber wir sind ein ebenso scharfblickender Teufel. Ein Hotelkater in der Nacht ist die Wahrheit selbst . . . Ich kenne nichts Unterhaltenderes, nichts Belehrenderes als die heimliche Streife durch ein Hotel. Die Maskerade ist beendet: das verführerische Glöckchenkleid Columbines hängt ordentlich an einem Türnagel, Pierrot hat sein Wams unmutig in die Ecke geworfen. Es ist wirklich gut, daß der Menschentag im allgemeinen nur zwölf Stunden dauert. Denn wenn er länger dauerte, zum Beispiel ein ganzes Leben? – Ich wüßte wahrhaftig nicht, mit wieviel Anstand auch die beste Gesellschaft diesen ewigen Tag durchmachen würde! Nur wenige führen ihr Kulissengesicht auch nur während der kurzen Theatervorstellung anständig durch. Alle Augenblicke stiehlt sich einer weg von der Bühne, schminkt sich rasch ab, sieht in den Spiegel, lacht sich selbst aus. Wie oft habe ich nicht ganz große Komödianten beobachtet, denen das kostbare venezianische Spiegelglas ihres Schlafzimmers nur dazu da war, um dem unverkennbaren Ebenbilde höhnisch an die Stirn zu tippen. Und junge Mädchen, wenn sie sich lange genug bewundert haben im Stehspiegel, stampfen zuletzt wütend auf mit dem Absatz des Stöckelschuhs, weil die häßlich magere Halslinie sich trotz der Brüsseler Points an der Schulter nicht rundet. Und nun gar alte Weiber, die gern schön, junge Stutzer, die gern geistreich sein möchten! Ich habe in den Theaterpausen niemals enttäuschtere oder dümmere Gesichter gesehen . . . Aber diese Komödianten kleiden sich trotz aller Verzweiflung immer wieder an, kehren zum Fest zurück. Zuweilen jedoch zieht sich einer schon am hellen Tage gänzlich aus, zerreißt sein Kostüm, wirft's hohnlachend in die Ecke, freilich nur, um am nächsten Morgen sich ein neues trübselig sinnend zusammenzuflicken! Von den Leuten, die sich überhaupt nicht mehr kostümieren, rede ich gar nicht. Sie sind Strolche, und auch der schlechteste Schauspieler weicht ihnen aus.

Ich beginne meine Hotelpromenaden gewöhnlich eine Viertelstunde, nachdem der letzte Hotelgast dem gansaugenen Kellner du jour sein unzufriedenes »Gute Nacht« zugebrummt hat. – Vor Kammerdienern gibt es bekanntlich keine Helden – vor Kellnern keine Kavaliere – vor Katzen keine Menschen . . . Die Korridore liegen stumm, muffig, ein einsames Glühlicht flammt. Ich schleiche auf lautlosen Diplomatensohlen über den Teppich, das allgemeine Bild zu gewinnen. Schon die Schuhausstellung ist sehr lehrreich. Der zierlich helle Chevreauschuh der koketten Achtzehnjährigen, der auch sonst gern gezeigt wird und unerfahrenen Jünglingen die Illusion eines wunderbar symmetrischen Fußes vorspiegelt – die Lackstiefelette des Dandy, die noch im Traum drückt – der ungeheuerlich breite, dick ehrliche Professorenstiefel, der außerdem Schiffahrtszwecken zu dienen scheint, dicht neben dem prätentionslosen Zeugschuh der alten Dame, die nur noch Gartenpromenaden unternimmt. Es kommen sogar Sandalen vor, die immer herzhaft ausgetreten sind und meistens verbissenen Vegetariern gehören. Auf dem geölten Touristenstiefel liegt noch der dicke Staub der Tagestour, von ausgeschnittenen Maroquinschuhen steigt das sündhaft süße Parfüm eines reizenden Müßigganges auf. Ich habe sogar den Argwohn, daß besonders reizlose Weltdamen allabendlich besonders reizvolle Schuhe als Lockspeise für spionierende Herren vor die Tür stellen. – Bei den Zugvögeln beider Geschlechter gibt es natürlich nur gemeines Wichsleder. Und was mich außerordentlich wundert, der Hausknecht behandelt alle diese Eigenarten mit der gleichen demokratischen Geschäftsmäßigkeit. Jeder einseitige Beruf verflacht eben oder macht stumpf.

Während ich meine Beobachtungen über die Mißgestalt menschlicher Füße und die künstliche Unnatur ihrer Bekleidung fortsetze, öffnet sich zuweilen eine Stubentür, ein hemdärmeliger Männerarm streckt sich heraus, Stiefel poltern, ein langgezogenes Gähnen folgt; zuweilen zeigt sich auch im Türspalt eine ältliche Nachtfrisur des schönen Geschlechts, die aber mit dem jugendlichen Tagestoupet nichts gemein hat. Gestern kam ich gerade dazu, als die junge, schlechterzogene gewisse Dame in ganzer Figur aus ihrem Zimmer trat: seidene Matinee, Saffianpantöffelchen. Es ist wirklich schade um dies vielversprechendste Mädchen unsers Hotels. Ich wende mich nur gleichgültig ab.

Später horche ich die einzelnen Türen ab. Der österreichische Pensionär schnarcht, der preußische Major kommandiert im Schlaf: »Zu einem rechts schwenkt . . . Batterie . . .« Er geriert sich wie ein Unteroffizier auf einem römischen Kasernenhof. Auf dem großen Satiriker dürfte ein großer Alp gelastet haben, denn er stöhnte und wälzte sich und mußte von der Gattin geweckt werden, worauf sich ein besorgtes Flüstern und ein unzufriedenes Murren abwechselten. Bei dem jungen Ehepaar neulich ging's lustiger zu. Sie lachten und küßten sich, und ich ergötzte mich lange . . . Warum sind eigentlich bei den Menschen die jungen Ehemänner so gefühlvolle Kavaliere auch bei Nacht und die älteren so gefühllose Rauhbeine auch bei Tag? – Warum wechselt überhaupt mit der Kleidung auf der Stelle die Laune? Die ältesten Papas werden in der Nachtmütze erst gemütlich, während sie im Frack beständig knurren. Kein wirklicher Dandy ist fröhlicher, als wenn der tadellose Lackschuh fürchterlich drückt, und keine Beauté lächelt seelenvoller, als wenn sie das Korsett bis zum Ersticken schnürt. Aber im Hausrock oder im Frisiermantel werben sie je nachdem nachdenklich, bösartig, weinerlich, alle Sünden fallen ihnen ein – nicht die eignen, aber die andrer Menschen. Kinder dagegen lachen am herzhaftesten, wenn ihre Hände am schwärzesten sind; angeputzt sind sie so steif und unnatürlich wie Pappkatzen in einer Konfiserieauslage. Durch die Kostümfeste des Tages und die Demaskierungen der Nacht verkehrt sich bei den Menschen die Welt. Wir Katzen wechseln nie das Kostüm, sind immer elegant, immer liebenswürdig. Die Menschheit sollte gelehriger sein in bezug auf ihre Umgebung.

Bei sorgfältigen Studien vertieft man sich leicht zu sehr. Ich inspizierte darum nur noch schnell den Maler. Die Tür zu seinem Atelier war angelehnt, drinnen Gewisper. Sollte dieses Dorschgesicht am Ende einem feurigen Liebhaber oder skrupellosen Lebemann gehören? Am Tage macht er keine Toilette, vielleicht macht er sie in der Nacht. Und ich erinnerte mich auch gleich eines jungen, zarten Mädchens, das immer verschämt und gänzlich unbeachtet beim Lunch sitzt, die Augen höchstens mal zur Stubendecke aufgeschlagen. Ich schlüpfe mit einem unhörbaren Entschuldigungsmiau hinein. Dürre Beine und braune Ledergamaschen scheinen schuldlose Mädchenherzen magisch anzuziehen – denn da standen sie wirklich alle beide, und ihre bleichsüchtigen Lippen zuckten noch bedenklich. Ich bin nicht neugierig, ich will nur lernen . . . Entweder heiraten sich nun die beiden nächstens oder sie heiraten sich auch nicht; ich würde sie an seiner Stelle mit nach Düsseldorf nehmen, aber als Modell und zwar für eine Apotheose der Tugend . . . Solche Begegnungen habe ich oft, aber mehr auf den Korridoren selbst, im Garten, auf der Kurpromenade bei Vollmond. Zuweilen bekomme ich einen Teil Liebe mit ab – natürlich von Frauen. Und wenn ein sehr hübsches Mädchen mich plötzlich besonders innig und dauernd umarmt, dann sehe ich mich immer nach dem dazugehörigen Galan um, dem diese Zärtlichkeiten eigentlich gelten. Und merkwürdig – die jungen verführerischen Menschen, die leicht gefährdet sein könnten, treiben niemals unnötigen Mißbrauch mit dem Zimmerschlüssel, aber die alten griesgrämigen, die sicher niemand wegträgt, verriegeln und verschließen sich jeden Abend hermetisch.

Gestern war ich zu meiner Fensterpromenade etwas zu spät gekommen. Natürlich bin ich kein Mondscheinjüngling und promeniere sentimental unten im Garten oder draußen auf der Straße – das sind rein menschliche Jugendeseleien –, aber ich gleite sanft von Fensterkopf zu Fensterkopf, von Balkon zu Balkon. Heute war fast alles schon stockfinster, die Läden zugekrampt, das Licht ausgeknipst: höchstens hier und da ein sanfter Nachtlichtschein, der mich aber nicht interessiert, denn da schnarchen entweder müde Philister, oder alte Ehepaare hüsteln; ist's zufällig ein Kranker, dann hat die barmherzige Schwester an seinem Bett meistens auch keinen psychologischen Reiz. – Nur bei der neuen Gesellschaft war's noch ungewöhnlich hell, die Stimmen laut, die Balkonfenster weit offen. Sie sind mir gleichgültig, absolut gleichgültig. Aber ein Hotelkater darf unter keinen Umständen einseitig sein, und man studiert ja auch seine Feinde am besten im eignen Lager. Eine nächtliche Balkonvisite hat immer gewisse Konsequenzen . . . Jedenfalls sind es wohlhabende Leute, die am liebsten unter sich sein wollen und eine gewisse Bildungstünche auch um Mitternacht noch zur Schau tragen. Vom Persönlichen sehe ich ganz ab. – Sie hatten drei Salons und drei Schlafzimmer telegraphisch bestellt, deren Einrichtung ich sorgfältig beaufsichtigte. Sie haben sich's auch gleich am ersten Abend behaglich gemacht. Blumenvasen, Bilder, jedenfalls geschmuggelte Havannazigarren, auf dem Kaminaufsatz eine allerliebste Onyxpendule. So sieht wenigstens der eine Salon aus, dessen Chaiselongue sie überdies noch mit weichen Reisedecken und seidenen Kopfkissen dekoriert haben, wohl der Ansteckungsgefahr wegen, die aber in unserm Hotel nicht existiert, weil wir grundsätzlich keine Kranken aufnehmen, ausgenommen die schon da sind oder die noch kommen. Sie haben eine Teemaschine, die höchst behaglich summt, daneben eine Kakesbüchse, die nach Form und Inhalt sich so einladend präsentiert, daß ich unter andern Umständen einen sanften Griff hinein riskieren würde. Es ist wirklich bedauerlich, denn diese Leute sind zwar schlecht erzogen, aber sie haben offenbar Geschmack. Sonst würde ich ihnen eine gelegentliche Tee-Einladung nicht abgeschlagen haben. – Die beiden Terrierunholde trieben gerade eine schamlose Abgötterei mit der Kakesbüchse, die diese atheistische Gesellschaft noch zu belustigen schien. Die beiden Herren lachten, und die gewisse junge Dame kramte sogar zwei besonders leckere Stücke heraus. Nachdem die beiden Götzendiener unter unanständigem Schmatzen ihren Bauch zum Gott gemacht hatten, begannen sie auf einmal in die Luft zu schnuppern und fuhren dann wie auf Verabredung kläffend gegen das Balkongitter los. Ich salvierte mich durch einen spielenden Sprung auf das nächste Fensterbrett. Da mochten sie nun nach Belieben den Neumond ankläffen oder mich.

Im Zimmer sagten die Herren mit verständiger Geringschätzung: »Die sehen mal wieder Gespenster!«

Dagegen die gewisse junge Dame: »O nein, es wird wohl wieder die gräßliche weiße Katze sein, die im Garten 'rumspioniert. Wenn sie den glatten Heuchler doch mal tüchtig faßten!«

»Aber Kind, sei doch nicht so grausam! Katzen können fast so klug und anhänglich werden wie Hunde.«

»O nein, Mama! Sie sind und bleiben unter allen Umständen falsch und heimtückisch. Ich habe sie nie gemocht. Peter mag sie auch nicht. Und wenn er nächste Woche Urlaub bekommen sollte, wird doch gehetzt. Peter erzählt immer so wunderhübsch von seinen schottischen Fuchsjagden, und ich möchte wenigstens sehen, wie einmal eine Katze hallali gemacht wird . . . Nicht wahr, ihr beiden guten Hundchen freut euch auch schon?«

»Aber Josefa . . .«

Unter diesen Verhältnissen verzichte ich natürlich auf jeden Verkehr mit den »Neuen«. – Ich warf auch nur einen halben Blick in das nächste Zimmer, das Schlafzimmer einer verwöhnten Prinzessin.

Seitdem ist es mir ein besonderes Vergnügen, beim Grafen Rhyn auf dem Fensterbrett zu liegen. Er schreibt, ich sonne mich und kontrolliere dabei seine Schreibereien. Ich bin im Hotel maßgebend, mein Verkehr entscheidet über wirkliche Hoffähigkeit, und ich nenne meinen Freund darum jetzt konsequent: Herr Graf! Ich wünsche dadurch diesen Pseudogräflichkeiten da drüben, die für mich nicht existieren, ihre Schranken zu bezeichnen. Ich erkenne unerzogene Komtessen grundsätzlich nicht an. – Verstehen Sie mich? . . . Außerdem liegt das Zimmer so günstig, daß die beiden Kläffer mich immer in meiner klassischen Gelassenheit bewundern können. Sie werden sich nächstens die Augen aus dem Kopfe starren, die beiden Verbrecher; heiser sind sie schon.

Ich gebe mich, wie ich bin . . . Wenn ich irgend etwas auf der Welt hasse, so ist es die Kulisse, das schlechte Theater, der Herzensroheit . . .

Beim sorgfältigen Durchlesen meiner Aufzeichnungen, die ich im Gegensatz zu meinem Freunde und Standesgenossen, dem Grafen Rhyn (nicht M. de Rin) immer noch einmal durchfeile, kommt es mir vor, als wenn sich mein Stil dem seinigen zuweilen attachierte. Das mag eine gewisse Geistesverwandtschaft sein, viel mehr aber noch das geniale Akkommodationsvermögen, das uns befähigt, da untergeordnet zu scheinen, wo wir es am wenigsten sind.

Ich richte mich auf mit einem liebenswürdigen Gähnen. Die Sonne meint's wirklich gut. »Nun, Herr Graf, wollen wir?« – Und schon tobt drüben die Terrierbande.


»Verzeihen Sie, unsre Terriers haben neulich Ihre Katze beinahe totgebissen. Es tut mir leid . . . Die Hunde machen uns in allen Hotels Unannehmlichkeiten, aber meine Tochter trennt sich nun einmal nicht von ihnen.«

»Bitte. Uebrigens war's nicht meine Katze, sondern der Hotelkater.«

»Aber er saß doch auf Ihrem Tisch, während Sie schrieben. Er scheint sich demnach Ihnen besonders attachiert zu haben.«

»Das wohl. Es ist ein selten schönes Tier. Und ich würde auch heute dagegen sein, daß man es ohne weiteres unnütz abwürgen läßt.«

»Ich selbstverständlich auch . . . Meine Tochter wird sich noch bei Ihnen entschuldigen!«

Diese Unterhaltung fand unvermittelt auf der Treppe statt, die vom Vestibül zum Speisesaal hinabführt. Es war die ältere Dame der »vornehmen Gesellschaft«, die ihre Höflichkeit an mich verschwendet. – Ich habe mich nicht vorgestellt, wie's korrekt gewesen wäre. Ich weiß das – aber ich will nicht. Was habe ich auch für ein Interesse an einer Gesellschaft, die uns alle beharrlich schneidet, im Nebenzimmer ißt und ihre Sonderstellung bis zur Ungezogenheit markiert? – Ich heiße hier Rin, aber schließlich bin ich doch auch Graf . . . Wenn sich die Leute nach acht Tagen entweder aus Langweile oder aus Neugier endlich entschließen, mit uns gewöhnlichen Sterblichen an der gleichen Table d'hote zu essen, und wenn dabei die erste deplacierte Annäherung zufällig auf mich fällt, so empfinde ich wenigstens den esprit du corps und lehne ab. Was die andern Leute, die ich ja eigentlich auch nicht kenne, tun werden, ist mir gleichgültig. Leider hat der überschlaue Oberkellner aus unserm oberflächlichen Treppendialog gestern sich eine gewisse Zusammengehörigkeit zwischen mir und den »Neuen« zurechtkonstruiert. Als ich heute viel zu frühzeitig zum Lunch herunterkam und auf meinem alten Platz nach etwaiger Post suchte, fand ich mich versetzt – ob heraufgekommen oder hinabgestiegen, das weiß ich noch nicht. Jedenfalls liegt der Serviettenring von M. de Rin an dem andern Ende der Tafel und neben dem Kuvert einer Gräfin Josefa von Angern. Der Name ist mir unbekannt wie der meiste deutsche Adel überhaupt. Die Dame braucht über den Platz nicht selig zu sein, sie dürfte schon weniger schweigsame Nachbarn gehabt haben. Ich hatte fast Lust, mich zurückplacieren zu lassen unter Gesichter, die mir zwar ebenso egal, aber wenigstens bekannt sind. Nachher tat ich's doch nicht. Wer auf Reisen lebt, darf sich nicht plötzlich an neuen Gesichtern stoßen. Zur griesgrämigen Junggesellenisolierung bin ich eigentlich noch zu frisch und zu jung. Wir haben gegessen, wir haben geschwiegen – und das wird wohl noch eine Weile so fortgehen . . . Ich vergesse dabei allerdings das granum salis.

»Mein Hund hat neulich Ihre Katze attackiert. Ich wußte nicht, daß es Ihre Katze war!«

»Es war auch nicht meine Katze.«

»Dann um so besser.«

Das war die einzige Konversation mit meiner Komtesse; der Rest, wie gesagt, Schweigen. – Es ist eine andre Welt, als ich sie kenne. Ist sie darum schlechter? – Es ist eine andre Unterhaltung, als ich sie liebe. Ist sie darum weniger interessant? . . . Ich werde warten, ich werde beobachten.

Eins haben uns die »Neuen« wenigstens gebracht: Den Frühling, den Süden.

Schon morgens, wenn ich aufwache . . . Die grünen Gitterläden sind noch geschlossen, das Zimmer nächtlich kalt. Aber schon spielen auf der Wand die neckischen Reflexe – das helle, weiche, verwirrende Flimmern, das durch jede Ritze bricht! Die Wasserkaraffe opalisiert, der Türgriff vergoldet sich. Die Natur arbeitet immer mit so einfachen Mitteln. Sie wiederholt sich milliardenmal – und wiederholt sich nie. Wo scheinbar wahllos ein Sonnenstrahl hinfällt – der gleißende Lichtstreifen, die wirbelnden Staubatome, Farbe, Leben, Vielgestalt, die nie rastende Unendlichkeit in einem Kubikzentimeter Raum. Wie grob wir dagegen organisiert sind, wie stumpf unsre Sinne – die Wirklichkeit muß uns erst in großen Wogen umfluten, sonst empfinden wir sie nicht! . . . Und wenn ich einen Fensterladen öffne, wenn das Frühlingslicht in den kühlen Raum strömt, wenn die Lenzwärme uns umschmeichelt, wenn der junge Tag aus Sonnenaugen lacht! Auf den dicken Magnolienblättern des Gartens blinkt der Tau, das feuchte Gras duftet, das Insektenleben arbeitet summend . . . Die fromme Mär von dem jüngsten Tag und der großen Auferstehung dereinst, wie unnatürlich, fremd erscheint sie uns, wie schief geschaut, wie falsch erfaßt in einer Welt, deren Auferstehung sich stündlich erneut, deren Grab in jeder Minute, in jeder Sekunde sich öffnet, Geburt und Tod in endloser Kette sich ablösend. Leben, Sonne, Unsterblichkeit – All, daß du nur stirbst, um zu gebären! Und dabei ist's doch nur die ganz kleine Welt, die du hier groben Sinnen notdürftig enthüllst, allmächtiges Licht, – niederes, instinktives Leben, das unbewußt zu höheren Formen strebt. Es kommt, es geht, es läßt uns den Eindruck einer unglaublichen Vielheit zurück. Wir kennen nur die Triebe, die diese niedere Welt durchpulsen – mehr nicht. Unser Fuß zertritt ohne Bedauern diese feinsten Gebilde, sie interessieren uns nur als Ganzes, als Bild des Lebensüberschwangs, und bedeuten uns eine unendlich kleine Stufe auf der unendlichen Stufenreihe der Erscheinungen, der Erkenntnis. Und wenn wir weiterschauen über den weiten See, den duftig blauen, der wohl die plumpere Gestaltenfülle birgt, wenn wir über die schneeklaren Alpengipfel weg bis zur Sonne streben, die das Leben selbst ist und doch kein Leben in sich duldet – wenn wir dies wieder als nur ein winziges Stück des Alls erkennen, obgleich es eine Lebensvielheit, einen Gestaltungsüberfluß birgt, den wir auch nicht einmal ahnen können, – und wenn wir dann Gläubige wie Ungläubige uns noch nicht beugen vor dem Unendlichen, Unfaßbaren, das immer neu, immer alt, weder Tod noch Leben bedeutend, nur ruhig seine unendlichen Kreise zieht in sich selbst beginnend, in sich selbst zurückkehrend, und wir sogenannten Menschen mitten drin in dem wallenden Chaos wissend und doch unbewußt, mit unserm Geist demselben Triebe folgend, der das Atom mit demselben dunkeln körperlichen Tatendrang erfüllt . . . Wir stehen immer vor verschlossenen Türen, wir können sie nie öffnen, wir wissen das, und wir versuchen's doch immer wieder von Mensch zu Mensch, von Geschlecht zu Geschlecht. Und eben darin liegt tief unten unerreichbar der Schlüssel zu diesen verschlossenen Türen – dem All, dem Sein, uns Selbst.

Und nachdem man so berufsmäßig philosophiert, das von allen Gedachte wiedergekäut hat, besinnt man sich auf sein vernünftiges irdisches Selbst.

Ich setze mich mit meinem Morgenkaffee an das offene Fenster und freue mich wie ein Kind des Lichtes, der Farbe, des Lebens. Der See blaut tief, der Baldo leuchtet weiß. Ich habe die Empfindung, daß bei solcher Sonne die Sorge flieht, die Träne trocknet. – Ja, es ist doch eine Lust, Mensch zu sein!


Bei der Table d'hote bleibe ich der gleiche, langweilige Gesell. Ich bin den »Neuen« nicht um eine Linie nähergekommen in einer weiteren Woche. Ich glaube, es ist auch nicht nötig. Wer im Sand wühlt, wird nur Sand finden.

Es sind also ihrer sechs: Gräfin Angern und Tochter, Graf Quedenberg mit Gemahlin, Geheimer Kommissionsrat Rose nebst Nichte. Unsre Tischseite ist rund, und bis auf meine Nachbarin, die mir meistens nur das Profil zeigt, kann ich alle Gesichter mit Gemütsruhe studieren. Der Graf Quedenberg jung, blond, unbedeutend. Er hat Diplomat werden wollen, und das ist ihm wohl nicht geglückt. Darum spricht er wenig und das Wenige näselnd. Seinen kleinen Schnurrbart mißhandelt er unnötig; der Flaum wächst doch nicht . . . »Ja, damals, als ich noch Gardeducorps war . . .« Nächstens weiß ich das auch. – Seine kleine Frau ist klug, mager, hübsch, die geborene Botschafterin mit ihrer unpersönlichen Liebenswürdigkeit, ihrer sicheren norddeutschen Art. In dem kleinen Finger der ringbedeckten Hand wohnt mehr Verstand als in seinem ganzen kurzgeschorenen Schädel . . . Sie hat den Ehrgeiz, den Geist, er die Langweile, das Vermögen. Auf Kinder wird verzichtet. Wenn ich ihre blauen Augen zuweilen nachdenklich auf ihm ruhen sehe, begreife ich das. Dann wünsche ich der Frau einen klügeren Mann und dem Mann eine dümmere Frau. Nach Tisch musiziert sie. Sie spielt sehr gut und keineswegs nur Alltägliches. Manchmal denke ich bei einer besonders feurigen Passage: »Wer da wecken könnte – am Ende lohnt sich's!« Aber dann kommt wieder der harte, spröde Anschlag . . . »Es lohnt sich doch wohl nicht.« Das sind Leute, die beim besten Willen das Herz nicht öffnen können, das sie nicht haben. – Der Geheime Kommissionsrat ist eine ganz andre Sorte. Er sieht aus wie ein alter Nager; wimpernlose Augen, schmale Nase, die hagere Gestalt stets in einem altmodischen Gehrock; korrekt, wohlwollend, Gott und die Nächstenliebe auf der Zunge. Er würde für jeden christlichen Zeitungsaufruf anständige Summen zeichnen, niemals mit Namen, aber wissen muß es jeder. Ich für meine Person würde ihn um die kleinste Geldgefälligkeit erst angehen, nachdem ich mich als Graf zu Rhyn legitimiert hätte. Denn er ist bei aller protestantischen Demut und einer bei einem Sechziger allerdings bequem überfließenden Moral typischer Parvenü und kindisch eitel. Dem Dialekt nach ist er aus Schleiz, Greiz oder Lobenstein. Und wenn er stets süßlich sich den Damen gegenüber in ethischen Vorträgen ergeht, oder Standespersonen aufzählt, oder aus einem Notizbuch Gedankensplitter verzapft, die immer stumpf sind, aber ein gläubiges Kindergemüt gerade darum erfreuen – dann glaube ich in dem vorsichtigen Flüstertone, der devoten Nackenbiegung unbedingt den servilen deutschen Kleinstaatler zu erkennen, der die Erinnerung an Serenissimus und an den ersten Kratzfuß nie los wird. Zuweilen muß ihm die adlige Nichte eine besonders vornehme Bekanntschaft beiläufig bestätigen, und sein Eichhörnchenauge blinzelt dann eitel und schlau. Die Nichte ist ein recht appetitlicher Bissen, eine etwas untersetzte Juno mit klarem Teint und weißen Zähnen. Vielleicht ist er doch ein frommer Vokativus. – Und Angerns? Sie sind vielleicht die Creme dieser Gesellschaft, äußerlich jedenfalls: auffallend schöne Menschen, schlanke, ebenmäßige Gestalten, scharfe, feine Gesichter. Die Mutter, die aus ihren siebenundfünfzig Jahren niemals ein Hehl macht und auch nicht zu machen braucht, denn das Alter liegt kaum wie ein Puderhauch auf dem vollen Haar, der rosig welkenden Haut. Aber noch immer zieht sich die Profillinie klassisch scharf, wenn sie zur Seite blickt, und der Mädchencharme fliegt um ihre Lippen, wenn sie lächelt. Nur die Augen sind farbloser geworden, matt. Aber als die Frau noch jung war, herzensjung – haben diese sicher einst schönen und ausdrucksvollen Augen immer nur erlaubten Freuden geleuchtet und nie in sündiger Neigung geflammt? Schöne alte Frauen sind wie schöne alte Gesangbücher. Man erwartet etwas Besonderes von ihnen, vielleicht einen vergessenen Zauberspruch, und wundert sich, wenn aus vergilbten Blättern nur gewöhnliche Litaneien tönen . . . Ich glaube nicht an Ahnungen und dauernde Sympathien oder Antipathien auf den ersten Blick, wie sich auch nur törichtes Gefühl an einem schönen Auge krankhaft schnell entzündet. Und doch müßte ich bei dieser Frau eine Ausnahme machen. Ich habe immer die Empfindung, daß wir eigentlich schon uralte Bekannte sind. Und ich habe sie in meinem Leben noch nie gesehen . . . Die Tochter ist die Mutter – und nicht die Mutter. Der gleiche fast klassische Schnitt des Profils, die gleichen weichen Lippen, das gleiche großgeformte Auge. Die dreiunddreißig und mehr Jahre Altersunterschied mögen ja allmächtig sein – aber das hellbraune, kühle, hochmütige Auge der Tochter hatte die Mutter niemals! . . . Und innerlich? – Es ist gewiß die echte Frau, die echte Witwe, für die später innerlich nur noch das einzige Kind existiert; es liegt eine köstliche Einseitigkeit der weiblichen Natur darin, die den Generationen scheinbar ihre Zukunft garantiert – aber gerade die liebevollsten Mütter sind mit sehenden Augen blind.

Das Mädchen ist übrigens glücklich verlobt mit einem preußischen Kavallerieoffizier, der Rennen reitet und täglich schreibt. Sie trägt nur Sportschmuck, am Hals die rubinbesetzte Peitsche, das Armband ein schwerer, goldener Steigbügel, an dem als Portebonheur eine Freiherrnkrone klappert. Sie spricht auch viel von dem Bräutigam, kurz, frisch, der nachlässige Salonton, mit dem schneidigen Rotwelsch der Rennbahn gemischt.

»Wenn Peter in Hoppegarten diesen Sommer die ›Armee‹ gewinnt, bekommt er einen Kuß extra . . .«

»Nur einen?« lächelt die Gräfin Quedenberg.

»Es werden wohl einige mehr werden, wie ich Josefa kenne,« meint freundlich die Mutter.

»O nein! Wollen wir wetten? – Sonst wird der gute Peter nämlich übermütig.«

»In der Ehe wird sich das schon ausgleichen,« witzelt höflich sächsisch der Kommissionsrat.

»Ausgleichen? Wie meinen Sie das? – Da muß er erst recht kurz gehalten werden.« Plötzlich stockt sie . . . »Ich dachte eben: wenn er dann vielleicht gar das Rennreiten aufgäbe und dick und behäbig würde wie sein jetziger Rittmeister. Um Gottes willen, dicke Männer! – Wenn er jemals mehr als siebzig Kilo in den Sattel bringen sollte, lass' ich mich von ihm scheiden.« Unsre Ecke lacht belustigt, auch einige andre lächeln. Das Mädchen ist wirklich jung und natürlich mit ihren zweiundzwanzig Jahren. Aber der Verlobungsring sitzt ihr merkwürdig lose. Sie spielt mit dem schmalen Goldreif während der ganzen Table d'hote, läßt ihn die schlanken Finger auf und ab gleiten. Es ist ihr einziger Ring, und sie behandelt ihn mit einer reizenden Pietätlosigkeit. Zuweilen entschlüpft er ihr, rollt übers Tischtuch. Einmal schwankte er sogar unentschlossen hinüber bis zum Grafen Quedenberg, der ihn scherzend ergriff und an den kleinen Finger zu stecken versuchte.

»Wollen Sie ihn behalten, Graf?«

»Ich möchte schon, Komtesse.«

»Nein, geben Sie ihn wieder her! – Ich will Ihre Frau nicht unglücklich machen . . . und auch sonst . . .« Und sie steckte ihn gleichmütig wieder an den Finger. Es ist wirklich eine reizend elegante Art, so mit einem Kleinod zu spielen, das man immer wegwerfen kann und das doch immer gehorsam zu uns zurückkehrt . . . Aber, ich habe bei dem Ringspiel zugleich das dunkle Gefühl, als wenn der Reif auch in Wirklichkeit nicht fest säße, im Ernst abgestreift werden könnte ohne ein tieferes Bedauern. Und kennen sich eigentlich solche Brautleute? Können sie sich überhaupt kennen? – Ich denke über Verlobungen und Entlobungen recht kühl, aber junge Bräute sollten doch weniger mit Eheringen spielen. – Aber keine Angst, lieber Robert! Die Ehe wird recht glücklich werden. Es ist die Gesellschaft danach, es sind die Herzen danach. Und wenn je einmal die Frau dazu kommen sollte, heimlich und in der Nacht die schwere Fessel abzustreifen; öffentlich und bei Tage wird sie das hübsche Symbol eifersüchtig hüten. Denn innerlich – die Mutter Angern wird bei aller Liebe immer nur die Welt und die Tochter Angern bei aller Natürlichkeit immer nur den Spiegel fragen. Und diese sechs Menschen, die im Herzen wahrscheinlich nichts gemein haben, fanden sich wohl auch ganz zufällig, erkannten sich sofort mit dem Freimaurerhändedruck der guten Gesellschaft – und bilden jetzt die scheinbar sehr fest gefügte Insel der Namen, der Formen, der unbedingten Mittelmäßigkeit. Angerns sind Süddeutsche. Sie mögen mit den norddeutschen Gräflichkeiten in einem eleganten Seebade bekannt geworden sein. Das junge, hochmütige Mädchen schloß sofort mit der energischen jungen Frau den himmelnden Herzensbund für die Saison. Der liebevollen Mutter war der blonde Ehemann, dessen ganze Diplomatie wahrscheinlich in einem erträglichen Französisch bestanden hätte, dem Französisch der Oberkellner – sehr sympathisch, eine höfliche Null, eine geschlossene Persönlichkeit, die eine verlobte Tochter höchstens zu sehr schmeichelhaften Vergleichen für den Bräutigam reizt. Der Kommissionsrat stieg wahrscheinlich in München in dasselbe Wagenabteil erster Klasse, mit einem Gedankensplitter, mit einem vornehmen Namen sie alle erobernd. Eine gemeinsame Bekanntschaft, ein serviles: »Verzeihen, Frau Gräfin« – und die heilige Allianz ist fertig. Ich wundere mich jetzt nicht mehr, wie's passieren konnte, daß ein französischsprechender Abenteurer niedrigster Sorte in Berlins vornehmsten Klub eindrang, einem süddeutschen Prinzen spielend die Millionen abnahm und erst höflich herauskomplimentiert wurde, als die Polizei einen verblüffend ähnlichen Grafen im Verbrecheralbum entdeckte. Das letztere war eigentlich eine Roheit, denn der Hochstapler, der die Formen der großen Welt so unbedingt beherrschte, daß er einem wirklichen Prinzen die Macaohörner aufsetzen konnte, hat doch wohl ein geistiges Anrecht auf das Geld. Berlin schwieg die Affäre tot, aber historisch bleibt sie. In jedem Weltbade ereignen sich übrigens jährlich gleiche Skandale, nur daß zuweilen ein wirklicher Graf als Falschspieler ertappt wird. – Mit unsrer Gesellschaft haben die nun allerdings nichts zu tun. Unsre »Neuen« sind alle nur zu Gesundsheits- oder Zerstreuungszwecken gekommen. Sie waren acht Tage einsame Olympier; dann wurde ihnen die himmlische Langweile zuviel, sie stiegen hinab zu den Sterblichen, immer verbindlich, immer sie selbst. Sie besahen sich mit vorsichtiger Neugierde den großen Satiriker und fanden vielleicht, daß er selbst zur Satire herausforderte; sie strichen höflich grüßend an der Familie des preußischen Majors vorüber, fanden sie akzeptabel, aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt; sie wandten sich direkt an mich, wahrscheinlich verführt durch das Oberkellner-»de« in meinem Namen – und Adel und Adel zieht sich keineswegs unbedingt an –, sie salvierten sich, als ich mich salvierte, erst recht. Jetzt bilden sie die Insel, die uns allen im Grunde unsers Herzens höllisch imponiert – mir auch. Wir wären also gern aufgenommen auf diesem Eiland! – Aber ich bin wirklich zu ungelenk dazu . . . Ich bin allerdings, wie's in der Natur der Sache liegt, auf meinen Reisen oft mit sehr vornehmen Leuten zusammengekommen – ich saß zweimal beim Bankett neben englischen Herzögen, also der äußerlich untadeligsten Gesellschaft. Wir wurden auch nie liebevoll, aber wir wurden wenigstens lauwarm, es gab immer einen festen Punkt zwischen uns: ein gemeinsames wissenschaftliches Interesse, eine strittige politische Idee, die uns schließlich einte oder schied; aber wir hätten uns doch beide ins Gesicht gelacht, wenn wir erst mit Gesellschaftsfloskeln begonnen hätten, uns höflich die Nasen aneinandergerieben, wie es mir unbekannte Wilde tun sollen, die sich darauf mit dem fremden Stamm entweder anbiedern oder ihn massakrieren. Uns galt eben die Sache, nicht das Wort. Ausnahmen gab es wohl auch –, aber es blieben immer Ausnahmen. Ich habe niemals neben einem absolut leeren Kopf länger ausgehalten als unbedingt nötig. Dabei bin ich nicht wählerisch. Der Kameltreiber, der mir im gurgelnden Arabisch die Eigenschaften seiner Lasttiere auseinandersetzt – mein Mann. Der Schmied, der mir schwerfällig erklärt, warum er gerade ein breites Hufeisen auflegt – mein Mann. Es gehört nicht direkt zu meinem Beruf, aber ich bekomme von ihnen ein Bild des Lebens, ich lerne. Ich kann in einem maurischen Café stundenlang unbeweglich hocken wie die Araber, obgleich mir die ekelhaften Verrenkungen der Bauchtänzerinnen, das monotone Tumtum der Negertrommel keineswegs berauschend sind, aber ich sehe doch Menschen, Gesichter, ich versuche in eine Gefühlswelt einzudringen, die ich nicht verstehe – und endlich doch verstehe.

Und hier? – Die Leute haben sicher auch ihren Kern. Der Kommissionsrat wird sich ein Riesenvermögen auch nicht durch tiefsinnige Gedankensplitter oder ethische Gemeinplätze erworben haben, – hinter dem Nagergesicht steckt eine Intelligenz; Quedenberg ist der Sohn eines großen Generals; Mutter und Tochter Angern werden sich allein wohl Dinge zu sagen haben, die des Sagens wert sind. – Und was ich an ihnen allen nicht liebe, ist doch nur die gleichmäßige Maske, die langweilige Alltäglichkeit der Formen, die mich als etwas Leeres mit Recht abstößt. Und doch möchte ich auch mal in diese Menschen hineinsehen, zu konstatieren, daß, wie das Chlorophyll beim Blatt die Farbe, auch hier das Blut das Leben ausmacht. Aber ist es nun geistiger Hochmut – gesellschaftliche Ungelenkigkeit – ich kann mich gerade diesen Leuten so schwer anbequemen. Ich bin ich – und dieses Ich ist leider hart und spröde. Ich könnte wohl einmal, zweimal, aber nicht zehn Tage hintereinander wie der Kommissionsrat mich besorgt nach dem Schlaf der Damen erkundigen, wo sie doch alle sichtlich gut geschlafen haben; ich kann auch nicht mit vagem Interesse Trainierberichte aus Hoppegarten anhören, während mir Trainer wie Pferde gleich unbekannt sind. Das alles will gelernt sein – und ich habe es nicht gelernt. Das ist tatsächlich ein Fehler der Erziehung, eine Einseitigkeit, über die ich nur mit eisigem Schweigen herrischer Geringschätzung hinwegkomme. Ich bin kühl höflich, aber ich bin niemals lächelnd gewandt. Und wenn ich mich ernstlich unter die Lupe nehme, konstatiere ich, daß R. Rin und Graf zu Rhyn ganz besonders anspruchsvolle Gesellen sind, sie wollen immer respektiert sein.

Es mag nun kommen, wie es will – als Aristokrat entpuppe ich mich hier nicht mehr. Und wenn ich direkt lügen sollte . . . Komme ich noch einmal mit den »Neuen« im guten zusammen – meinetwegen! – Sie mögen mich dann taxieren wie sie wollen, aber nicht nach einem leeren Namen.


Wahngebilde erzeugen Wahngebilde. Neulich – ich saß gerade im Hotelgarten und nahm mal zur Abwechslung Pflanzen unter die Lupe und nicht mich – da kam die Gräfin-Mutter, mir Gesellschaft zu leisten. Sie hat noch immer einen leichten Gang und hübsche Bewegungen.

»Störe ich Sie, Monsieur de Rin?«

»Rin, gnädigste Gräfin. Ich bin Deutscher.«

»Es war neulich darüber ein Streit zwischen uns. Ich war der Ansicht, daß Sie am Ende doch Franzose sein könnten, und schon drauf und dran, mit Ihnen von jetzt an französisch zu konversieren. Danken Sie Gott, daß ich es nicht tat! Sie kennen ja Damenfranzösisch: sehr fließend und sehr inkorrekt . . . In Deutschland muß es auch eine Familie Ihres Namens geben, aber sie schreibt sich, soviel ich weiß, ganz anders.«

»Ich glaube nicht, daß es in Deutschland sonst noch Rins gibt.«

»Es gibt doch noch – es gab wenigstens . . . Aber warum ich eigentlich Ihre Unterhaltung gesucht habe? – Wir müssen uns sicher schon einmal begegnet sein, Herr Rin.«

»Ich wüßte nicht.«

»Aber ich hatte in dem Augenblick, wo wir uns sahen, die Empfindung, daß wir uns kennen müßten.«

»Ich hatte dasselbe Gefühl, Frau Gräfin.«

»Merkwürdig.«

»Wir müssen demnach beide einen Doppelgänger haben.«

»Ja, das müssen wir wohl . . . Und Sie sind ganz sicher, mit den Grafen zu Rhyn auch nicht weitläufig verwandt zu sein? Das heißt: der Graf zu Rhyn, den ich einmal flüchtig gesehen, ist Ihnen auch nicht die Spur ähnlich. Es war eine nichtige Frage.«

»Ich habe keinen einz'gen Verwandten.«

»Dann tun Sie mir aber leid! Und wie ich sehe, sind Sie auch nicht verheiratet. Das müssen Sie aber noch tun!. . . Einmal alt und einsam und ohne wirkliche Erinnerungen – nein.«

»Ich kann mir wohl vorstellen, gnädigste Gräfin, wie gewisse Erinnerungen einem das Alter vergällen können, aber weiter nichts.«

»Ja, Sie sind eben Mann, Sie sind jung . . . Ich bin schon verhältnismäßig früh Witwe geworden und habe nur ein Kind. Ohne ein Kind, ohne die Erinnerungen würde ich mich unendlich arm fühlen . . . Sie lieben auch den Garda?«

»Ich liebe ihn sehr.«

»Ich kenne ihn schon seit beinah vierzig Jahren – er ist für mich voller Erinnerungen, und ich kehre immer getreulich zu ihm zurück. Rovereto, Riva, Salò . . .«

»Sie waren mit Ihrem Herrn Gemahl hier?«

»Mein Mann hat den Garda nie gesehen, aber ich hatte hier liebe Menschen, sehr liebe Menschen . . . Sie haben sich nachher von mir abgewandt, hohnlächelnd, mich jeder Heuchelei, jeder Gemeinheit vielleicht für fähig gehalten. Ich habe nicht Gleiches mit Gleichem vergolten. Die Erinnerung an jene Tage bleibt mir doch heilig.«

Ich schreibe diese Unterhaltung nur nieder, weil sie nichts sagt, und weil sie doch charakteristisch ist. Es sind immer nur Worte, hübsche Worte. Dahinter steht der Altar mit dem eignen Bild, den Weihrauch streut man sich selber . . . Indessen spielt die Tochter auf dem Rasen mit den Hunden, läßt sie springen, springt selbst. Die hohe, schlanke Gestalt mit der biegsamen Taille, den kraftvoll runden Bewegungen der brillanten Tennisspielerin, – dazu das helle Kleid, die warme Sonne, der weiche Rasen: die schlechteste Garda-Erinnerung wäre das Mädchen allerdings nicht. Der Geheime Kommissionsrat mit den Quedenbergs wandelt derweilen sittsam auf Kieswegen. Sie streiften uns einmal fast, und der gute Mann machte dabei ganz elegische Augen, als wenn er sagen wollte: »Versteht auch solcher Durchschnittsmensch so viel gräfliche Güte zu würdigen?« Josefa, die verschiedene Male ungeduldig zur Mutter herübergesehen hatte, kam endlich selbst:

»Verzeihen Sie . . . Weißt du schon, Mama, daß Peter für Iffezheim nachgenannt hat? Wir müssen auf alle Fälle hin.«

»Ja, Kind, wir werden sehen . . . Aber wann kommt er denn eigentlich?«

»Ich denke, übermorgen. Er wird uns überraschen wollen . . . Ich freue mich doch rasend auf ihn, Mama! . . . Verzeihen Sie . . .« Sie geht wieder mit der gleichen höflichen Mißachtung, die ich verdiene.

Wir beide sehen unwillkürlich nach.

»Und so was soll man nun in sechs Monaten hergeben, ganz hergeben?«

»Ihr Fräulein Tochter heiratet dann?«

»Ja. Und mir wird damit eigentlich ein Herzenswunsch erfüllt. Sie passen so gut zusammen, sie haben dasselbe Temperament, die gleichen Passionen. Mein Schwiegersohn ist mir schon jetzt der rücksichtsvollste Sohn. Aber verlieren muß ich mein Kind dann doch. Sehen Sie, das wird dann auch nur eine Erinnerung . . . Und wenn ich diese Erinnerung je missen müßte?«

»Ich verstehe vollkommen, Frau Gräfin,« antwortete ich mechanisch.

Aber da antwortet sie rasch: »Sie verstehen ja doch nicht! Sie können gar nicht verstehen! Niemand kann ahnen, was mir dieses Kind immer gewesen ist . . . Ich habe es seit seinem dritten Jahr allein erzogen, ich habe es, soviel ich konnte, vor allem Bösen behütet . . .« Und erfüllt von dem Muttergefühl, wie sie nun einmal ist, beginnt mir die Frau ihre Erziehungsgrundsätze auszukramen. Wie man den jungen Baum nur biegen, niemals beschneiden dürfte, wie sich dann die jungen Zweige ganz von selbst harmonisch formten; wie man ihm niemals das Böse zeigen dürfte, um es dem Guten allein zu bewahren . . . Und so zieht sich der kleinumschriebene hübsche Zauberkreis, den die Mutter wohl nach besten Kräften einst selbst ausgefüllt hat, weil sie eben eine sanfte, lenksame Natur, deren vorsichtigen Instinkten schon die Aufschrift: Verbotener Weg! genügte, und sie wich Schritt für Schritt zurück. – Es mag das gut für Frauen sein, für Menschen, die nichts weiter wollen, als lächelnd und unerkannt sich durchs Leben winden, der großen Sünden, aber auch der großen Gefühle bar. Doch die anders geartet sind, die widerstreitenden Naturen, die Menschen, denen es nicht genügt, nur eine gleichgültige Nummer zu sein, die sich ihren Weg durch Versuchungen, Sünden, vielleicht Laster erst bahnen müssen, um sich ganz zu finden? Die werden ihre Zweige nur scheinbar willig biegen lassen, die werden Kämpfe suchen, Konflikte – und ich weiß noch gar nicht, ob aus dieser kapriziös spielenden Josefa sich nicht einmal eine Eigenart herausentwickelt, die lieber bricht, als daß sie sich biegt. Und dann wird sie diese weiche mütterliche Erziehung verfluchen . . . Denn man kennt die Menschen doch nicht! Auch diese Leute haben ihre Tiefen und Untiefen. Nur Gemälde hören auf Gemälde zu sein, wenn man ihnen die Farbe abkratzt, aber bei Marmor kommt man dann erst recht auf Marmor.

Es war wie gesagt Sonnennachmittag. Der See so blau duftig, der Grund so kristallklar, daß der Kies unten wie mattes Silber heraufleuchtete, bis er sich dann weiter in stumme Tiefe verlor. Die nahe Isola hob ihre grünen Felsgestade aus dem tiefen Blau in träumerischer Melancholie. Alles sanft, weich, duftumflossen – auch der weiße Monte Baldo-Rücken rundet sich, die Schrunden und Zacken im Schnee verborgen. Die ganze Natur in ihrer milden Frühlingsfeier will von scharfen Linien nichts wissen. Als ich von der Hotelterrasse noch einmal in den Garten zurücksah, standen gerade Mutter und Tochter zärtlich wie zwei Schwestern nebeneinander. Der Süden gibt diesen Leuten recht.

Ich aber stieg gleich darauf in die Berge – durch die Olivenhänge, wo die Sonnenlichter zugleich mit den Eidechsen spielen und der Himmelsschlüssel gelb üppig aus dem dürren Gestein sprießt – über den Lorbeerweg weg, wo es schwül nach Süden und Ruhm roch: bis ich endlich an der letzten kümmernden Olive vorbei die Zone des braunen toten Grases betrat. Da wehte die frische, scharfe, feuchte Luft der wirklichen Berge, die den Frühling erst im Sommer kennen, da sah ich hinein, in die Hochalpen, auf die trotzig gebogenen Hörner, die wilden Zinken, auf diese Härte und Starrheit und steinerne Wucht, die den Frühling und den Kompromiß überhaupt nicht kennt . . . Und da habe ich lange gestanden und geschaut und mich vom scharfen Firnhauch anwehen lassen.

Und ich habe doch recht! Das ist meine Welt, meine Anschauung des Lebens. Die harten Linien haben recht, die großen Bilder; der Garda, der da tief unten so wonnig blaut, erfaßt das Leben doch nicht in seinem Kern.

Und wieder muß ich an meinen Vater denken, der mich so eisern streng erzog . . . Ich hab's ihm nachgetragen manches Jahr und schwer die Mutter vermißt, die bei meiner Geburt starb. Aber der harte Mann tat gut daran, daß er den schwachen Baum zwang, sich im Wetter zu stählen. – Und als wir nach meinem Abiturium zusammensaßen, der Mann mit dem Mann, und mein Vater, vielleicht angeregt von der Freude und vom Wein, aus seiner Jugend erzählte, der leichtsinnigen Düsseldorfer Ulanenzeit, von seinen großen Reisen später . . .

Und . . . wir sahen uns an, und es ging plötzlich nicht mehr. Da wurde dem verschlossenen Mann das verwitterte Gesicht hellrot, und er trank den Sektkelch auf einen Zug herunter. »Mein Junge, wir sind Männer, und es soll keine Lüge zwischen uns sein: Du bist kein Kind der Liebe. Frag nicht, sag nicht, gräm dich auch nicht – wir sind am Ende doch nur wir selbst! . . . Und deine Mutter war die beste Frau, die's gibt . . . Ich habe mein Leben genug gewüstet und genug gelogen. Und wenn ich dich sehr hart erzogen habe, wie wohl sonst kaum ein Vater seinen einzigen Sohn, den er von Herzen lieb hat, so habe ich es getan, weil ich mich und meine Fehler kannte. Du sollst einmal im Leben den schnurgeraden Weg gehen, gleichviel wie steinig er ist, und der Wahrheit ins Gesicht sehen, gleichviel wie sie aussieht. Denn es gibt auf dieser Welt nur einen richtigen Weg, das ist der gerade Weg, und nur eine Diplomatie, das ist die Ehrlichkeit, und nur eine Tugend, das ist die Kraft . . . Du bist jung, du kennst von der Welt bis jetzt nichts, aber du bist so bedürfnislos gewöhnt, daß du nicht an jedem Kiesel dich wundzustoßen brauchst und nicht zeitlebens dahinzusiechen an irgendeiner großherzigen Gefühlsduselei. – Und die Hauptsache: Gib niemand Rechenschaft als dir selbst! Wer das richtig erfaßt, der haut sich durch jedes Gedränge durch, oder er stirbt anständig im Gedränge . . . Mein Junge, raube und senge meinetwegen im Leben, sei ein ganzer Schuft, aber werde niemals feige oder lächerlich – niemals, hörst du, um keinen Preis! Dein Vater hat sich lächerlich gemacht und deine Mutter unglücklich. Von der Lächerlichkeit kommt man nicht mehr los, der Makel bleibt . . . Und wenn du mein Sohn bist, so werden auch die Frauen in deinem Leben ihre Rolle spielen. Gebrauche sie! Und laß niemals die leichten Engagements der Sinne zur schweren Verpflichtung des Herzens groß wachsen. Dann bist du der Reingefallene, wie ich der Reingefallene gewesen bin. Dabei erinnere dich, aber auch nur dabei, daß du ein Graf Rhyn bist, und daß die besser unvermählt zu Grabe gehen. Denn wir sind allzeit Schwärmer und Frauenknechte gewesen und haben's danach getrieben. Aber wir haben auch allzeit ein Herz gehabt und haben unser Bestes freudig hingegeben – und sind mit Hundslohn davongejagt worden. Solche Leute finden in der Ehe nie das, was sie suchen. Denn das Leben ist lang und der Werktag nüchtern. Aber wenn dich der Teufel doch mal reitet, dann suche ihm bei guter Gelegenheit auf den Rücken zu kommen und setze ihm erbarmungslos die Sporen ein und leite ihn dahin, wo du willst, nicht wo er will. Dann wird dir vielleicht das Leben glücken. Mir ist's nicht geglückt. Also hüte dich vor der Frau! . . . Und nun, mein Junge, sollst du ein Jahr reisen, wohin du willst und wie du willst. Aber meide allzu weiche Luft! Dann sage mir, was du werden willst. Ein freier Beruf – wenn du auf mich hörst. Er ist das beste für unsereinen. Man bleibt, wer man ist. – Und in bezug auf Aeußerlichkeiten: den anständigen Mann kennt man an der anständigen Wäsche . . .«

Ich bin gereist, bin zurückgekommen, aber mein Vater war gestorben derweilen. Es ist mir natürlich erst langsam klar geworden, welch tiefe Lebenserfahrung und Selbsterkenntnis in dem steckte, was er mir gewissermaßen als Geleitbrief ins Leben mitgab. Welche Frau ihm sein Leben vergiftet, weiß ich nicht. Ich habe in seinem Nachlaß eigentlich nur einen wichtigen Brief derart gefunden. Er muß von dieser Frau gewesen sein. Ein matter Brief! Aber zwischen den Zeilen konnte der Sohn lesen, wie unsinnig der Vater diese Frau geliebt haben muß.

Ich möchte auch nicht mehr wissen. Man kennt die Menschen nie. Und ich will jemand, der mir stets groß vorschwebt, nicht klein sehen. – Freilich, ich vergesse dabei einen Moment in seinem Leben – und werde ihn doch nie vergessen! – Aber das ist ein Geheimnis zwischen Vater und Sohn. Und es stirbt mit mir.


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