Johannes Richard zur Megede
Das Blinkfeuer von Brüsterort
Johannes Richard zur Megede

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Dühling schlief traumlos und lang.

Ein Junge mit einem Bleistiftbrief weckte ihn. Sie schrieb, daß er nicht kommen solle. Der verstauchte Knöchel sei geschwollen, und der Badearzt habe das bekannte bedenkliche Gesicht gemacht und Bettruhe verordnet – ein, zwei, drei Tage.

»Der Mensch ist wahnsinnig! Drei Tage ruhig liegen wie eine Schwerkranke, jetzt, wo ich so gesund, ach, so gesund bin! Natürlich kann ich gehen, ich könnte fliegen . . . Ich bin ja so glücklich! . . . Ach, du lieber, lieber Georg . . . Und zur Kokette bilde ich mich auch aus auf meine alten Tage. Ich habe nämlich dem jungen, harmlosen Menschen so verführerisch zugelächelt, daß er sich erweichen ließ. Also ein Tag! Das mußte ich allerdings fest versprechen. Und keine großen Spaziergänge mehr, höchstens ein dolce far niente im Zauberwald. Du wirst also Deine erwünschte Einsamkeit heute benutzen, uns einen verschwiegenen Platz zu suchen, wo ich Deine Hand halten kann, ohne neidische Blicke zu wecken, und Dich immer ansehen, ohne daß die Leute sagen könnten: ›Wie glänzen doch auf einmal der Frau die ausdruckslosen Augen!‹ Ich küsse Dich, Georg, viele, viele Male.«

Dühling las den Brief noch schlaftrunken. Aber er stand sofort auf. Er war ja wieder so jung, so jung! . . . Den Kaffee trank er auf seinem Zimmer und schlich dann mit Diebesschritt durch den Korridor unten und hinaus.

Er wollte keine bekannten Gesichter sehen.

Über Nacht war der Herbst zurückgekommen. Der scharfe, kalte Wind zauste das Birkengestrüpp und bog die jungen Kiefern. Auf dem Strandweg wirbelten gelbe Blätter, Sandwolken stoben. Die Brandung grollte herauf in eigentümlich hellen, kurzen Schlägen. Der Kellner Karl kämpfte an den Gartentischen mit den bunten Decken, der Wind schlug ihm eine ums Ohr und verhüllte ihn phantastisch.

Dühling ging sofort in den Wald hinein. Die Luft war hier so kühl, so jung, das Heidekraut flüsterte, die Stämme klagten. Am Himmel jagten die scharf umrissenen Herbstwolken. Der Zauberwald war heute leer. Niemand hätte sie beide gestört. Aber Dühling suchte doch liebevoll-gewissenhaft nach einem einsamen Platz. Am Dünenhang fand er ihn endlich, zwischen wogendem Gebüsch hinter einer Wacholderinsel. Er setzte sich hin. Unten zwischen dem gepeitschten, klagenden Grün rollten die schmutzigbraunen Wogenberge mit zerrissenen Schaumkämmen und schrien in unverständlicher Wut.

Heute fühlte sich Dühling zum erstenmal seit Jahren wieder Mann und frei. Er blickte in seine Zukunft. Und sie strahlte in einer gesunden, ruhigen Helle. Das tatenlose Hindämmern von einst wurde ihm leid. Er sehnte sich auf einmal nach Arbeit, Beruf, nach einem Ziel . . . Wenn er wieder aktiv geworden wäre? Leute mit seiner Konduite nimmt man gern zurück. Aber das ging doch nicht. Mit der geschiedenen Frau eines Kameraden, – das Wispern hört ja nie auf. Und dann . . . In diesem Rock hatte er seinen schwersten Traum geträumt, war schlapp geworden, ein Träumer, fast ein Weib. Das Kleid wieder anziehen, das ihn wie ein Nessushemd gebrannt? Um Gottes willen nicht! Das hieße ein neues Leben leichtfertig in ein altes Bett zurückleiten. Jede Welle flüstert da Erinnerung, jeder Baum des Ufers, jeder Grashalm . . . Dühling sah nachdenklich auf den Sand, auf dem er saß; jene zahllosen, winzigen Wellen, die im Wind sich hoben, im Winde wandern, jene heimlich rieselnde Flut von Atomen, – ein Spiel der Natur und ein Spiegel des Lebens. Sind wir nicht alle das willenlose Sandkorn, das der Wind hebt, der Wind begräbt? Jeder denkt so einmal, in der Wüste, am Meer. Die unverstandene Weite, die starre Unendlichkeit rings und alles Menschliche schrumpft zu einem Sandkorn zusammen . . . Heute kam dieser Vergleich Dühling nur flüchtig. Er dachte gleich wieder vernünftig, daß man etwas tun müsse hier, daß das Leben dem Leben gehört, die Tat der Tat. Er ging alle die Berufe durch, die dem Manne auf der Höhe der Kraft noch offenstehen. Er dachte hin und her. Aber erst, als er zufällig einmal zurückblickte, wo hinter der dunklen Wacholderinsel die gelbe, tote Stoppel sich im scharfen Herbstlicht dehnte, kam ihm das Selbstverständliche. Landwirt! Das lag ja so nahe. Den alten Heimatboden furchen, ihn pflegen, hätscheln, bis das goldene Halmenmeer entsprießt, im ernsten Kampf mit tückischen Naturgewalten wieder Mann werden, Herr, fest wachsend an der lieben Scholle, kein Fremder hier mehr, sondern ein Freund. Und wenn er früher immer die Heimat nur in dem sanften Grau des Alters, der Einsamkeit gesehen, malte sie sich ihm heute jung, kraftvoll, sie zog ihn wie Leben zum Leben.

Am Mittag war Dühling schweigsam, sah kaum auf. Er hatte gar keine Lust, zu erzählen, wie voll ihm das Herz. Die Frau des Hauses fragte, ob er sich nicht wohl fühle – man servierte gerade sein Leibgericht – und er aß davon fast nichts. Er gab nur eine ausweichende Antwort, weil er nicht lügen wollte; und den Mangel an Appetit mit dem köstlichen Rieseln der Gesundheit zu erklären, dem wohligen Gefühl, endlich wieder den festen Grund unter dem Fuß zu spüren, – welche Torheit!

Am Abend schlich er noch einmal in die Nähe der abgelegenen Villa und sah das Licht in ihrem Zimmer froh und friedlich leuchten.

Den Morgen war er schon früh auf. Der Wind blies schärfer. Dühling sah von seinem Fenster über dem vielfarbigen, rauschenden Blättermeer hinweg die See schimmern, graugrün, mit zahllosen weißen Tupfen wie schwimmende Möwen und darüber hinzuckend grelle, scharfe Reflexe, die kalt blitzenden Lichtpfade der aufgewühlten Flut. Er eilte sich bei der Toilette. Er wollte rasch unten seinen Kaffee trinken, weil er sich nach dem starken, kühlen Wind da draußen sehnte und nach ihr.

Auf der Treppe begegnete ihm die Dame des Hauses. Sie rief ihm gleich verständnisvoll lächelnd zu: »Frau von Westrem ist auch da! . . . Sie hat übrigens Unglück gehabt und sich den Fuß verstaucht. Sie geht noch recht unsicher . . . Aber wie die junge Frau heute aussieht, wirklich zum Verlieben! In den acht Tagen, wo ich sie nicht gesehen habe, ist eine Änderung vorgegangen! Früher hatte sie doch so etwas matte, kaschierte Augen. Und jetzt? – So ein klarer, leuchtender Blick! Es ist uns allen aufgefallen . . . Ihre hübsche Freundin ist auch da, Herr Rittmeister, und hat schon nach Ihnen gefragt . . . Wer einmal hier war, den zieht's immer wieder her. Die Herrschaften sitzen in der Veranda.«

Dühling schlenderte gemächlich durchs Eßzimmer. Der Frühstückstisch wurde dort bereits gedeckt, – die appetitlichen Flundern, der Fleischsalat, inmitten einer verschwenderischen Fülle von lockend marmorierter Wurst und stumpfweißen Eiern. Die Gesellschaftsdame, deren unentwegte Liebenswürdigkeit gegenüber tausend berechtigten und unberechtigten Wünschen Dühling immer bewundert hatte, ordnete die Schüsseln. Auch sie lächelte wissend und hob geheimnisvoll den Finger: »Frau Baronin ist da – und so reizend und liebenswürdig!«

Dühling blieb stehen und sagte etwas geringschätzig: »Ich dachte, sie wäre schon weg. Na, um so besser!«

»Ach, Herr Rittmeister, tun Sie nur nicht so!«

Dühling drohte freundlich: »Und der doctor juris«, – er hätte beinahe gesagt der Gnom, – »gnädiges Fräulein, gnädiges Fräulein!«

Das nicht mehr junge, aber noch immer recht hübsche Mädchen errötete darauf, und die Augen funkelten feindlich, aber im Herzen tat ihr die Anspielung auf den etwas faden Kurmacher doch wohl.

Dühling trat in die Veranda. Esther saß, ihm den Rücken zugekehrt, doch die hübsche Enthusiastin nickte freundlich grüßend. Frau von Westrem tat, als wenn sie das nicht bemerke, und sprach ruhig weiter: »Liebe Melitta, ich finde den Herbst an der Küste weder grau noch kalt, sondern wunderschön.« Aber sie fühlte doch seine Nähe. Der schlanke Nacken beugte sich tiefer, die weiße Haut zuckte.

»Also Parole: Wunderschön!« sagte Dühling plötzlich, das letzte Wort wiederholend, mit der billigen Ironie des Gesellschaftsmenschen. Nach einer halben Höflichkeitsverbeugung gegen die Fremden am Tisch, drückte er den beiden Damen die Hand, der Geliebten mit dem verstohlenen, warmen Druck des Glückes, über den sie mit einem Lächeln quittierte. »Ja, der Herbst ist wirklich wunderschön!«

Das junge Mädchen war heute etwas geknickt. Der heiße Sommer in der Stadt, eine schlimme Erfahrung? »Frau von Westrem predigt mir seit einer halben Stunde Lebensfreude. Aber wenn man sie nun nicht hat . . .«

»Wer sie ehrlich sucht, liebe Melitta, der wird sie schon finden.«

»Ach, gnädige Frau«, opponierte die andere pessimistisch, »das können Sie wohl sagen! Wem der Strand so gut bekommen ist wie Ihnen augenscheinlich! . . . Ich komme mir überflüssig vor. Der Herbst hier sagt mir dasselbe. Ich werde doch noch Gouvernante oder lerne Schreibmaschine . . . Nein, Gouvernante allerdings, – ewig würdig und geheimnisvoll, nein! . . . Jedenfalls aber werde ich etwas tun. Die faden Gesellschaften haben gar keinen Sinn«, schloß sie trotzig.

Frau von Westrem zog das Mädchen freundlich zu sich herüber und flüsterte der Unzufriedenen ins Ohr: »Feuer gefangen? . . . Aber Sie sind ja noch so jung! Und die kleine Enttäuschung bewahrt Sie vielleicht vor der großen . . . Jedoch, was es auch sei, vergessen Sie das nie: Wollen, nur Wollen! Das Glück folgt nur dem, der es zwingt . . . Ich weiß das aus meinem Leben auch.«

Das Mädchen blickte darauf etwas unsicher erst auf die Frau, dann auf den Mann. Dem halben Backfisch dämmerte die Ahnung eines großen, sündigen Glückes. Doch sie schüttelte abwehrend den Kopf. So weit war sie noch nicht! Und sie rückte instinktiv von der Frau zurück. Die gleichgültige Sicherheit, mit der Frau von Westrem sich jetzt an Dühling wandte, machte sie wieder wankend: »Ich habe nämlich den Brief bekommen; Sie wissen ja, ich sprach Ihnen davon und habe ihn wieder und immer wieder gelesen. Es stand alles drin, was ich wollte, alles.«

Dühling nickte nur höflich und strich sich den Schnurrbart.

»Von Ihrem Herrn Gemahl?« fragte das junge Mädchen.

»Von wem sonst, liebe Melitta?«

Da beruhigten sich die Zweifel.

Die beiden blieben noch eine Weile sitzen in dem liebenswürdig gleichgültigen Gespräch oberflächlich Bekannter. Alle Fremden am Tisch waren gut orientiert und fühlten sich darum enttäuscht. Sie waren erst in den letzten Tagen gekommen, dem Seegang zuliebe, dem Herbststurm. Ein liebenswürdiges Ehepaar aus Königsberg, das seine große Dogge rührend verwöhnte. Eine Familie mit Töchtern: er ein alter, freundlicher Graukopf, mehr Vater als Gatte, sie noch immer hübsch, ein etwas massives Gesicht, weiß und klar vom konsequenten Seifegebrauch. Sie hatte die harten Augen und das straff gescheitelte Haar einer gesunden Egoistin und Mutter. Die Töchter: beautés de diable. Die ältere blaßblond mit leeren, fragenden Augen, durch einen Baronvetter zu bürgerlichem blasé angekränkelt. Die jüngere schlank, schwarz, eine eigensinnige Mulattenstirn über zwei schönen Augen. Sie wußten augenscheinlich, daß sie Geld hatten und die Wahl. Sie saßen über Bücher gebeugt. Sie sahen nicht auf, aber sie hörten alles. Jedoch zwei Schauspieler, die so lange in der großen Welt gelebt wie Dühling und die Frau, verrieten sich heute am wenigsten. Sie hatten die Maske aufgesetzt, und sie stand ihnen zu Gesicht. Es war ihnen eine heimliche, sündige Wonne, kalt zu scheinen, wo sie glühten. Kein Wort, kein Blick, die verraten konnten, nur zuweilen das feine Lächeln, das verstohlene Blinken. Es ist so schön, inmitten Neugieriger zu lächeln, zu lügen und dabei eigentlich nichts zu fühlen als das Rieseln des Glückes, das Prickeln des Fiebers, das heiß von dem Kleidersaum der Frau zu dem Mann hinüberzuckt.

Als Dühling die zweite Tasse Kaffee ausgetrunken, wandte er sich an seine junge Freundin und fragte en passant: »Gehen Sie jetzt mit an den Strand?«

Das Mädchen sagte nein. Es war nicht Mißtrauen, es war die Stimmung, die lieber allein auf die See schaut.

»Und Sie, gnädige Frau?« fragte er höflich. »Natürlich ein Korb!«

Aber Frau von Westrem lachte harmlos. »O nein, im Gegenteil, ich würde Sie sonst aufgefordert haben. Und wenn man so lange beisammen war und sich wahrscheinlich so bald trennt!«

Dühling ging, Mäntel und Plaids zu holen. Als er zurückkam, verstummte jäh eine flüsternde Unterhaltung, und die Gesellschaftsdame, die jetzt an seinem Platz saß, lächelte ihm besonders liebenswürdig zu. Doch seine hübsche Nachbarin grüßte ihn nur steif zum Abschied. Draußen am Gartentor erwartete ihn Esther. Das geflüsterte, heiße: »Wie geht's dir, Georg?«

»Wie immer, wenn du bei mir bist, Schatz. Aber dir?«

»Oh, ich kann fliegen!« Aber sie ging doch nur mühsam, er fühlte den Zwang. Und sie schien ihm reizender, weil sie schwach war. Auf dem Strandwege kein Mensch, nur geknickte Zweige, wirbelnde Blätter. Hüben und drüben der wild jauchzende Herbst.

»Die mögen jetzt nett über uns klatschen!«

»Mögen sie, Georg! Ich habe nun gerade genug an dem Versteckenspielen. Erst empfand ich den verbotenen Reiz auch. Dann aber kam ich mir ärmlich vor, so arm wie die andern, und ich bin doch reich!«

»Ich habe dich nie so liebgehabt, Esther, als in der halben Stunde, wo ich's mir nicht merken lassen durfte.«

»Ihr Männer liebt doch das Heimliche mehr als wir . . . Ich ginge jetzt am liebsten zurück und sagte den Leuten laut: ›Meine Herrschaften, Sie haben ganz recht, ich sündigte schon lange, nur mit dem einen Unterschiede, daß Sie es sämtlich aus Vergnügen tun würden, während ich es tun mußte aus einem unentrinnbaren Trieb.‹ Sie würden mich allerdings nicht verstehen. Ehebruch ist ihnen Ehebruch. Nur um das junge Mädel tut's mir leid. Sie ist ein glaubensfrohes, liebes Ding und gerade jetzt vielleicht krank an der ersten unverstandenen Regung des Herzens. Sie sah in mich immer wie in einen goldnen Spiegel. Nun werden sie ihr alles erzählen, was wahr, was wahr sein könnte und was nicht wahr. Sie wird mich natürlich verteidigen und glaubt's natürlich doch. Sie wird sich schließlich einbilden, daß Jugend, Eleganz, Reichtum für eine Frau weiter nichts bedeuten als ein bequemeres Kostüm für die Hölle. Und wenn der Mädchenargwohn vorhin in meinen Augen recht gelesen hat, ist diese Hölle voll heißer, sündiger Freuden. Was bei mir alles vorherging, ahnt sie's? Sie begreift's vielleicht nie . . . Sie hätte heute nicht kommen sollen! Junge, enthusiastische Menschen verdirbt man so leicht. Das möchte ich nicht.« Sie war stehengeblieben und sog gierig die reine, schöne Luft ein.

»Siehst du, Esther, das ist der Herbst, die unerbittliche Frische und Klarheit, die auch der Natur die bunten Fetzen wegreißt. Jetzt, wo ich draußen bin, habe ich dasselbe Gefühl wie du. Die kleinen Sünden gedeihen doch am besten im Haus, im engen Raum. Sie sind häßlich . . . Und ich freue mich doch, daß wir so gleich fühlen.«

Sie lächelte. »Gleich fühlen? Wenn ich das nicht so genau gewußt hätte, fast instinktiv, ich hätte dich nie geliebt! Es ist doch nicht die Larve irgendwelcher Art, es ist der gleiche Mensch, den man liebt!«

Sie bogen in einen Seitenpfad. Als sie in dem Buschwald sich sicher und allein fühlten, legte er den Arm um ihre Taille. Sie ließ es gern geschehen. »Gehst du so besser, Esther?«

»Ich bild's mir wenigstens ein.«

»Sieh mich doch an!« Sie tat's. »Du hast auf einmal ganz blasse Augen . . . Du zitterst? . . . Tu' ich dir weh?«

»Ach, sie werden schon wieder leuchten! . . . Weißt du, deine körperliche Nähe ist für mich Fieber, Rausch. Ich gehöre mir nicht mehr selbst . . . Ich habe das schrecklich empfunden damals, als ich mit dir tanzte. Ich hätte dich wegstoßen mögen. Es war so ein dummes Gefühl . . .«

Sie gingen schweigend auf heimlichen Wegen bis zu ihrem Platz. Er breitete seine Reisedecke auf den Sand. Sie ließ sich sofort hingleiten. Aber als er die Liegende umarmen wollte, wehrte sie ab, mit toten Augen, der Atem schwer. »Hast du solche Angst vor mir, Esther?«

Sie schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. Und langsam legte sie dann den zitternden Arm um seinen Nacken und zog den Mann an sich. Und als die Lippen sich berührten – sie hatte im letzten Moment die Augen geschlossen –, zuckte sie zusammen und umschlang ihn und drückte ihn an sich mit einer unverständlichen Kraft. Er, gefangen von der Macht des Gefühls, hingerissen von der unbesieglichen Jugend, murmelte, selbst atemlos: »Womit habe ich so viel Liebe verdient? Mädchen, was bist du jung!«

Die schmalen, dürstenden Lippen lächelten. Und den heißen Hauch an seiner Wange, flüsterte sie leidenschaftlich: »Mädchen! Ja, ja . . . Ich bin's beinah'. Seit dem Tage, wo ich abgerechnet mit ihm, hat er mich nicht mehr anrühren dürfen. Ich liebte dich. Ob's kam oder nicht, ich wollte nichts mehr verschwenden, alles aufsparen für dich, was ich an Jugend, Kraft und Gefühl noch besaß. Der Mann, der mich einmal umarmte, sollte nie ahnen, daß mich schon ein anderer Mann umarmt . . . Und dann, was ich neulich sagte von Kindern. Es ist nicht wahr! . . . Sich lieben und keine Kinder haben wollen, wie scheußlich! . . . Aber nicht von ihm, nicht von ihm! . . . Ich hätte sie nie lieben können. Ich hätte immer in ihnen den Vater gesehen. Und wenn sie gewesen wären wie ich, so wären sie unglückselig gewesen, sie hätten ihren eigenen Vater hassen müssen . . .«

Sie ließ seinen Hals los und sank zurück. Er beugte sich über sie und bedeckte sie mit Küssen, die Hände, das Kleid . . . Unten tobte die See und warf ihre schmutzigen Wellenberge weiß gischtend mit dumpfem Wutgeheul auf den Strand und riß sie wieder zischend zurück, daß der aufgewühlte Sand in seltsamen Wellen das Ufer bedeckte.

Esther von Westrem richtete sich auf: »Genug! Wir müssen vernünftig sein.«

Doch er fühlte erwachend die nüchterne Wahrheit, die jedem Rausch folgt. »Ja, vernünftig! So sagen wir immer, wenn wir mit den Gefühlen zu Ende sind.«

»Der Rausch kann doch nicht ewig dauern! Vielleicht würdest du auch seiner eher überdrüssig als ich . . . Meine Liebe bleibt.« Sie strich ihm über die Stirne, weich, mütterlich, wie es nur Frauen verstehen. »Ich denke, es muß mit unsrer Liebe sein wie mit dem Blinkfeuer. Einmal leuchtet's, einmal glimmt's, aber es erlischt erst mit uns selbst.«

»Du liebe Esther!«

Sie lächelten sich zu und drückten sich die Hand. Dann blickten sie stumm aufs Meer. Jetzt auf einmal hörten sie das mächtige Tosen, spürten den Sturm, der die Büsche bog. Die Frau nestelte ein dünnes Paket aus der Tasche. Briefe! Sie hielt sie ihm hin.

Dühling erkannte sofort die sorglos eitlen Schriftzüge des schönen Westrem, die großen Striche und die weichen Bogen. »Soll ich wirklich lesen?«

»Du mußt. Ich habe keine Geheimnisse vor dir, ich will keine vor dir haben. Und ich möchte dir vor allem zeigen, daß ich ehrlich auch ihm gegenüber gewesen bin. Die Trennung kann ihm nicht unerwartet kommen. Es geht zwar stufenweise, aber das Ende ist ganz klar.«

Dühling las. Der ganze glücklich selbstbewußte beau trat ihm hier entgegen – der Mann, der die kälter und kälter werdenden Briefe der Frau nicht verstand, weil er sich keiner Schuld bewußt war, weil er sie auf seine Weise liebte. Und daß eine dem schönen Westrem davonlaufen könne? Dann mußte sie notwendig krank sein! Und doch tat Dühling dieser Blinde leid mit seinem eitlen Nichtverstehen, den törichten Bitten, sie möge doch nach Berlin kommen oder er zu ihr, sich aussprechen, er erwarte nur ihre Befehle, und dann für die kranken Nerven etwas Ernstliches tun. Der letzte Brief freilich – er mußte die Antwort auf etwas eisig Bestimmtes sein – war gedrückt, feige, neben der Angst vor dem Skandal auch ein ratloses, törichtes Flehen.

Dühling gab die Briefe zurück.

»Er tut dir leid, Georg?«

»Ja.«

»Mir nicht. Reue und Mitleid – da sind die harten Grenzen meiner Natur. Ich reiße mich schwer los. Doch ist's einmal geschehen, dann bin ich auch fertig mit den Menschen und den Dingen. Frauen wie ich, die einen einzigen leidenschaftlich lieben, sind immer im gewissen Sinne herzenskalt. Gönne du ihm auch nicht mehr, als er verdient! Er ist viel zu eitel, um wirklich unglücklich sein zu können. Er findet sicher und bald eine andere, die besser zu ihm paßt. Zu ihm passen ja so viele!«

Dühling antwortete zögernd: »Du hast recht. Es ist wohl der Kamerad, den man nicht gern betrügt; es ist auch das Wehrlose. Ich hab's ihm gegenüber so leicht gehabt! . . . Ach, Esther, du gibst in allem so ganz, daß es mich fast verwirrt . . . Verdiene ich dich auch wirklich?«

Sie lächelte ungläubig. »Du gibst doch, was du hast!«

»Gewiß, Esther. Aber ist's auch genug? Ich fühle deinen Zauber immer, aber . . .«

Sie hielt ihm scherzend den Mund zu. »Nicht weiter! . . . Georg, du gibst mir ja so viel – du weißt's nur nicht.«

Er faßte die schmale, energische Hand und küßte sie viele Male. Und sie lächelte glücklich, und er lächelte wieder.

Durch das Sturmeswehen klangen Stimmen. Die beiden standen hastig auf. Er nahm das Plaid, sie strich sich das Kleid zurecht. Es waren Passanten, Mädchen in Strandhüten, die der See zujauchzten und mit dem Winde liefen. Aber die Liebenden fühlten sich doch geniert. Sie versuchten jetzt wie zwei vernünftige Leute spazierenzugehen. Auf der Strandhöhe entlang, wo an lichten Stellen das graugrüne Gras in langen Wellen wogte und der Wind die Gehenden fast von der Düne wehte, zu den tiefen Kesseln, die überall in die Küste eingesprengt sind, buschbewachsen, malerisch, die jähen Sandhügel nachrieselnd, unten seltsam geformte Kegel wie Riesenspielzeug. Sie gingen langsam auf und ab, besprachen die Zukunft, die häßliche Scheidung, das Jahr des Wartens danach. Oh, es hatte noch lange Wege bis zum ganzen Glück! Esther war ganz wohlgemut. Die Zeit fliegt ja. Und auch, wenn man sich anstandshalber nicht sieht, die zärtlichen Briefe, das tägliche Zusammensein im Geiste.

»Und dir muß es doch viel schwerer werden, Esther! Ich habe meinen neuen Beruf, ich muß mich einarbeiten. Du bleibst allein mit deinen Gedanken.«

»Sorg' dich nicht um mich!« antwortete sie froh. »Ich könnte für dich in die Wüste gehen, ich könnte für dich geliebte Kinder opfern. Medea! . . . Ich wär's imstande . . . Ich könnte auch betteln für dich. Und das muß doch so schwer sein!«

Er mußte sie immer ansehen. Sie schien ihm die verkörperte Tat, die verkörperte Jugend. Keine Reue, kein Mitleid! . . . Dann dachte er auch vernünftig an die großen Sorgen, an die vielen Unannehmlichkeiten, die scharfen Dornen und spitzen Steine auf jedem ungewöhnlichen Lebenswege. »Ich wollte, Esther, wir heirateten morgen! . . . Möchtest du das nicht auch?«

Sie sah ihn hell an. »Wärst du dann glücklicher? Wo wir lieben, opfern wir uns gern. Ich brauche keinen Priester, keine Sanktion. Protestantin müßte ich ja sowieso werden . . . Gut, entflieh mit mir auf der Stelle!«

»Ich nehme dich beim Wort, Esther!« antwortete er rasch.

Darauf schüttelte sie den Kopf. »Nein, lieber doch nicht! Lieber ehrlich warten! . . . Kein Schmutz, wo er nicht unbedingt nötig ist. Er bleibt. Ich möchte ihn dir und unseren Kindern ersparen . . . Du verstehst? Es ist nicht für mich. Ich bin nicht feige. Es ist nur, weil ich dich liebe.« Wieder der warme, tiefe Ton, die schönen Gedanken einer schwachen und doch starken Frau.

Er war stehengeblieben. »Weißt du, was ich im Augenblick möchte?«

»Was?«

»Ich möchte hier vor dir niederknien und deinen Fuß küssen. Denn die Heilige bist du!«

Am Kesselrande drüben winkten Taschentücher. Es war die Pension. Das junge Mädchen stand abseits und sah auf die See.

»Siehst du, wie das Gift schon wirkt, Georg?«

»Es scheint.«

»Wir könnten hinüber zu ihnen gehen. Es sieht besser aus. Aber mir ist's nur wegen des Mädchens.«

Sie winkten zurück, die anderen kamen ihnen entgegen. Unterwegs berieten sie noch hastig.

»Hast du ihm schon geschrieben, Esther?«

»Ja, gestern, vom Bett aus.«

»Und welche Rolle spiel' ich dabei?«

»Vorläufig gar keine. Auf dich käme er auch nie. Man könnte ihm alles mit Daten belegen, und er würde nur lächeln. Er ist ja in der Tat so viel hübscher als du und hat noch kein einziges graues Haar. Bei ihm kann's eben nur der Leutnant sein . . . Du bleibst ein Schemen bis zu unserem Hochzeitstag. Und dann wird er sich wohl längst mit einer anderen getröstet haben.«

»Es ist mir auch lieber so.«

»Übrigens, Georg, zu Hause liegt vielleicht schon das Telegramm. Ich habe ihn um eine Zusammenkunft ersucht, in Königsberg oder Berlin, in einem Hotel natürlich, nicht in seiner Wohnung.«

»Arme Esther, was wird das schwer für dich sein!«

»Aber es muß sein! Und was sein muß, tue ich gern bald.«

Im Schwarm mit den andern trotteten sie dann heim. Dühlings Freundin fehlte. Ganz unten am Strandweg passierten eben zwei Herren, der eine groß und blond.

»Ihr Herr Gemahl, Frau Baronin!« rief eine vielleicht mit Absicht kurzsichtige Dame.

Dühling preßte die Lippen etwas zusammen und sagte nichts. Esther aber lächelte unbefangen. »Das wäre allerdings eine Überraschung!«

Der Alarm erwies sich zum großen Bedauern aller Unbeteiligten als blind. Während die Pension über merkwürdige Ähnlichkeiten debattierte, blieben die beiden wie aus Zufall etwas zurück.

»Wenn er es nun gewesen wäre, Esther?«

»Dann wäre er es eben gewesen!«

»Und wenn er alles gewußt hätte?«

Sie lächelte kalt. »Eine echte Frau hat immer Waffen. Weißt du, in jeder Ehe gibt's irgendeinen dunklen Punkt. Und wenn man rücksichtslos oder zur rechten Zeit an den tippt, kann der Mann weiter nichts tun, als schweigen und gehen. Freiwillig gebrauche ich so häßliche Waffen nie, aber ich hätte sie gebraucht! . . . Jetzt tut's mir fast leid, daß er's nicht war.«

Der Sturm wehte mit unverminderter Kraft. Doch den beiden waren es Tage voll Frieden und Glück. Esthers Fuß wollte noch nicht zu weiteren Spaziergängen taugen, sie trieben sich also in Strandnähe herum, wo genug Ruhebänke waren. Der Herbst zeigte noch einmal seine ganze wilde Schönheit. Die kahle, weite, gelbe Ebene mit starren Wäldern, jagenden Wolken. Darüber eine blutige Sonne, die Schatten scharf und grell, das Licht erbarmungslos klar. Nichts mehr von der milden Dämmerung des Sommers, den weichen Schatten! Jeder Baum, jedes Haus erschienen wie ausgeschnitten, umheult vom Sturm, der die Stoppel fegte, die Stämme bog. Und die See. Bis zum fernen Horizont das rastlose Auf und Nieder der weißen Wellenkämme in einer lehmigen, kochenden Flut. Die ganze geschwungene Küste, von Rantum bis Brüsterort, ein weißer, breiter, zuckender Brandungsgürtel, der den Sand aufwühlte, Tangmassen ans Ufer schleuderte, wieder fortriß und schwarzes Holz bald friedlich auf langen, braunen Wogenbergen schaukelte, bald im weißen Sturz zur brodelnden Tiefe zog. Der arme, weiße, tote Strand duldete stumm, was ihm die übermütige Siegerin aufbürdete und gleich wieder nahm – Tang, Holz, Sandberge. Das ganze Ufer glich einem Chaos, so willkürlich waren die Trümmer geschichtet. In ausgerissenen Betten rieselten die Brandungswasser wieder murmelnd zurück. Es war, als wenn die See mit hohlem Geheul die Wehrlose noch verspottete! Und an den Dünenhang klammerte sich angstvoll das struppige Gras, die Büsche auf der Höhe duckten sich furchtsam, der Hochwald stemmte sich trotzig, seine Vorhut sank schon klagend zur Tiefe.

Die beiden saßen auf einem Dünenvorsprung. Sie freuten sich der wilden Zerstörung, des mächtigen Lebens. Solch Bild gibt Kraft . . . Was der Ort noch an Badegästen hatte, war unten am Strand, – wehende Kleider, in die Stirn gedrückte Hüte, vom Sturm ersticktes Jauchzen, wenn eine Welle jäh aufs Land schlug. Und eine schielende Sonne lag tückisch über dem Meer, zog die Linien schärfer. Vorn der breite, weiße Brandungsgürtel, dann stumpfes Braun, dann helles Grün, bis sich weiter hinaus Gischt und Wogen zu einem trüben, öligen Grau mengten, in dem der Wellensturz auf und nieder zuckte, während winzige, hüpfende Punkte den äußersten Horizont säumten. Was hier machtvolle Zerstörung, schien dort frohes Spiel.

Die beiden schauten schweigend und unverwandt.

Zwischen den Wacholderbüschen tauchte eine Postmütze auf. Ein Telegramm. Sie riß es sofort auf, während er den Mann bezahlte. Dann gab sie's ihm.

»Brief erst heute erhalten, weil drei Tage in Graditz dienstlich abwesend. Morgen den ganzen Tag im Savoy-Hotel.«

»Du fährst heute?«

»Ja. Mit dem Nachtkurier.«

Er ging unruhig auf und ab. »Du glaubst gar nicht, Esther, was ich dich die drei Tage vermissen werde.«

Sie trat zu ihm und drückte seine Hand. »Du lieber Georg!«

»Es trifft sich auch sonst dumm . . . Wenn du doch erst wieder da wärst!«

»Das heißt?«

»Daß ich an sie sofort geschrieben habe, wie es meine Pflicht war. Heute oder morgen kann die Antwort da sein. Es wird nicht viel drin stehen, sie ist auch keine Natur, die sich ausgibt. Aber ich möchte den Brief doch am liebsten an deiner Seite lesen.«

»Also ich bleibe«, sagte sie kurz.

Er ging auf und ab, sah auf die See . . . »Nein, du reisest unbedingt«, sagte er endlich. »Es sind Nerven, weiter nichts . . . Bist du mir etwa böse, Esther?«

»Wie sollt' ich! Du willst sie eben nicht verlassen, wie sie dich verließ . . .«

»Sie verließ mich nicht!«

»Sie verließ dich doch!«

»Was weißt du, Esther?«

»Nichts, was du nicht auch wissen könntest!«

Er machte mit der Hand eine unentschlossene Bewegung. Dann sagte er mit müdem Ernst: »Soll sie auch in unserm neuen Leben der dunkle Punkt sein? Ich habe sie heiß geliebt, dich liebe ich jetzt. Aber ich kann drei Jahre meines Lebens nicht ungeschehen machen. Das will ich nicht, und das darf ich nicht! Und wenn morgen so ein fader Glückwunsch so recht aus Herzensgrunde käme, dann ginge etwas in mir entzwei.«

»Du würdest auch darüber wegkommen müssen, Georg.«

»Ich würde nicht darüber wegkommen!« sagte er heftig.

»Dann bitte Gott, daß sie dir nie mehr schreiben möge.«

»Du hast etwas gegen sie, Esther . . . Es ist, weiß Gott, nicht nur die Frau, es ist der Glaube, die Idee, an der ich nicht irre werden möchte!«

»Lieber Georg, ich habe nichts gegen die Frau, als was ich naturgemäß gegen eine Frau haben muß, die derselbe Mann geliebt hat, der mich jetzt liebt . . . Ich verstehe nur ihr Pflichtgefühl nicht . . . Aber jedem sagt's ja was anderes . . . Und sie wird dich wohl auf ihre Weise herzlich gern gehabt haben.«

»Wann reisest du?«

»Der Zug geht um sechs . . . Also ich soll?«

»Du mußt!« Mit etwas gezwungener Fröhlichkeit fügte er hinzu: »Es ist wieder mal ein letzter Tag. Es waren eigentlich alles letzte Tage, solange wir hier sind, – ein Wort, und sie wären es gewesen, und sie waren es schließlich doch nicht . . . Von heute wenigstens wissen wir genau, daß es unser letzter Tag nicht sein kann.«

»Und wenn er's doch wäre?«

»Du solltest nicht spotten, Esther! Übrigens, hast du viel zu packen?«

»Fünf Minuten. Ich nehme nichts mit als ein Plaid und eine Handtasche.«

Er sah nach der See . . . »Also noch zwei Stunden für uns . . . Und nun schleppe ich dich zum Abschied auf all den lieben Plätzen herum, wo wir in den letzten Tagen gesessen haben und wo wir so glücklich gewesen sind.« Er streichelte ihr zärtlich die Hand.

»Ach ja, so glücklich!« wiederholte sie.

»Und nun mußt du mir auch noch erzählen, wie's eigentlich kam, Esther!«

»Fang du an, Georg!«

»Ja, weißt du, Esther . . . Es kam so langsam und kam doch plötzlich. Zuletzt war es ein Strom, der viel stärker war als ich . . . Aber sag, Schatz, was liebst du an mir? Warum liebst du mich überhaupt?«

Sie lächelte. »Das ist doch so einfach, Georg: du hast mich die Liebe gelehrt. Darin liegt alles . . . Ich könnte dir beim besten Willen nicht sagen, was ich an dir besonders liebe oder was ich nicht mag. Ich liebe dich eben, ich habe dich wahrscheinlich immer geliebt, schon lange, ehe ich dich kannte. Das ist ein Mysterium. Der Strom ist plötzlich da und überflutet uns . . . Warum mußte gerade in dem Moment der Schleier von meinen Augen fallen, wo du einer anderen Frau die Hand küßtest? Warum mußte ich von demselben Rosenstrauch dieselbe weiße Rose pflücken? . . . Der andere war mit dem Moment tot für mich. Ich konnte ihm nicht helfen . . . Und ich habe doch so ehrlich gekämpft. Ich habe mir den ganzen Wahnsinn meiner Neigung klargemacht, die ganze Schwere meiner Schuld . . . Da mögen andere wohl sagen: ich liebe den Mann, weil er hübsch ist, weil er gut ist, weil er klug ist oder auch umgekehrt, weil er häßlich, weil er dumm, weil er schlecht. Man kann einen Verbrecher genau so heiß lieben wie einen Heiligen. Das ist ja alles ganz gleichgültig. Es ist der eine Moment, der eine Blick, das eine Wort – der Kitt ist da und bindet für ewig. Man kann sich nicht mehr losreißen! Man verkümmert entweder in schwächlicher Moral, oder man wird glücklich in mutiger Stunde . . . Wer eben für mich kein Gold hat, für den habe ich auch keins. Ich liebe. Mögen alle andern mit Recht warnen, beschwören, flehen. Ich liebe dich! . . . Das ist der gerade Weg jedes großen Gefühls. Nur daß man ihn nicht geht, tausend Umwege macht und doch unfehlbar auf ihn zurückkommt . . . Du, Georg, bist eben der einzige Mann auf der Welt, der das Stück Gold hat, das ich gebrauche . . . Je mehr man grübelt, je mehr verstrickt man sich. Und als ich dich wiedersah, wiedersah durch einen dummen Zufall . . .« Sie überlegte. »Ja, da sprach doch etwas Äußerliches mit! Es war der weiße Schnurrbart, das graue Haar. Das mag bei euch Familieneigentümlichkeit sein. Du bestätigst es mir vielleicht selbst. Ich glaub's doch nicht! . . . Ich habe dich noch kohlschwarz gekannt, äußerlich sicher zehn Jahre jünger, und ich sagte mir beim ersten Sehen sofort: Wer an einem großen Gefühl so sichtbar krankt, der muß auch eines großen Gefühls wert sein. Und große Gefühle werden noch immer große Herzen finden, dazu gibt's, Gott sei Dank, auch bei uns noch Vollblut genug!«

»Esther, ich wollte doch, ich wäre jünger! Ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich habe auch noch genug, aber ich hatte einmal mehr . . . Es wird mir immer klarer, daß ich für dich nie zuviel haben kann. Und wenn ich je zu der Überzeugung komme, daß ich dir nur noch was Halbes bieten kann, und wenn uns beiden das Herz darüber bräche, den Schimpf tät' ich dir nicht an, mit etwas Halbem etwas Ganzes narren zu wollen. Dazu ist das Leben zu lang. Die Lüge käme doch einmal zutage. Und vor dir stehen zu sollen und zu sagen: verzeih dem weichherzigen Lügner! Nein und nie! – Ich ginge lieber, ich ginge ohne Abschied, denn die schwerste Wunde ist noch immer besser als die weißeste Salbe.«

»Lieber Georg«, sagte sie weich, »drei Jahre jünger! . . . War da schon der Moment gekommen? Ich weiß es nicht, ich glaub's auch nicht. Die andere mußte erst zwischen uns treten, vielleicht brauchten wir beide die Qualen, den Zweifel, um uns überhaupt wirklich finden zu können. Denn es gibt eine Bestimmung, die will zwar den ehrlichen Kampf, aber sie führt uns doch sanft auf vorgeschriebene Wege. Und wir können nichts anderes tun, als unsere Leiden und unsere Freuden verkürzen oder verlängern . . . Und bilde dir nicht etwa ein, ich habe dich nur wiedersehen wollen, um einen Liebeskranken mit neuer Liebe zu heilen. O nein, dazu bin ich nicht barmherzige Schwester genug. Im Gegenteil, erst habe ich dich gemieden, instinktiv, dann habe ich dich geflissentlich gesucht, das Phantom zu zerstören, dem ich nachjagte . . . Fast wär's geglückt! Aber als ich wußte, daß du es doch warst, den ich suchte, und der immer bei mir war . . . ja, Georg, da bin ich schwach und willenlos geworden wie andere Frauen und habe bei der Vorsehung gebettelt. Ja, ja, gebettelt! Es paßt allerdings nicht zu mir – aber ich tat's doch . . . Und es muß einen Gott geben, der uns führt, denn gerade an dem Tage, wo ich am kleinmütigsten war, ward ich erhört . . . Küsse mich!« fuhr sie leidenschaftlich fort, »Küsse mich! Es kann uns jeder sehen. Vielleicht gerade darum. Ich gehöre dir schon heut allein – mögen's alle wissen . . . Ich habe auf einmal die Empfindung, als wenn ich jeden Augenblick noch nützen müßte, weil er nie mehr zurückkehrt.« Er küßte sie. Sie hielten sich lange und fest umschlungen. Aber kein Späherblick zuckte zu den beiden herauf. Dann suchten sie noch einmal all die lieben Plätze. Es war ein frohes Abschiednehmen. Der kurzen Trennung folgte ja das lange Wiedersehen. So flossen die Stunden im schönen Wahn. Als sie sich endlich losriß, rieselte die kalte graue Herbstdämmerung auf die Düne nieder. Esther ging rasch und allein zu ihrer Villa hinunter.

Georg sah ihr voll Liebe nach. Noch einmal sah er ganz die schlanke Gestalt mit dem leuchtenden Haar – zum letzten Male winkte die weiße Hand. Dann war sie im Tal verschwunden. Dühling ging langsam zurück zu der verschwiegenen Stelle, wo sie am ersten Liebesmorgen geruht. Die Wogen hoben ihre weißen Totenhäupter gespenstischer, und der Sturm orgelte unheimlich tief. Doch das Blinkfeuer leuchtete hell und glückverheißend von seinem düsteren Bollwerk. Dem Manne fiel es ein, daß sie undankbar von dem Lichte keinen Abschied genommen. Er nickte ihm statt ihrer den Abschiedsgruß.

Im Weggehen wollte er noch von dem Gebüsch, unter dem sie geruht, einen Zweig haschen; er haschte ihn auch. Es war ein dürrer Zweig.

 


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