Johannes Richard zur Megede
Das Blinkfeuer von Brüsterort
Johannes Richard zur Megede

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Der nächste Tag war ein Sonntag – ein stiller, schöner Tag. Das Birkenlaub im Zauberwald raunte kaum.

Georg von Dühling war früh ausgegangen. Er fürchtete die hellen Haufen der Ausflügler, dies Parfüm von Schweiß und Zigarren und frisch gestärkten Mädchenkleidern. Der schmale Strandweg wimmelte dann in einem endlosen Festzug. Und vom Mittag an verseuchte dieses Jahrmarktstreiben rettungslos den Wald, hüben im Birkengestrüpp so gut wie drüben unter den hohen Kiefern des Hexenwaldes. Erst war ihm diese Festfreude amüsant, jetzt wurde sie ihm lästig. Und am Strand lagerte es dann bunt und phantastisch wie Karawanen in der Wüste.

Dühling hatte sich auf der Düne herumgetrieben. Im Heidekraut schimmerten die Tautropfen, und der Wacholder duftete kräftig. Dabei war er in die Talsenke des Dorfes geraten, aber weit abseits, wo das Mühlenfließ zwischen tiefgrünen, schattigen Laubbüschen gar lustig auf hellem Grund zum nahen Meere eilte. Schwedische Holzvillen lagen da im Sand auf halber Höhe. Ein bunter Wimpel schlug lasch an eine Fahnenstange. Dort wohnte sie. Sonst hätte er ihr Sommerhaus wohl gemieden, heute dachte er an einen Besuch. Es war noch viel zu früh. Er ging an dem Garten vorbei, wo junge Tannen mit dem Sande kämpften. Es sah alles neu aus, auch das blaue Glas in den Fenstern des Eßsaales oben.

In einem Stranddorf hub das Sonntagsgeläute an, und die schweren Töne hallten lang und feierlich durch die frische Morgenluft. Aus der Villentür trat eine Gestalt. Es war Frau von Westrem, wieder ganz schwarz, aber sie trug einen weißen Sommerhut mit einem Veilchenstrauß.

»Guten Morgen, gnädige Frau!« rief er lustig. »Ich wollte Sie schon überfallen.«

»Das glaube ich Ihnen nicht«, rief sie lachend zurück.

Als sie näher kam, sah er sie prüfend an. Er hatte Geschmack, und elegante Frauen waren ihm immer eine Augenweide. »Steht Ihnen wieder famos, gnädige Frau!«

»Das freut mich. Eigentlich müßte ich Ihnen ja erwidern: ›Wie ich aussehe, ist mir furchtbar gleichgültig!‹ Aber ich bin weder schief noch schiele ich, und eitel ist jede Frau. Ich bin's noch mit Maßen. Doch das Herzbrechen war auch mal mein Pläsier.«

»Aber Sie haben schlecht geschlafen?« Und wieder fiel ihm auf, wie furchtbar blaß das schmale, regelmäßige Gesicht war, und wie tiefe Schatten unter den Lidern lagen.

»Ja, ich habe allerdings schlecht geschlafen . . . Es macht wohl die See.«

Er zeigte auf ein kleines Buch, das sie in der Hand trug.

»Ich will zur Kirche, Herr von Dühling.«

»Darf ich Sie ein Stück begleiten, gnädige Frau?«

»Gern. Aber es ist weit.«

Sie gingen auf einem schwanken Steg über den Fluß. Dann kam ein Gehöft mit einem tobenden Kettenhund. Hier führte die Landstraße zwischen reifenden Feldern und kümmernden Viehweiden hin.

Frau von Westrem pflückte eine Kornblume und nestelte sie am Tailor made fest . . . »Sie gehen nie zur Kirche?«

»Nein.«

»Bigott bin ich auch nicht. Und lange Zeit bin ich nur pro forma zur Kirche gegangen. Später habe ich es wieder ernstlich angefangen. Und das war eine vernünftige Erwägung. Gibt's keinen Gott, was sehr wohl sein kann, dann schadet mein Kirchengehen niemand etwas. Gibt's einen, dann will er auch Gebete hören . . .«

Er sagte darauf nur: »Das Buch da ist gewiß ein Familienstück.« Bunte Steine, zu plumpen Arabesken gereiht, glitzerten. Es sah aus wie ein Meßbuch.

Sie reichte es ihm hin. »Oh, es ist sehr alt! Meine verstorbene Mutter hat es zeitlebens gebraucht und meine Großmutter – und ich weiß nicht, wie viele Lyssars vorher . . . Als Kind habe ich fast alle Sprüche darin auswendig gekonnt, nachher habe ich sie alle vergessen.«

Er schlug das Buch auf und meinte befremdet: »Sie sind Katholikin?«

»Allerdings.«

»Und gehen in eine protestantische Kirche?«

»Das Dogma ist mir gleichgültig. Ich gehe darum auch nie zu unsrer Beichte. Und das, was Ihre Pfarrer predigen, höre ich kaum. Ich bete für mich . . .«

»Wissen Sie, daß Sie mir ein vollkommenes Rätsel sind, gnädige Frau?«

Sie lachte. »Das bin ich beinahe allen . . . Das kann ich Ihnen übrigens sagen: um Sünden abzubüßen, gehe ich nie zur Messe. Die kleinen täglichen – was kommt's auf die an? Große habe ich noch nicht getan . . . Nein, nein«, fuhr sie mit unverständlicher Leidenschaft fort, »ich flehe um Erhörung. Es ist ein einziger Wunsch, vielleicht ein ganz sündiger, aber niemand kann heißer und inbrünstiger flehen . . . Und wenn Gott mich erhörte . . .« Ihre Gestalt hob sich, und dem Manne erschien sie jetzt von königlichem Wuchs . . . »Dann will ich leben, ewig leben!«

Sie gingen schweigend noch eine Weile. Er hätte ihr gern ins Auge geschaut, den Wunsch gelesen, aber wie sie ins Leere gesprochen, so schaute sie auch ins Leere. Nur ihre schmalen Lippen zitterten den Worten nach. Weit vor dem Dorf verabschiedete sie ihn. Ihr wäre es peinlich, wenn zweie zur Kirche gingen, von denen einer vor der Tür umkehrt . . . Zum Mittag käme sie vielleicht in die Pension. Er möge ihr ein Kuvert und einen Platz im Garten bestellen.

Beim Zurückgehen wandte er sich ein paarmal nach ihr um, und es wunderte ihn, daß sie das nicht auch tat, wie Frauen doch so gern tun. Kirchgänger zogen vorüber. Die Männer im altfränkischen Rock, der grobe Hemdkragen zwängte den braunen, rissigen Hals, – und Weiber mit bunten Kopftüchern und schweren, knarrenden Kleidern, auch ein gebeugtes, nickendes, krächzendes Mütterchen, die gichtverkrümmte Hexenhand am Stock. Sie sagten alle ihr hergebrachtes: »Goon Tag auch, gnädiger Herr.« Ein stumpfer Glaube trieb sie. Kleine Bettler und kleine Büßer sie alle.

Dühling ging wieder das Mühlenfließ entlang zum Strand. Der kleine Bach wollte so gern versiegen im unendlichen Meer. Doch die weiße Brandungswelle scheuchte ihn immer wieder zurück, und die hellen Wasser mußten verstohlen sickern, bis sie die heilige Mutter wieder aufnahm. Er setzte sich in den Sand und hörte die Brandung monoton aufschlagen und das Fließ flüstern. Er dachte an die Frau in der Kirche. Es war doch etwas Großes und Fremdes in solch heißem, sündigem Gebet . . . Sie war also auch eine Einsame, und den Einsamen zog es mächtig. Er hatte den Glauben längst abgeschworen, und es war vielleicht die schwerste Stunde in seinem Leben, als er sich von Gott schied. Er hatte wohl nicht anders gekonnt. Doch die betende Frau ward ihm darum nicht kleiner.

Zu Mittag aßen beide im Pensionsgarten an einem schwer erkämpften Tisch. Sie unterhielten sich wie zwei Leute von Welt. Die Passanten schauten argwöhnisch hinüber. Es war eben das ganz andre Genre, und die beiden mußten selbst darüber lächeln. Einmal trank der Schriftsteller aus der Glasveranda Herrn von Dühling zu: »Vergessen Sie mich nicht!« lag dabei in seinem boshaften Lächeln.

»Was will er?« fragte Frau von Westrem.

»Er hat mir neulich gesagt, daß zwischen Ihnen, gnädige Frau, und mir irgendein gemeinsames Etwas existieren müßte. Für ihn sind wir übrigens die einzigen interessanten Menschen hier.«

Sie faltete die Braue. »Journalistengeschwätz!« Und sie war nach dem kleinen Intermezzo wieder so englisch steif, daß sich Dühling ärgerte. Später drängte die Pension aus ihrem schwülen Eßsaal – die hübschen, hellgekleideten Mädchen, die tugendhaften Mütter, die spärlichen Herren, zuletzt der alte, kurzsichtige Justizrat mit seinem schmunzelnden Blick nach dem Wetter, der witzige Gymnasialdirektor mit der Platte, das »interessante« Brautpaar. Am Verandapfosten lehnte der Kellner Karl, blinzelnd, triefend, bereit, sich in etwas unsaubere Atome aufzulösen. Vom Strandweg her flatterte jetzt ein bunter Mädchenschwarm in den Garten. Ein hübscher weißer Vogel löste sich sofort aus dem Flug und kam auf den Tisch zu. Es war Dühlings liebenswürdige Nachbarin von früher, die mit dem Badezuge aus Königsberg gekommen war.

»Gnädige Frau, Sie noch hier? Das ist ja reizend! Ich hörte, Ihr Herr Gemahl wäre schon in Berlin und Sie natürlich auch, und ich beneidete Sie furchtbar um die große Stadt und die Bälle . . . So ist's freilich besser! . . . Aber Sie wissen natürlich, warum ich hier bin und sogar über acht Tage bleiben werde? Sie machen das Maskenfest am Freitag doch auch mit?«

Dühling erinnerte sich jetzt dunkel des Projekts und der großen Aufregung dieserhalb bei der tanzenden Jugend. Frau von Westrem schüttelte den Kopf: »Keine Idee! Soll es denn hier in der Villa sein?«

»Aber natürlich!« jauchzte die Neunzehnjährige. »Und Sie müssen ganz gewiß mitmachen, gnädige Frau!«

Frau von Westrem lächelte. »Ich werde Ihnen den Gefallen nicht tun können, liebe Melitta!«

»Aber, gnädige Frau!« Und sie sah zögernd bald auf Dühling, bald auf die junge Frau. »Herr von Dühling wird für mich betteln, und dann werden Sie es schon tun«, entschied sie endlich.

»Gern, gnädiges Fräulein«, bestätigte der freundlich . . . »Sie müssen mitmachen, gnädige Frau! Und wenn Sie um ein Kostüm verlegen sind, so schlage ich vor: Nixe. Ganz weißes, mattes Seidengewand, das Haar offen, der Arm nackt und auf der Achsel eine einzige Seerosenknospe.«

Die Enthusiastin klatschte in die Hände. »Entzückend! Ihre Toilette kommt ins Strandjournal, ich lese es schon!«

Frau von Westrem sagte darauf nur leichthin: »Lieben Sie weiß so sehr, Herr von Dühling?«

»Bei Ihnen, ja. Ich habe das Gefühl, daß es Ihnen sehr gut stehen muß, besser noch als schwarz.«

Die hübsche Frau schien nachzudenken. »Also, gnädige Frau!« bat sie leise die Enthusiastin.

Doch Frau von Westrem lehnte mit liebenswürdiger Bestimmtheit ab. »Maskenfeste – nein. Außerdem ist mein Mann nicht da . . . Aber ich komme wohl zum Zusehen.«

Das junge Mädchen wandte sich etwas gekränkt zur Freundinnenschar, die paarweise durch den Garten flanierte. »Sie werden sich's noch überlegen!« rief sie zurück.

Frau von Westrem sah ihr nach. »Ein liebenswürdiges, frisches Geschöpf, das man um diese wirkliche Jugend beneiden sollte. Und was wird schließlich ihr Los sein? Sie ist arm wie eine Kirchenmaus, und wenn sie überhaupt heiratet, wird sie irgendeinen gleichgültigen jungen Menschen heiraten oder einen alten, der kurz vor Torschluß noch unterkriechen will.«

»Und wenn sie reich wäre?«

Frau von Westrem zuckte die Achseln. »Dann kann sie wenigstens aussuchen. Eine Garantie fürs Glück ist's freilich nicht. Aber wenn sie einmal los will, kann sie's doch! Reichtum macht frei und sicher . . . Und man muß das Leben praktisch auffassen.«

»Scheint so«, meinte er kühl. Seit einigen Jahren hatte er ein warmes Gefühl für Unglück und Armut.

Sie lächelte matt. »Auf deutsch heißt das: kaltherzige Person. Ich wollte, ich wär's! Doch leider trifft mich Ihr Vorwurf gar nicht.«

Er wechselte das Thema. »Sie kommen also wirklich nicht?«

»Nein.«

»Am Ende verstehe ich's auch. Ohne Mann macht Ihnen das eben keinen Spaß.«

Sie wehrte ab. »Ich bitte Sie, wenn man zehn volle Jahre verheiratet ist! . . . Ich komme Ihnen wohl sehr alt und vernünftig vor?« fragte sie plötzlich.

Er sah ihr in die blassen Augen, die ihm nicht auswichen. »Ja und nein . . . Ich habe aber das sichere Gefühl, daß Sie trotz allem unendlich jung und leidenschaftlich empfinden können . . . Sie wollen eben nur nicht.«

Sie ließ die Augen wandern. »Ich möchte schon«, sagte sie träumerisch.

»Ja, dann gehen Sie doch zu dieser fête champêtre! Es ist ein törichtes Vergnügen – aber jung sein, heißt eben töricht sein.«

»Gehen Sie?« fragte sie kurz.

»Als Harlekin – ich? Um Gottes willen!«

Sie faltete die Serviette zusammen mit ihren sicheren, ruhigen Bewegungen. Als sie das Tuch in den Serviettenring schieben wollte, zitterte ihre Hand ein wenig, und das glatte Leinen rutschte ab. Sie sagte dabei unmotiviert scharf: »Wenn ich in dieser Woche zu dieser Kindermaskerade als Nixe gehen wollte – ich müßte mich der Frivolität, der Sünde schämen. Kostümfeste hier? – Da muß ich wirklich danken . . .«

Sie war im Sprechen langsam aufgestanden. »Wollen wir noch etwas an den Strand gehen, oder ziehen Sie Ihren Mittagsschlaf vor?«

»Ich gehe selbstverständlich mit.«

Sie ging voran durch die Gartentür, und er, hinter ihr, sah die schöne, junge Gestalt und das leuchtende Haar und dachte wieder an die Frau in der Kirche mit dem einzigen heißen, rätselhaften Wunsch. Auf den Bänken des Strandweges saßen die Passanten und sahen den beiden nach, und die Sommergäste in der kleinen Holzvilla nebenan taten desgleichen. Frau von Westrem wandte sich hochmütig um. »Morgen werden sie über uns klatschen.«

»Geniert Sie das, gnädige Frau?«

»Ich wüßte nicht, was mir gleichgültiger wäre.«

Den Nachmittag gruben sich die beiden im Seesande ein. Es war noch das einzige. Die Sonntagsausflügler liefen zwar wie Ameisen über den Strand, aber das Meer lag im köstlichen Sonntagsfrieden. Es war ein Feiertag trotz der Menschen. Sie sprachen wenig. Sie hatten ihre besonderen Gedanken – er heftete den Blick auf den Sand, während ihre Augen schweiften. Als das Blinkfeuer von Brüsterort aufzuckte – es war noch Frühabend, und die Leute drängten sich, die Sonne sinken zu sehen –, richtete sich Frau von Westrem halb auf und starrte unverwandt.

»Interessiert Sie das Leuchtfeuer so?« fragte er.

»Mehr als der Sonnenuntergang. Ich erlebte mit dem Licht da mal etwas sehr Merkwürdiges.«

»Und?«

»Das sage ich nicht. Sie würden mich auch nicht verstehen.«

Weiche Sommerschatten spielten freundlich auf den Wassern, da gingen sie. Auf dem Strandweg fiel es ihm ein, daß er sich, unhöflich genug, noch gar nicht nach seinem alten Kameraden erkundigt habe. »Haben Sie geschrieben wegen des Hierbleibens?« fragte er.

»Nein, telegraphiert.«

»Er wird sich schön gewundert haben.«

»Vielleicht – vielleicht auch nicht. Plötzliche Entschlüsse meinerseits ist er gewöhnt.«

»Allerdings, dann . . .«

»Nein, nicht allerdings dann, Herr von Dühling! Ich habe eine häßliche, absprechende Art, aber ich möchte auch in kein allzu schlechtes Licht bei Ihnen kommen. Ich habe meinen Mann aus Liebe geheiratet, nur aus Liebe, und er liebt mich auch gewiß.«

»Warum sagen Sie mir das eigentlich, gnädige Frau?«

Sie schwieg.

Dühling, mit seinem feinen Instinkt für die ungewöhnliche Frau, begann zu begreifen. Sie log, und sie log auch nicht, und darin lag des Rätsels Lösung.

 


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