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Frau von Westrem war zu Haus, doch ließ sie wider Gewohnheit Dühling lange warten. Er ging im Garten auf und ab. Herbstastern blühten bunt, doch warmer Sommerhauch lag in der Luft. Ein hübsches Dienstmädchen scheuchte unbotmäßige Hühner. Die erzählte gleich redselig, daß Westrems drei große Zimmer bewohnten: ein Schlafzimmer für die Frau, einen Salon, ein Schlafzimmer für den Herrn, wenn er mal Sonnabends herübergekommen wäre. Die Herrschaften sähen sich dann früh immer erst im Salon am Frühstückstisch. Das sagte so viel.
Jetzt sah Frau von Westrem aus dem Fenster: »Wollen Sie nicht einen Augenblick heraufkommen?«
Dühling betrat die Wohnung zum ersten Male. Ein großes, luftiges Gemach mit frischen Blumen und einer flüchtigen Ordnung. Er hätte schwören mögen, daß er beim Packen gestört. Die Frau selbst in einem weißen Sommerkleid, hübsch und elegant wie immer, aber müde.
»Mein bester Kamerad will mich verlassen?« fragte er beim Eintreten mit einem Blick auf zwei große Koffer.
Sie wollte die Anspielung nicht verstehen und führte den Gast an das Fenster, ihm die Aussicht zu zeigen: das anmutige, grüne Tal, das Fließ und im weißen Düneneinschnitt das Meer. Dühling sah nur flüchtig hin.
»Sie dürfen auch gar nicht reisen, gnädige Frau, solange es der Herbst noch so gut meint!«
»Mir bekommt das Baden schlecht.«
»Mir auch . . .« Er blickte sie forschend an, sie sah gleichgültig weg . . . »Jedenfalls bin ich froh, daß ich Sie wiederhabe, gnädige Frau«, sagte er herzlich. »Ich habe mich gelangweilt ohne Sie, die trübseligsten Gedanken gehabt. Warum fehlen Sie mir so? Sagen Sie, warum?«
»Gewöhnung. Wir waren viel zusammen.«
»Das wähnte ich auch . . . Aber es ist was anderes!«
»Was?«
»Es ist etwas sehr Schmeichelhaftes.«
Da unterbrach sie ihn rasch: »Nein, sagen Sie, bitte, nicht! . . .« Und nach einer Minute gleichmütig: »Sagen Sie auch, meinetwegen . . .« Und sie beugte sich wie gelangweilt auf den Asternstrauß in der Vase.
»Wer Sie wirklich kennt, gnädige Frau, der muß Sie eben vermissen. Und jetzt, wo ich Sie wiedersehe, empfinde ich wieder ganz den Zauber Ihrer Persönlichkeit . . . Sie sehen so wunderhübsch aus in dem Weiß, das Ihnen so gut steht, und das ich so liebe . . . Aber das ist ja nur etwas Äußerliches. Was ich an Ihnen immer wieder bewundere: das ist Ihre Jugend, Ihre unverbrauchte Kraft, und bei allem Schicksal der mutige Wille zum Leben und zum Glück.«
Sie lächelte ein wenig. »Habe ich ihn? Sagen Sie lieber: ich hatte ihn.«
»Ach, gnädige Frau, Sie werden wieder trübselig. Gegenwart, Gegenwart! Es ist doch das einzig Wahre . . . Kommen Sie! Es ist wirklich Sommer draußen; wir wollen hinaus, wir wollen froh sein . . . Heute noch einmal all die hübschen Stellen, die Sie mir gezeigt, und einen weiten Weg, einen ganz weiten! Ich will mir wenigstens beweisen, daß der Körper noch jung ist.«
Sie schaute nachdenklich. »All die hübschen Stellen meinen Sie? Warum nicht? . . . Ich will gern mitgehen, aber doch lieber einen neuen, andern Weg . . . Und wozu immer Erinnerungen?« Die Stimme wurde ihr müde. »Sie sind etwas Wehleidiges. Ich pflegte sie zu oft – und man wird selbst wehleidig dabei!«
»Also den neuen Weg, gnädige Frau!«
Sie zögerte. »Wenn ich kann, Herr von Dühling.«
»Dann verzichte ich selbstverständlich.«
»Nein, ich werde können, weil ich können will. Aber damit Sie nicht etwa denken, ich sei kapriziös – ich habe in den letzten Wochen kaum ein Auge zugetan. Meine Nerven haben seit Jahren ausgehalten, was nicht viele Nerven ungestraft aushalten. Die letzte Probe war die schwerste. Den Brief, von dem ich Ihnen damals sprach, habe ich nun wirklich bekommen. Ich hoffte alles, und es stand doch nichts drin . . . Nur keine Illusionen mehr, gar keine, es hat keinen Sinn! Man wiegt sich ein, und das Erwachen ist beinahe schlimmer als der Tod . . . Ich habe einer Tante in den Reichslanden geschrieben. Zu der werde ich vorläufig gehen. Man muß doch anstandshalber in meinem Falle zu seinen Verwandten. Sie ist meine einzige Angehörige, eine respektable, bequeme Frau, die mich nie verstehen wird. Ich werde ihr auch nie mit Vertrauen lästig fallen, ich könnte es nicht mal. Ja, ich reise allerdings, Herr von Dühling«, fuhr sie mit ruhiger Entschlossenheit fort. »Ich fahre morgen früh. Es ist unwiderruflich, und tausend kleine Zweifel haben diesen Entschluß doch endlich gefestigt . . . Ich sage Ihnen, es ist alles vorbei! Und ich will nicht mehr denken, fühlen, ich will Ihnen aber diesen letzten Tag gern geben, weil Sie es wünschen, und weil ich nichts Besseres damit anzufangen weiß . . . Aber keine Erinnerungen! Das ist meine einzige Bedingung. Es tut mir noch alles weh von den anderen Erinnerungen. Ich sage Ihnen, wenn je ein Mensch Kraft brauchte, so brauchte ich sie heute. Der Brief war eine große Enttäuschung . . . Und nun kommen Sie!«
»Können Sie auch?«
»Ich will!«
Sie gingen durchs Tal aufwärts um das Dorf herum und hinter dem Bahnhof in tief sandigem Landweg, Zuerst hart am Wald, wo die kleinen Heidegründe lugten. Die Sonne leuchtete ruhig, groß. Das Auge schweifte ins Endlose. Die Felder gelb, kahl, zwischen den fahlen Streifen nur noch wie eingestreut die blühende Lupine und das grüne Kartoffelkraut. Krähen stolzierten, in der Luft hielten die Wandervögel Heerschau. Altweibersommer schimmerte wie Silbergespinst auf der Stoppel, wallte in weißen Fäden um Baum und Strauch. Es roch nach Herbst und milder Verwesung. Die Sommerluft fächelte trügerisch, aber das große Welken hub doch an – der Herbst.
Sie gingen unter der breiten Kuppe des Heinrichsberges weg. Der Steinhaufen winkte. Das wellige Ödland lag trist, braun. Matte Falter schwangen sich über verspäteten Heideblüten. Dann lenkte ein Hohlweg ein mit tiefen Sandgleisen; Wald und Gebüsch säumten ihn. Ein Haus mit einem angepflöckten Schwein auf moorigem Heidegrund. Das Mühlenfließ sickerte durch. An einem morschen Wegweiser lichtete sich der Wald. Eine lange Blöße mit gelber, einfarbiger Stoppel – ein rotes, einsames Gehöft, darum schwangen sich im weiten Bogen baumbewachsene Hügel. Das weiche Herbstlicht lag über der Stoppel, und Herbsthauch stieg vom Acker auf.
An dem Wegweiser hielten sie Rat. Das Banngebiet der großen Heidegründe begann hier. Dühling kannte sie noch nicht.
»Aber es ist weit, gnädige Frau!«
»Jedenfalls ist es schön.«
»Und wir wollten ja doch schon einmal hin.«
Wieder umfing sie der Wald. Eine fast pfadlose Wildnis von Berg und Tal, Gestrüpp und leuchtendem Sand. Dühling, obgleich Soldat, hätte sich hier schwer zurechtgefunden. »Wo haben Sie nur den Instinkt her, gnädige Frau?«
»Wenn ich ein Ziel habe, finde ich auch einen Weg.«
Am sanften Hang wucherte braune, jungfräuliche Heide, im Tal breitete Torfgrund sich zu unheimlich weichem Teppich. Dicke, gelbe Sumpfgräser wie Inseln dazwischen, und der Fuß tastete zögernd auf dem rissigen, schwanken Boden. Dann kam wieder ein Weg mit üppigem Gebüsch, ein träges Rinnsal schlängelte sich trübe daneben.
»Schlangenheim, gnädige Frau! Nehmen Sie sich in acht!«
»Warum?«
»Wenn Ihnen etwas passierte . . . Denken Sie wenigstens an mich!«
»Und wenn mich eine stäche, glauben Sie, ich würde aufschreien? Gewiß nicht!«
Er ging neben ihr. Der Weg engte sich und stieg in sandiger Schlucht zur Höhe. Oben grüßte wieder die endlose gelbe Stoppel und hinter einem blühenden Lupinenfeld eine Eichenwaldecke mit starken Bäumen, knorrigem Geäst. Sie stiegen wieder zu Tal. Der Sand rieselte, das struppige Gras raschelte. Endlich kamen sie auf eine Höhe. Groß-Thüringen! Der Glanzpunkt. Wellige Hügel hoben sich, Schluchten krochen, ein vielgestaltiges Blättermeer wogte rings bis hinüber, wo der Hochwald begann mit seinen ernsten, starren Linien und seiner feierlichen Unbeweglichkeit.
Sie waren schon Stunden gegangen. Mittag war vorüber. Sie sprachen viel miteinander. Gleichgültiges, als ob sie etwas zu verbergen hätten durch das Wort. Und die Herbstsonne spendete ihr ruhiges, klares Licht, und der Sonnenhauch wehte mild.
»Wir sind gleich am Ende der Prüfung«, sagte sie.
Er schaute etwas ungläubig. Fetter, grüner Sumpfwald mit dem kühlen Moderhauch und der weichen Dämmerung umgab sie. Moosige Erlenstämme, das Gras üppig und schwer wie Samt – trügerischer Sumpfboden. Zuweilen gleißt Wasser auf zwischen hohen Halmen, eine Blase steigt, zerplatzt . . . Die Tiefe lebt, der Sumpf, der Anfang und das Ende alles Seins.
Vorsichtig schritten sie über den Morast. Der schwarze Boden unter ihren Füßen weich, stumm, widerlich.
»Hier hat Roy auch mal durch müssen. Ich führte ihn natürlich. Aber er stoppte doch bei jedem Schritt ängstlich, und die Peitsche mußte ihr Bestes tun, sonst hätte er sicher gestreikt. Einmal trat er sogar fehl und versank bis ans Knie . . . Schließlich haben wir es aber geschafft. Solange man eben weiß, was man will, kommt man überall durch.«
Sie waren am Ende. Der Boden wurde fester, der Wald schimmerte licht. Jetzt noch ein Steg über einen Abzugsgraben. Er war mit einem Schritt hinüber, sie strauchelte, der Fuß tauchte in die ekle Flut.
»Es ist nicht der Rede wert!« lachte sie.
»Ja, ja, wir haben die Rollen getauscht, gnädige Frau! . . . Damals trat ich fehl. Es dürfte wohl auch ein verbotener Weg sein.«
»Möglich. Wer in den Sumpf geht, beschmutzt sich überhaupt leicht das Kleid . . . Nur nicht versinken! Das muß schrecklich sein. Es geht so qualvoll langsam, und man weiß sein Ende so genau.«
»Sie und der Sumpf, das reimt sich nie, gnädige Frau!«
Sie lächelte hochmütig. »Ich glaube allerdings auch . . . Aber wenn der einzige Weg zum Glück durch einen scheußlichen Sumpf ginge? Ob mich das beschmutzte Kleid dann sehr genieren würde? Ich glaube nicht!«
»Vielleicht geht jeder Weg zum Glück über den Sumpf«, antwortete er, ohne die Worte viel zu wägen. Sie blickte ihn eigentümlich flüchtig an.
Sie traten aus dem Waldsaum. Ein weitläufiges, behäbiges Dorf lag auf freier, gelber Ebene vor ihnen. Große Scheunen, alte Linden. Als sie näherkamen, tobten die Hofhunde wie wahnsinnig.
»Das ist unser Ziel. Habe ich gut geführt?«
»Mein Kompliment, gnädige Frau.«
»Es war doch schön, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht. Ich habe die ganze Zeit über an Sie denken müssen, und daß Sie nun doch gehen.«
»Sie sollten doch nicht, Herr von Dühling!«
»Weiß ich. Aber wer springt über seinen Schatten?«
In dem Dorfwirtshause verzehrten sie ihr verspätetes Mittagessen. Es war wie überall auf dem Lande: Fliegen, Schmutz, ein Bauerngarten. Doch von der Gartenbank sah man die weite Ebene und den herbstlichen Wald. Zum Kaffee buk ihnen die dicke Wirtin Waffeln und erzählte, daß sie seit kurzem Witwe sei. Das Geschäft ginge gut, auch der Materialwarenladen. Die Bauern aus der ganzen Gegend träfen sich immer nach dem Kirchgang hier. »Der junge Mann«, der Geschäftsführer, stand von weitem und strich sich unternehmend den dicken Schnurrbart, und es war ganz klar, daß seine Fünfundzwanzig ihre Vierzig besiegen und dem Leichenschmaus das Hochzeitsmahl bald folgen werde.
Die dicke freundliche Frau war gegangen. Dühling sah ihr kalt und hochmütig nach. »Möchten Sie tauschen mit der, gnädige Frau?«
»Wenn ich die Instinkte dieser Leute hätte, warum nicht!«
»Aber Sie haben sie doch nicht!«
»Ich bin dessen nicht einmal ganz sicher . . . Ich bin klug und träume wie ein Backfisch; ich bin energisch und handle willenlos wie ein Kind. Verlangen Sie noch mehr Gewöhnliches von einer ungewöhnlichen Frau?«
»Ärgern Sie mich nicht!«
»Ich kränke doch nur mich selbst.«
Aber seine Stirn hatte sich gekraust, und er pfiff durch die Zähne.
»Warum das gerade mir? Ich kenne Sie doch wahrhaftig besser! . . . Sollten wir noch am letzten Tag die Rollen tauschen? . . . Ich war, Sie sind! . . . Und Ihr Bild steht mir so fest! . . . Ich kenne eben nur zwei Frauen – die andere sind Sie . . . Träumen Sie meinetwegen wie ein Backfisch, handeln Sie willenlos wie ein Kind, das sind nur Übergänge. Der Kern bleibt, und der heißt: Persönlichkeit. Versuchen Sie den scharfen Umriß nicht zu verwischen. Denn ich will von unserm letzten Zusammensein hier kein Bild mitnehmen, an das ich doch nicht glaube . . . Ich könnte Ihnen mehr sagen, viel mehr, doch Sie wünschen es ja nicht. Aber das nehmen Sie immerhin zum Abschied: finden Sie Ihr Glück, finden Sie ihn! Vielleicht gönne ich ihm sein Glück nicht. Die Armen beneiden ja immer die Reichen. Aber kleinlich bin ich gewiß nicht. Ich will Ihnen darum wünschen, daß er auch Gold kennt und selbst Gold zu geben hat. Denn Legierungen, auch die täuschendsten, sind nichts für Sie. Esther Lyssar zufrieden mit etwas Halbem? Dazu müßten Sie nicht die sein, die Sie doch sind . . .« Die Stimme sank. »Und weil ich langsam und schmerzlich dahinter gekommen bin, daß es im Leben dauernd nur Halbes gibt, möchte ich Ihnen sagen: ein kurzes, aber ein ganzes Glück. Jung sterben, auf der Sonnenhöhe – das ist das Wahre. Wenn der erste winzige Schatten zuckt, hinab ins Nichts! Nicht warten bis zum Sonnenuntergang, dem Abendrot nachseufzen, wie ich noch heute, auch nicht feige ausharren in einer Halbheit wie ich, mit dem ewigen Auf und Nieder von spärlichem Grün und trostlosem Grau . . . Verstehen Sie mich nicht falsch, gnädige Frau! Ein letzter Tag ist eben immer grau . . . Vielleicht haben Sie schuld daran, was weiß ich? . . . Nehmen Sie's mir nicht übel! Ich bin etwas pathetisch, doch es ist gewiß gut gemeint. Fünf Minuten später bin ich doch wieder der alte, sentimentale Ostseehering, der im Schwarm kommt, im Schwarm untergeht. Herdentier! Aus freiem Willen bin ich's nicht. Ich habe davor immer so einen gewissen aristokratischen Abscheu gehabt und die gewisse hochmütige Herzenskühle, die ich auch jetzt noch zuzeiten habe und die sich im Ernstfalle so trügerisch erwies . . .« Er machte eine Pause. Dann fuhr er herzlich fort: »Also nichts von Halbheit! Sie versprechen es mir? Esther Lyssar soll ganz sein oder gar nicht. Und Sie enttäuschen mich nicht?«
Seine Stimme war von dem warmen, tiefen Klang wie immer, wenn sie von Herzen kam. »Glück auf!« – er hielt ihr die Hand hin.
Sie tat, als wenn sie es nicht bemerkte. Sie hatte, während er sprach, nicht ein einziges Mal aufgesehen. Ihre Hand spielte mit dem Zinnlöffel, und sie starrte unverwandt in die leere Kaffeetasse.
Dühling lächelte etwas verlegen. »Ja, sehen Sie, da will man jemand zum Abschied etwas Angenehmes sagen und verletzt ihn vielleicht nur. Alte Menschen sind immer unmotiviert, feierlich . . .« Er hielt inne. Der ganze schlanke Frauenkörper bebte. Was war ihr? Wieder der Gedanke, der schöne Argwohn: wenn du's doch wärst! Und eine prickelnde Wärme schlich durch seine Adern . . . Er stand auf, sich aus dem Gastzimmer noch eine Zigarre zu holen. Ein trüber Spiegel hing da. Er sah hinein. Der weiße, schmale Schnurrbart war noch das Hübscheste in dem jetzt hochmütig verschlossenen Gesicht. Er lächelte kopfschüttelnd. »Nein, mein Junge, es ist endgültig vorüber. Ungewöhnliche Frauen betörst du nicht mehr, nicht mal gewöhnliche.«
Als er zurückkam, nahm sie von der Bank die Blaufuchsboa, die sie auf Spaziergängen immer trug. »Wollen wir weitergehen?«
»Können Sie noch, gnädige Frau?«
»Ich kann.«
Sie gingen. Es war die sandige Straße, auf der sie gekommen. Die großen Heidegründe blieben zur Rechten. Später kam Hochwald, die Forst. Der Herbst malte weiche, melancholische Lichter zwischen den Stämmen, und sommerlich raschelte das Laub. Sie gingen tief hinein in den Wald. Im Unterholz spielten freundlich die Reflexe. Kein Mensch – nur die harzduftende Einsamkeit mit dem wohligen Säuseln. Schläfriges Taubengirren, ein verspäteter Falter. An einer großen Waldblöße kreuzten sie die weiße Chaussee. Ein Gasthaus. Bierseidel klapperten, Menschenstimmen. Ein Kalb, ein Kreuz um den Hals, trottete blökend. Die beiden überlegten, ob sie den Waldhügel des Kleinen Hausen am Waldende noch erreichen könnten. Er war dagegen, sie dafür. Sie hatte ja noch so viel Kraft!
Die Gestelle dehnten sich endlos – die Monotonie des gepflegten Waldes. Endlich lugte ein kleines Forsthaus zwischen den Bäumen mit weidenden Kühen und durchschimmerndem Stoppelfeld hervor. Die Forst war hier zu Ende. In dem Hofe sprangen in ihrem Drahtkäfig zwei Wiesel in unermüdlichem Spiel schnuppernd über etwas Blutigem. Frau von Westrem zuckte vor Ekel zurück. An kahlen Feldern entlang führte der Weg. Ein Buchenhügel wölbte sich in üppigem Grün. Sie stiegen leicht empor. Wohl einst eine Ringburg der alten Preußen, wohin Mensch und Vieh vor dem blutigen Kreuz des Ordens flohen. Wall und Graben zeichneten sich noch deutlich im weiten Kreis ringsum. Aber die Linien waren sanft und anmutig geworden vom Grün und von der gleichmachenden Zeit. Im schmalen Durchblick schaute das Sandland zwischen den Bäumen. Die müde Poesie des Herbstes wehte darüber hin.
Sie setzten sich auf eine Bank. Er begann von den Deutschrittern zu erzählen. Die wechselvolle Geschichte dieser Hospitaliter ist ostpreußisches Heiligtum, und willig bekannte er sich zu dem düsteren Zauber, den das schwarze Kreuz auf weißem Grund noch heute umweht. »Meine Vorfahren ritten nicht etwa im Ordensheer mit, sie sind viel jünger, kamen viel später ins Land – und unser kleines Majorat kommt mir manchmal wie eine Dühlingsche Anmaßung vor. Wir waren nie reich, ich habe noch weniger, und der Hochmut war sonst mein sicherstes Kapital. Wenn ich hier im Lande bin, sage ich stets abwehrend: ›Pardon, die Dühlings stammen vom Niederrhein.‹ Und bin ich draußen im Reich, dann sage ich junkerlich: ›Ich bin Ostelbier.‹ In Wahrheit bin ich nichts, und ich fürchte, das ist sehr wenig deutsch und sehr Dühlingsch zugleich. Ich bin deshalb überall in der Fremde. Es rentiert sich auch so. Ich verstehe nicht mal den Dialekt meiner Heimat. Und ganz heimlich und auf meine Weise liebe ich sie doch. Ich kann zum Beispiel nicht an der Marienburg vorüberfahren, ohne auszuschauen nach dem Schloß und dem trägen Weichselarm und eigentlich zu wähnen, mein Wappen prunke auch in den bunten Glasfenstern des Kapitelsaales. Und Königsberg liebe ich nur wegen seines Ordensschlosses. Mir wird immer warm, wenn ich den düsteren Koloß wiedersehe . . . Und hierbleiben möchte ich auch nicht, es ist doch nicht mein Land . . . Wo werd' ich das Land mal finden? Ich bin selbst neugierig. Ich möchte eine wirkliche Heimat haben, aber zur Heimat gehören immer mindestens zwei. So zieht mich im Leben alles an, und alles stößt mich ab. Selbst hier – ich bin gern hier gewesen – sehr gern, aber wenn Sie gehen, gehe ich auch. Und es hält mich nichts . . . Sagen Sie, welch merkwürdiges Geschick führte uns hier eigentlich zusammen, und was trennte uns wieder vor der Zeit? Es ist so dumm! . . . Das Leben ist überhaupt dumm.«
Sie hatte ihm ruhig zugehört. Jetzt sah sie nach der Uhr. »Es ist sechs vorbei . . . und wenn wir schnell gehen, können wir zur Not noch vom Warnicker Strand die Sonne untergehen sehen.«
»Wo nehmen Sie eigentlich die Kraft her, gnädige Frau?«
»Ich sagte Ihnen ja doch, ich sei von Jugend auf für alle Strapazen trainiert.«
Als sie zurückgingen – es war ein Schleichweg, und das Licht lag golden auf den höchsten Kiefernwipfeln –, begann es mählich zu dämmern. Das geheimnisvolle Raunen begann, das Waldgras bog sich wie unter einer unsichtbaren Hand, die Halme zischelten. Der kühle Hauch des Abends kam gezogen. Die Blätter rieselten, die Stämme erschauerten – das Aufatmen der Natur vor dem Zurruhegehen. Aus dem Westen brach noch einmal ein volles, tiefes Leuchten wie ein Strom durch das Dickicht und malte den Waldboden hellgrün, die Stämme golden. Es war, als wenn ein Glutmeer weit dahinter flammte . . . Der Forst lag auf Minuten stumm, regungslos. Dann begann das rote Licht zu verglimmen. Gespenstische Flammen zuckten auflohend durch die Dämmerungsschatten, die weich, grau, wesenlos nun herniedersanken. Dann regte sich das Nachtleben der Natur. Der knackende Zweig, der lautlos über eine Lichtung ziehende Sprung Rehe; eine Fledermaus huschte in gespenstischem Flug . . . Die beiden gingen schneller. Über den Waldwiesen wob es weiß, der milchige Nebel, in dem die Elfen schweben. Ein Wiesel eilte über den Weg, ein Käuzchen schrie.
Als sie im Gasthaus zu Warnicken ankamen, floß der letzte Widerschein der untergehenden Sonne wie flüssiges Feuer über das Meer. Dahinter schwammen Wolken als rosige Inseln auf dem klaren, weichen Horizont. Sie sahen es von der Küstenhöhe. Dühling schlug vor, jetzt das Nachtessen im Gasthof zu nehmen.
Sie wehrte sich. »Ich habe keine Spur von Appetit! . . . Aber Sie? Ich kann gern zusehen.«
»Es war mehr Ihretwegen, gnädige Frau. Und Rührei mit Schinken gerade heute, sofort nach dem Poetenbummel, nimmermehr! Das hieße Profanation . . . Aber ein Schluck Sekt. Er bringt die Geister am besten wieder hoch und hat doch auch was Festliches.«
»Ja, Sekt! Sie haben recht . . . Ich bin auch durstig.«
Die große Veranda vor dem Hause war fast leer. Aber die beiden wählten trotzdem den abgelegensten Tisch.
»Wir scheinen kein gutes Gewissen zu haben«, scherzte er.
»Ach, was mir daran liegt!« antwortete sie. Er trank ihr Wohl. Sie nippte nur. »Wo ist der Durst, gnädige Frau?«
»Ich bring's nicht runter . . . übrigens ist das bei mir immer so. Nach einem scharfen Ritt ist mir die Kehle auch wie zugeschnürt.«
»Nein, gnädige Frau sind überanstrengt . . . Wir gehen jetzt nach der Bahn, dann geleite ich Sie sicher zu Ihrer Villa, und dann kommt hoffentlich der Appetit nach . . . Und morgen früh ein letztes Adieu – und einen letzten Rosenstrauß.«
Darauf sagte sie ruhig und bestimmt: »Wenn Sie fahren wollen, fahre ich natürlich auch.« Sie warf einen halben, hochmütigen Blick nach den paar Passanten bei ihrem Bier. »Die Kupees werden wieder vollgepfropft sein von der Sorte. Die habe ich nie geliebt. Ich habe unser Nest in der Einsamkeit liebgewonnen, die sollte mir der letzte Tag eigentlich nicht stören . . . Und morgen, bitte, kein Adieu! Ich weiß noch nicht, ob ich per Wagen oder per Bahn fahre, und Abschiedsszenen waren mir stets ein Greuel.«
»Und wenn ich's doch tue?«
»Herr von Dühling«, sie sprach ganz langsam und pointiert, »eine Dame verbietet Ihnen den Scherz. Es gibt nichts, was mich mehr ärgern könnte, als Sie morgen mit einem Rosenstrauß auf dem Bahnsteig zu sehen. Der Mann, der die Koffer aufgibt, mag zum Abschied seine Mütze ziehen. Dafür bekommt er sein Trinkgeld, und das möchte ich Ihnen auch nicht in der Form eines höflichen Händedruckes anbieten.«
»Wie Sie wollen, gnädige Frau.« Er fühlte sich verletzt. »Sie sind mir mehr als je ein Rätsel. Ich hatte mir eingebildet, ich stände zu Ihnen anders als andere Leute.« Er zog die Geldbörse, entnahm ihr ein Geldstück und schlug damit hart ans Glas. »Kellner!«
»Aber die Flasche ist noch lange nicht leer, und ich bin gar nicht eilig.«
»Aber mir ist der Durst vergangen. Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau. Man lebt eben nicht drei Jahre ungestraft außerhalb der Gesellschaft . . . Ich stehe selbstverständlich stets zu Ihrer Disposition, wann und wo Sie wollen . . .«
Sie preßte die Lippen aufeinander und sah finster vor sich hin. »Ich kann Ihnen nicht helfen, Herr von Dühling«, sagte sie endlich und stand auf. »Wir wollen gehen.«
»Ja, wir wollen gehen, gnädige Frau.« Sie traten hinaus. Frau von Westrem stand einen Augenblick zögernd. »Wollen wir nach der Bahn gehen?«
»Wie Sie befehlen, gnädige Frau.«
»Ach, seien Sie doch nicht so! Ich möchte Ihnen doch nur zeigen, daß ich nicht eigensinnig bin.«
»Gnädige Frau, wozu das? Ich habe Sie nie für eigensinnig gehalten und werde Sie nie für eigensinnig halten. Sie gaben mir vorhin nur eine kleine Anstandslektion, und ich bin Ihnen sogar dankbar dafür . . . Also wohin wünschen Sie? Ich bin zu allem bereit.«
Sie sah unschlüssig umher. Die hohen Ulmen des Waldparkes schüttelten ihre Wipfel, und Dämmerung lag auf den verschlungenen Wegen. »Wir könnten noch einmal hinunter an den Strand gehen und dann mit dem Zuge fahren. Es ist wohl noch Zeit genug.«
In grünmoosiger, von Wasser zerrissener Schlucht stiegen sie hinab. Ein enger, halbdunkler Pfad. Hüben und drüben reckten sich die Bäume und wölbten das flüsternde Laubdach. Vorn schimmerte licht die See. An einer Wegbiegung blitzte das Blinkfeuer von Brüsterort durchs Blättermeer. Er sah's und blieb stehen. Sie aber ging weiter. Am Wasser war's noch hell. Der schmale, steinige Strand von mächtigen Felsblöcken durchbrochen; wild und regellos lagen sie umher, und trotzig stemmte ein mächtiger seinen Leib weit hinein in die See. Die weiße Brandung leckte schmeichelnd an ihm empor. Es war warm und sommerlich hier unten. Das Meer ruhig, mild, die kleinen, hellen Wellen rieselten züngelnd im Gestein. Zur Rechten hob sich die waldgekrönte Küste fast ohne Vorland steil und rissig, ein brauner Festungswall von düsterer Entschlossenheit. Auf der Höhe große Stämme über den Abgrund geneigt, und abgespülte Wurzeln suchten angstvoll in freier Luft nach Halt. An einem Felsvorsprung zuckte die Welle in gierigem Springstrahl auf. So weit das Auge reichte, kein Segel, nur die hellgraue, murmelnde See mit ihrem tückischen Gleißen; der Horizont rot, wie in tiefen Purpur getaucht.
Frau von Westrem hielt die Hand ins Wasser. Es war wohlig wie im Juli. »Wir könnten die Küste unten entlang gehen. Die Brandung meint's heute nicht böse, und an der See gibt's ja keinen Schnupfen für nasse Füße.«
»Ich dachte auch eben dran.«
»Nun denn, en avant!«
»Aber es sind zwei Stunden und mehr, und nach dem Steingeröll hier kommt der weiche, bodenlose Sand.«
»Keine Angst! Ich halte aus.«
Er ging voran. Sie sprangen von Stein zu Stein, an die Küste gedrückt. Wenn die Welle singend zurücklief, eilten sie rasch auf dem festen, feuchten Sand dahin. Am ersten Felsvorsprung überraschte sie die Brandung doch und näßte ihr Kleid.
»Wir können auch umkehren«, sagte er.
»Sollen wir?« Sie überlegte. »Nein, man soll niemals zurück, das ist feige.«
Dahinter kam eine Bucht mit weißem, breitem Sandstrand. Herabgestürzte Bäume lagen da, noch grün, das Wurzelwerk in die Lüfte starrend, mit Tang behängt oder in den Sand eingewühlt bei der letzten Flut. Dazwischen wie gesät törichte, weiße Schmetterlinge – Sterbende, von der Sonne genarrt oder vom Wind verschlagen. Die beiden mußten klettern. Das Baumgeäst zerrte sie oft, und die Zweige schnellten spielend. Es war eine lustige Fahrt. Draußen im Meer lagen Felsblöcke, glatt, verwaschen, mit weißem Gischtkragen um den Hals. Frau von Westrem war stehengeblieben und sah den Wellen zu, wie sie schmeichelten und kosten, bis endlich eine fürwitzige dem braunen Patriarchen das Haupt wusch. Sterne begannen zu flimmern, und die See warf in schelmischem Blinken die unzähligen Lichter zurück. Im Westen verblaßte langsam der Purpurschein, und drüben schwamm jetzt der Mond wie eine blutige Scheibe im Meer.
»Geht er da auf? Ich wußte das gar nicht«, sagte sie.
»Es ist Vollmond, gnädige Frau.«
»Ich habe Sie wohl sehr geärgert vorhin?«
»Etwas.«
»Jedenfalls war es unbeabsichtigt.«
»Qui vivra, verra«, meinte er ungläubig.
»Sie nehmen es leichter als ich, Herr von Dühling.«
»Wer weiß?«
»Sie haben mir sogar weh getan. Es ist töricht, aber ich bin nun einmal so . . . Wir wollen doch weitergehen.«
Sie blieb. »Nein, es ist nicht töricht! Ich kann Ihnen nur sagen: seien Sie mir nicht böse!«
»Tant de bruit pour une omelette!«
»Wollen Sie mich quälen?«
»Wenn ich's könnte . . .«
»Sie können es und Sie tun es, Herr von Dühling . . . Es ist ja gleichgültig, warum ich auf Ihre Freundschaft besonderen Wert lege. Sie wissen manches von mir, und ich weiß vieles von Ihnen, das ist immerhin ein starkes Band . . . Ich bitte sehr selten . . . Also?«
»Selbstverständlich, gnädige Frau. Im übrigen war's eine Lappalie!«
»Nein«, sagte sie heftig, »ich will mehr, ich will etwas Wärmeres, es ist ja zum Abschied!«
»Also morgen um zehn Uhr werde ich mit einem Rosenbukett auf der Bahn sein.«
»Nein, Sie werden nicht auf der Bahn sein! Was ich gesagt habe, besteht.«
»Sie sind doch seltsam, gnädige Frau«, sagte er befremdet und trat zurück.
»Das kann stimmen. Sagen Sie dennoch: Ich bin Ihnen nicht böse . . . Wissen Sie: ich bin meinen Freunden treu. Ich habe wenige, sehr wenige. Vielleicht sind Sie sogar der beste . . . Und so kindisch es bei mir klingt, ich will keinen häßlichen Schatten zwischen uns. Ich bin nicht glücklich, wie Sie wissen, vielleicht mehr darum, weil ich konsequenter und einseitiger bin in meinen Gefühlen als andere. Darum müssen Sie mir auch manches nachsehen . . . Ich kann sterben. Sie können sterben. Ich wünsche Ihnen so wenig ein langes Leben, wie Sie es mir wünschen. Es taugt auch nichts für uns. Aber selbst der Toten sollte nicht der Vorwurf folgen, daß sie klein und eigensinnig gewesen noch am letzten Tag . . . Ich war's nicht, ich war's wahrhaftig nicht!« Sie schwieg. Über der reinen, klugen Stirn lag die Wolke des Grams.
Dühling antwortete nicht. Er hörte nur immer das heiße Zittern dieser klaren, schönen Stimme. Sie klang in seinem Herzen wider. Er hatte die Frau noch nie so gesehen. Es war, als wenn sie die täuschende Maske ihres Wesens abgestreift hätte, und das Herz lag bloß: arm, jung, zuckend . . . Nicht nur, daß sie jung war, hübsch, so unverbraucht in ihrer Kraft – auch das Mondlicht zeichnete einen anmutigen Schatten auf dem Sande. Es war ganz etwas anderes. Er hätte in dem Augenblicke nicht einmal bestimmt ausdrücken können, was. Und es wäre auch häßlich gewesen, eine tiefe Erregung zu benutzen, die wohl ein anderer wachgerufen. Aber sie war ihm lieb, und er schied schwer von ihr . . . Er hatte die Empfindung, daß er ihr jetzt das Beste sagen müßte, einem Freunde den Abschied schwer zu machen, damit er ihm doch leichter wird . . .
Sie waren weiter gegangen. Der Strand war hier breit, die Brandung drohte nicht, aber er suchte instinktiv doch ihre körperliche Nähe. »Gnädige Frau, ich Ihnen ernstlich böse sein?« Er stockte leicht . . . »Was soll ich Ihnen sagen? Natürlich wieder eine Torheit! . . . Daß mir nämlich der schöne Strand öde ist ohne Sie, und daß nach dem Sommer nun sofort der Winter folgt . . . Es ist wirklich so! Und mit Ihnen geht auch das Beste von mir . . . Sie sagen: ich sei Ihr bester Freund? Nun, Sie waren mir mehr . . . Ich weiß nicht, was uns verbindet, ich ahne es nicht einmal . . . Frauen sind eitel, das sind Ihre eignen Worte . . . Macht's Ihnen Freude, wenn ich Ihnen sage: Sie haben mir ein anderes Bild verdunkelt, und oft stehen Sie jetzt an der Stelle, wo eine andere immer stehen sollte? . . . Haben Sie keine Angst! Ich begehe keine Torheiten mehr . . . Ich habe unter tausend Qualen und Zweifeln die andere eingesargt, weil sie es gebieterisch wünscht, aber der Sarg steht in meinem Herzen. Das mag Sie beruhigen! . . . Ich bin schlapp geworden, eigentlich gegen meine Natur. Und daß ich trotzdem noch den Totengräber spielen konnte an meinem besten Gefühl, dazu haben Sie mich gestärkt, mein guter Kamerad . . . Und nun gehen Sie treulos – und müssen doch gehen – und gehen demselben grauen Schicksal wahrscheinlich entgegen wie ich. Warum kamen Sie überhaupt, wenn Sie wieder gehen mußten, warum, Esther Lyssar? . . . Das war nicht hübsch von Ihnen!«
Während er sprach, war sie erst langsam gegangen, immer langsamer, der Fuß ward ihr so schwer. Einen Augenblick hielt sie, als ging's nicht mehr. Und dann plötzlich eilte sie schneller und schneller, es kostete ihn Mühe, Schritt zu halten, bis sie fast lief und er im Sande keuchend sich lächerlich vorkam, als fürchte sie einen Überfall, eine Liebeserklärung. Und er war trotz allem sehr weit davon. So blieb er abgekühlt zurück. Der Strand war hier wie ein Pfad schmal geworden, und die rissigen Uferwände starrten lotrecht. Vor ihm eilte eine weiße, schlanke Gestalt wie in der Flucht auf dem feuchten, schimmernden Sand, den der Wellengischt surrend überrieselte. Sie wich der schmeichelnden Flut geschickt aus, nur einmal zuckte sie jäh. Es war an der letzten Felsecke, die sich trotzig ohne Vorland hinaus in die See stemmte. Dann war sie verschwunden. Nur der schmale, scharfe Abdruck ihres schlanken, flüchtigen Fußes war geblieben. Dühling folgte zögernd der anmutigen Spur. Er kam sich so albern vor mit seinem weißen Schnurrbart und seinem jungen Gefühl. Sie floh vor ihm wie vor einem Knaben ein Mädchen, das nicht geküßt sein will.
Hinter dem Felsvorsprung erwartete sie ihn. Es war keine ganz freiwillige Rast. Die Brust ging ihr schwer, und sie hatte die Zähne auf die Lippen gebissen.
»Haben Sie sich verletzt?« fragte er.
»Nicht der Rede wert«, scherzte sie mühsam. »So wie Roy neulich, als ich ihn nach Königsberg schicken mußte.«
»Können Sie ohne Schmerz gehen?«
Sie machte ein paar Schritte. Wohl zuckte das Gesicht, doch ging sie tapfer weiter. Er war's zufrieden. »Es ist aber in der Tat nichts«, meinte sie dann, »und der kleine körperliche Schmerz tut einem zuweilen wohl.«
Die Küste stieg hier in sanft welligem Abhang zum Strand. Er schlenderte am äußersten Saum des Buschwerks, sie die Brandung entlang auf dem feuchten Sand. Sie waren weit auseinander, aber sie hatten beide wieder festen Grund . . . Weiter abwärts brach eine Schlucht durchs Herbstgrün. Ein Kessel mit steilen Wänden. Weiße Birkenstämmchen beugten sich in anmutigem Leichtsinn über den bröckelnden Abgrund. Der Vollmond zeichnete die Höhe in fahlen, gespenstischen Linien, unten lag es dunkel, und die Blätter murmelten geheimnisvoll.
»Hier waren wir schon einmal«, sagte er.
»Dort führt auch die Treppe . . .«
Sie kam herüber zu ihm und schaute in die Schlucht. Die weißen Birken winkten, ein Brocken löste sich von der braunen Erdwand und raschelte in die Tiefe. Sie wandte sich wieder ab. Sie gingen weiter. Doch jetzt blieb sie bei ihm.
»Haben Sie Nachricht von ihr?« fragte sie unvermittelt.
»Die letzte vor etwas länger als einem Jahr. Sie wurden versetzt, die Korrespondenz schlief ein. Den letzten Brief schrieb ich . . .«
»Sie wird schon noch schreiben!«
»Ich glaube nicht . . . Und um eine Antwort betteln? Nein! Das habe ich früher mal getan. Jetzt nicht mehr. Im Grunde ihres Herzens sind auch Dühlings keine Bettler . . . Es ist vielleicht auch besser so. Sie schämt sich wohl der Vergangenheit. Wüßte ich's, dann schämte ich mich wohl auch.«
»Sie ist eine Frau und schwach.«
»Bitte, entschuldigen Sie sie nicht!« sagte er entschieden. »Sie hat meines Wissens nichts getan, auf das sie mit wirklicher Reue zurückblicken müßte. Tut sie es dennoch aus irgendeinem Scheingrund, dann war ihr Gefühl für mich auch nur aus Ihrem Fünfzigpfennigbasar. Und dann ist's viel besser, daß sie mir diese letzte, bitterste Enttäuschung ersparte. Sie mag schweigen für immer . . .« Nach einer Pause fuhr er nüchtern fort: »Übrigens, was ich Ihnen noch sagen möchte wegen vorhin, gnädige Frau: Sie haben mir in der Abschiedsstimmung etwas Liebenswürdiges gesagt, ich habe in demselben Ton erwidert. Darauf liefen Sie weg. Ich möchte nicht törichter erscheinen, als ich bin. Bei mir war's wahrscheinlich das Glas Sekt. Ich bitte also um Verzeihung . . .«
»Dann wären wir also wieder auf demselben Punkte wie vorhin, und ich bat Sie doch . . .«
»Ja, gnädige Frau, Sie wollten es ja nicht anders.«
Sie sah ihn von der Seite ängstlich an und schwieg.
Der Vollmond hing jetzt schwer und rot über dem Meer. Er streute Silberflitter auf die Flut. Bis Wangerspitze und Rantüm zog sich die helle, tote Küstenlinie, Dünenberge und spärliches Grün. Über dem fernen Kranz ein dunstiger Lichtschimmer . . . Der Weg wurde öder. In dem breiten, tiefen Sand konnten sie nur langsam vorwärts. Endlich eine Flaggenstange auf der Höhe. Es kamen zerstreute Badebuden. Dahinter stieg der Sandweg hinauf.
»Wir können übrigens hier am Strande entlang bis zu Ihrer Fließmündung gehen. Und dann bringe ich Sie taleinwärts nach Ihrer Villa.«
»Ja, das möchte ich wohl, Herr von Dühling.«
Diese letzte Strecke war kurz, aber wie alle letzten Strecken im Leben schwer. Die Füße wollten nicht mehr . . . Dühling erinnerte sich jetzt seiner Nachtwanderung hierher, auch der badenden Frau. Es lag doch vieles zwischen einst und heut . . . Da war auch schon das kleine Badehaus im Strandgebüsch versteckt und die abgegrenzte Stelle im Meer. Die Pfähle starrten schwarz und feucht wie damals, die Taue hingen schlaff.
Frau von Westrem blieb plötzlich stehen. »Jetzt bin ich wirklich todmüde, und der Fuß schmerzt mich.«
»Ich werde Ihnen einen Wagen aus dem Dorfe besorgen. Ich laufe, und in einer halben Stunde bin ich wieder bei Ihnen.«
»Lieber nicht. Bis zu Hause reicht's noch . . . Es ist nur die Übermüdung . . . Man überschätzt sich eben . . . Sonst reichte wenigstens der Wille so weit bei mir.«
»Der hat auch schließlich seine Grenzen.«
Darauf wandte sie sich nach der See und murmelte, die Zähne aufeinander gepreßt und die Hände ineinander gekrampft: »Ich fürchte . . . ich fürchte . . . Herrgott! . . .« So blieb sie Minuten bewegungslos. Er stand schweigend hinter ihr. Er hatte den sicheren Instinkt, wo laute Teilnahme Beleidigung für Frauen ist. Sie atmete ein paarmal schwer wie nach einem mühseligen Aufstieg. Jetzt hatte sie sich wohl erholt. Denn sie ging an den Badestrand hinunter bis zu den Pfählen. Den ersten berührte sie fast liebevoll. Das Blinkfeuer strahlte gerade hell von seinem düsteren Bollwerk. Sie kam zu Dühling, der stehengeblieben, zurück. »Es geht schon wieder, wie Sie sehen«, sagte sie gleichgültig . . . »Sie wundern sich wohl über mich?«
»Ich bewundere höchstens solche Zähigkeit.«
Sie zeigte nach dem Leuchtturm. »Zum letztenmal! . . . Aber er war doch treulos und hielt nichts . . .« Sie wandte sich zu Dühling: »Sie sehen so zugeknöpft aus . . . Sie sind mir noch immer gram . . . Soll ich Ihnen die Geschichte von dem Blinkfeuer da erzählen? Es ist eine schwächliche Phantasie. Und ich gebe sie nur preis wegen der kleinen, scharfen Falte auf Ihrer Stirn . . . Ich badete hier nämlich früher nachts. Ich schwimme gern weit 'raus, und da wurden die Leute mir am Tage lästig mit ihren Zurufen. Einmal alarmierten sie fast das Rettungsboot. So was mag ich für den Tod nicht. Hätt' ich die Absicht gehabt, auf Nimmerwiedersehen unterzutauchen, so mögen sie einen doch lassen. Man wird schließlich wissen, warum . . . Aber ich dachte gar nicht an so was . . . Darum badete ich nachts und an dieser abgelegenen Stelle. Vor den dunkeln Wassern graut mir nicht. Und dann war es so wunderbar einsam hier, und immer strahlte mir das Licht, das ich so liebe, glückverheißend . . . Einmal, es ist schon Monate her, kurz bevor Sie kamen, badete ich auch. Und eben, wie ich hineingehen will, zuckt das Licht so brennend hell. Ich denke trübselig hinüberdösend: ›Was lügst du mich wieder an!‹ . . . Aber im selben Augenblicke habe ich eine ganz seltsame Empfindung, als wenn das Glück selbst neben mir stünde; ich fühle seinen warmen Hauch . . . und ich schäme mich doch meiner Nacktheit . . . Ich weiß wohl, warum.« Dann lächelte sie verächtlich. »Wie ich mich nämlich zur Seite wende, da steht keine fünfzig Schritt von mir ein Mensch wie aus dem Boden gewachsen. Er mochte mir wohl nachgeschlichen sein und wollte mich belauschen. Für einen Moment war ich wie erstarrt. Es ist so widerlich, in der Nachteinsamkeit einen fremden Lauscher neben sich zu haben, wenn man selbst wehrlos. Ich mag ihn auch wohl angestarrt haben wie eine Erscheinung. Aber wie er so unbeweglich blieb, da faßte ich mich und dachte hochmütig: So was sieht dich und sieht dich doch nicht, und ging ganz ruhig und langsam ins Wasser . . . Er schlich auch beschämt nach der Düne zurück. Ich habe ihn nie wiedergesehen, und so etwas müßte man doch instinktiv wiedererkennen!« Über Dühlings Gesicht flog ein Lächeln . . . »Aber das Ganze mag wohl eine Phantasie überreizter Nerven gewesen sein, wenigstens die Gestalt. Doch das Glück war sicher bei mir. Denn immer wieder, wenn mir diese Nacht vorschwebt, durchrieselt mich der warme Hauch, und das Leuchtfeuer strahlt wie eine Sonne . . .« Sie sah plötzlich auf. »Warum lächeln Sie eigentlich? . . . Nicht wahr, ich bin ein Kind und sollte das nicht erzählen?«
»Nein, nein . . . Ahnen Sie übrigens, wer der Lauscher war?«
»Nein.«
»Sie!« Sie fuhr zusammen und machte gleich darauf eine Bewegung, als wenn sie auf ihn losstürzen wollte . . . »Sie?« sprach sie vibrierend, heiser, Schritt für Schritt zurückweichend, das Gesicht zu ihm gewendet. »Sie durften das nicht . . . Sie zuletzt von allen Menschen . . .«
Er ging ihr nach, langsam, wie gezogen. Jetzt erkannte er auch die Nixe wieder. Als ob durch das weiße Kleid die feinen Schultern leuchteten, der schlanke Nacken. Das waren endlich die Augen, die er so lange gesucht, dasselbe tiefe, heiße, wunderbare Leuchten . . . Und jetzt erloschen sie auch, starrten tot . . . Doch der Bann blieb.
»Sie durften mich nicht so sehen. Sie nicht!« wiederholte sie noch einmal . . . Sie wandte sich und wollte laufen und kam doch nicht vorwärts. Mit zwei Sprüngen war er bei ihr.
»Gnädige Frau, seien Sie doch nicht so seltsam! Ich werde doch nicht zur Nachtzeit an den Strand gehen, um badende Frauen zu belauschen. Ich hätte es Ihnen auch nicht sagen sollen . . . Ich weiß nicht, warum ich's tat, ich mußte . . .«
Aber sie murmelte nur: »Ich schäme mich . . . ich schäme mich . . .«
»Gnädige Frau, seien Sie doch so gut!« Er haschte nach ihrer Hand und faßte sie.
Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung riß sie sie ihm weg. »Lassen Sie meine Hand, Herr von Dühling, lassen Sie meine Hand los!« Sie schrie es beinahe. Dann suchte sie nach Atem, machte ein paar stolpernde, schwankende Schritte und stürzte wie ohnmächtig in den Sand.
Er wollte sie halten. Aber im nächsten Augenblick richtete sie sich wieder auf, um gleich wieder in die Knie zu sinken.
Er beugte sich über sie und sprach ihr ins Ohr, warm, gut, wie ein Freund, und fühlte doch, daß der Mann in ihm viel mächtiger war als der Freund.
Sie saß im Sand und hatte die Hände aufs Gesicht gepreßt, und ihr ganzer Leib erschauerte. Und sie sprach in Absätzen, hastig und nach Luft ringend: »Sprechen Sie nicht so zu mir, Herr von Dühling, sprechen Sie nicht so zu mir! Ich kann Ihre Stimme nicht mehr ertragen . . . Gehen Sie, gehen Sie auf der Stelle . . . Ich kann's nicht mehr . . . Sie sehen doch!« Sie zeigte mit der Hand auf den Fuß, die letzte Lüge, deren der kranke Wille noch fähig war . . . »Gehen Sie, gehen Sie! . . .« Es lag ein kindliches, wehrloses Flehen in dem Ton.
Und im Bruchteil einer Sekunde begriff der Mann alles. Er umfaßte sie rücklings, kniend. »Esther. Kind, wenn's das ist! . . . Ich habe dich ja so lieb, ich habe dich ganz gewiß lieb . . .«
Doch sie stieß ihn zurück und machte sich frei. Dann saß sie ganz still, die Augen starr in den Sand gebohrt, die Zähne fest aufeinander gebissen. Auch er hielt inne. Plötzlich zuckte sie wie im Fieberschauer, sie preßte die Hände krampfhaft in die Augen, und der schwere, heiße Tränenstrom erschütterte sie . . . Er hatte ihr den Kopf zurückgebogen und küßte ihr die Hand, die Stirn, das Haar. Er tat, was er mußte. Es war der starke Strom eines großen Gefühls, der zu ihm hinüberrann, ihn fortriß. Und sie bäumte sich kraftlos gegen ihr heiß erflehtes Schicksal . . . »Sei barmherzig . . . Ja, ich bin schwach . . . Aber nur nichts Halbes, nur nichts Halbes! Du sagtest ja selbst . . . Oh, geh doch, geh!«
Und er küßte als Antwort die Träne von ihrer Hand, die schwere, heiße Träne. Er sprach nicht, er umschlang sie nur fester, küßte sie leidenschaftlicher. Es überkam ihn ein Fieber, ein Rausch – er kam von einem edlen Wein . . . Bis ihr endlich die Hände willenlos von den nassen Augen sanken und der halbgeöffnete Mund flüsterte: »Küsse mich, küsse mich!«
Und die Wellen blinkten, die Brandung zischelte, der Mond lächelte mild. Die Nacht gehört ja der Liebe. Ihre Tränen versiegten, sie tastete sich erwachend nach dem verwirrten Haar. Sie lächelte süß. »Liebst du mich wirklich?«
»Ich habe dich von Herzen lieb, mein Schatz.«
Sie nickte träumerisch. »Nun bin ich wirklich eine große Sünderin . . . und ich hab's doch nicht anders gewollt . . . und bin doch so glücklich! . . . Ich sollte mich schämen . . . Es ist ja noch so hell . . . Komm!« Sie versuchte aufzustehen, und er half ihr. »Wir wollen ins Gebüsch gehen! . . . Ja, ich schäme mich hier.«
Er führte sie sanft, die Hand um die schlanke Hüfte. Sie gingen so langsam, und es war so schön. Im Gebüsch, in dem lauschigen Dunkel umschlang sie ihn mit leidenschaftlicher Kraft und küßte ihn, küßte ihn. Und ihre schönen Augen leuchteten heiß, als sie sprach: »Weißt du nun, was mein Gebet war? Mein Gebet warst du!«
Er hatte sie zu sich niedergezogen in das harte, rissige Strandgras. Und sie kniete neben ihm und hielt ihm den Kopf und sah ihn glückselig lächelnd an. »Liebst du mich wirklich?« fragte sie ganz leise.
Und er küßte leidenschaftlich die schmale, energische Hand. Jetzt bannte auch sie die Erinnerung an eine andere und an einen anderen Kuß nicht mehr.
Sie streichelte ihm den weißen Schnurrbart: »Nicht wahr, du bist wieder jung? Du Lieber!« Sie sprach es weich und voll. Und der schlanke, warme Körper schmiegte sich an ihn. Und der Strom der Liebe floß hinüber, herüber. Es war ein tiefer, klarer Strom, der sie schläfernd einhüllte mit kosenden Wellen.
So ruhten sie lange wortlos, Aug' in Aug'.
Über ihnen begann es leise zu rauschen. Es war der Nachtwind, der vom Samland blies. Sie horchte, sich aufrichtend. Es war doch ein fremder, unheimlicher Ton. »Wenn uns jemand belauschte? Man weiß das hier nie . . . Und das Verbotene, Heimliche ist mir doch verhaßt!«
»Es war so schön!« sagte er erwachend.
»Es kommt wieder«, lächelte sie. »Du hast mich ja lieb . . . Noch einen Kuß!« Die Lippen berührten sich. Sie standen auf.
Die Wasser draußen in der See fuhren kräuselnd zusammen, bäumten sich, kleine Schaumwirbel brodelten. Die zahllosen Lichtreflexe wurden unruhig, schwankten, ein großes, kaltes Leuchten schleifte auf einmal wie ein Mantel über das Meer. Der hohle, pfeifende Ton zog mit – ein unbestimmtes Sausen. Die ersten langen Wellen hoben sich – sie trieben vom Land . . . Das Blinkfeuer glimmte rot. Eine dunkle Wolkenburg stand unbeweglich hinter dem Leuchtturm.
Die beiden sahen es nicht. Sie waren aus dem Gebüsch getreten. »Nun weiß ich doch, wo meine Heimat ist! Bei dir!«
Sie lächelte. »Meine kannte ich längst . . .« Sie schaute nach der Badestelle. An den schwarzen Pfählen wallte es geschäftig, Spritzer näßten das schlaffe Tau. »Siehst du, das Glück war damals doch bei mir! Der warme Hauch log nicht . . . Ach, ich bin wunschlos, wie ich gewollt! . . .« Sie faßte seine Hand. »Und nun wollen wir leben, ewig leben!«
»Ja, leben, leben!« wiederholte er leidenschaftlich. »Das Leben ist doch schön!«
Jetzt blickte sie glücklich hinüber nach dem Leuchtturm. Wieder glimmte nur der tückische rote Punkt, und die Wolkenwand starrte finsterer. Über das Gesicht der Frau huschte ein Schatten. »Also sie hat dir wirklich nicht mehr geschrieben?«
»Nein, mein Kind. In Ernstfällen lüge ich nie.«
»Aber sie müßte dir schreiben, gerade jetzt!«
»Wieso?«
»Ach . . . ich meinte nur.«
»Wir wollen's auch lassen. Sie hat ja nun, was sie will. Sie ist tot.«
Sie schüttelte den Kopf . . . »Sie hat dich doch nie geliebt. Das wird mir immer klarer.«
»Darüber wollen wir niemals streiten, Esther. Sie hat mich sehr liebgehabt. – Aber wenn das nicht wäre? . . . Sieh mal, wenn du wirklich recht hättest, so müßte ich an allem irre werden, selbst an dir . . . Es waren nur die Verhältnisse. Sie konnte gar nicht anders handeln.«
»Der Sarg steht eben in deinem Herzen.«
Darauf sagte er ruhig: »Das ist nicht anders, und das kann nicht anders sein. Denke, wenn ich sie jetzt plötzlich verleugnete!«
»Aber ich bringe dich doch natürlich heim, Esther!«
»Nein, bleib' lieber!«
»Ich verstehe, du denkst . . .«
»O nein! Ich glaube dir. Du wirst mir nichts Halbes geben.«
»Niemals, Esther. Das verspreche ich dir feierlich.«
»Nein«, sagte sie geheimnisvoll lächelnd. »Es ist etwas ganz anderes. Heute bin ich eben Kind, will's sein. Sieh, ich bin so oft den Weg von hier bis zu der kleinen Brücke über das Fließ gegangen, immer mit denselben sehnsüchtigen Gedanken an dich und das Glück. Heute will ich ihn wieder allein gehen, ganz allein, ganz langsam. Ich will die Augen schließen und denken, alles sei Traum. Und wenn ich sie dann öffne und sehe, daß alles ist, dann will ich jauchzen voll Glück und dem alten, lieben Blinkfeuer, wenn's gerade trübselig glimmt, zurufen: ›Verstell' dich nur nicht! Du leuchtest ja doch gleich wieder so hell und mußt das immer, immer wieder tun, du kannst ja nicht anders!‹ . . . Ich freue mich so darauf! Und der Knöchel wird mir sicher nicht weh tun . . . Weißt du übrigens, daß er eigentlich an allem schuld ist? Ich konnte wirklich nicht mehr weiter im Augenblick, wo du mich vorhin fandest . . . Ja, ich wollte vor dir fliehen, ich war am Ende, ich mußte fliehen! Und doch war es kindisch. Aber was schadet's jetzt? . . . Ich weiß auch nicht recht, warum ich weglief. Es war so ein dunkler Trieb . . . Und du kamst langsam hinter mir her wie das Schicksal, und ich entkam dir doch nicht.«
»Ja, du bist ein Kind, Esther. Und es steht dir so gut!« . . .
»Oh, das geht vorüber! Ich bin sonst gar kein Kind, wie du wohl weißt . . . Aber heute! Wenn ich heute kein Kind wäre? Heute! Schatz!« Und sie trat noch einmal auf ihn zu und umarmte ihn stumm.
Sie schieden. Er sah ihr unverwandt nach. Auf der kleinen Brücke am Strand wandte sie sich und nickte. Es war weit, und das Mondlicht umfloß sie dunstig, so daß die schlanke, weiße Gestalt wirklich der Nixe glich, die eben dem Meere entsteigt . . .
Herr von Dühling klomm die steile, sandige Düne empor. Es ward ihm leicht, das Herz klopfte ruhig. Das Fieber war vorüber, aber das Glück blieb. Er überdachte den Tag. Er schien ihm licht. Auch an die andere Frau dachte er. Er fühlte keine Schuld, keine Reue. Er hatte nichts versprochen und nichts zu halten. Es war ja ihr eigenster Wunsch. Sie wollte im selbstgewählten Gefängnis ausharren, ob auch dem armen Vogel die Freiheit lockend winkte. Sie blieb eben die schöne Heilige, die er immer sah. Nur der Gedanke tat ihm weh, daß diese Märtyrerin der Pflicht vielleicht in demselben Augenblick wehmütig und voll Sehnsucht an einen Unglücklichen dachte, während der Fieberschauer einer zweiten Liebe einen Glücklichen überrann.
Als er auf der Dünenhöhe noch einmal zurück aufs Meer schaute – die Büsche bogen sich, längs der weißen, toten Küste wogte es schwer – empfand er nur die reine Frische der Luft und die frohe Kraft der Wogen. Ein Mensch, der lange in der Nacht eines schönen Traumes gelebt und nun erwachend die Erde sieht, wie sie ist . . . Und sie war schön.