Gregor Samarow
Kreuz und Schwert
Gregor Samarow

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Vierunddreißigstes Kapitel

Der Baron von Rantow hatte die übrigen Verwundeten, welche er auf dem Schlachtfeld gefunden, an die Ambulanzen und schnell errichteten Notlazarette abgegeben 641 und sich dann der Gräfin Gabriele zur Verfügung gestellt, um möglichst ein besonderes Quartier und eine gute Pflege für den verwundeten Freund ihres Hauses zu finden.

Gabriele teilte ihm mit, daß ihr Bruder, der Graf Franz von Spangendorf, sich ebenfalls zur freiwilligen Hilfeleistung bei der Krankenpflege der Johanniter hier befinde, daß sie ihn gestern gesehen und daß er wahrscheinlich in Donchery sei.

Herr von Rantow erkundigte sich und erfuhr bald, daß der Graf Spangendorf in einem kleinen Gartenhause vor Donchery stationiert sei, um eine dort eingerichtete Lazarettabteilung zu leiten.

Schnell fuhr man dorthin, – der Morgen begann inzwischen anzubrechen, und Graf Franz, erfreut, einem Freund seines Bruders Rettung und Pflege bringen zu können, richtete für den Verwundeten ein kleines, nach dem Garten gehendes Zimmer ein, welches an das Kabinett stieß, das die mit der weiblichen Pflege betraute barmherzige Schwester bewohnte. Man war bald übereingekommen, daß die hier beschäftigte Schwester ihren Platz mit Gabriele vertauschte, so daß der Leutnant von Rothenstein unmittelbar unter den Händen seiner Freunde sich befand.

Gabriele ließ alle diese Anordnungen schweigend geschehen, sie unterstützte dieselben nicht, aber sie widersprach ihnen auch nicht. Nur als der Verwundete in dem kleinen, freundlichen Zimmer zu Bett gebracht war, und nun bleich und leidend, aber mit dem Ausdruck glücklichen Friedens in seinem Gesicht in den weißen Kissen dalag, da sah sie mit einem Blick zu ihm hin, welchen nicht nur Teilnahme menschlichen Mitgefühls so warm erleuchtete. Sie faltete die Hände und richtete ihre Augen aufwärts, wie in innigem Gebet, und wenn Herr von Rothenstein sie in diesem Augenblicke hätte sehen können, so hätte ihr Anblick ihn vielleicht mehr gestärkt, als alle Arzneien der Welt.

Aber er sah sie nicht, der arme Verwundete. Er lag ruhig atmend zwar, aber in einer Art von starrem Halbschlummer betäubt da. Die körperlichen Schmerzen und die Seelenleiden, welche in so kurzer Zeit ihn erschüttert, hatten seine Kraft erschöpft. Das geheimnisvolle Walten der 642 Natur hüllte ihn in gleichgültige Ruhe ein, um den übermäßig angestrengten Nervenfasern Zeit zur Erholung zu geben.

Gabriele zog sich in ihr Zimmer zurück und hatte dort bald ihre einfachen Einrichtungen getroffen. Sie besuchte die übrigen im Hause untergebrachten Verwundeten, leitete sorgsam und umsichtig deren Pflege und versäumte keine der Pflichten, welche sie übernommen. Aber wenn sie alle Anordnungen getroffen, alle Befehle der Ärzte ausgeführt hatte, dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück, setzte sich in einen Stuhl neben der offenen Tür und horchte, nach den herbstlichen Bäumen des Gartens hinausblickend, auf die Atemzüge des Kranken, schnell herbei eilend, wenn er eine unruhige Bewegung machte, bald mit leiser Hand die Kissen unter seinem Kopf ordnend, bald einen kühlenden Trunk seinen Lippen einflößend.

Auch Graf Franz widmete sich mit unermüdlichem Eifer seinem Beruf. Der tiefe Schmerz, welcher sein ganzes Wesen erfüllte, verklärte und milderte sich in der Tätigkeit, die der Linderung fremder Leiden gewidmet war. Und wenn er in den Abendstunden in das Zimmer seiner Schwester kam, um nach des Tages mühevoller, aber segensreicher Tätigkeit einige Augenblicke der Ruhe zu genießen, da löste sich zum erstenmal seit langer Zeit der Bann, welcher sein schmerzvoll erschüttertes Herz gefangen hielt. Er erzählte ruhig und ergeben von Lorenza, von seiner Liebe und ihrem traurigen Ende. Der schauerliche, starre Ausdruck des letzten Augenblickes, in welchem er seine Geliebte gesehen, löste sich in weiche Wehmut, und die Bilder seiner Erinnerung verbanden sich zu harmonischem Frieden.

Gabriele hörte ihm still und ruhig zu, nur mit wenigen sanften Worten sprach sie ihm ihre Teilnahme aus, aber ihre Blicke zeigten, wie tief sie den Schmerz ihres Bruders mitempfand. Und wenn er mit bebender Stimme von der starren Verzweiflung sprach, mit welcher er vor dem blutenden Leichnam seiner Geliebten gestanden, dann flogen wohl ihre Augen mit langem, angstvollem Ausdruck hinüber nach dem Nebenzimmer, in welchem der Leutnant von Rothenstein in ruhigem Halbschlummer auf seinem Schmerzenslager ruhte.

643 Die Ärzte hatten seine Wunden untersucht, sein Kopf war nur leicht verletzt, ein schwerer Säbelhieb war tief in die linke Schulter gedrungen, ohne indeß lebensgefährliche Verletzungen zu verursachen. Seine Brust war von der durch das Etui abgehaltenen Kugel ebenfalls nur äußerlich verletzt. Aber eine andere Kugel hatte ihm das Knie zerschmettert und bei der Anlegung des ersten Verbandes hatten die Ärzte die Befürchtung ausgesprochen, daß eine Amputation notwendig werden würde.

Man wollte den erschütterten Nerven zunächst einige Ruhe gönnen und versuchen, ob durch Entfernung der Kugel und der Knochensplitter eine Heilung der Wunde als möglich erscheinen möchte, und mit banger Erwartung sahen Graf Franz und Gabriele der Entscheidung über das Schicksal des jungen Mannes entgegen, der mit lächelnden Lippen dalag, als lebe sein Geist, den irdischen Schmerzen und Leiden entrückt, in einer Welt glücklicher, lichter Träume. Das zerdrückte Etui hing an einer feinen, goldenen Kette an seinem Halse. Bei jedem Versuch der Ärzte, dasselbe zu entfernen, hatte er, ohne aus seiner schlummernden Betäubung zu erwachen, die Hand krampfhaft um dasselbe geschlossen und sich so unruhig hin und her zu werfen begonnen, daß man ihm diesen auch in seiner Bewußtlosigkeit ihm so teuren Schatz hatte lassen müssen.

Am Tage, nach welchem Gabriele die Leitung der Pflege in der Lazarettabteilung ihres Bruders übernommen, war der Pater Haug, welcher die Abteilung der barmherzigen Schwestern, der Gabriele zugehörte, begleitet hatte, in das Zimmer Gabrielens getreten.

Verwundert fragte er nach der Ursache des erfolgten Tausches.

Gabriele schlug beim Eintritt des Paters, der mit leisen, elastischen Schritten ihr nahte und seine brennenden Blicke mit magnetischer Macht auf ihr ruhen ließ, die Augen nieder, als fürchte sie, daß die durchdringende Gewalt dieser Blicke sich in die Tiefen ihres Herzens hinabsenken möchte.

»Sie wissen, ehrwürdiger Vater,« sagte sie mit leiser, zitternder Stimme, »daß ich meinen Bruder hier begegnet habe. Wir dienen demselben frommen Zweck, und er wünschte, 644 daß wir unsere Tätigkeit gemeinsam ausübten, um uns gegenseitig stärken und unterstützen zu können.«

Sie sprach die Wahrheit und dennoch flog ein flüchtiges Rot über ihr Gesicht. Ihr niedergeschlagenes Auge blieb am Boden haften und ein Zug von Unruhe und Verlegenheit zuckte um ihren Mund.

Der Pater sah sie erstaunt an. Er trat einen Schritt näher zu ihr und sprach mit strengem Ton:

»Die Liebe zu ihrem Bruder an sich ist nicht zu tadeln, aber sie ist ein irdisches Gefühl, und jedes irdische Gefühl ist für die Seele, welche sich dem Himmel und seinem heiligen Dienst weiht, eine Fessel. Sie hätten besser getan, den Weg Ihrer frommen Pflicht allein zu gehen. Wer den höchsten und heiligsten Beruf der menschlichen Seele gewählt hat, wie Sie, muß vollkommen frei werden von allen irdischen Gefühlen, und seien sie auch gut und rein, frei von allen irdischen Erinnerungen und stark genug, um ohne Stütze und Beistand seinen Weg zum Ziele der Vollendung zu gehen. Sie vor allem,« fuhr er fort, indem er einen Stuhl neben Gabriele zog und ihre Hand ergriff, die bei seiner Berührung leicht zusammenzuckte, »Sie vor allem, Gabriele, die Sie doch, glücklicher als andere, des Beistandes eines irdischen Bruders, den der Zufall der Geburt Ihnen gegeben, nicht bedürfen; haben Sie nicht mich, um Ihre Seele zu stützen, zu tragen, zu leiten? Erinnern Sie sich nicht, daß Sie sich mir gelobt haben, mir als dem Vertreter Ihres himmlischen Bräutigams, dem alle Liebe Ihres Herzens gehören sollte?«

»Ich erinnere mich, – und ich werde mein Gelöbnis halten,« sagte Gabriele, ohne die Augen aufzuschlagen, indem sie versuchte, ihre Hand aus der des Paters zurückzuziehen, – »Sie haben gesehen, daß die irdischen Versuchungen keinen Reiz für mich haben, – aber für meinen Bruder ist es eine Freude, hier seinen Beruf mit mir zu teilen, – seine Seele steht ja auch nicht unter dem Einfluß der Welt und ihrer Freuden, – im Umgang mit ihm kann mein Herz sich nur mehr und mehr dem Himmel zuwenden.«

»Ich will es nicht zu scharf tadeln,« sagte der Pater in milderem Ton, »daß Sie der Bewegung Ihres Herzens 645 gefolgt sind, das Sie zu gemeinsamer Tätigkeit mit Ihrem Bruder hinzog, – vor allen irdischen Gefühlen ist dies das edelste und beste, – aber ein irdisches Gefühl bleibt es, und die Seele, welche sich dem Priesterdienste des Himmels weiht, darf irdischen Gefühlen keine Macht einräumen. Ich bedaure nur, daß Sie mir Ihren Entschluß nicht mitgeteilt haben, hier das Lazarett Ihres Bruders zu übernehmen, – daß Sie meinen Rat nicht gehört haben, – ich fand Sie bei meiner Rückkehr von den Besuchen bei anderen deutschen Verwundeten nicht mehr dort, und erfuhr –«

»Ich glaubte recht zu tun!« fiel Gabriele in demütiger Haltung zwar, aber in einem Ton ein, aus welchem es wie erwachendes Selbstgefühl hervorklang.

»Das eigene Herz und seine irdische Regung führt oft irre, – es bedarf des steten Rates und Beistandes der Kirche, um nicht vom rechten Wege abzuweichen,« sagte der Pater sanft, – »o Gabriele,« fuhr er dann fort, indem er näher zu ihr heranrückte und seine brennenden Blicke so scharf auf ihre noch immer niedergeschlagenen Augenlider richtete, als wolle er durch dieselben in die Tiefen ihrer Seele dringen, – »Gabriele, – vertrauen Sie niemals den Regungen der vergänglichen Natur, – auch Ihre Eltern und Geschwister gehören der irdischen Welt an, von der Sie sich loslösen müssen, – Ihre einzige Heimat ist die Kirche, – Ihr einziger Freund bin ich, der Sie zu dieser ewigen Heimat hinüberzuführen auserwählt ist. – Gabriele, vergessen Sie nicht, daß Sie meine Schwester sind, – daß mir allein Ihre Seele gehören darf in inbrünstiger, heiliger Liebe, – die Welt um uns mag vorüberrauschen, – sie darf uns nicht berühren, – wir müssen uns tiefer und tiefer ineinanderleben, – Bruder und Schwester in überirdischer, reiner Flamme inniger Seelengemeinschaft, – Gabriele, schwören Sie mir noch einmal, mir treu zu bleiben, – ungeahnte Wonne, Vorgefühl der ewigen Himmelsfreuden wird Ihr Lohn sein!«

Er hatte sie zu sich herangezogen, sein glühender Atem strich über ihre Wangen, – seine flammenden Blicke ruhten fast körperlich fühlbar auf ihrem Gesicht, – wie von übermächtiger Gewalt gezwungen, schlug sie die Augen auf und 646 sah ihn mit angstvollem Schauer an, als befände sie sich unter der unbeschränkten Herrschaft seines Willens.

»Gelobe mir, meine Schwester,« sagte er leise, »mit diesem Kuß, in dem unsere Seelen sich berühren – –«

Ein tiefes, schmerzliches Stöhnen ertönte aus dem anderen Zimmer, dessen Türe halb offen stand.

»Mein Gott, der Kranke, – er wird etwas bedürfen!« rief Gabriele, und als ob durch diesen zu ihrem Ohr dringenden Ton der Bann gebrochen sei, unter dem sie der faszinierende Blick des Paters gehalten, sprang sie auf und eilte nach dem Nebenzimmer.

Herr von Rothenstein lag auf seinem Bett, den Kopf etwas emporgehoben und den Körper auf seinen rechten Arm gestützt. Seine Augen waren weit geöffnet, zwar noch fieberhaft glänzend, aber vollkommen klar und frei blickten sie mit dem Ausdruck tiefen Erstaunens im Zimmer umher.

Als Gabriele in der Tür erschien, flog ein Ausdruck des Verständnisses über sein Gesicht, – helles Glück erleuchtete seine Züge.

»Es war kein Traum, – sie ist bei mir!« hauchte er leise, – sein Kopf sank wieder in die Kissen zurück, und immer die glänzenden, glücklichen Blicke auf Gabriele geheftet, streckte er ihr in matter Bewegung seine gesunde Hand entgegen.

Es lag in dieser Bewegung, in diesem Blick des hilflosen Kranken eine so rührende, unwiderstehliche Bitte, daß das junge Mädchen schnell zu ihm herantrat, ihre Hand in die seine legte und ihn mit liebevoll-inniger Teilnahme ansah.

Er drückte ihre Hand fest in seine zitternden Finger und sagte ganz leise nur das Wort »Gabriele«, – als wolle er in dies eine Wort all seine Freude, all sein Glück über die Erscheinung der Geliebten an seinem Schmerzenslager zusammenfassen.

Hocherglühend stand Gabriele vor ihm.

Der Pater war dem jungen Mädchen langsam gefolgt, in dem Glauben, daß irgendein fremder Verwundeter ihre Pflege in Anspruch nehme, – als er in die Tür trat, sah 647 er den Leutnant von Rothenstein, den sein scharfer Blick sogleich erkannte, – er sah dessen glückstrahlende Augen, er sah Gabrielens errötende Verwirrung, – er hörte ihren Namen von den Lippen des Verwundeten, – er hörte diesen Ruf, der in seinem schnell verwehenden Ton dennoch die ganze Empfindung eines von Liebe überströmenden Herzens aussprach, – starr und unbeweglich blieb er in der Tür stehen, den Blick wie geblendet auf dieses so schöne, reine Bild der beiden jungen Leute gerichtet, welche in diesem Augenblick die Welt um sich her vergessen zu haben schienen.

Der Priester des Evangeliums der Liebe und Erbarmung hätte Freude haben müssen an diesem Bilde, welches ihm die Dienerin der tätigen Barmherzigkeit zeigte an dem Lager des verwundeten Kriegers, – aber es war keine Freude, was flimmernd aus seinen Blicken hervorbrach. Sein bleiches Gesicht färbte sich mit gelblichem Schein, – aus seinen Augen schossen Blitze unbändiger Wut und grimmigen Hasses, – seine geöffneten Lippen schienen einen Fluch ausstoßen zu wollen, – und seine Glieder bogen sich zusammen wie die eines Raubtieres, das zum Sprung auf seine Beute sich anschickt. Einen Augenblick stand er so, – den Kopf vorgebeugt, die Hände erhoben wie zu feindlichem Angriff, – da wendete Gabriele, wie angezogen von seinen Blicken, den Kopf nach ihm hin, – ein Schauer des Entsetzens rieselte durch ihre Glieder, sie erblaßte und senkte den Blick zu Boden, – aber sie zog ihre Hand nicht aus der des Verwundeten zurück, und ein fester, stolzer Entschluß drückte sich in den zarten Linien ihres Gesichtes aus.

Der Pater faltete die Hände krampfhaft zusammen und drückte sie gegen seine Brust, als wolle er gewaltsam niederhalten, was in derselben gärte und kochte, – er schlug die Augen nieder, – ruhiger, strenger Ernst erschien an der Stelle der wilden Bewegung in seinen Zügen, und langsam trat er näher zu dem Bette des Verwundeten heran, der nichts von allem zu bemerken schien, was um ihn vorging, und unbeweglichen Auges Gabriele ansah, – als fürchte er, daß dieses glückbringende Bild verschwinden könne, wenn er den Blick wendete.

648 »Sie haben lange geschlafen, Herr von Rothenstein,« sagte Gabriele mit freundlicher Herzlichkeit, indem sie mit einem Blick voll ruhiger Würde den Pater streifte, – »ich hoffe, daß Sie die Kräfte gesammelt haben, die Sie zu Ihrer Heilung bedürfen.«

»Ich habe geschlafen«, erwiderte der Verwundete, »und habe geträumt, lange geträumt. Und es war ein schöner, lieber Traum, – ich fürchtete zu erwachen, aber jetzt sehe ich, daß das Erwachen schöner ist, als alle Bilder der Träume.«

Gabriele zog langsam ihre Hand zurück.

»Ich muß meinen Bruder benachrichtigen«, sagte sie. »Der Arzt wollte es sogleich wissen, wenn Sie erwachen.«

»Ihr Bruder hier?« sagte Herr von Rothenstein, »ist sein Regiment –«

»Mein Bruder Franz,« sagte Gabriele, »den Sie gesehen haben, als Sie zum letztenmal bei uns waren,« fügte sie in fast vorwurfsvollem Ton hinzu, – »er tut Dienst bei den Johannitern.«

»Aber Sie kommen wieder?« rief der Verwundete, mit angstvollem Blick die Hand ausstreckend.

»Gewiß,« sagte Gabriele mit sanftem Lächeln, – »ich habe ja hier die Krankenpflege zu leiten, und hier ist in diesem Augenblick meine Heimat, – die Heimat meines Bruders. Gedulden Sie sich einen Augenblick, ich werde die Ärzte rufen, und ich hoffe, daß sie Ihnen Gutes verkünden werden.«

Der Pater hatte sich bei den letzten Worten, welche zwischen Herrn von Rothenstein und Gabriele gewechselt wurden, zurückgezogen.

Der Verwundete folgte der von dem weiten, schwarzen Gewande umhüllten Gestalt des jungen Mädchens, bis sie das Zimmer verlassen hatte, dann schloß er, den Kopf tief in die Kissen zurückdrückend, die Augen, als wolle er durch keinen Eindruck der Außenwelt das liebe Bild verwischen lassen, das ihn in seinen Träumen umschwebt hatte und im Erwachen ihm glückverheißend entgegengetreten war.

Der Pater Haug stand in der Mitte des zweiten Gemachs. Als Gabriele aus dem Krankenzimmer heraustrat, schloß der Pater die Türe desselben und blieb mit 649 unterschlagenen Armen, die strengen Blicke auf sie geheftet, vor ihr stehen.

»Sie haben Ihr Gelübde gebrochen,« sprach er mit einer Stimme, die in keuchendem, heiserem Ton aus seiner Brust hervordrang, – »Sie haben mir die Unwahrheit gesagt. Sie haben den Himmel, Sie haben Gott betrogen.«

Gabriele wollte antworten.

Der Pater streckte abwehrend die Hand gegen sie aus und fuhr in demselben Ton fort:

»Sie haben mir gesagt, daß die Liebe zu Ihrem Bruder, daß der Wunsch, mit ihm gemeinsam Ihren Beruf zu erfüllen, Sie hierhergezogen habe. Das war eine Lüge. Eine Lüge gegen mich, gegen den Himmel und gegen Ihr ewiges Heil. Denn nicht um Ihres Bruders, nicht um Ihres Berufes willen sind Sie hierhergekommen, sondern um jenes verwundeten Offiziers willen, der Ihnen einst in irdischer Liebe genaht ist, der Ihr Herz betört hat, um es von dem reinen Dienst des Himmels abzuwenden. Antworten Sie mir! Ich will die Wahrheit wissen, und ich habe das Recht, Sie an Ihr Gelübde zu mahnen.«

Die zarte, sonst so demütig zusammengeschmiegte Gestalt Gabrielens richtete sich hoch empor. Stolz erwiderte sie den stechenden, durchdringenden Blick des Paters:

»Ich habe mich dem Dienst der tätigen, helfenden Liebe gelobt,« erwiderte sie, »und diesem Dienst bin ich treu geblieben. Der Verwundete dort hat ein Recht auf meine Pflege, ein Recht auf meine Teilnahme, wenn er auch nicht der Freund meines Bruders wäre. Und ich habe nicht das Recht, die helfende Hand zurückzuziehen, weil er in edler und zarter Weise einst meinem Herzen näher zu treten versuchte. Hier ist er nur der Leidende, der Verwundete für mich, dem ich meine Dienste schuldig bin wie jedem anderen.«

Ein bitteres Hohnlachen umspielte die Lippen des Paters.

»Wie jedem andern,« sagte er, die Worte wiederholend, »warum sind Sie dann hierhergekommen? Warum sind Sie nicht bei jenen anderen geblieben, welche Ihrer Pflege ebensosehr bedürfen als dieser? Warum haben Sie ihn nicht den Händen Ihrer Schwestern überlassen, die für ihn ebensogut 650 gesorgt haben würden als Sie, – ich wiederhole Ihnen, Sie betrügen mich und betrügen sich selbst. Die irdische Versuchung ist mächtig geworden in Ihnen, aber meine Pflicht ist es, Sie dieser Versuchung nicht zu überlassen. Meine Pflicht ist es, Sie zurückzuführen zu dem heiligen Beruf, von dem Sie sich abwenden wollen in sündhafter Selbsttäuschung. Ich befehle Ihnen im Namen der Kirche, im Namen des Himmels, dessen Dienst Sie sich gelobt, zurückzukehren von dem Irrwege, der Sie zum ewigen Verderben führen wird. Verlassen Sie sofort dies Haus,« fuhr er fort, indem er in heftigem Druck den Arm Gabrielens erfaßte, »senden Sie die Schwester hierher zurück, mit der Sie getauscht haben, und ich will vergessen und verzeihen, daß Sie schwankten und mir die Unwahrheit sagten.«

Durchdringend bohrten sich seine Blicke in die Augen Gabrielens, indem er versuchte, sie von der Eingangstür abzuziehen. Aber diese Blicke hatten ihre überwältigende Macht über das junge Mädchen verloren. Sie machte sich von der Hand los, trat einen Schritt zurück und sprach hoch erhobenen Hauptes mit kaltem Ton:

»Ich kann Ihren Wunsch nicht erfüllen, ehrwürdiger Pater, denn mein eigenes Gefühl und mein Gewissen spricht mich von jedem Vorwurf frei. Ich habe die Pflege dieses Kranken übernommen, meine Gegenwart tut ihm wohl, meine Entfernung würde ihn kränken und beunruhigen. Ich werde der Stimme meines Gewissens folgen und meine Pflicht hier erfüllen.«

Und ruhig an ihm vorbeischreitend, ging sie aus der Türe hinaus.

Der Pater machte eine Bewegung, als wolle er ihr nachstürzen, aber vor der verschlossenen Tür hielt er an und stand einige Augenblicke wie in dumpfer Betäubung da. Er vermochte es nicht zu fassen, daß dies Wesen, das er als sein Eigentum betrachtete, das sich so lenksam und demütig seiner Fügung unterworfen hatte, so plötzlich und unerwartet sich gegen ihn empörte. In gewaltigem inneren Kampf schritt er auf und nieder, seine Brust arbeitete in unruhigen Atemzügen, und alle dämonischen Geister des 651 Hasses und der Rache schienen aus den wilden Flammen seiner Augen hervorzubrechen.

Wie gebrochen sank er in einen Stuhl am Fenster.

»Ich habe allem entsagt,« flüsterte er dumpf, »was die Welt an Reiz und Freude bietet, dies eine Wesen zu beherrschen und mein zu nennen, dies Wesen, mit dem ich lieber die Qualen des ewigen Abgrundes teilen möchte, als ohne sie die Seligkeit der Heiligen genießen. Und doch bin ich ohnmächtig, – wenn meine Gewalt über ihren Geist und ihre Seele zusammenbricht, wenn sie es wagt, sich mir zu entziehen, – was bin ich, der arme, nichtsbedeutende Priester, ihr gegenüber, die mit einem Wort eine unausfüllbare Kluft zwischen uns öffnen kann, – wenn sie es wagt, dies Wort zu sprechen!«

Er versank in schweigendes Brüten. Starr blickte er vor sich hin, wilde Glut leuchtete aus seinen Augen. Ein dämonisches Lächeln zuckte um seine fest geschlossenen Lippen, nur in einzelnen zitternden und unverständlichen Worten machte sich der Sturm Luft, der sein Inneres durchtobte.

Eine Viertelstunde mochte er so dagesessen haben, als Gabriele mit ihrem Bruder Franz zurückkehrte.

Der Militärarzt und ein Chirurg folgten.

Graf Franz und die Ärzte traten in das Zimmer des Verwundeten.

Gabriele setzte sich schweigend dem Pater gegenüber, der den Blick nicht zu ihr aufschlug und stumm und starr in seinen Sessel gelehnt dasaß.

Die Wunden des Herrn von Rothenstein wurden nochmals sorgfältig untersucht. Die beiden Mediziner führten ein kurzes, leises Gespräch in einer Ecke des Zimmers. Dann trat der Militärarzt an das Bett des jungen Offiziers und verkündete ihm in teilnahmsvoller, aber ernster und bestimmter Weise, daß eine Amputation des linken Beins über dem Knie unumgänglich notwendig werden würde, wenn nicht sein Leben unabweislicher Gefahr ausgesetzt werden sollte.

Der junge Mann schloß einen Augenblick die Augen und lag in stillem Nachdenken da. Dann hob er sich ein wenig 652 auf seinem unverwundeten Arm empor und sprach, indem er den Arzt mit klarem, vollem Blick ansah:

»Ich bin ein Mann, Doktor, und weiß jeder Gefahr, auch dem Tode, ruhig und gefaßt ins Auge zu sehen. Sagen Sie mir die volle und ganze Wahrheit: Sind Sie gewiß, daß durch die Amputation mein Leben gerettet wird?«

Der Arzt blickte forschend in das Gesicht des Verwundeten, aus dessen Augen Mut und ruhige, ergebungsvolle Entschlossenheit ihm entgegenleuchteten.

»Ich kann Ihnen mit Bestimmtheit sagen, Herr Leutnant,« sprach er dann, »daß Sie ohne Amputation unrettbar verloren sind, die Heilung Ihrer Wunde im Knie ist unmöglich. Ob eine Amputation Ihr Leben retten kann, vermag ich nicht zu verbürgen – das hängt von der Kraft Ihrer Natur ab – Ihr ganzer Organismus ist schwer erschüttert durch die Schmerzen und den Blutverlust, und von Gott hängt es ab, ob Sie die Erschütterung ertragen werden, welche die Operation verursachen muß.«

»Ich verstehe,« sagte Herr von Rothenstein mit traurigem, schmerzvollem Lächeln, »und ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit, – die Operation ist das letzte Mittel, mich von dem gewissen Tode zu retten, aber Ihre Wissenschaft gibt Ihnen kein unbedingtes Vertrauen in die Wirksamkeit dieses Mittels.«

Der Doktor schwieg.

»Ich werde Ihnen in einigen Augenblicken meinen Entschluß mitteilen«, sagte Herr von Rothenstein, »und bitte vorher nur um eine kurze Unterredung mit dem Herrn Grafen Spangendorf und seiner Schwester.«

Der Doktor verneigte sich stumm und ging in das Nebenzimmer.

Graf Franz rief Gabriele und schloß die Türe.

Herr von Rothenstein lehnte sich in die Kissen zurück, richtete den Blick seines mattglänzenden Auges auf Gabriele, welche mit ihrem Bruder am Fuße seines Bettes stand, und sprach mit ruhiger und sicherer Stimme:

»Sie kennen mich wenig, Herr Graf, aber Ihr Bruder ist mein Freund und kennt mich und meine Verhältnisse genau. Ich bin reich, sehr reich, und meine Familie steht 653 nicht zurück hinter den ältesten und ersten des deutschen Adels. Der Arzt hat mir seinen Ausspruch verkündet, welcher fast ein Todesurteil für mich ist. Durch eine schmerzvolle Operation soll der Versuch gemacht werden, mich zu retten, aber der Doktor selbst hat kein Vertrauen in den Erfolg dieses Versuches. Ich stehe an der Grenze des irdischen Lebens, ich bin ein Sterbender, deshalb habe ich das Recht, aufrichtig zu sein und einen letzten Wunsch, eine letzte Bitte auszusprechen. Ich liebe Gabriele,« fuhr er fort, während das junge Mädchen zitternd das Haupt niedersenkte und, wie eine Stütze suchend, die Hände auf das Bettgestell stützte, »seit lange trage ich diese Liebe als mein höchstes Heiligtum im Herzen, Gabriele weiß es, sie konnte meine Liebe nicht erwidern, denn Ihr Herz war nicht mehr frei,« – tief aufseufzend hielt er einen Augenblick inne, während Gabriele das Haupt emporhob und ihn erschrocken ansah, – »ich habe schweigend entsagt und bin fortgegangen, um nur der Erinnerung an meine verlorene Liebe zu leben. Jetzt aber,« sprach er schneller und in lebhafterem Ton, indem seine Blicke sich in banger Frage auf Gabrielens zitterndes Antlitz richteten, »in dem Augenblick, da die Pforten des Todes sich vor mir öffnen, erfüllt mich die innere, tiefe Sehnsucht, meinen Besitz, die Wohnstätte meiner Ahnen, in welcher meine Eltern, die ich nie gekannt, lebten und glücklich waren, geliebten Händen zu hinterlassen, – den Händen Gabrielens, welche, des bin ich gewiß, jene Stätte achten und ehren wird, mehr als es Unbekannte, Gleichgültige tun würden, und welche freundlich dessen gedenken wird, der dort nicht glücklich sein sollte. Deshalb, Herr Graf, bitte ich Ihre Schwester Gabriele, mir hier auf meinem Schmerzenslager, das wohl mein Sterbebette sein wird, ihre Hand zu reichen, die sie mir im Leben nicht gewähren konnte. Sie sind der einzige Vertreter der Familie, Ihr Bruder, wenn er hier wäre, würde meinem Wunsch nicht entgegentreten und auch Ihr Vater nicht, der mich und meine Verhältnisse kennt. Ich bürge Ihnen mit meinem Ehrenwort für alles, was ich gesagt habe, und bitte Ihre Schwester um ihre Entscheidung.«

Gabriele wollte sprechen.

Herr von Rothenstein erhob die Hand und fuhr fort:

654 »Wenn Gabriele, die ich mehr liebe, als menschliche Sprache es zu sagen vermag, meine Bitte gewährt, so will ich mich ruhig und mutig der furchtbaren Operation unterwerfen, welche die Ärzte über mich verhängt haben. Sie wird mich nicht retten, aber ich werde wenigstens alles versucht haben, um das Leben, das Gott mir gegeben hat, zu erhalten. Meine Bitte ist kühn, vermessen, vielleicht aber«, fuhr er fort, »verzeihen Sie dieselbe dem zum Tode Verwundeten, der in die Ewigkeit den Trost hinübernehmen möchte, daß das, was sein war hier auf Erden, in den frommen Händen treuer Freundschaft zurückbleibt, und daß sein Name wenigstens eine Zeitlang von derjenigen getragen wird, die er über alles liebte.«

Graf Franz stand ernst, in tiefer Bewegung da. Er blickte fragend auf Gabriele und sprach dann:

»Ich habe kein Recht, Herr von Rothenstein, meine Familie zu vertreten, aber ich glaube, daß mein Vater, wenn er hier wäre, Ihrem Wunsche nicht entgegentreten würde, vorausgesetzt, daß meine Schwester –«

»Gabriele,« rief der Verwundete, – »Gabriele, Sie sind das Bild der Milde, der Barmherzigkeit, entscheiden Sie. Können Sie mit einem andern Gefühl im Herzen meine Bitte erfüllen?«

»Einem andern Gefühl?« rief Gabriele schnell, den erstaunten Blick auf das bleiche, unruhig bewegte Antlitz des Kranken richtend.

»Sie haben mir gesagt,« sprach Herr von Rothenstein, – »als das tiefe Gefühl aus meiner Brust herausbrach, – daß Ihr Herz bereits –«

»Einem heiligen Beruf gehöre,« rief Gabriele tief errötend ein, – »daß ich mich dem Dienste des Himmels und der heiligen Jungfrau geweiht, – ich sprach von keinem andern Gefühl«, fügte sie leise hinzu.

Einen Augenblick sah der Verwundete sie mit großen Augen an, als müsse er den Sinn dieser Worte erst fassen, welche so plötzlich die trübe Wolke von Schmerz und Kummer zerstreuten, die ein Jahr lang sein ganzes Leben mit dunklem Trauerschleier umhüllt hatte, – dann strahlte der Glanz 655 lichter Glückseligkeit über seine Züge, und noch inniger, noch dringender bat er:

»Wenn also kein anderes Gefühl Sie abhält, dem Sterbenden so hohen Trost zu gewähren, – dann, Gabriele, – dann – darf ich hoffen, alles, was ich besitze, alles, was mir lieb ist auf der Welt, Ihren Händen überlassen zu können?«

Gabriele stand zitternd da, – zögernd blickte sie auf ihren Bruder.

»Herr von Rothenstein,« sagte Graf Franz, – »ich habe, wie ich Ihnen wiederholen muß, kein Recht, meinen Vater und meine Familie zu vertreten, – es ist ein wunderbarer, eigentümlicher, einziger Fall, – eine schwere Verantwortung ruht auf mir, – aber,« fuhr er entschlossen fort, – »ich will sie tragen, – ich kenne meinen Vater, – er liebt Gabriele über alles, – er vertraut ihrem Gefühl, das stets das Beste, das Reinste, das Richtigste zu treffen weiß, unbedingt, – was sie tut, wird er billigen, bei Gabrielen liegt die Entscheidung, was sie beschließt, werde ich vertreten. Sprich, meine Schwester,« wandte er sich zu dem jungen Mädchen, »welche Antwort gibst du auf die Frage des Herrn von Rothenstein?«

»Gabriele, ich beschwöre Sie,« rief der Verwundete, – »gewähren Sie mir den letzten Trost in meiner Hilflosigkeit, in den Leiden, denen ich entgegengehe und die mich schnell in den Tod hinüberführen werden –«

»Halt – nicht so,« fiel Graf Franz ein, – »nicht so darf meine Schwester Ihnen antworten, – bedenke, Gabriele,« sagte er ernst, – »wenn du dich jetzt entschließest, dem Herrn von Rothenstein deine Hand zu reichen, so darf er kein Sterbender für dich sein, – mit noch tieferer Inbrunst als bisher müssen dann deine Gebete den Himmel anflehen, – wie es die meinigen tun werden, – daß sein Leben erhalten bleibe, – und wenn der allmächtige Gott unser Flehen erhört, – dann, Gabriele, mußt du bereit sein, dein Leben dem zu weihen, dem du hier an der Schwelle des Todes dich mit dem heiligsten Bande verbunden hast, willst du, meine Schwester, in diesem Sinne und Verständnis, in Freiheit und Klarheit dem Herrn von Rothenstein deine Hand reichen, so antworte mir und ich werde es auf 656 mich nehmen, im Namen unserer Eltern und unserer Familie meine Einwilligung und Zustimmung zu erteilen.«

Mit zitternder banger Erwartung hingen die Blicke des Verwundeten an Gabriele, die unbeweglich, tiefatmend, die Hände über die Brust gefaltet, dastand.

»Ich will es«, sagte sie mit festem, klarem Ton, ohne die Augen aufzuschlagen, ohne ihre Stellung zu ändern.

»Dank!« rief Herr von Rothenstein, – »Dank, – tausendmal Dank, – dieser Augenblick des Glücks söhnt mich mit meinem ganzen traurigen und einsamen Leben aus, – und wenn aus meinem gebrochenen Körper meine Seele entflieht, so mag die Erinnerung an mich wie ein Hauch des Segens Ihr Leben begleiten und jeden Kummer von Ihnen fernhalten!«

Gabriele schlug die Augen zu ihm auf, – sie sagte nichts, – aber was er in ihren Blicken las, mußte ihn mit hoher Glückseligkeit erfüllen, denn er schloß die Augen und flüsterte leise: »Oh, mein Gott, – warum muß des Lebens höchster Lichtglanz sich mir erschließen in dem Augenblick, da die Nacht des Todes mir ihre Schatten entgegensendet!«

Dann aber richtete er sich auf seinem Arm empor und rief:

»Doch, ich will mit allen Gebeten meiner Seele, mit aller Kraft meines Willens das Leben festzuhalten versuchen, – rufen Sie den Arzt, Herr Graf, – er mag sein Werk beginnen.«

Graf Franz öffnete die Tür des Nebenzimmers, der Arzt trat ein, der Pater folgte, – sein Gesicht war kalt und ernst, seine Haltung demütig und bescheiden, er hielt die Augen fest auf den Boden geheftet und sah den scheuen Blick nicht, den Gabriele bei seinem Eintritt auf ihn richtete.

»Ich bin bereit, Doktor,« sagte Herr von Rothenstein, – »Sie können Ihre Operation beginnen, – sagen Sie mir ehrlich,« fügte er ernster hinzu, »haben Sie Hoffnung auf einen guten Ausgang?«

»Je heiterer und zuversichtlicher Ihre Stimmung ist, um so sicherer darf ich auf einen guten Ausgang der Operation hoffen«, erwiderte der Arzt.

657 »Nun, dann will Gott mir vielleicht helfen,« rief der Verwundete mit einem strahlenden Blick auf Gabriele, – »denn ich bin glücklicher hier auf meinem Krankenbett, als ich es seit langer Zeit gewesen! – wann wollen Sie beginnen?«

»Ich möchte Ihre Nerven vorher vollständig beruhigen«, sagte der Arzt, »und will Ihnen bis morgen früh einen festen, ruhigen Schlaf schaffen, der Sie stärken wird, die Operation zu ertragen, hier haben Sie eine Anzahl Pulver, – nehmen Sie zunächst zwei davon, – ich hoffe, sie werden genügen. –Morgen früh wollen wir dann, im Vertrauen auf Ihre gute Natur, ans Werk gehen.«

Er legte ein Paket abgeteilter Pulver auf den Tisch und entfernte sich, um die anderen Verwundeten zu besuchen.

»Morgen früh also,« sagte Herr von Rothenstein, – »und vorher, unmittelbar vor der entscheidenden Stunde möchte ich Gabriele bitten, mir Trost, Kraft und Hoffnung durch ihre Hand zu geben.«

Gabriele neigte leise das Haupt.

»Herr Pater,« sprach Graf Franz, sich zu dem Pater Haug wendend, der bei den letzten Worten des Verwundeten in jähem Schreck zusammengefahren war, »Herr von Rothenstein hat meine Schwester gebeten, ihm hier in extremis, im Angesicht des Todes ihre Hand zum ehelichen Bunde zu reichen, – sie willigt ein, und ich als hier anwesendes Mitglied der Familie übernehme die Verantwortung namens meines Vaters, die Zustimmung zu erteilen, – wollen Sie die Güte haben, morgen die Trauung vorzunehmen?«

Die Gestalt des Paters zitterte unter der gewaltsamen Anstrengung, mit welcher er seine Gefühle in sein Inneres zusammendrängte, sein Gesicht blieb unbeweglich, nur schien es, als ob alles Blut aus demselben zurückwiche und als ob diese starren Züge einer Wachsmaske angehörten. Dann schlug er langsam das Auge zu Gabrielen auf, – starr und tot war sein Blick, alles Leben schien aus diesen Augen entflohen zu sein, und doch drang aus denselben ein Strom voll drohenden Grimms zu dem jungen Mädchen hin, daß sie in scheuer, ängstlicher Bewegung sich zu ihrem Bruder hinwendete.

658 In demselben Augenblick hatte aber der Pater seine Augen wieder zu Boden geschlagen und sprach mit ruhiger, eisig tonloser Stimme:

»Ich glaube nicht tun zu dürfen, was Sie von mir verlangen, – ohne die bestimmte Einwilligung der Eltern, – auch war, – wie ich weiß, Gräfin Gabriele für einen heiligeren Beruf bestimmt.«

»Diese Bestimmung, für welche meine Schwester geneigt war, hat mein Vater niemals gebilligt,« fiel Graf Franz ein, – »und es wird eine hohe Freude für ihn sein, wenn sie derselben entsagt, – wenn Sie übrigens Bedenken haben, so will ich nicht in Sie dringen, – der Pfarrer des Ortes wird auf meinen Wunsch die Trauung vollziehen, – im Angesicht der Todesgefahr müssen dem bestimmt erklärten Willen der Beteiligten gegenüber alle Rücksichten schwinden.«

»Und will die Gräfin Gabriele in voller Klarheit und Freiheit des Entschlusses dem Herrn von Rothenstein ihre Hand reichen?« fragte der Pater.

Wieder richtete sich sein Auge mit jenem schauerlich starren Blick auf das junge Mädchen.

Diese richtete, leise erbebend, das Haupt empor, ergriff die Hand ihres Bruders und sagte mit fester Stimme:

»Ich will es.«

»So bin ich bereit,« sprach der Pater, »die heilige Handlung vorzunehmen, – die Folgen habe ich nicht zu vertreten, und Gräfin Gabriele wird dem Himmel gegenüber bei ihrem ewigen Heil ihren Entschluß zu verantworten haben.«

»Sie wird es können,« sagte Graf Franz ernst und ruhig, – »denn diese,« fügte er hinzu, die Hand seiner Schwester dem Verwundeten hinreichend, der sie mit ehrfurchtsvoller Innigkeit an seine Lippen zog, – »diese hat wahrlich des Himmels Hand zusammengeführt, – dieselbe Hand,« sprach er leise vor sich hin, – »welche in ihrem unerforschlichen Ratschluß das Liebesband meines Herzens mit blutigem Dolche zerschneiden ließ.«

»Doch jetzt gilt es,« fuhr er dann laut fort, »die Vorschrift des Arztes zu erfüllen und unserem armen Freund 659 die Kräfte zu geben, deren er so sehr bedarf für die schwere Stunde, die seiner wartet.«

Er schüttete zwei von den Pulvern, welche der Arzt zurückgelassen, in ein Glas mit etwas Wasser, – Gabriele reichte das Glas Herrn von Rothenstein, der mit dankbarem, glücklichem Lächeln dessen Inhalt trank.

»Jetzt müssen Sie Ruhe haben,« sagte Graf Franz, – »Gabriele, auch du bedarfst der Stärkung, – begleite mich, – ein Gang in frischer Luft wird dir wohl tun.«

»Ja,« sagte Herr von Rothenstein, – »gehen Sie, – das Glück läßt nicht schlafen – und Ihre Gegenwart ist das Glück!«

»Aber er kann doch nicht allein –« sprach Gabriele zögernd.

»Ich werde einen der Wärter rufen«, erwiderte Graf Franz.

»Lassen Sie mich hierbleiben,« sagte der Pater ruhig und kalt, – »es ist ja nur nötig, den Schlaf zu überwachen, – es handelt sich um keine besondere Pflege, – und das werde ich ja verstehen.«

Wie erschrocken blickte Gabriele auf, – Herr von Rothenstein winkte mit der Hand, Graf Franz führte sie hinaus, – der Pater ging in das Nebenzimmer, – Herr von Rothenstein ließ den Kopf in die Kissen sinken und schloß die Augen.

Als der Pater allein war, verschwand die kalte Ruhe aus seinen Zügen und aus seiner Haltung. Alle Dämonen des Hasses und der Rache schienen in den Flammen zu leben, die aus seinen Blicken sprühten, er faßte mit wildem Griff das Fenstersims und starrte in den Garten hinaus.

Einzelne unartikulierte Laute, abgerissene Worte drangen rauh aus seiner schwer arbeitenden Brust.

Endlich schien er Herr des Sturmes zu werden, der in seinem Innern tobte, er ließ sich langsam auf einen Stuhl sinken, und die Arme über die Brust gekreuzt, saß er lange in düsterem Nachdenken da.

»So ist denn das einzige Glück, das ich mir in der Stille bereitete, zerstört,« sprach er mit dumpfem Ton, – »dies Glück, nach dem die Sehnsucht meiner Seele lechzte, – dies 660 Wesen mir entrissen, das ich für mich erzogen und gebildet, – das ich mein glaubte –

»Und warum? – weil dieser Verhaßte, dem die Welt alles geboten, was sie an Reichtum und Glanz bietet, seine Hand ausstreckt nach meiner Blume, deren berauschenden Duft ich langsam einsog, die in glühender Herrlichkeit an meinem Herzen erblühen sollte!«

»Und was hindert mich,« sprach er, sich erhebend, mit heiserer Stimme, »diesen Feind, der in mein Eigentum einbricht, zu erwürgen? – Er ist in meine Hand gegeben, – ein Druck dieser Finger und er ist nicht mehr, – und ich nehme ihm weniger, als er mir rauben will, – ich nehme ihm das Leben, – er will mir das Glück stehlen, das ich mir selbst herangezogen!«

Die Hände ausgestreckt, in zitternder Aufregung, wilde Leidenschaft in den zuckenden Zügen seines Gesichts, ging er dem Nebenzimmer zu.

Der Verwundete lag in tiefem Schlaf, – ruhige, tiefe Atemzüge drangen aus seinem Munde, sanfter, stiller Frieden lag auf seinem Gesicht. Langsam trat der Pater auf das Bett zu, – seine Augen schleuderten Blitze, die Finger seiner Hand spannten sich nach dem Verwundeten hin.

Plötzlich stand er still, – sein Blick fiel auf die Pulver auf dem Tisch, – die flammende Leidenschaft verschwand aus seinem Gesicht, ein stilles, unbeschreibliches Lächeln spielte um seinen Mund.

»Und was würde ich erreichen?« flüsterte er, »wenn ich diesen halbzerstörten Leib vollends vernichtete? Würde ich wiedergewinnen, was er mir geraubt? – würde man nicht meine Tat entdecken, – würde man mich nicht wie ein Wild des Feldes hetzen und verfolgen bis zum Tode?«

»Nein, nein – ihn will ich seinem Schicksal überlassen, – den Messern der Ärzte, – die ihn kaum werden retten können, – aber die Blüte, die ich mir erzog, – wenn ich mich ihres Duftes nicht erfreuen soll in ruhigem, sicherem Glück, – ich will sie brechen in glühender Wonne des Augenblicks, – mein soll sie sein, trotz aller Mächte des Himmels und der Hölle, – und später,« sprach er sinnend, indem das Lächeln seiner Lippen immer entsetzlicher in seinem finstern, 661 triumphierenden Ausdruck wurde, – »später, – wenn er stirbt, – oder auch nicht, – wenn sie einmal mein ist –«

Er versank einige Augenblicke in stilles Brüten.

Dann näherte er sich mit leisen Schritten dem Tisch am Bette des Kranken, nahm vier von den dort befindlichen Pulvern und kehrte in Gabrielens Zimmer zurück.

Er schüttete diese Pulver in die Wasserflasche, welche auf dem Nachttisch vor dem Bette des jungen Mädchens stand und deren Inhalt er zuvor zur Hälfte aus dem Fenster goß.

Er schüttelte die Flasche, – die Flüssigkeit blieb hell und klar.

»Nun seid mir günstig, ihr dunklen Mächte, die ihr die Welt regiert und so oft dem Schwachen Macht gebt über die Stolzen und Starken!« sagte er, indem er die Flasche wieder an ihren Platz stellte.

Dann setzte er sich vor das Fenster und erwartete ruhig die Rückkehr des Grafen Franz und seiner Schwester.

 


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