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Herr Charles Lenoir durchschritt ruhig und ohne anscheinend seine Umgebung zu beachten die dichten Menschenmassen, welche sich auf dem Karussellplatze hin und her bewegten und begab sich durch die Rue de Rivoli und über die Place de la Concorde nach dem Boulevard Malesherbes; dort trat er in das der Augustinerkirche gegenüberliegende große Eckhaus und stieg die breite und elegante Treppe nach der ersten Etage hinauf, wo noch immer die Frau Marchesa Pallanzoni ihre Wohnung hatte.
315 Herr Lenoir zog die Glocke und schnell wurde die Tür geöffnet, aber nicht mehr von einem jener eleganten Lakaien in hellblauer und silberner Livree, sondern von einem zierlichen Kammermädchen in weißer Schürze und weißem Häubchen, welche beim Anblick des Einlaß Begehrenden sogleich die Tür zu den inneren Räumen der Wohnung öffnete.
Herr Lenoir trat ein, ohne sich die Mühe zu geben, seinen Hut abzunehmen.
Es war alles im allgemeinen noch wie früher in diesen Räumen. Doch fehlte jener gewisse Schmelz der Eleganz und des Luxus, der dieselben früher ausgezeichnet hatte. Die Diwans und Lehnstühle standen noch auf demselben Platz, die schweren Gardinen hingen vor den Fenstern, aber man sah nicht mehr jene tausend Kleinigkeiten von antiker Bronze, Marmor und Gold, welche in ihrer äußeren Unscheinbarkeit als Gegenstände der Kunst und der Laune oft so enorme Werte repräsentieren. Man sah nicht mehr jene frischen exotischen Blumen, die sonst jeden Winkel des Gemachs ausfüllten, und von den Wänden waren die kostbaren Ölgemälde verschwunden.
Der Salon war derselbe und doch wehte aus demselben ein anderer Geist als früher. Wer sonst diese Räume betreten hatte, dem mußten sie jetzt den Eindruck machen wie eine altgewordene Schönheit, bei welcher man noch dasselbe Profil, dieselben Züge erblickt, welche aber den unnachahmlichen Reiz der Jugend und Eleganz verloren hat.
Herr Lenoir durchschritt den Salon und öffnete die Portiere nach dem Boudoir der Marchesa Pallanzoni, welches ebenfalls jener unscheinbaren Kleinigkeiten beraubte war, die zum intimsten Wohnraum einer Dame gehören, welche den Anspruch macht, der crême de la crême der eleganten Welt zugezählt zu werden.
Auf der Chaiselongue, welche den mit blauen Gardinen verhangenen Fenstern gegenüberstand, lag die Marchesa Pallanzoni. Die wunderbare Schönheit ihrer Züge hatte sich nicht verändert; ihr Teint war ebenso perlmutterweiß und durchsichtig wie früher; ihr reiches Haar glänzte in vollen Flechten ohne jede Nachhilfe; das Feuer ihrer großen, 316 mandelförmigen Augen war nicht ermattet, aber aus diesen Augen blickte statt des siegesgewissen Stolzes, der sie früher erleuchtete, eine finstere, trübe Resignation. Es war nicht die fromme Ergebung der von der Welt zurückgezogenen Magdalena, welche auf ihren fest zusammengepreßten Lippen lag, sondern der grimmige, höhnische Haß der Medea, welche der Welt, die ihr Unheil gebracht, sechsfaches Unheil zurückzugeben entschlossen ist.
Sie trug ein Hauskleid von dunkler Seide, elegant und geschmackvoll, aber nicht mehr von jener unbeschreiblichen Frische der Toiletten ihrer früheren Zeit, welche nur auf den Sonnenstrahl eines Tages berechnet waren wie die stets sich erneuenden Blütenkelche des Frühlings, – man sah ihrer Robe an, daß bei ihrer Bestellung auch daran gedacht war, daß einige Zeit vergehen müsse, ehe sie durch eine andere ersetzt werden könne.
Die Marchesa schlug kaum die Augen auf, als Herr Charles Lenoir in das Boudoir trat.
Auch hier hielt derselbe es nicht für nötig, seinen Hut abzunehmen. Er warf sich mit einer gewissen Nonchalance gleichgültig in einen Lehnstuhl, zog eine Zigarre aus seinem Etui und zündete dieselbe langsam und behaglich mittels eines kleinen Taschenfeuerzeugs an, ohne daß die Dame auf seine Gegenwart oder Beschäftigung zu achten schien.
»Es ist wieder etwas kahler bei dir geworden, meine liebe Toni,« sagte er, große Rauchwolken in die Luft blasend, indem er seine Blicke über die schmucklosen Wände und die leeren Etageren hingleiten ließ, –»wir gehen bergab,« fuhr er kopfschüttelnd fort, – »stark bergab, ebenso«, sagte er hohnlächelnd, »wie das Kaiserreich unseres allergnädigsten Souveräns Napoleons III. und seiner sehr schönen und sehr glänzenden kaiserlichen Gemahlin, welche von den größten Dummköpfen des Jahrhunderts umgeben sind, die nicht hören und nicht sehen wollen, sondern blindlings mit der Nase in der Luft dem Abgrund zustürmen!«
»Mögen sie in ihren Abgrund stürzen«, fuhr er nach einer augenblicklichen Pause fort, während die Marchesa fortwährend in unbeweglichem Schweigen auf ihrer Chaiselongue lag. »Wir wollen ihr Beispiel nicht nachahmen. 317 Wir müssen ein wenig darüber nachdenken, was wir zu tun haben, um unsere Lage zu verbessern und um nicht gezwungen zu werden, deine Salons schließlich vollständig zu degarnieren.«
Ein Blick voll Zorn und Verachtung aus dem rasch aufgeschlagenen Auge der Marchesa traf Herrn Lenoir, der sich weit in seinen Stuhl zurückgelehnt hatte und mit großer Geschicklichkeit kleine Ringelwolken von Tabaksrauch in die Luft blies.
»Ich bin sehr neugierig,« sagte sie mit kaltem, schneidendem Ton, »die Resultate deines Nachdenkens zu hören. Bis jetzt hast du nichts weiter verstanden, als, so oft du meinen Lebensweg durchkreuztest, mich von der Höhe herab in den Staub und Schmutz zu ziehen. Du wagst es,« fuhr sie fort, indem sie sich halb emporrichtete und wie im Ausbruch plötzlicher Erregung Blicke voll zorniger Leidenschaft auf ihn schleuderte, »du wagst es, in diesem Ton von der Verschlechterung meiner Lage zu sprechen, von der du doch wahrlich bisher nichts empfunden hast. Du bist es gewesen, der mich dahin gebracht hat, mit jenem Grafen Rivero zu brechen, der mir unerschöpflich reiche Geldquellen fließen ließ, der mir die ersten Kreise der höchsten Gesellschaft öffnete, und dem ich dienen konnte, indem ich die Fäden der Weltgeschicke verfolgte. Aus jener lichten, schönen und glänzenden Welt bin ich herabgesunken durch dich, dem ich nie wieder zu begegnen hoffte und den ich beim ersten Anblick hätte auf jede Gefahr hin in sein Nichts zurückschleudern sollen. Ich bin herabgesunken zu einem Werkzeug dieser kaiserlichen Polizei, welche nicht wie jener Meister, gegen dessen Herrschaft ich mich auflehnte, mit feiner und kräftiger Hand die großen Fragen des Weltlebens erfaßt, – welche zu herrschen glaubt, wenn sie in die kleinen und elenden Geheimnisse des niedrigen Lebens eindringt, welche«, fügte sie hinzu, indem sie mit dem Ausdruck unendlicher Verachtung die Achseln zuckte, »die Dienste, die man ihr leistet, ebenso elend und jämmerlich bezahlt als ihre Auffassung von dem Welt- und Völkerleben ist. Was ich empfunden und gelitten habe bei diesem tiefen Fall von so glänzender Höhe, das kannst du freilich nicht 318 verstehen und mitempfinden, – und du hast ja«, sagte sie mit bitterem Hohn, »auch keinen Grund dazu, deine Ansprüche sind ja befriedigt worden, und um sie befriedigen zu können, habe ich meine Equipage und alles, was das Leben reizvoll verschönt, hingegeben, habe ich mich verurteilen müssen zu einsamer Zurückgezogenheit von der Welt, die sich von mir abwendet, nachdem mein würdiger Gemahl, der Herr Marchese von Pallanzoni in Rom, mich öffentlich kompromittiert hat. Jetzt sind diese Ressourcen erschöpft und bald wird mir nichts mehr übrigbleiben, um deine rücksichtslosen Ansprüche zu befriedigen, als auch noch diese Wohnung aufzugeben, der ja schon jeder Schmuck genommen ist, die mich aber wenigstens noch an eine bessere Vergangenheit erinnert, und in die Welt hinauszuziehen, um mir weit von Paris und weit von dir ein neues Leben zu schaffen.«
Herr Lenoir hatte die leidenschaftlich erregten Worte der jungen Frau ruhig mit angehört. Er strich vorsichtig die Asche von seiner Zigarre und ließ dieselbe auf den zartgemusterten, aber bereits etwas verschossenen Teppich des Boudoirs fallen.
»Das wäre sehr töricht,« sagte er, indem er ein Bein über das andere schlug und die Spitze seines Stiefels betrachtete, »denn, wenn du Paris verlassen würdest, so würden ja die Quellen versiegen, aus denen du gegenwärtig schöpfst. Und außerdem«, fügte er mit scharfem, stechendem Blick hinzu, »würde man dir das auch nicht erlauben. Wer einmal dieser geheimnisvollen Macht gedient hat, den läßt sie nicht wieder frei, denn nur so ist sie seiner und dessen, was er weiß, sicher.«
»Und was wollte man tun, um mich zu halten,« rief die junge Frau, indem eine flammende Röte ihr Gesicht überzog, »bin ich nicht frei, zu gehen, wohin ich will, und zu tun, was ich will?«
»Nein,« sagte Herr Lenoir, »du vergißt, meine Liebe, daß du nicht ohne dasjenige bist, was man in den Bureaus der Polizei Antezedenzien nennt, und daß man es gewiß vorziehen würde, in diesen Antezedenzien zu forschen und auf Grund derselben die Hand auf dich zu legen, wenn du Miene machen solltest, den Zügel zu zerreißen, an welchem man dich heute leitet.«
319 Die junge Frau sprang auf und trat wie ein gereiztes Raubtier vor ihn hin.
»Das wagst du mir zu sagen,« rief sie, – »du, mit deiner Vergangenheit? – denkst du nicht daran, daß, wenn man jemals einen Schritt gegen mich täte, ich Macht genug hätte, um dich zunächst zu vernichten?«
Er schüttelte ruhig den Kopf.
»Du täuschest dich vollständig, mein Kind«, sagte er. »Was hat Herr Charles Lenoir, dem man hier vielen Dank für geleistete Dienste schuldig ist, mit der Marchesa Pallanzoni zu tun? Wer würde sich hier, wenn kein Interesse dazu vorliegt, mit der Frage beschäftigen wollen, ob Herr Charles Lenoir jemals in Verbindung mit einem längst verstorbenen Herrn Balzer gestanden habe, der das Unglück oder das Glück hatte, vor langer Zeit eine reizende Frau zu besitzen, welche dann Witwe wurde und einen weit entfernten italienischen Marchese heiratete, der«, fügte er hohnlachend hinzu, »allerdings in sehr rücksichtsloser Weise sich von ihr losgesagt und sie in eine ziemlich bedenkliche und zweifelhafte Lage gebracht hat. Es gab eine Zeit,« fuhr er fort, und seine tief eingesunkenen und gewöhnlich so matten und schlaffen Augen funkelten von triumphierender Bosheit, – »es gab eine Zeit, in welcher du und dein Graf Rivero Macht über mich hatten, als ihr mich aus dem Leben verschwinden lassen konntet, ohne daß ich imstande war, euch Widerstand zu leisten, – diese Zeit ist vorbei. Jener stolze und übermütige Graf ist fern, – die Grenzen Frankreichs sind ihm verschlossen, und du, mein Kind, – du bist klug genug, um das einzusehen, – du bist in meinen Händen, mehr als zu jener Zeit, da ich dein Herr und Gemahl war, dem du am Altar Gehorsam versprochen, – ein Versprechen, das du ebensowenig gehalten als irgendein anderes in deinem Leben.«
Sie machte eine Bewegung, als wolle sie sich, der gereizten Löwin gleich, auf ihn stürzen, – aber sie fühlte die Wahrheit seiner Worte. Schlaff fielen ihre Arme herab und langsam ließ sie sich wieder auf ihre Chaiselongue niedersinken.
»Ich sehe,« sagte Herr Lenoir, indem sein Blick mit grausamer Ruhe auf ihr haftete, »daß meine Toni noch immer 320 nicht den scharfen Verstand verloren hat, den ich stets an ihr bewundert. Da du nun aber einsiehst,« fuhr er dann fort, »daß du aus dem Kreise, in den du gebannt bist, nicht heraustreten kannst, so wirst du nun wohl, statt mir Szenen unnützer und unberechtigter Aufregung zu spielen, mit darin übereinstimmen, daß es viel vernünftiger ist, an die Notwendigkeit des Augenblicks zu denken und auf Mittel zu sinnen, um reichere Geldquellen flüssig zu machen. Denn«, fügte er hinzu, indem er abermals mit höhnischem Lachen über die kahlen Wände hinblickte, »unsere Hilfsfonds sind zu Ende und auch die Hauptgrundlage deiner jetzigen Existenz könnte bald zusammenbrechen. Wenn die kaiserlichen Staatskünstler so wie bisher weiter arbeiten, so möchte der Lorbeerkranz, mit dem der ruhmvolle Kaiser seine Stirn auf den Zwanzigfrankenstücken umwunden hat, bald herabfallen und wer weiß, ob die sehr verehrliche kaiserliche Polizei noch lange existiert und ihre geschickten Diener würdig wird belohnen können.«
In düsterer Verzweiflung blickte die Marchesa vor sich hin.
Der Zug abwehrenden Stolzes, welcher bis dahin auf ihrem Antlitz gelegen hatte, war vollständig verschwunden. Sie betrachtete eine Zeitlang in schweigendem Sinnen ihre Fingerspitzen, dann sagte sie mit traurigem Ton, indem sie einen matten Blick wie hilfesuchend auf Herrn Lenoir richtete:
»Aber was ist zu tun, um unsere Lage zu verbessern? Ich habe ja nur die eine Hilfsquelle. Der Bruch mit dem Grafen Rivero ist irreparabel.«
»Es könnte mir auch wahrlich nicht in den Sinn kommen,« fiel Herr Lenoir ein, »mit jenem törichten Phantasten mich wieder in Verbindung zu setzen, der dich,« fügte er mit einem gemeinen Lachen hinzu, »der dich ja auch von hier fortnehmen könnte und dich von der sanften Kette der Liebe und Abhängigkeit zu befreien imstande wäre, welche dich in diesem Augenblick an mich fesselt. Nein, nein, meine liebe Toni, ich hänge viel zu sehr an dir und an den Erinnerungen unserer Vergangenheit, als daß ich dich von mir lassen könnte. Du mußt hier bleiben und hier 321 müssen wir Mittel und Wege finden, um dieser Plünderung deiner so schönen Salons Einhalt zu tun und um dieselben wieder mit all jenen schönen Sachen zu füllen, welche so reizend aussehen und einen so guten Rückhalt für schlechte Zeiten bilden.
»Ich begreife übrigens nicht,« fuhr er fort, »wie meine gescheite und so welterfahrene frühere Frau und jetzige Freundin auch nur einen Augenblick in Verlegenheit darüber sein kann, wie wir die goldenen Fluten wieder in das versiegende Bett unseres Lebensstromes hineinlenken können. Ich bitte dich, sieh nur einmal in deinen Spiegel, den du, wie es scheint, seit langer Zeit vernachlässigt hast, und du wirst dich überzeugen, daß diese Augen heute noch schöner sind als damals, als ich dich kennen lernte und als du es so gut verstandest, mit den Herzen auch die Börsen zu deinen Füßen niedersinken zu lassen, – freilich waren es nur die Börsen kleiner Roués einer österreichischen Provinzialstadt, – das will nicht viel sagen, – während es sich hier um Größen der europäischen Aristokratie und der Finanzwelt handelt.«
»Nur du,« rief sie in zitternder Aufwallung, »nur du bist imstande, mir einen solchen Vorschlag zu machen, nur du bist niedrig genug, um aus dieser Quelle des Goldes die Hefe für dich schöpfen zu wollen. Niemals! Niemals!« rief sie.
Er saß einige Augenblicke schweigend vor ihr und betrachtete sie mit einem Blick, in dem die volle Sicherheit der Herrschaft über sein Opfer lag.
»Es wird wohl nötig sein,« sagte er, »daß du dich meiner Leitung unterwirfst, denn, wenn du meinen Ratschlägen nicht Folge leisten solltest, so könnte es gar leicht möglich sein, daß auch, wenn dies Kaiserreich durch ein Wunder noch bestehen bliebe, dennoch deine jetzige, gegen früher so spärliche Einnahmequelle versiegte. Auch könnte man leicht auf den Gedanken kommen, sich einer Person, die in so manche Geheimnisse eingeweiht worden ist, zu versichern, – und wäre diese Person auch so reizend, geistvoll und liebenswürdig wie die ausgezeichnete und vortreffliche Frau Marchesa von Pallanzoni.«
322 Die junge Frau erbleichte tief. Unruhige, widersprechende Gedanken schienen sich in ihrem Innern umherzuwälzen. Sie preßte ihre Hände so heftig gegeneinander, daß die Spitzen ihrer Nägel rote Male in ihre Haut drückten. Dann blickte sie, halb die Augen aufschlagend, durch ihre lang herabhängenden Wimpern zu Herrn Lenoir hinüber und sprach mit kaltem und ruhigem Ton:
»Deinen Ratschlägen Folge zu leisten, sagst du, – – und wenn ich es wollte, – welche Ratschläge hast du mir gegeben? Du hast mir einmal eine kleine, geckenhafte und lächerliche Persönlichkeit gezeigt, einen Menschen mit einem Lorgnon im Auge und in ziemlich verkommener Toilette, der mich seit langer Zeit auf eine ziemlich aufdringliche und unverschämte Weise verfolgt. Du hast mir gesagt, daß ich seine Annäherung nicht so scharf hätte zurückweisen sollen wie ich dies getan, – ist es dieser etwa,« fuhr sie mit forschendem Blick und spöttischem Lächeln fort, »der unsere Lage zu verbessern imstande wäre und der mir mit seinem Herzen Haufen Goldes zu Füßen zu legen vermöchte?«
»Du sprichst von Raoul Rigault,« sagte Herr Lenoir achselzuckend. »Nein, er ist es nicht, der heute diese Salons wieder mit Bronzen, Bildern und Majoliken füllen und die schönen Pferde in deine Ställe zuückführen kann, ihn meine ich nicht. Aber darum«, fuhr er fort, »ist er doch ein Mensch, den man nicht zurückstoßen sollte. Wir leben in merkwürdigen Zeiten, wunderbare Umwandlungen können sich schnell vollziehen, und dann kann dieser kleine Raoul Rigault, der heute ein Zwanzigfrankstück für ein Vermögen ansieht, eine Person werden, von der das Schicksal Frankreichs abhängt und in dessen Händen Millionen zusammenfließen. Alles ist heute möglich, und dieser junge Mensch ist eine Zukunft, die man sich konservieren müßte, – ich weiß,« sagte er mit einem gewissen Selbstgefühl, »wer er ist und was er werden kann, wenn die heutige Gesellschaft einmal gründlich zusammenbricht. Und das kann gar bald geschehen, wenn man da draußen diese unbesiegbare kaiserliche Armee noch einige Male schlägt, wie sie bisher geschlagen wurde.«
Die junge Frau war wieder in tiefes Nachdenken 323 versunken und schien kaum die Bemerkung des Herrn Lenoir zu hören.
»Doch das sind Fragen der Zukunft,« fuhr dieser fort, »in diesem Augenblick würde allerdings Herr Raoul Rigault nicht derjenige Verehrer sein, dem eine Dame von deiner Schönheit und Distinktion – und in deiner Lage – eine größere Annäherung erlauben möchte. Auch habe ich von ihm nicht sprechen wollen, aber es gibt doch wahrlich heute noch in Paris der jungen und liebenswürdigen Männer genug, welche imstande sind, einen unerschöpflichen Goldregen in deinen Schoß niederfallen zu lassen, wenn du ihnen nur dazu die Erlaubnis geben willst, und wenn dir«, fügte er lachend hinzu, »die jungen Männer zu beunruhigend und aufregend sind, so hast du auch unter den Älteren und Gesetzten die Wahl, wenn du nur willst, und vielleicht wird der goldene Regen, über den sie gebieten können, noch dichter und nachhaltiger sein.«
Sie antwortete nicht und blickte fortwährend schweigend und gedankenvoll vor sich nieder.
»Ich habe,« fuhr er fort, »dir hier eine Einladung gebracht, welche dich sofort in die Lage setzen wird, dasjenige zu finden, was uns not tut und dir die reichste und vollständigste Auswahl gewährt.«
Verwundert erhob die junge Frau den Kopf und blickte fragend und erwartungsvoll zu demjenigen hinüber, dessen Namen sie früher getragen und an dessen Seite sie die Tiefen des Lebens durchmessen hatte.
Herr Lenoir zog aus seiner Tasche eine glänzend glacierte Karte in großem Quadratformat mit goldenem Rande und goldener Schrift, welche einen starken Duft von Patschuli und Petivert ausströmte. Er reichte diese Karte der jungen Frau, welche sie schnell ergriff und mit fliegender Spannung ihre Augen darübergleiten ließ.
Mit zitternder Stimme las sie:
»Madame Cora Pearl bittet die Frau Marchesa Pallanzoni, heute abend um sieben Uhr bei ihr zu dinieren.«
Wie von einer Schlange gebissen, schnellte sie empor und schleuderte die Karte zur Erde.
324 »Das ist«, rief sie mit vor Zorn ersticktem Ton, »dein Rat? Das ist dein Ausweg? – So tief soll ich herabsteigen? Aus diesem schlammigen Abgrund soll ich das Gold schöpfen, dessen du noch mehr bedarfst, als ich!«
Mit kaltem Hohnlächeln zuckte er die Achseln.
»So tief herabsteigen?« fragte er, – »ich glaube, die Soupers, welche du besuchtest, als ich die Freude hatte, dich kennen zu lernen, vereinigten eine weit weniger elegante, weit weniger gewählte und vor allen Dingen weit weniger reiche Gesellschaft, als du sie in den Salons der Madame Cora Pearl zu finden gewiß bist.«
»Damals,« sagte sie, immer noch zitternd vor Aufregung, – »damals, – oh, das war etwas anderes, damals stand ich selbst noch in jener Tiefe, – in welcher ich dich kennen lernte«, fügte sie mit unaussprechlicher Verachtung hinzu. »Damals war ich noch nicht hinaufgestiegen in die lichten Höhen der Welt, damals war ich noch nicht die Marchesa Pallanzoni, die in den Tuilerien empfangen worden und die der ganzen Welt von Paris als unerreichbares Vorbild diente –«
»Und der heute«, fiel er ein, »von ihrem würdigen Herrn Gemahl, – ich meine nicht mich, sondern jenen Herrn Marchese Pallanzoni –, der strahlende Nimbus, mit dem sie sich umgeben hatte, entzogen worden ist, – deren Fuß die Tuilerien nicht mehr betreten wird, und die, wenn sie frische Luft schöpfen will, im bescheidenen Fiaker durch das Bois de Boulogne fahren muß, das sie einst, gezogen von den berühmten Pferden der Madame Musard, durchflog.«
Sie preßte die Hände vor die Stirn, als wollte sie die wild in ihrem Kopf arbeitenden Gedanken zusammenhalten und ordnen.
»Wozu übrigens«, fuhr Herr Lenoir ruhig fort, »die lange Erörterung? Mein Entschluß ist gefaßt, er ist notwendig, und ich verlange, daß du meinem Willen gehorchst, was du auch ohne allen Zweifel tun wirst, denn du bist zu klug, um die Richtigkeit dessen, was ich dir sage, nicht einzusehen. Ich habe für dich gehandelt, ich habe dieser Dame« – er hob langsam die vor ihm liegende Karte wieder auf – »deinen Wunsch ausgesprochen, daß du sie 325 kennen zu lernen wünschest, und sie ist deinem Wunsche durch diese Einladung bereitwilligst entgegengekommen. Du darfst mich nicht kompromittieren –«
Sie zuckte mit einem Lächeln höhnischer Verachtung die Achseln.
»Du wirst«, fuhr er, ohne diese Bewegung zu beachten, fort, »diese Einladung annehmen, die dir Gelegenheit geben wird, den Herrn Grafen Rivero vollkommen ausreichend zu ersetzen.«
»Und wenn ich es nicht tue?« fragte sie kalt und schneidend.
»Wenn du es nicht tust,« erwiderte er in demselben Ton, »so wird morgen auch die letzte Quelle, aus welcher du bisher geschöpft, versiegen, und ich meinesteils werde dich deinem Schicksal überlassen, denn ich kann nicht meine Verbindungen mit einer Frau fortsetzen, welche töricht genug ist, die reichen Hilfsquellen, welche ihr zu Gebote stehen, nicht zu benützen. Das ist mein letztes Wort«, sagte er hart und rauh. »Gib mir deine Antwort. Darf ich Madame Pearl sagen, daß sie dich erwarten kann?«
Sie stand einige Augenblicke, die Hände auf die Brust gedrückt, starr und unbeweglich da. Marmorne Ruhe lag auf ihrem Gesicht, aber ihr ganzer Körper bebte vor innerer Erregung.
»Ich werde hingehen«, sagte sie, ohne aufzublicken, ohne eine Bewegung zu machen. »Doch nun laß mich allein, ich habe meine Vorbereitungen zu treffen.«
»Ich wußte es ja,« rief er mit heiterem Ton, »daß meine kluge Toni nicht in törichtem Eigensinn Glück und Lebenslust von sich weisen würde, wenn sie nur nötig hat, die schönen Spitzen ihrer Finger danach auszustrecken.«
Und mit einer gewissen gemeinen Vertraulichkeit ergriff er ihre Hand und führte sie an die Lippen.
Sie ließ es ruhig geschehen und winkte ihm schweigend, hinauszugehen.
»Auf Wiedersehen morgen,« sagte er, seinen Hut ergreifend, »ich werde kommen, um zu sehen, was meine schöne Freundin aus dem Fischzug erbeutet hat, zu welchem ich ihr das Netz in die Hand gegeben.«
Mit einer Verbeugung voll plumpen Hohnes verließ er das Zimmer. 326