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Unter Cannon versteht der Amerikaner eine tiefe Felsenschlucht. Das gibt sofort ein Bild des Ortes, den wir jetzt erreicht hatten. Die Bahn führte schon längst durch Echo-Cannon, aber der Schienenbau war nur ein provisorischer, und es gab bei Fertigstellung der Bahn so viele Schwierigkeiten zu überwinden, daß eine bedeutende Anzahl Arbeiter nötig war, diese zu überwältigen.
Eine kleine Seitenschlucht bot uns Gelegenheit, hinabzukommen, und als wir die Tiefe erreichten, trafen wir auch bereits auf die ersten Arbeiter, welche beschäftigt waren, einen Felsen zu sprengen. Sie blickten uns mit Verwunderung entgegen. Zwei fremde, bis an die Zähne bewaffnete Weiße mit einem Indianer an der Spitze, war für sie ein so besorgniserregender Anblick, daß sie die Werkzeuge weglegten und zu den Waffen griffen.
Ich winkte ihnen mit der Hand, ohne Furcht zu sein, und ritt im Galopp auf sie zu.
»Good day!« grüßte ich. »Legt die Büchsen weg. Wir sind Freunde!«
»Wer seid ihr?« fragte einer.
»Wir sind Jäger und kommen mit einer sehr wichtigen Botschaft zu euch. Wer führt hier in Echo-Cannon den Befehl?«
»Eigentlich Ingenieur Oberst Rudge. Weil dieser aber nicht da ist, so müßt Ihr Euch an Master Ohlers, den Zahlmeister, wenden.«
»Wo ist Colonel Rudge?«
»Er ist ausgezogen, einer Bande Railtroublers nach, welche einen Zug vernichtet hat.«
»Ah, also doch! Wo ist Master Ohlers zu finden?«
»Da vorn im Kamp, in der größten Hütte.«
Wir ritten in der angegebenen Richtung davon, und sie blickten uns wißbegierig nach. Nachdem wir fünf Minuten lang die Strecke verfolgt hatten, kamen wir an das Lager. Es bestand aus verschiedenen Blockhäusern und zwei aus rohen Steinen schnell und notdürftig aufgemauerten, lang gestreckten Häusern. Um das Ganze war eine Mauer gezogen, die nur aus lose übereinander gelegten Steinen bestand, trotzdem aber ziemlich fest war und eine Höhe von vielleicht fünf Fuß erreichte. Der Eingang, welcher aus einem stark gezimmerten Tore bestand, war offen.
Da ich keine Hütte bemerkte, so fragte ich einen der an der Schutzmauer beschäftigten Arbeiter nach dem Zahlmeister und wurde nach dem einen der steinernen Gebäude gewiesen. Es waren gar nicht viele Leute zu sehen, und diejenigen, welche ich bemerkte, waren beschäftigt, einen Transportwagen voller Schienen abzuladen.
Wir stiegen von den Pferden und traten in das Gebäude. Sein Inneres bestand aus einem einzigen Raume, in welchem zahlreiche Kisten, Fässer und Säcke lagerten, zum Zeichen, daß dies hier wohl die Proviant-Niederlage sei. Es war eine einzige Person anwesend, ein kleines, dürres Männchen, welches sich bei unserem Eintritte von einer der Kisten erhob.
»Was wollt Ihr?« fragte der Mann, mich erblickend, mit scharfer, dünner Stimme. Da aber sah er Winnetou und fuhr erschrocken zurück. »Ein Indsman! Alle guten Geister!«
»Fürchtet Euch nicht, Sir!« sagte ich. »Wir suchen Mr. Ohlers, den Zahlmeister.«
»Der bin ich,« antwortete er mit einem furchtsamen Blicke hinter seiner großen Stahlbrille hervor.
»Eigentlich gilt unser Besuch dem Colonel Rudge; da dieser aber nicht anwesend ist und Ihr seine Stelle vertretet, Sir, so erlaubt, daß wir Euch unser Anliegen mitteilen.«
»Redet!« sagte er mit einem sehnsüchtigen Blicke nach der Tür.
»Der Colonel ist einer Schar von Railtroublers nach?«
»Ja.«
»Wie viele Leute hat er mit?«
»Müßt Ihr das wissen?«
»Nun, notwendig ist es nicht. Wie viele Männer habt Ihr noch hier?«
»Müßt Ihr das auch wissen?«
Während dieser Frage rückte er immer mehr zur Seite.
»Jetzt noch nicht, eigentlich,« antwortete ich. »Wann ist der Oberst fort?«
»Müßt Ihr auch dieses wissen?« fragte er immer ängstlicher.
»Nun, ich werde Euch erklären, warum – –«
Ich hielt inne, denn ich hatte niemand mehr, zu dem ich sprechen konnte. Der kleine Master Ohlers war nämlich mit einigen ganz unbeschreiblichen Angstsprüngen an uns vorüber und zum Eingange hinausgeflogen. Im nächsten Augenblicke warf er die Türe zu; die langen Eisenstangen klirrten; der Riegel in dem mächtigen Vorlegeschlosse schrillte – wir waren gefangen.
Ich drehte mich um und blickte die beiden Gefährten an. Der ernste Winnetou zeigte seine prachtvollen Elfenbeinzähne; der dicke Fred zog ein Gesicht, als ob er Zucker und Alaun verschluckt hätte, und ich – lachte laut und herzlich auf über die nette Überraschung.
»Gefangen, aber nicht Isolierhaft!« rief Walker. »Das Männchen hält uns für Spitzbuben!«
Draußen erscholl der laute Ton einer Signalpfeife, und als ich an die schießschartenartige Fensteröffnung trat, sah ich die draußen beschäftigten Arbeiter zum Tore hereinspringen, welches sogleich geschlossen wurde. Ich zählte sechzehn Mann. Sie standen mit dem Zahlmeister draußen an der Umfassungsmauer und schienen ihre Instruktionen zu erhalten; dann zerstreuten sie sich in den einzelnen Blockhütten, jedenfalls, um ihre Gewehre zu holen.
»Die Exekution wird bald beginnen,« meldete ich den Andern. »Was tun wir bis dahin?«
»Wir stecken uns eine Zigarre an,« meinte Fred.
Er langte nach einem geöffneten Zigarrenkistchen, welches auf einem der Ballen stand, nahm eine Zigarre heraus und brannte sie an. Ich folgte seinem Beispiele; Winnetou aber tat es nicht.
Bald darauf wurde die Tür vorsichtig geöffnet, und die dünne Stimme des Zahlmeisters ermahnte uns bereits von draußen:
»Schießt nicht, ihr Halunken, sonst erschießen wir euch!«
Er trat an der Spitze seiner Leute ein, welche mit bereit gehaltenen Gewehren an der Tür postiert blieben, während er sich hinter ein mächtiges Faß stellte und von diesem verschanzten Lager aus uns drohend seine lange Vogelflinte zeigte.
»Wer seid ihr?« fragte er mit zuversichtlicher Stimme, da er sich unter dem Schutze seiner Leute und des Fasses für unangreifbar hielt.
»Dummheit!« lachte Walker. »Vorhin nanntet Ihr uns Halunken, und jetzt fragt Ihr uns, wer wir sind. Geht hinter Eurem Fasse vor, dann werden wir mit Euch reden!«
»Fällt mir nicht ein! Also, wer seid ihr?«
»Prairiejäger.«
Da Walker die Antworten übernehmen zu wollen schien, so verhielt ich mich schweigend.
Der Zahlmeister fragte weiter:
»Wie ist euer Name?«
»Tut nichts zur Sache!«
»Also renitent! Ich werde euch noch die Zunge lösen; darauf könnt ihr euch verlassen! Was wollt ihr hier in Echo-Cannon?«
»Euch warnen.«
»Warnen? – Ah! – Vor wem?«
»Vor den Indsmen und Railtroublers, welche Echo-Cannon überfallen wollen.«
»Pshaw, macht euch nicht lächerlich! Ihr gehört zu den Railtroublers und wollt uns überlisten. Aber da kommt ihr an die Rechten!« Und sich an seine Leute wendend, befahl er: »Nehmt sie gefangen und bindet sie!«
»Wartet noch ein Weilchen!« meinte Fred.
Er langte in die Tasche. Ich ahnte, daß er sein Legitimationszeichen als Detektive vorzeigen wolle, und sagte zu ihm:
»Das ist nicht notwendig, Fred. Laßt das Ding stecken! Wir wollen doch einmal sehen, ob siebzehn Railroader es wagen werden, drei richtige Westmänner anzugreifen. Wer nur einen Finger gegen uns zuckt, der ist eine Leiche.«
Ich machte die grimmigste Miene, die mir möglich war, warf die Büchse über den Rücken, nahm in jede Hand einen Revolver und schritt dem Eingange zu. Winnetou und Walker folgten. Einen Augenblick nach dieser Demonstration war der tapfere Zahlmeister verschwunden; er hatte sich so tief wie möglich hinter dem Fasse niedergeduckt, und nur der gegen das Dach emporragende Lauf seiner Flinte gab den Ort an, wo Master Ohlers unter Umständen anzutreffen sei.
Was die Eisenbahner betraf, so schienen sie nicht die mindeste Lust zu haben, das Vorbild ihres Herrn und Meisters zu mißachten. Sie bildeten Spalier und ließen uns ganz ungehindert passieren.
Das also waren die Leute, welche den Ogellallah und Railtroublers widerstehen sollten! Das gab eine schlechte Perspektive auf die nächsten Tage.
Ich wandte mich jetzt um und sagte zu den Railroadern:
»Jetzt könnten wir euch einschließen, Mesch'schurs, aber wir wollen es nicht tun. Schafft den tapfern Master Ohlers heraus, damit wir es zu einer verständigen Rede bringen. Das ist notwendig, wenn ihr nicht von den Sioux ausgelöscht werden wollt!«
Nach einiger Anstrengung gelang es ihnen, den Kleinen an das Tageslicht zu expedieren, und nun erzählte ich ihnen alles, was geschehen war. Als ich geendet hatte, saß der Zahlmeister vor Angst kreideweiß auf dem Quadersteine, auf welchem er Platz genommen hatte, und sagte mit unsicherer Stimme:
»Sir, jetzt glaube ich Euch, denn es wurde uns erzählt, daß dort am Unglücksplatze zwei Männer ausgestiegen sind, um eine Lerche totzuschießen. Also dieser Gentleman ist Master Winnetou? Habe die Ehre, Sir!« Dabei machte er dem Apachen eine tiefe Verneigung. »Und der andere Gentleman ist Master Walker, den sie den dicken Walker nennen? Habe die Ehre, Sir! Und nun möchte ich auch Ihren Namen wissen!«
Ich nannte ihm denselben, natürlich meinen Geburts-, nicht aber meinen Prairienamen.
»Habe die Ehre, Sir,« sagte er, ebenfalls mit einer Verbeugung gegen mich. Dann fuhr er fort: »Also Ihr glaubt, daß der Colonel den Zettel gesehen hat und schleunigst kommen wird.«
»Ich vermute es.«
»Das würde mir lieb sein, außerordentlich lieb; Ihr könnt es mir glauben!«
Ich glaubte es ihm auch ohne Versicherung und Schwur. Er aber erklärte uns:
»Ich habe nur vierzig Mann zur Verfügung, von denen die meisten jetzt draußen auf der Strecke beschäftigt sind. Würde es nicht am besten sein, Echo-Cannon sofort vollständig zu räumen und uns auf die nächste Station zurückzuziehen?«
»Wo denkt Ihr hin, Sir! Seid Ihr ein Hase? Was sollen Eure Vorgesetzten von Euch denken! Es wäre ja sofort um Eure Stellung geschehen!«
»Wißt Ihr was, Sir? Mein Leben ist mir lieber als meine Stellung. Verstanden!«
»Ich glaube es Euch! Wie viele Leute hat der Oberst bei sich?«
»Gerade hundert und zwar die tapfersten.«
»Das merke ich!«
»Und wie viele Indsmen waren es?«
»Über zweihundert mit den Railtroublers.«
»O weh! Sie schießen uns in Grund und Boden! Ich kenne keine andere Hilfe als die Flucht!«
»Pshaw! Welches ist die bevölkertste Station von hier?«
»Promontory. Es werden dort jetzt gegen dreihundert Arbeiter sein.«
»So telegraphiert hin und laßt Euch hundert bewaffnete Männer schicken!«
Er sperrte den Mund auf und starrte mich an; dann sprang er empor, schlug die Hände freudig zusammen und rief:
»Wahrhaftig, daran hätte ich nicht gedacht!«
»Ja, Ihr seid ein ganz gewaltiges, strategisches Genie, wie es scheint! Die Leute mögen Proviant und Munition mitbringen, wenn es Euch daran fehlen sollte. Und merkt Euch die Hauptsache: es muß alles so geheim wie möglich gehen, da sonst die roten Späher merken, daß sie verraten sind. Telegraphiert das mit! Wie weit ist es denn von hier bis Promontory?«
»Einundneunzig Meilen.«
»Wird eine Maschine mit Wagen dort sein?«
»Stets.«
»Gut, so können, wenn Ihr jetzt telegraphiert, die Hilfsmannschaften bereits morgen vor Tagesanbruch hier eintreffen. Morgen abend werden wohl die Späher kommen; bis dahin haben wir Zeit, den Kamp noch mehr zu befestigen. Laßt jetzt Eure vierzig Mann zusammengreifen, um die Umfassungsmauer um drei Fuß zu erhöhen! Die Leute von Promontory werden morgen mithelfen. Sie muß so hoch werden, daß die Indsmen nicht hereinsehen und bemerken können, wie viele Männer hier anwesend sind.«
»Sie werden es vom Berge aus sehen, Sir!«
»Sie werden es nicht sehen. Ich werde den Spionen der Ogellallah entgegenziehen und Euch, sobald ich sie bemerke, ein Zeichen geben. Dann verstecken sich Eure Leute in die Blockhäuser, und die Indsmen werden glauben, daß sie es nur mit Wenigen zu tun haben. Noch heut schlagen wir rundum an der Innenseite der Umfassungsmauer Pfähle in die Erde und nageln Bretter oder Bohlen darauf. So entstehen Bänke, auf welche sich beim Überfalle unsere Leute stellen, um über die Mauer hinausschießen zu können. Wenn ich richtig vermute, so ist der Colonel bereits morgen um die Mittagszeit hier. Dann sind wir mit den Leuten von Promontory über zweihundertvierzig Mann gegen zweihundert Feinde. Wir stehen hinter der Mauer gedeckt; die Roten aber haben keine Deckung und erwarten keine Gegenwehr; es wäre also eine Unglaublichkeit, wenn wir sie nicht gleich mit der ersten Salve so heimschicken, daß sie das Wiederkommen vergessen.«
»Und dann verfolgen wir sie!« jubelte der kleine Mann ganz begeistert, denn meine Anordnungen hatten ihm ungeheure Courage gemacht.
»Das wird sich finden! Jetzt aber sputet Euch! Ihr habt dreierlei zu tun: uns einen Imbiß nebst Nachtlager zu besorgen, nach Promontory zu telegraphieren und Eure Leute zum Bau der Mauer anzustellen.«
»Soll geschehen, Sir, sofort! Es wird mir gar nicht einfallen, vor den Roten auszureißen. Und was Euch betrifft, so sollt Ihr ein Souper haben, ein Abendessen, mit dem Ihr zufrieden seid. Ich bin nämlich selbst Koch gewesen. Verstanden?«
Es läßt sich in kurzem sagen, daß alles so geschah, wie ich es vorgeschlagen hatte. Unsere Pferde bekamen ein gutes Futter und wir ein gutes Essen. Master Ohlers schien wirklich mit dem Küchenlöffel bewanderter zu sein, als mit der Vogelflinte. Die Leute arbeiteten wie die Riesen an der Erhöhung der Mauer. Sie gönnten sich selbst während der Nacht keine Ruhe, und als ich am frühen Morgen vom Schlafe erwachte und nach der Arbeit sah, erstaunte ich über den Fortschritt, den sie gemacht hatte.
Ohlers hatte mit dem hier anhaltenden Nachtzuge mündliche Nachrichten nach Promontory geschickt, doch war schon seine Depesche berücksichtigt worden, denn zwar nicht bereits während der Nacht, sondern am frühen Vormittage noch traf ein Zug ein, welcher die verlangten hundert Männer brachte und mit ihnen alles, was an Waffen, Munition und Proviant notwendig war.
Diese Leute machten sich sogleich an die Arbeit, so daß die Mauer bereits am Mittag vollendet war. Auf meine Anregung wurden auch sämtliche vorhandenen leeren Fässer mit Wasser gefüllt und hinter die Einfassung geschafft. So viele Leute wollten trinken, und man konnte ja nicht wissen, ob man nicht eine kleine Belagerung auszuhalten oder ein Feuer zu löschen haben würde.
Die Nachbarstationen waren benachrichtigt worden, doch sollten die Züge wie gewöhnlich expediert werden, um die Feinde nicht aufmerksam zu machen.
Nach dem Mittagessen verließen wir drei, Winnetou, Walker und ich, den Cannon, um nach den Spähern auszublicken. Wir hatten diesen Dienst übernommen, weil wir uns am liebsten auf uns selbst verließen; auch hatte sich von den Railroadern keiner zu dem gefahrvollen Gange gemeldet. Es wurde ausgemacht, daß im Cannon ein Sprengschuß getan werden solle, sobald einer von uns dreien mit der Meldung zurückkehre, daß er die Spione gesehen habe.
Wir mußten uns nämlich teilen. Die Indsmen kamen jedenfalls von Norden, und da gab es nach der Aussage des Zahlmeisters drei Richtungen, aus denen sie sich nähern konnten. Ich hatte die westliche Prairie übernommen, Winnetou die mittlere und Walker die östlichste, so daß er denselben Weg zu überwachen hatte, auf welchem wir selbst nach dem Cannon gekommen waren.
Ich klomm die steilen Felswände empor, trat oben in den Urwald ein und hielt mich dann am Rande einer Seitenschlucht immer nach Norden zu. Nach ungefähr dreiviertel Stunden erreichte ich einen Ort, der für mein Vorhaben wie geschaffen schien. Auf der Kuppe des Urwaldes stand eine riesige Steineiche und neben ihr eine schlanke Tanne. Ich kletterte an der letzteren empor und gelangte dadurch auf einen starken Ast der Eiche, hier war deren Stamm dünn genug zum Klettern, und ich turnte mich nun an ihr so weit empor, als es möglich war.
Das frische, volle Laub der Krone verbarg mich so vollständig, daß ich von unten gar nicht bemerkt werden konnte; vor meinem Blicke aber lag die Gegend so klar und offen da, daß ich alle lichten Grasstellen und das Gipfelmeer des Waldes weithin übersehen konnte. Ich machte es mir so bequem wie möglich und hielt dann scharfe Wacht.
Stundenlang saß ich da oben, ohne etwas Auffälliges zu bemerken, aber das durfte meine Wachsamkeit nicht ermüden. Endlich sah ich im Norden vor mir eine Schar Rabenkrähen sich von den Baumwipfeln erheben. Das konnte aus Zufall geschehen sein; aber die Vögel erhoben sich nicht in geschlossener Schar, um sofort einer bestimmten Richtung zuzufliegen, sondern sie ›streuten‹ in die Lüfte empor, kreisten einige Minuten wie ratlos über den Wipfeln und ließen sich dann eine Strecke davon vorsichtig auf die Bäume, wieder nieder. Sie mußten aufgestört worden sein.
In kurzer Zeit wiederholte sich dasselbe Spiel und dann zum dritten- und viertenmal. Es war klar: es kam irgend ein Wesen, vor dem die Krähen sich fürchteten, von Norden her durch den Wald geschlichen, und zwar so ziemlich in gerader Richtung auf meinen Standort zu. Ich kletterte so eilig wie möglich nieder und pirschte mich vorsichtig auf die Gegend zu, vorsichtig immer meine Fährte zerstörend.
Dabei erreichte ich ein ganz undurchdringlich erscheinendes Buchendickicht, in welches ich mich hineinarbeitete. Hier legte ich mich zur Erde nieder und wartete. Nicht lange, so kam es geschlichen, nicht hörbar, sondern lautlos wie Gespenster; eins, zwei, drei, fünf, sechs Indianer schritten an meinem Versteck vorüber, einer nach dem andern. Ihre Füße berührten nicht den kleinsten Teil eines abgebrochenen und zu Boden gefallenen Ästchens; das Knicken desselben hätte Geräusch verursacht.
Das waren die Späher. Sie trugen die Kriegsfarben.
Kaum waren sie vorüber, so huschte ich hervor. Es war klar, daß sie den dichtesten Wald aufsuchen würden; auch mußten sie jeden Schrittbreit untersuchen, ehe sie vorwärts drangen. Das hielt sie auf. Ich aber konnte den geraden Weg einschlagen, die lichtesten Stellen benutzen und ohne Sorge vor Entdeckung keimkehren. Ich mußte ihnen also einen bedeutenden Vorsprung abgewinnen. Im eiligsten Laufe kehrte ich zurück, und es war kaum eine Viertelstunde vergangen, so glitt ich die steile Wand des Cannons hinab und auf das Lager zu.
Da unten herrschte ein regeres Leben als vorher, und ich bemerkte sofort, daß neue Leute angekommen waren. Eben schritt ich über die Schienenstrecke, als ich zu meinem größten Erstaunen Winnetou bemerkte, welcher von der Höhe herabgeklettert kam. Ich erwartete ihn und fragte, als er herangekommen war:
»Mein roter Bruder kommt zu gleicher Zeit mit mir! Hat er etwas gesehen?«
»Winnetou kommt, weil er nicht mehr zu warten braucht,« antwortete er. »Mein Bruder Schar-lih hat ja die Späher entdeckt!«
»Ah! Woher weiß dies Winnetou?«
»Winnetou saß auf einem Baume und nahm sein Rohr zur Hand. Da erblickte er weit im Westen einen andern Baum. Das war die Gegend meines Bruders, und weil mein Bruder klug ist, so wußte Winnetou, daß er diesen Baum ersteigen werde. Dann nach langer Zeit erblickte Winnetou viel Punkte am Himmel. Das waren Vögel, welche vor den Spähern flohen. Mein Bruder mußte dies auch bemerken und nun die Späher beobachten. Darum kehrte der Häuptling der Apachen zum Lager zurück, denn die Späher sind da.«
Das war wieder einmal ein Beispiel von dem Scharfsinne dieses Indianers.
Bereits bevor wir den Kamp betraten, kam uns ein Mann entgegen, den ich vorher hier noch nicht gesehen hatte.
»Ah, Sir, Ihr kehrt von der Suche zurück?« fragte er. »Meine Leute sahen Euch vorn Felsen steigen und meldeten es mir. Meinen Namen kennt Ihr bereits. Ich bin Colonel Rudge und habe Euch großen Dank abzustatten.«
»Dazu hat es Zeit, Colonel,« antwortete ich. »Jetzt ist es vorerst notwendig, den Sprengschuß zu lösen, damit mein Kamerad gewarnt werde. Gebt dann auch Befehl, daß sich die Leute verbergen, denn bereits in einer Viertelstunde werden die Spione der Ogellallah von da oben herab das Lager beobachten.«
»Well, soll geschehen! Geht einstweilen herein; ich werde mich gleich wieder einstellen.«
Einige Augenblicke später erdröhnte der Schuß, der so stark war, daß Walker ihn jedenfalls hören mußte. Dann zogen sich die Arbeiter in die Blockhäuser und die andern Räumlichkeiten zurück, so daß nur einige wenige Leute zu bemerken waren, die sich scheinbar mit der gewöhnlichen Streckenarbeit beschäftigten.
Rudge suchte uns darauf im Vorratsraume auf.
»Nun, vor allen Dingen, was habt Ihr jetzt bemerkt, Sir?« fragte er mich.
»Sechs Ogellallah, welche die Spione sind.«
»Well! Wir werden dafür sorgen, daß sie sich täuschen! Hört, wir alle hier sind Euch den größten Dank schuldig, Sir, Euch und Euren Gefährten. Sagt, auf welche Weise wir Euch dankbar sein können!«
»Dadurch, daß Ihr gar nicht vom Danke redet, Sir. Habt Ihr meinen Zettel gefunden?«
»Allerdings.«
»Und seid auch meiner Warnung gefolgt?«
»Wir sind sogleich umgekehrt, sonst könnten wir ja noch nicht hier sein. Aber es scheint, als ob wir grad zur rechten Zeit hier angekommen seien. Wann denkt Ihr wohl, daß die Herren Ogellallah und Railtroublers kommen werden?«
»Sie werden uns in der morgenden Nacht angreifen.«
»So haben wir ja genugsam Muße, uns vorher richtig kennen zu lernen, Sir,« lachte er. »Kommt, bringt Euren roten Freund mit. Ihr sollt mir liebe Gäste sein!«
Er führte mich und Winnetou nach dem andern Steingebäude, welches in mehrere Abteilungen zerfiel. Die eine derselben bildete seine Wohnung, welche Raum genug für uns hatte. Oberst Rudge war eine kernhafte Natur, der ich es zutraute, daß er sich vor den Indsmen nicht fürchtete. Wir hatten sehr bald Vertrauen zu einander gewonnen, und auch Winnetou, dessen Name dem Obersten übrigens schon längst bekannt war, schien Wohlgefallen an ihm zu finden.
»Kommt, Mesch'schurs, wir wollen einer guten Flasche den Hals brechen, da wir es mit den Roten doch noch nicht tun können,« meinte der Ingenieur. »Macht es euch bequem, und denkt, daß ihr bei einem Schuldner wohnt. Wenn Euer Kamerad, der dicke Walker, kommt, soll er uns Gesellschaft leisten.«
Wir waren von jetzt an überzeugt, daß wir von dem Felsen herab beobachtet wurden, wir verhielten uns danach. Bald kehrte auch Fred zurück; er hatte nichts gesehen, aber den Signalschuß deutlich vernommen.
So lange es noch Tag war, gab es nichts zu tun, doch wurde uns die Zeit nicht lang. Rudge hatte viel erlebt und war ein guter Erzähler. Als dann der Abend hereinbrach und die Indsmen also nichts mehr sehen konnten, wurden die Befestigungen vollendet, und es freute mich dabei, daß der Colonel meinen Anordnungen seinen Beifall gegeben hatte.
So verging die Nacht, und so verging auch der nächste Tag. Es war Neumond, und der Abend senkte sich vollständig dunkel in die Schlucht herab. Dann aber begannen die Sterne zu glänzen und verbreiteten eine solche Helle, daß man einen ziemlich breiten Ring des sich um die Einfassungsmauer ziehenden Terrains leidlich überblicken konnte.
Ein jeder der vorhandenen Männer war mit einer Büchse und einem Messer versehen. Viele besaßen auch Revolver oder Terzerole. Da die Indianer ihre Angriffe gewöhnlich nach Mitternacht, kurz vor dem Morgengrauen unternehmen, so standen nur die wenigen Posten auf den Bänken, und die Andern lagen, sich leise unterhaltend, im Grase umher. Draußen regte sich kein Lüftchen; aber das war eine trügerische Ruhe, und als die Mitternacht gekommen war, erhoben sich die Ruhenden, griffen zu ihren Gewehren und nahmen die ihnen angewiesenen Plätze auf den Bänken ein. Ich stand mit Winnetou am Tore, den Henrystutzen in der Hand. Die Büchse hatte ich in der Wohnung gelassen, da der Stutzen hier besser am Platze war.
Wir hatten uns auf alle vier Seiten der Einfassung gleichmäßig verteilt, zweihundert und zehn Mann stark, denn dreißig Mann waren nach einem verborgenen Tale detachiert worden, um die dort in Sicherheit gebrachten Pferde zu beschützen.
Die Zeit schlich, wie von Schnecken getragen. Mancher mochte bereits denken, daß alle unsere Befürchtung vergeblich gewesen sei, da aber, horch! da erklang es, als sei ein Steinchen an eine der Eisenschienen gestoßen worden. Gleich darauf bemerkte ich jenes fast unhörbare Geräusch, welches ein Ungeübter für das Wehen eines ganz, ganz leisen Lüftchens halten würde – sie kamen!
»Aufgepaßt!« flüsterte ich meinem Nebenmanne zu.
Dieser gab das Wort leise weiter, so daß es im Verlaufe einer Minute die Runde machte. Unendlich flüchtige, geisterhafte Schatten huschten durch die Nacht, nach rechts, nach links, ohne daß dabei der geringste Laut zu hören war. Es bildete sich uns gegenüber eine Fronte, welche sich ausbreitete und nach und nach um das ganze Lager dehnte. Im nächsten Augenblicke mußte es beginnen.
Die Schatten näherten sich. Sie waren nur noch fünfzehn – zwölf – zehn – acht – sechs Schritte von der Mauer entfernt. Da erscholl eine laute, sonore Stimme durch die Nacht:
»Selkhi Ogellallah! Ntsagé sisi Winnetou natan Apaches! Shne ko – Tod den Ogellallah! Hier steht Winnetou, der Häuptling der Apachen! Gebt Feuer!«
Er erhob seine silberbeschlagene Büchse, und bei ihrem Blitze leuchtete es rund um den ganzen Kamp auf. Es waren in einem einzigen Augenblicke über zweihundert Schüsse gefallen. Nur ich allein hatte nicht geschossen; ich wollte die Wirkung unserer Salve abwarten, welche wie ein Gericht vom Himmel so plötzlich, so tödlich über die Feinde hereinbrach. Eine ganze, lange Minute herrschte die tiefste Stille, dann aber brach es los, jenes furchtbare Geheul, welches die Nerven zu zerreißen und die Knochen zu zermalmen droht. Das Unerwartete unserer Salve hatte den Wilden geradezu die Sprache geraubt, jetzt aber klang es wie aus den Mäulern von tausend Teufeln durch den Cannon.
»Nochmals Feuer!« kommandierte die Stimme des Obersten, welche man selbst durch das diabolische Geheul hindurch vernehmen konnte.
Eine zweite Salve krachte und dann rief Rudge:
»Hinaus, und mit den Kolben drauf!«
Im Nu waren die Männer über die Mauer hinaus. Wer von ihnen vorher noch bange gewesen war, der fühlte jetzt den Mut des Löwen in sich. Kein einziger Indsman hatte einen Versuch machen können, die Mauer zu ersteigen.
Ich blieb auf meinem Posten. Draußen entwickelte sich ein Rachekampf, der nicht lange anhalten konnte, denn die Reihen der Gegner waren so fürchterlich gelichtet, daß sie ihr Heil nur in der Flucht suchen konnten. Ich sah sie vorüberhuschen, die dunklen Gestalten – ah, das war ein Weißer! Wieder einer! Die Railtroublers hatten auf der andern Seite gestanden und flohen jetzt an mir vorüber.
Jetzt erst legte ich meinen Stutzen an. Fünfundzwanzigmal schießen zu können, ohne laden zu müssen, das war mir jetzt von Vorteil. Acht Schüsse gab ich ab, dann fand ich keine Ziele mehr. Die unverletzten Feinde waren geflohen; die Andern lagen am Boden oder versuchten, sich fortzuschleppen, aber es gelang ihnen nicht, denn sie wurden umstellt, und wer sich nicht ergab, der wurde niedergemacht.
Kurze Zeit später brannten zahlreiche Feuer draußen vor der Mauer, und man konnte die schauerliche Ernte sehen, welche der Tod in so kurzer Zeit gehalten hatte. Ich mochte nichts sehen, gar nichts. Ich wandte mich ab und ging nach der Wohnung des Colonels. Kaum hatte ich mich dort niedergesetzt, so trat auch Winnetou ein. Ich blickte ihm erstaunt entgegen.
»Mein roter Bruder kommt?« fragte ich. »Wo hat er die Skalpe seiner Feinde, der Sioux-Ogellallah?«
»Winnetou wird keinen Skalp mehr nehmen,« antwortete er. »Seit er die Musik vom Berge herab gehört hat, tötet er den Feind, aber läßt ihm die Haarlocke seines Hauptes. Howgh!«
»Wie viele hat der Apache getötet?«
»Winnetou zählt nicht wieder die Häupter der Gefallenen. Warum soll er zählen, da sein weißer Bruder keinen tötet!«
»Woher weißt du das?«
»Warum schwieg das Gewehr meines Freundes Schar-lih, bis die weißen Männer an ihm vorüberflohen? Und warum schoß er diese nur in das Bein? Nur diese allein hat Winnetou gezählt. Es sind ihrer acht. Sie liegen draußen und sind gefangen, denn sie konnten nicht entkommen.«
Diese Zahl stimmte; ich hatte also gut getroffen und meinen Zweck erreicht, einige der Railtroublers in unsere Hand zu bekommen. Vielleicht war Haller dabei. Vom Übrigen mochte ich nichts sehen, denn ich war ja ein Mensch und ein – – Christ!
Es dauerte nicht lange, so trat Walker herein.
»Charles, Winnetou, kommt heraus! Wir haben ihn!« rief er.
»Wen?« fragte ich.
»Haller.«
»Ah! Wer hat ihn gefangen?«
»Niemand. Er war verwundet und konnte nicht weiter. Es ist wunderbar! Es sind acht Railtroublers verwundet worden, und alle acht an derselben Stelle, nämlich am Beckenknochen, so daß sie sofort stürzten und liegen blieben.«
»Das ist allerdings eigentümlich, Fred!«
»Es hat sich nicht ein einziger verwundeter Ogellallah ergeben, aber diese acht Weißen haben um Pardon gebeten.«
»Sind ihre Wunden lebensgefährlich?«
»Man weiß es nicht; man hat noch keine Zeit zur Untersuchung gehabt. Warum sitzt Ihr hier? Kommt heraus! Es sind im allerhöchsten Falle nur achtzig Feinde entkommen!«
Das war fürchterlich! Aber hatten sie es besser verdient? Diese Menschen hatten heut eine Lehre erhalten, von welcher sicherlich noch in später Zeit erzählt wurde. Es gab Szenen, welche jeder Feder spotten, und als ich am frühen Morgen die Leichen hoch getürmt übereinandergeschichtet sah, da mußte ich mich fröstelnd abwenden, Ich mußte unwillkürlich an das Wort eines neueren Gelehrten denken, daß der Mensch das größte Raubtier sei.
Erst am Nachmittage kam per Bahn ein Arzt, welcher die Verwundeten untersuchte. Ich hörte, daß Haller nicht zu retten sei. Er selbst hatte bei der Erklärung, daß seine Wunde tödlich sei, nicht die mindeste Reue gezeigt. Walker war zugegen gewesen. Er kam zu mir hereingestürzt und rief mir mit erschrockenem Gesichte zu:
»Charles auf! Wir müssen fort!«
»Wohin?«
»Nach Helldorf-Settlement.«
Dieses Wort erschreckte mich.
»Warum?« fragte ich.
»Weil es von den Ogellallah überfallen wird.«
»Mein Gott! Ist's möglich! Woher wißt Ihr das, Fred?«
»Dieser Haller hat es gesagt. Ich saß bei ihm und sprach mit dem Colonel. Dabei erwähnte ich den Abend, welchen wir auf Helldorf-Settlement verlebten. Haller lachte höhnisch auf und meinte, daß wir einen solchen Abend dort wohl nicht wieder erleben würden. Und als ich in ihn drang, erfuhr ich, daß die Niederlassung überfallen werden soll.«
»Herr des Himmels, wenn dies wahr wäre! Fred, holt rasch Winnetou, und laßt unsere Pferde kommen. Ich will selbst zu Haller.«
Ich hatte diesen Menschen noch nicht wiedergesehen. Als ich in das Blockhaus trat, in welchem die verwundeten Gefangenen lagen, stand gerade der Colonel bei ihm. Er lag todesbleich auf einer blutigen Decke und stierte mich mit trotzigen Augen an.
»Ihr seid Rollins oder Haller?« fragte ich ihn.
»Was geht Euch das an!« antwortete er.
»Mehr als Ihr denkt!« meinte ich.
Ich konnte mir denken, daß ich auf eine direkte Erkundigung keine Auskunft erhalten werde; ich mußte es anders anfangen.
»Ich wüßte nicht! Packt Euch fort!« rief er.
»Es hat Keiner ein so großes Recht, Euch zu besuchen,« sagte ich. »Die Kugel, die Euch im Leben sitzt, ist von mir.«
Da wurden seine Augen größer; das Blut schoß ihm in das Gesicht, so daß die Narbe anschwoll, und er schrie:
»Hund, sagst du die Wahrheit?«
»Ja.«
Das, was er jetzt förmlich brüllte, ist nicht wiederzugeben, ich aber blieb scheinbar ruhig und sagte:
»Ich wollte Euch nur verwunden, und als ich hörte, daß Ihr sterben müßt, bedauerte ich Euch und machte mir Vorwürfe. Nun ich aber sehe, welch ein Bösewicht Ihr seid, kann ich ruhig sein. Ich habe der Welt einen Segen erwiesen, indem ich Euch verwundete. Ihr und Eure Ogellallah werden keinen Schaden mehr anrichten!«
»Meinst du?« fragte er, indem er mir seine langen Zähne wie ein gefangenes Raubtier entgegenfletschte. »Gehe doch einmal nach Helldorf-Settlement, he!«
»Pshaw! Das liegt sicher!«
»Sicher? Da gibt es keinen Stein mehr auf dem andern. Ich selbst habe diesen guten Ort ausgekundschaftet, und es war ausgemacht, daß erst Echo-Cannon und dann Helldorf-Settlement genommen werden soll. Hier ist es uns nicht gelungen, dort aber wird es desto besser gelingen, und die Settler werden mit tausend Martern büßen müssen, was Ihr hier an den Meinen und den Ogellallah verschuldet habt!«
»Gut, das wollte ich wissen! Haller, Ihr seid ein verstockter, aber auch ein sehr alberner Sünder. Wir werden jetzt nach Helldorf reiten, um zu retten, was zu retten ist. Und wenn die Settler von den Ogellallah vielleicht fortgeschleppt worden sind, so werden wir sie wieder holen. Dies hätten wir aber nicht gekonnt, wenn Ihr verschwiegen gewesen wäret.«
»Den Henker werdet Ihr wieder holen, aber keine Gefangenen!« rief er erbost.
Da hob sein Nachbar, ein Kamerad von ihm, der mich unausgesetzt angestiert hatte, den Kopf und sagte:
»Rollins, glaube es! Dieser wird sie wieder holen. Ich kenne ihn. Es ist Old Shatterhand!«
»Old Shatterhand!« rief der Angeredete. »All devils, also darum acht solche Schüsse! Nun, so will ich wünschen – – –«
Ich wandte mich schnell ab und ging; die Flüche dieses Bösewichts mochte ich nicht hören. Der Colonel folgte mir und sagte ganz erstaunt:
»Ist's wahr, Sir, daß Ihr Old Shatterhand seid?«
»Ja. Dieser Mann hat mich wohl einmal auf einem meiner Jagdzüge getroffen. Aber wißt Ihr, Colonel, Ihr müßt mir Leute geben. Ich muß fort nach Helldorf-Settlement.«
»Hm, mein werter Sir, das geht nicht. ich ginge gleich mit und nähme auch alle meine Leute mit; aber ich bin Bahnbeamter und habe meine Pflichten zu erfüllen.«
»Aber, Sir, sollen diese armen Settlers umkommen? Ihr könnt das bei Gott niemals verantworten!«
»Hört mich an, Sir! Ich darf meinen Posten nicht verlassen, außer dann, wenn es gilt, im Interesse desselben zu handeln. Ich darf auch meine Leute nicht kommandieren, Euch zu begleiten. Aber eins kann und will ich von Herzen gern tun: ich gebe Euch die Erlaubnis, mit meinen Leuten zu sprechen. Wer von ihnen aus der Arbeit treten und mit Euch gehen will, den werde ich nicht halten. Ein Pferd, Waffen und Munition nebst etwas Proviant soll er auch haben unter der Bedingung, daß ich die Pferde und Waffen später wieder erhalte.«
»Gut, ich danke Euch, Sir! Ich bin überzeugt, daß dies alles mögliche ist, was Ihr tun könnt. Nehmt es mir nicht übel, wenn ich jetzt keine Komplimente mache. Ich habe Eile. Kehren wir zurück, so soll alles Versäumte nachgeholt werden!«
Zwei Stunden später jagte ich mit Winnetou und Walker an der Spitze von einigen vierzig wohl bewaffneten Männern den Weg zurück, den wir vor so kurzer Zeit von Helldorf-Settlement her gekommen waren.
Winnetou sprach kein Wort, aber das Feuer, welches in seinen Augen glühte, sagte mehr als alle Worte. War diese junge Niederlassung wirklich überfallen worden, dann wehe den Tätern!
Es gab kein Aufhalten, selbst nicht während der Nacht; wir kannten ja den Weg. Ich glaube nicht, daß ich während des ganzen Rittes hundert Worte gesprochen habe.
Es war am andern Nachmittage, als wir auf dampfenden Pferden am Rande des Thalkessels anlangten, in welchem Helldorf-Settlement gestanden hatte. Sogleich der erste Blick belehrte uns, daß Haller uns nicht belogen hatte, und daß wir zu spät kamen. Die Blockhäuser bildeten nur noch rauchende Trümmerhaufen.
»Uff!« rief Winnetou und deutete nach der Höhe. »Der Sohn des guten Manitou ist fort. Ich werde diese Wölfe von Ogellallah zerreißen!«
Wahrhaftig, auch das Kapellchen war zerstört und verbrannt, und das Kruzifix hatte man von der Höhe herabgestürzt! Wir stürmten auf die Trümmer zu und sprangen von den Pferden. Hier hielt ich die Railroaders zurück, damit mir keine Fährte verdorben würde. Es war trotz alles Suchens nicht eine einzige Spur eines lebenden Wesens zu entdecken. Nun rief ich die Leute herbei. Sie mußten mir helfen, den rauchenden Schutt auseinander zu stöbern. Wir fanden keine menschlichen Überreste, und das war ein großer Trost.
Winnetou hatte, sobald er vom Pferde gestiegen war, sogleich den Abhang erklettert und kehrte jetzt zurück. Er trug das Glöckchen in der Hand.
»Der Häuptling der Apachen hat gefunden die Stimme aus der Höhe,« sagte er. »Er wird sie hier vergraben, bis er als Sieger zurückkehrt.«
Unterdessen suchte ich mit Walker in aller Eile die Ufer des Sees ab, um zu sehen, ob man die Settlers vielleicht ertränkt habe, fand aber, daß dies nicht geschehen sei. Eine genaue Forschung ergab, daß die Niederlassung mitten in der Nacht überfallen worden war; ein Kampf hatte wohl gar nicht stattgefunden; dann waren die Sieger mit ihrem Raube und den Gefangenen in der Richtung nach der Grenze von Idaho und Wyoming abgezogen.
»Hört, Männer, wir dürfen keinen Augenblick verlieren!« rief ich. »Wir können jetzt nicht ruhen; wir müssen der Fährte folgen, so lange wir sie erkennen können, und dann erst, wenn es Abend ist, werden wir Lager machen. Vorwärts!«
Mit diesen Worten bestieg ich den Schwarzschimmel wieder. Die Andern folgten. Der Apache ritt an der Spitze und verwendete keinen Blick von den Spuren der Verfolgten. Man hätte ihn wohl töten, aber nicht von dieser Fährte abbringen können, eine solche Erbitterung hatte sich seiner und unser aller bemächtigt. Wir waren vierzig gegen achtzig Mann, aber in einer solchen Stimmung zählt man die Gegner nicht.
Wir hatten noch volle drei Stunden Tageslicht und legten während dieser Zeit eine so große Strecke zurück, daß wir mit den ungewöhnlichen Leistungen unserer Pferde höchst zufrieden sein konnten. Dann gönnten wir ihnen die so wohlverdiente Ruhe.
Am andern Tage zeigte es sich, daß wir die Ogellallah drei Viertel einer Tagreise vor uns hatten, und später bemerkten wir, daß sie ihren Ritt während der ganzen Nacht fortgesetzt hatten. Der Grund zu dieser Eile ließ sich erraten. Winnetou hatte beim Überfalle seinen Namen in die finstere Nacht hinausgerufen; sie wußten, daß man sie verfolgen werde; sie wußten den Apachen hinter sich, und das war Grund, eilig zu sein.
Da unsere Pferde bis jetzt das beinahe Unmögliche geleistet hatten, so durften wir sie nicht gar zu sehr anstrengen; es kam ja alles darauf an, sie bei Kräften zu erhalten. Daher kam es, daß wir in den ersten beiden Tagen den Verfolgten nicht näher kamen.
»Die Zeit vergeht,« sagte Walker, »und wir werden zu spät kommen.«
»Wir kommen nicht zu spät,« antwortete ich ihm. »Die Gefangenen sind für den Marterpfahl aufgehoben, und dieses Schicksal werden sie erst dann haben, wenn die Ogellallah in ihren Dörfern angekommen sind.«
»Wo befinden sich die Dörfer jetzt?«
»Die Dörfer der Ogellallah sind jetzt droben im Quackingasp-Ridge,« antwortete Winnetou, »und wir werden diese Räuber noch viel eher erreichen.«
Am dritten Tage stießen wir auf ein ganz bedeutendes Hindernis: es teilte sich die Fährte. Die eine Hälfte lief grad nach Norden fort, und die andere ging nach dem Westen ab. Die erstere war die bedeutendere.
»Sie wollen uns aufhalten!« meinte Fred.
»Die weißen Männer mögen halten,« gebot Winnetou. »Die Spur darf von keinem Fuß berührt werden.«
Darauf gab er mir einen Wink, den ich sofort verstand. Ich sollte die grad fortlaufende, und er wollte die links abgehende Fährte beobachten. Wir ritten also Beide in den angegebenen Richtungen weiter; die Andern mußten warten.
Ich ritt wohl eine Viertelstunde weit. Die Zahl der Pferde, welche hier gegangen waren, war schwer zu bestimmen, da die einzelnen Tiere hintereinander her geschritten waren; aber aus der Tiefe und der Form der gemeinschaftlichen Hufeindrücke konnte ich schließen, daß es nicht viel über zwanzig gewesen seien. Während dieser Untersuchung bemerkte ich im Sande einige dunkle, kleine, runde Flecken, daneben zu beiden Seiten eine eigentümliche Schichtung der trockenen Sandkörner, und vor diesen Zeichen sah die Stelle aus, als sei mit einem breiten Gegenstand auf dem Sande hin und her gerieben worden. Ich kehrte sofort im Galopp um und fand Winnetou bereits meiner wartend.
»Was hat mein Bruder gesehen?« fragte ich ihn.
»Nichts als die Fährte von Reitern.«
»Vorwärts!«
Mit diesen Worten wandte ich mich wieder um und eilte voran.
»Uff!« rief der Apache.
Er wunderte sich über meine Sicherheit und merkte aus derselben, daß ich einen untrüglichen Beweis gefunden haben müsse, daß die Gefangenen in dieser Richtung fortgeschleppt worden seien. Als ich die Stelle erreichte, hielt ich an und fragte den Dicken:
»Master Walker, Ihr seid ein guter Westmann. Seht Euch einmal diese Spur an, und sagt mir, was sie zu bedeuten hat!«
»Spur?« fragte er. »Wo?«
»Hier!«
»Ah! Was soll denn das für eine Spur sein! Hier ist der Wind über den Sand gegangen!«
»Schön! Er wird auch wohl noch öfters darüber gehen. Ich wette mit Euch, um was Ihr wollt, daß Winnetou von diesen beinahe ganz unsichtbaren Zeichen ganz dieselbe Ansicht haben wird wie ich. Mein roter Bruder mag sie sich betrachten!«
Der Apache stieg ab, bückte sich, warf einen langen, forschenden Blick auf die Stelle und sagte:
»Mein Bruder Schar-lih hat den richtigen Weg gewählt, denn hier sind die Gefangenen geritten.«
»Woher will man dies sehen?« fragte Fred halb ungläubig und halb ärgerlich darüber, daß er nicht scharfsinnig genug war, das Richtige zu treffen.
»Mein Bruder blicke genau her!« sagte Winnetou. »Diese Tropfen sind Blut; rechts und links davon lagen die Hände und nach vorn der Leib eines Kindes – – –«
»Welches,« fiel ich ein, »vom Pferde fiel, so daß ihm die Nase blutete!«
»Ah!« rief der Dicke.
»O, das ist nicht schwer zu sehen! Aber ich wette, es kommt noch etwas Anderes, was uns viel größere Mühe machen wird. Vorwärts!«
Ich hatte recht. Wir hatten den Weg kaum zehn Minuten fortgesetzt, so kamen wir an eine felsige Stelle, und von da an hörten alle Spuren auf.
Die Andern mußten halten bleiben, um uns das Suchen nicht zu erschweren, und es dauerte gar nicht lange, so stieß der Apache einen freudigen Ruf aus und brachte mir einen starken gelb gefärbten Faden.
»Was sagt Ihr dazu, Fred?« fragte ich.
»Dieser Faden stammt aus einer Decke.«
»Richtig! Seht Euch die scharfen Enden desselben an! Man hat die Decken zerschnitten und die Teile derselben den Pferden um die Hufe gewickelt, damit sie keine Spur hinterlassen sollen. Wir müssen uns auf das Äußerste anstrengen!«
Wir suchten weiter, und richtig! einige dreißig Schritte davon bemerkte ich im Grase, welches auf nun wieder sandigem Boden wuchs, die schlecht ausgelöschte Spur eines indianischen Mokassin. Die Stellung des Fußes gab uns die Richtung an, in welcher der Weg fortgesetzt worden war.
In dieser Richtung fanden wir bald weitere Anhaltepunkte, und endlich erkannten wir, daß die Leute hier ganz außerordentlich langsam vorwärts gekommen waren. Nach langer Zeit wurden die Spuren wieder deutlicher. Man hatte die Pferdehufe von der Umhüllung befreit und schließlich sahen wir ganz deutlich, daß neben den Pferden Indianer zu Fuße gegangen waren.
Das war wunderbar und gab mir zu denken, bis Winnetou plötzlich sein Pferd anhielt, in die Ferne blickte und eine Gebärde machte, als ob er sich auf etwas besinne.
»Uff!« rief er. »Die Höhle des Berges, welchen die Weißen Hancock nennen!«
»Was ist's mit ihr?« fragte ich.
»Winnetou weiß jetzt alles! In dieser Höhle opfern die Sioux ihre Gefangenen dem großen Geiste. Diese Ogellallah haben sich geteilt. Der große Teil reitet nach links, um die zerstreuten Truppen seines Stammes herbeizurufen, und der kleine Teil bringt die Gefangenen zur Höhle. Man hat mehrere auf ein Pferd geladen, und die Ogellallah laufen nebenher.«
»Wie weit ist dieser Berg von hier?«
»Meine Brüder werden ihn des Abends erreichen.«
»Unmöglich! Der Berg Hancock liegt ja zwischen dem oberen Snake- und dem oberen Yellowstone-River!«
»Mein weißer Bruder mag bedenken, daß es zwei Berge Hancock gibt!«
»Kennt Winnetou den richtigen?«
»Ja.«
»Und auch die Höhle?«
»Ja. Winnetou hat mit dem Vater von Ko-itse in dieser Höhle einen Bund geschlossen, den dieser Ogellallah dann brach. Meine Brüder werden mit mir diese Fährte verlassen und sich dem Häuptling der Apachen anvertrauen!«
Er gab, als sei er seiner Sache ganz gewiß, seinem Pferde die Sporen und sprengte im Galopp davon, wir ihm nach. Es ging eine geraume Zeit durch Täler und Schluchten, bis plötzlich die Berge auseinandertraten und eine ebene Gras fläche vor uns lag, welche nur am fernen Horizonte von Höhen eingefaßt zu sein schien.
»Das ist J-akom akono, die ›Prairie des Blutes‹ in der Sprache der Tehua,« erklärte Winnetou, ohne in seinem schnellen Ritte anzuhalten.
Das war also die fürchterliche Prairie des Blutes, von der ich so viel gehört hatte! Hierher hatten die vereinigten Stämme der Dakota ihre Gefangenen gebracht, losgelassen und zu Tode gehetzt. Hier waren Tausende von unschuldigen Schlachtopfern den Tod des Pfahles, des Feuers, des Messers, des Eingrabens gestorben. Hierher wagte sich kein fremder Indianer oder gar Weißer, und wir ritten über diese Ebene des Fluches so unbesorgt, als ob wir uns auf dem friedlichsten Boden befänden. Unser Führer dabei konnte nur ein Winnetou sein!
Schon begannen unsere Pferde vom Jagen zu ermüden. Da hob sich vor uns langsam eine isolierte Höhe empor, welche aus mehreren zusammengeschobenen Bergen zu bestehen schien. Wir erreichten den mit Wald und Buschwerk besetzten Fuß derselben und ließen dort die Pferde rasten.
»Das ist der Berg Hancock,« bemerkte Winnetou.
»Und die Höhle?« fragte ich.
»Sie ist auf der andern Seite des Berges. In einer Stunde wird sie mein Bruder sehen. Er folge mir, lasse aber seine Gewehre zurück.«
»Ich allein?«
»Ja. Wir sind hier am Orte des Todes. Nur ein fester Mann wird bestehen. Unsere Brüder mögen sich unter den Bäumen verbergen und warten!«
Der Berg, an dessen Fuße wir uns befanden, war ein vulkanisches Gebilde von der Breite von vielleicht dreiviertel Stunden. Ich legte die Büchse und den Stutzen ab und folgte Winnetou, welcher an der westlichen Seite des Berges emporzusteigen begann. Er hielt in kurzen Schlangenlinien nach dem Gipfel zu. Es war ein sehr beschwerlicher Weg, und mein Führer legte ihn mit einer Vorsicht zurück, als ob er hinter jedem Strauche einen Feind zu erwarten habe. So dauerte es wirklich eine Stunde, bis wir ganz oben an der Spitze anlangten.
»Mein Bruder sei ganz still und unhörbar!« flüsterte er, indem er sich auf den Bauch legte und zwischen zwei Büschen langsam hindurchkroch.
Ich folgte ihm und – wäre beinahe ganz erschrocken zurückgewichen, denn kaum hatte ich den Kopf durch die Zweige gesteckt, so erblickte ich grad vor meinem Gesichte den trichterförmigen, steilen Abgrund eines Kraters, dessen Rand ich mit der Hand erreichen konnte. Dieser Abgrund war nur mit einzelnen Sträuchern bestanden und wohl an die hundertundfünfzig Fuß tief. Unten bildete er eine vielleicht vierzig Fuß im Durchmesser haltende Fläche, und da lagen – die von uns gesuchten Bewohner von Helldorf-Settlement, an Händen und Füßen gebunden. Ich besiegte meine Überraschung und zählte die Leute. Es fehlte keiner; aber bei ihnen befand sich eine zahlreiche Ogellallah-Wache.
Ich untersuchte jeden Fußbreit dieses abgebrannten Kraters, ob man hier hinunterkönne. Ja, es ging, wenn man kühn war, ein tüchtiges Seil besaß und ein Mittel fand, die Wache zu entfernen. Es waren mehrere Felsenvorsprünge da, welche man als Anhalte- und Ruhepunkte benutzen konnte.
Jetzt zog sich Winnetou zurück, und ich tat desgleichen.
»Das ist die Höhle des Berges?« fragte ich.
»Ja.«
»Wo ist der eigentliche Eingang?«
»An der Seite, die gegen Osten liegt. Aber kein Mensch kann ihn erzwingen.«
»So steigen wir hier hinab. Wir haben Lassos, und unsere Bahnarbeiter sind mit Pferdestricken reichlich versehen.«
Er nickte und wir begannen den Abstieg. Es war mir völlig unbegreiflich, warum die Indianer die westliche Seite des Berges nicht bewachten. Eine unbemerkte Annäherung wäre uns dann unmöglich gewesen.
Als wir unten wieder ankamen, tauchte die Sonne hinter dem Horizont hinab, und wir begannen unsere Vorbereitungen. Es wurden alle vorhandenen Stricke gesammelt und zu einem längeren Seile verbunden. Winnetou las sich zwanzig der gewandtesten Männer aus; die Andern sollten die Pferde bewachen. Zwei von diesen aber sollten sich dreiviertel Stunden nach unserm Fortgange auf die Pferde werfen und in einem Bogen um den Berg herum nach Osten reiten, um weit draußen einige Feuer anzuzünden, doch so, daß die Prairie nicht anbrannte; dann aber sollten sie schleunigst zurückkehren. Durch diese Feuer sollte die Aufmerksamkeit der indianischen Wächter von uns ab und hinaus auf die Prairie gelenkt werden.
Die Sonne war verschwunden, und der Westen färbte sich mit hellen Tinten, welche nach und nach in den tiefsten Purpur übergingen, sich dann wieder entfärbten und im Abendgrau erloschen. Winnetou hatte den Platz, an dem wir uns befanden, verlassen. Er war mir in den letzten Stunden ganz anders vorgekommen, als er sonst zu sein pflegte. Der feste, sichere Blick seines Auges hatte sich in ein eigentümliches, unruhiges Flackern verwandelt, und auf seiner immer glatten Stirn waren, bei ihm etwas noch nie Dagewesenes, Falten erschienen, welche auf eine ganz ungewöhnliche Sorge deuteten oder auf Gedanken von einem solchen Ernste, daß sie imstande waren, das von mir so oft bewunderte Gleichgewicht seines Innern zu stören. Es bedrückte ihn etwas, und ich glaubte nicht nur die Pflicht, sondern auch das Recht zu haben, ihn danach zu fragen. Darum ging ich fort, um nach ihm zu sehen.
Er stand am Rande des Waldes, an einen Baum gelehnt, und blickte starren Auges gen Westen in die über dem Horizonte liegenden Wolkengebilde, deren vorher goldumsäumte Ränder im letzten Erblassen begriffen waren. Trotzdem ich sehr leise ging und trotz der Versunkenheit, in welcher er sich augenscheinlich befand, hörte er nicht nur meine Schritte, sondern wußte sogar, wer sich ihm näherte. Ohne sich nach mir umzusehen, sagte er:
»Mein Bruder Schar-lih kommt, um nach seinem Freunde zu sehen. Er tut recht daran, denn bald wird er ihn nicht mehr sehen.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und antwortete:
»Lagern Schatten auf dem Gemüte meines Bruders Winnetou? Er mag sie verjagen.«
Da hob er die Hand und deutete gegen Westen.
»Dort flammte das Feuer und die Glut des Lebens; nun ist's vorbei und wird finster. Gehe hin! Kannst du die Schatten verjagen, die dort niedersinken?«
»Nein; aber das Licht kommt am frühen Morgen wieder, und ein neuer Tag bricht an.«
»Für den Hancock-Berg wird morgen ein neuer Tag beginnen, aber nicht für Winnetou. Seine Sonne wird erlöschen, wie diese dort erloschen ist, und nimmer wieder aufgehen. Die nächste Morgenröte wird ihm im jenseits lachen.«
»Das sind Todesahnungen, denen sich mein lieber Bruder Winnetou nicht hingeben darf! Ja, der heutige Abend wird ein sehr gefährlicher für uns sein; aber wie oft haben wir dem Tode in das Auge geschaut, und doch ist er, so oft er die Hand nach uns ausstreckte, vor unserm heitern, festen Blicke zurückgewichen. Verbanne die Schwermut, die dich ergriffen hat! Sie hat ihren Grund nur in den körperlichen und geistigen Anstrengungen der letzten Tage.«
»Nein, Winnetou läßt sich von keiner Anstrengung bemeistern, und keine Ermüdung kann ihm die Heiterkeit seiner Seele rauben. Mein Bruder Old Shatterhand kennt mich und weiß, daß ich nach dem Wasser der Erkenntnis, des Wissens gedürstet habe. Du hast es mir gereicht, und ich trank davon in vollen Zügen. Ich habe viel gelernt, so viel wie keiner von meinen Brüdern, bin aber dennoch ein roter Mann geblieben. Der Weiße gleicht dem gelehrigen Haustiere, dessen Instinkt sich verändert hat, der Indianer aber dem Wilde, welches nicht nur seine scharfen Sinne behalten hat, sondern auch mit der Seele hört und riecht. Das Wild weiß ganz genau, wenn der Tod sich ihm naht; es ahnt ihn nicht nur, sondern es fühlt sein Kommen und verkriecht sich im tiefsten Dickicht des Waldes, um ruhig und einsam zu verenden. Diese Ahnung, dieses Gefühl, welches niemals täuscht, empfindet Winnetou in diesem Augenblicke.«
Ich drückte ihn an mich und entgegnete:
»Und dennoch täuschet es dich. Hast du dieses Gefühl vielleicht schon einmal gehabt?«
»Nein.«
»Also heut zum erstenmal?«
»Ja.«
»Wie kannst du es da kennen? Wie kannst du wissen, daß es die Ahnung des Todes ist!«
»Es ist so deutlich, so deutlich! Es sagt mir, daß Winnetou sterben wird mit einer Kugel in der Brust. Denn nur eine Kugel kann mich werfen; ein Messer oder einen Tomahawk würde der Häuptling der Apachen leicht von sich wehren. Mein Bruder mag mir glauben, ich gehe heut in die ewigen Jagd – – –«
Er hielt inne. »In die ewigen Jagdgründe« hatte er nach dem Glauben der Indianer sagen wollen. Was hielt ihn ab, dieses Wort vollends auszusprechen? Ich wußte es: Er war durch den Umgang mit mir in seinem Innern ein Christ geworden, obgleich er es vermieden hatte, es zu sagen. Er schlang den Arm um mich und veränderte das erst beabsichtigte Wort:
»Ich gehe heut dahin, wo der Sohn des guten Manitou uns vorausgegangen ist, um uns die Wohnungen im Hause seines Vaters zu bereiten, und wohin mir mein Bruder Old Shatterhand einst nachfolgen wird. Dort werden wir uns wiedersehen, und es wird keinen Unterschied mehr geben zwischen den weißen und den roten Kindern des Vaters, der beide mit derselben unendlichen Liebe umfängt. Es wird dann ewiger Friede sein; es wird kein Morden mehr geben, kein Erwürgen von Menschen, welche gut waren und den Weißen friedlich und vertrauend entgegenkamen, aber dafür ausgerottet wurden. Dann wird der gute Manitou die Wagschalen in seiner Hand halten, um die Taten der Weißen und der Roten abzuwägen und das Blut, welches unschuldig geflossen ist. Winnetou aber wird dabeistehen und für die Mörder seiner Nation, seiner Brüder, um Gnade und Erbarmen bitten.«
Er drückte mich an sich und schwieg. Ich war tief bewegt, denn eine innere Stimme flüsterte mir zu: »Sein Instinkt hat ihn nie getäuscht; vielleicht spricht er auch dieses Mal die Wahrheit.« Dennoch sagte ich:
»Mein Bruder Winnetou hält sich für stärker, als er ist. Er ist der gewaltigste Krieger seines Stammes, aber doch auch nur ein Mensch. Ich habe ihn noch nie ermatten sehen, heut aber ist er müde geworden, denn die vergangenen Tage und Nächte haben allzuviel von uns verlangt. Das drückt die Seele nieder und schwächt das Selbstvertrauen; es entstehen trübe Gedanken, welche verschwinden, wenn die Müdigkeit gewichen ist. Mein Bruder mag sich ausruhen. Er mag sich zu den Männern legen, welche hier unten am Berge bleiben.«
Er schüttelte langsam den Kopf und antwortete:
»Das sagt mein Bruder Schar-lih nicht im Ernste.«
»O doch! Ich habe die Höhle des Berges ja gesehen und mit dem Auge genau gemessen; es genügt, wenn ich allein die Angreifer anführe.«
»Ich soll nicht dabei sein?« fragte er da, indem seine Augen erhöhten Glanz bekamen.
»Du hast genug getan; du sollst ruhen.«
»Hast du nicht auch genug getan, ja noch viel mehr als ich und alle Andern? Ich bleibe nicht zurück!«
»Auch nicht, wenn ich dich darum bitte, wenn ich es als Opfer der Freundschaft von dir verlange?«
»Auch dann nicht! Soll man sagen, daß Winnetou, der Häuptling der Apachen, den Tod gefürchtet habe?«
»Kein Mensch wird wagen, dies zu sagen!«
»Und wenn alle schweigen und es mir nicht als Feigheit anrechneten, Einen würde es doch geben, dessen Vorwurf mir die Röte der Scham in die Wange triebe.«
»Wer wäre das?«
»Ich, ich selbst! Ich würde diesem Winnetou, welcher ruhte, als sein Bruder Schar-lih kämpfte, ohne sich vor dem Tode zu fürchten, immer und immer in die Ohren schreien, daß er unter die Feiglinge gegangen und nicht länger würdig sei, sich einen Krieger, einen Häuptling seines tapfern Volkes zu nennen. Nein, nein, sprich nicht davon, daß ich zurückbleiben soll. Soll mein Bruder Shatterhand mich im Stillen, wenn er es auch nicht laut tun würde, zu den mutlosen Coyoten rechnen? Soll Winnetou sich selbst verachten? Lieber zehnmal, hundertmal und tausendmal den Tod!«
Dieser letztere Grund gebot mir allerdings, zu schweigen. Winnetou wäre an dem Selbstvorwurfe, feig gehandelt zu haben, innerlich und äußerlich zugrunde gegangen. Er fuhr nach einer Pause fort:
»Wir standen dem Tode so oft gegenüber, und mein Bruder war stets auf ihn vorbereitet und hat für mich in sein Notizbuch eingeschrieben, was geschehen soll, wenn er einmal im Kampfe fällt. Ich soll dann das Buch nehmen und es lesen und ausführen. Das wird von den Bleichgesichtern ein Testament genannt. Winnetou hat auch ein Testament gemacht, aber noch nichts davon gesagt. Heut, wo er die Nähe des Todes fühlt, muß er davon sprechen. Willst du der Vollstrecker sein?«
»Ja. Ich weiß und ich wünsche, daß deine Ahnung nicht in Erfüllung geht, daß du noch viele, viele Sonnen auf der Erde wandelst; aber wenn du einmal stirbst und ich deinen letzten Willen kenne, soll es mir die heiligste der Pflichten sein, ihn auszuführen.«
»Auch wenn es schwer, sehr schwer sein würde und mit großen Gefahren verbunden?«
»So fragt Winnetou doch nicht im Ernste. Schicke mich in den Tod; ich gehe!«
»Ich weiß es, Schar-lih. Für mich würdest du ihm in den offenen Rachen springen. Du wirst tun, was ich mir von dir erbitte. Du allein bist's, der es ausführen kann. Erinnerst du dich, daß wir einst, als ich dich noch nicht so wie jetzt kannte, über den Reichtum miteinander sprachen?«
»Ja, sehr genau.«
»Ich hörte es damals deiner Stimme an, daß du doch vielleicht anders dachtest, als du sagtest, Das Gold hatte großen Wert für dich. Habe ich da recht gedacht?«
»Du hast dich wenigstens nicht ganz geirrt,« gestand ich ein.
»Und jetzt? Du wirst mir die Wahrheit sagen.«
»Jeder Weiße kennt den Wert des Besitzes, doch trachte ich nicht nach toten Schätzen und äußeren Genüssen. Das wahre Glück gründet sich nur auf die Schätze, welche man im Herzen sammelt.«
»Ich wußte, daß du heut so sprechen würdest. Du weißt, daß ich viele Orte kenne, wo Gold in Gängen und als Nuggets und Staub zu finden ist; ich brauchte dir nur einen einzigen solchen Ort zu sagen, so wärest du ein reicher, ein sehr reicher Mann, aber auch dann nicht mehr ein – – glücklicher Mann. Der gute, weiße Manitou hat dich nicht geschaffen, um weichlich in Reichtümern zu schwelgen; dein starker Körper und deine Seele sind zu Besserem bestimmt. Du bist ein Mann und sollst ein Mann bleiben; darum bin ich stets entschlossen gewesen, dir keinen der Fundorte des Goldes zu verraten. Wirst du mir dafür zürnen?«
»Nein,« antwortete ich, in diesem Augenblicke wirklich der Wahrheit gemäß. Ich stand vor dem besten Freunde, den ich je gehabt habe; er sah den Tod vor sich und vertraute mir seinen letzten Willen an; wie hätte es mir da beikommen können, niedere Gier nach Gold zu zeigen!
»Und doch wirst du Gold zu sehen bekommen, viel Gold,« sprach er weiter; »aber es ist nicht für dich bestimmt. Wenn ich gestorben bin, so suche das Grab meines Vaters auf; du kennst es ja. Wenn du am Fuße desselben, genau an der Westseite, in die Erde gräbst, wirst du das Testament deines Winnetou finden, der dann nicht mehr bei dir ist. Ich habe meine Wünsche aufgezeichnet, und du wirst sie erfüllen.«
»Mein Wort ist wie ein Schwur,« versicherte ich ihm mit Tränen in den Augen. »Keine Gefahr, und sei sie noch so groß, kann mich abhalten, auszuführen, was du aufgeschrieben hast.«
»Ich danke dir! Wir sind jetzt fertig. Die Zeit zum Angriff ist gekommen. Ich werde den Kampf nicht überleben. Laß uns Abschied nehmen, mein lieber, lieber Schar-lih! Der gute Manitou mag dir vergelten, daß du mir so viel, so viel gewesen bist! Mein Herz fühlt mehr, als ich mit Worten sagen kann. Laß uns nicht weinen, die wir Männer sind! Begrabe mich in den Gros-Ventre-Bergen, an dem Ufer des Metsurflusses, auf meinem Pferde und mit allen meinen Waffen, auch mit meiner Silberbüchse, die in keine anderen Hände kommen soll. Und wenn du dann zu den Menschen zurückgekehrt bist, von denen keiner dich so lieben wird, wie ich dich liebe, so denke zuweilen an deinen Freund und Bruder Winnetou, der dich jetzt segnet, weil du ihm ein Segen warst!«
Er, der Indianer, legte mir die Hände auf das Haupt. Ich hörte, daß er nur mit Mühe das Schluchzen unterdrücken konnte, und riß ihn mit beiden Armen an mich, indem ich weinend hervorstieß:
»Winnetou, mein Winnetou, es ist ja nur eine Ahnung, ein Schatten, der vorübergeht. Du mußt bei mir bleiben; du darfst nicht fort!«
»Ich gehe fort!« antwortete er leise aber bestimmt, riß sich mit Überwindung seiner selbst von mir los und wendete sich nach dem Lagerplatz zurück.
Indern ich ihm folgte, suchte ich in meinem Gehirn vergeblich nach einem Mittel, ihn zu bestimmen, nicht an dem bevorstehenden Kampfe teilzunehmen; ich fand keins, weil es keins gab. Was hätte ich darum gegeben, und was gäbe ich noch heut darum, wenn es mir möglich gewesen wäre, einen Ausweg zu finden!
Ich war aufs tiefste erregt, und auch er hatte trotz der Gewalt, welche er über sich besaß, seine Bewegung noch nicht überwunden, denn ich hörte, daß seine Stimme leise zitterte, als er die Leute aufforderte:
»Es ist nun vollständig dunkel, und wir wollen aufbrechen. Meine Brüder mögen mir folgen!«
Wir kletterten Einer hinter dem Andern den Berg hinan, auf demselben Wege, den Winnetou vorher mit mir eingeschlagen hatte. Das leise Emporklimmen war jetzt in der Finsternis viel schwieriger als vorhin, und wir brauchten länger als eine Stunde, bis wir den Krater erreichten. Unten brannte ein mächtiges Feuer, und bei dem Scheine desselben sahen wir die Gefangenen und ihre Wächter liegen. Kein Wort, kein Laut drang herauf zu uns.
Wir befestigten zunächst das Seil, welches lang genug war, an einen Steinblock und warteten dann auf das Erscheinen der Feuer. Es dauerte nicht lange, so zeigten sich dort im Osten nacheinander drei, vier, fünf Flammen, welche den Feuern eines Lagers ganz ähnlich sahen. Jetzt blickten und horchten wir gespannt nach dem Kessel hinab. Wir sollten uns nicht getäuscht haben, denn bereits nach kurzer Zeit sahen wir einen Wilden aus einer Spalte erscheinen, der den Andern einige Worte sagte. Diese erhoben sich sofort und verschwanden mit ihm durch die Spalte, um die Feuer zu betrachten.
Jetzt war es Zeit für uns. Ich ergriff den Anfang des Seiles, um den ersten zu machen, jedoch Winnetou nahm ihn mir aus der Hand.
»Der Häuptling der Apachen ist der Führer,« sagte er. »Mein Bruder komme hinter ihm.«
Es war ausgemacht worden, daß die Unsrigen uns in solchen Zwischenräumen folgen sollten, daß, nachdem das Seil den Boden erreicht hatte, sich nur je vier auf einmal an demselben befanden. Winnetou trat an. Ich ließ ihn bis zum ersten Vorsprunge kommen und folgte dann. Mir folgte Fred. Es ging viel schneller bergab, als wir gedacht hatten, da wir uns kaum halten konnten. Zum Glücke hielt das Seil, welches von oben langsam herab- und uns nachgelassen wurde.
Natürlich rissen wir eine Menge Steine und Geröll zur Tiefe hinab; es war ja so dunkel, daß wir dies gar nicht vermeiden konnten. Einer dieser Steine mußte ein Kind getroffen haben, denn es begann zu schreien. Sofort erschien der Kopf eines Indianers in der vorn Feuer erleuchteten Spalte. Er hörte und sah das Niederprasseln des Gerölls, blickte in die Höhe und stieß einen lauten Warnungsruf aus.
»Vorwärts, Winnetou!« rief ich. »Es ist sonst Alles verloren!«
Die Männer oben merkten, was unten vorging, und ließen das Seil schnell laufen. Eine halbe Minute später hatten wir den Boden erreicht, zu gleicher Zeit aber blitzten uns aus der Spalte einige Schüsse entgegen. Winnetou stürzte zu Boden.
Ich blieb vor Schreck halten.
»Winnetou, mein Freund,« rief ich, »hat eine Kugel getroffen?«
»Winnetou wird sterben,« antwortete er.
Da erfaßte mich eine Wut, welcher ich nicht zu widerstehen vermochte. Soeben langte Walker hinter mir an.
»Winnetou stirbt!« rief ich ihm zu. »Drauf!«
Ich nahm mir nicht erst Zeit, den Stutzen vom Rücken zu reißen oder ein Messer oder einen Revolver zu ergreifen. Mit hoch erhobenen Fäusten stürzte ich mich auf die fünf Indianer, welche bereits aus der Spalte gedrungen waren. Der vorderste unter ihnen war der Häuptling; ich erkannte ihn sogleich.
»Ko-itse, fahre nieder,« rief ich ihm zu.
Ein Faustschlag traf ihn an die Schläfe; er brach zusammen wie ein Holzklotz. Der neben ihm haltende Wilde hatte bereits den Tomahawk gegen mich zum Schlage erhoben; da fiel der Schein der Flamme hell auf mein Gesicht, und er ließ erschreckt das Schlachtbeil niedersinken.
»Ká-ut-skamasti – Schmetterhand!« rief er laut.
»Ja, hier ist Old Shatterhand. – Fahre dahin!« rief ich.
Ich kannte mich nicht. Der zweite Hieb traf den Mann, so daß er niedersank.
»Ká-ut-skamasti!« riefen die Indsmen zaudernd.
»Old Shatterhand,« rief auch Walker. »Das seid Ihr, Charles? O, da begreife ich Alles. Jetzt haben wir gewonnen. Drauf!«
Ich erhielt einen Messerstich in die Schulter, aber das fühlte ich gar nicht. Zwei der Wilden fielen von den Schüssen Freds, und den Dritten schlug ich noch nieder. Mittlerweile kamen immer mehrere der Unsrigen herab; ihnen konnte ich die Indsmen überlassen. Ich wandte mich zu Winnetou und kniete neben ihm am Boden nieder.
»Wo ist mein Bruder getroffen?« fragte ich.
»Ntságe tche – hier in der Brust,« antwortete er leise, die Linke auf die rechte Seite der Brust legend, welche sich von seinem Blute rötete.
Ich riß das Messer heraus und schnitt ihm die Santillodecke, welche sich heraufgeschoben hatte, kurzweg herunter. Ja, die Kugel war ihm in die Lunge gedrungen. Mich erfaßte ein Schmerz, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt hatte.
»Noch wird Hoffnung sein, mein Bruder,« tröstete ich.
»Mein Freund lege mich in seinen Schoß, daß ich den Kampf erkenne!« bat er.
Ich tat es, und nun konnte er sehen, daß alle Indsmen, sobald sie sich in der Spalte sehen ließen, sofort der Reihe nach in Empfang genommen wurden. Unsere Leute kamen nach und nach alle herab. Die Gefangenen wurden von den Fesseln befreit und erhoben laute Rufe der Freude und Dankbarkeit. Ich beachtete das alles nicht; ich sah nur den sterbenden Freund, dessen Wunde aufhörte zu bluten. Ich ahnte, daß er sich innerlich verbluten werde.
»Hat mein Bruder noch einen Wunsch?« fragte ich ihn.
Er hatte die Augen geschlossen und antwortete nicht; ich aber hielt seinen Kopf in meinen Armen und wagte nicht die geringste Bewegung.
Der alte Hillmann und die anderen von ihren Banden befreiten Settlers griffen nach den umherliegenden Waffen und drangen in die Spalte ein. Auch das beachtete ich nicht, denn mein Blick hing nur an den bronzenen Zügen und geschlossenen Lidern des Apachen. Später trat Walker zu mir, welcher auch blutete, und meldete:
»Sie sind alle ausgelöscht!«
»Dieser wird auch auslöschen!« antwortete ich. »Sie alle sind nichts gegen diesen Einen!«
Noch immer lag der Apache bewegungslos. Die braven Railroaders, welche sich so gut gehalten hatten, und die Settlers mit den Ihrigen bildeten um uns einen stummen, tief ergriffenen Kreis. Da endlich schlug Winnetou die Augen auf.
»Hat mein guter Bruder noch einen Wunsch?« wiederholte ich.
Er nickte und sagte leise:
»Mein Bruder Schar-lih führe diese Männer in die Gros-Ventre-Berge. Am Metsur-Flüßchen liegen solche Steine, wie sie suchen. Sie haben es verdient!«
»Was noch, Winnetou?«
»Mein Bruder vergesse den Apachen nicht. Er bete für ihn zum großen, guten Manitou! Können diese Gefangenen mit ihren wunden Gliedern klettern?«
»Ja,« antwortete ich, obgleich ich sah, wie die Hände und Füße der Settlers unter den schneidenden Fesseln gelitten hatten.
»Winnetou bittet sie, ihm das Lied von der Königin des Himmels zu singen!«
Sie hörten diese Worte. Ohne erst meine Bitte abzuwarten, winkte der alte Hillmann. Sie erklimmten einen Felsenabsatz, der zu Häupten Winnetous hervorragte, um den letzten Wunsch des Sterbenden zu erfüllen. Seine Augen folgten ihnen und schlossen sich dann, als sie oben standen. Er ergriff meine beiden Hände und hörte nun das Ave Maria beginnen:
»Es will das Licht des Tages scheiden;
Nun bricht die stille Nacht herein.
Ach, könnte doch des Herzens Leiden
So, wie der Tag vergangen sein!
Ich leg' mein Flehen dir zu Füßen;
O trag's empor zu Gottes Thron,
Und laß, Madonna, laß dich grüßen
Mit des Gebetes frommem Ton:
Ave, ave Maria!«
Als nun die zweite Strophe begann, öffneten sich langsam seine Augen und richteten sich mit mildem, lächelndem Ausdrucke zu den Sternen empor. Man sang.
»Es will das Licht des Glaubens scheiden;
Nun bricht des Zweifels Nacht herein.
Das Gottvertraun der Jugendzeiten,
Es soll uns abgestohlen sein.
Erhalt, Madonna, mir im Alter
Des Glaubens frohe Zuversicht.
Schütz meine Harfe, meinen Psalter.
Du bist mein Heil; du bist mein Licht!
Ave, ave Maria!«
Nun zog Winnetou meine Hände an seine verwundete Brust und flüsterte:
»Schar-lih, nicht wahr, nun kommen die Worte vom Sterben?«
Ich konnte nicht sprechen. Ich nickte weinend, und die dritte Strophe begann:
»Es will das Licht des Lebens scheiden;
Nun bricht des Todes Nacht herein.
Die Seele will die Schwingen breiten;
Es muß, es muß gestorben sein.
Madonna, ach, in deine Hände
Leg ich mein letztes, heißes Flehn:
Erbitte mir ein gläubig Ende
Und dann ein selig Auferstehn!
Ave, ave Maria!«
Als der letzte Ton verklungen war, wollte er sprechen – es ging nicht mehr. Ich brachte mein Ohr ganz nahe an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüsterte er:
»Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!«
Es ging ein konvulsivisches Zittern durch seinen Körper; ein Blutstrom quoll aus seinem Munde; der Häuptling der Apachen drückte nochmals meine Hände und streckte seine Glieder. Dann lösten sich seine Finger langsam von den meinigen – er war tot!
Was soll ich weiter erzählen? Die wahre Trauer liebt die Worte nicht! Käme doch bald die Zeit, in der man solche blutige Geschichten nur noch als alte Sagen kennt!
Wir hatten dem bleichen Tode oft von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden; der wilde Westen gebietet, an jedem Augenblicke auf ein plötzliches Ende gefaßt zu sein. Und doch, als der beste, der treueste Freund, den ich je besessen habe, nun als Leiche vor mir lag, wollte mir das Herz brechen; ich befand mich in einem Seelenzustande, welcher sich nicht beschreiben läßt. Welch ein herrlicher Mensch war er gewesen! Und nun so plötzlich »ausgelöscht, ausgelöscht!« Grad so wird binnen kurzem seine ganze Rasse ausgelöscht sein, deren edelster Sohn er gewesen ist.
Ich wachte die ganze Nacht hindurch, wortlos, mit heißen, trockenen Augen. Er lag in meinem Schoße, grad so, wie er gestorben war. Was ich dachte, und was ich fühlte? Wer möchte das wohl fragen! Wäre es möglich gewesen, wie gern, o wie so gerne hätte ich die fernere Zeit meines Lebens mit ihm geteilt und nur die Hälfte derselben gelebt! So, wie er jetzt in meinem Schoße lag, war einst Klekih-petra in dem seinen gestorben und dann auch seine Schwester Nscho-tschi.
Seine Todesahnung hatte ihn also nicht betrogen, und mit kluger Voraussicht hatte er den Ort bestimmt, an welchem er begraben sein wollte. Da die deutschen Steinschneider dort die begehrten Halbedelsteine finden sollten, waren sie sehr gerne bereit, mit hinzureiten, wodurch mir der Transport des geliebten Toten außerordentlich erleichtert wurde.
Früh am andern Morgen verließen wir den Berg, da wir jeden Augenblick das Eintreffen der Wilden erwarten konnten. Der Leichnam des Apachen wurde in Decken gehüllt und auf ein Pferd befestigt. Von hier bis in die Gros-Ventre-Berge war es nur zwei Tagereisen; dorthin richteten wir unseren Weg, und zwar so vorsichtig, daß kein Indianer unsere Spur aufzufinden vermochte.
Am Abend des zweiten Tages erreichten wir das Tal des Metsur-Flüßchens. Dort haben wir den Indianer begraben, unter christlichen Gebeten und mit den Ehren, die einem so großen Häuptlinge bewiesen werden müssen: Er sitzt mit seinen sämtlichen Waffen und seinem vollständigen Kriegsschmucke aufrecht auf seinem deshalb erschossenen Pferd im Innern des Erdhügels, welchen wir um ihn wölbten. Auf diesem Hügel wehen nicht die Skalpe erschlagener Feinde, wie man es auf dem Grabe eines Häuptlings zu sehen gewohnt ist, sondern es sind drei Kreuze darauf errichtet worden.
Irn Sande des Tales fanden sich nicht nur die verheißenen Steine, sondern an einer Stelle auch eine Ansammlung von Goldstaub, mit dem sich die Rallroaders für den Verfolgungsritt entschädigten. Eine Anzahl von ihnen entschloß sich, mit den Settlers hier eine Ansiedelung zu gründen, welche wieder den Namen Helldorf führt. Die Andern kehrten nach Echo-Cannon zurück, wo sie erfuhren, daß der Railtroubler Haller an seiner Wunde gestorben sei. Seine Mitgefangenen wurden bestraft.
Das Glöckchen, welches Winnetou vergraben hatte, ist nach der neuen Ansiedelung geholt worden, wo die Settlers wieder ein Kapellchen errichtet haben. Wenn nun seine helle Stimme erschallt und die frommen Ansiedler ihr Ave Maria ertönen lassen, so denken sie stets an den Häuptling der Apachen und sind überzeugt, daß ihm erfüllt worden ist, was er sterbend durch ihre Lippen betete:
»Madonna, ach, in deine Hände
Leg ich mein letztes, heißes Flehn:
Erbitte mir ein gläubig Ende
Und dann ein selig Auferstehn!
Ave, ave Maria!«