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Der Capitän schob die Riegel zurück und öffnete. Die so unfreiwillig Gefangene trat ihnen entgegen. Sie hatte ihre Kleider angelegt. Ihr Gesicht war leichenblaß; man sah ihr die Angst, welche sie ausgestanden hatte, deutlich an. Der Alte leuchtete ihr in das Gesicht.
»Sakkerment, Sie sind es?« fragte er. »Wie kommen Sie denn in diesen Keller?«
»Mein Gott, ich weiß es nicht!« antwortete sie.
»Sie wissen es nicht? Das klingt ja fabelhaft! Sie müssen doch wissen, wann und wie Sie hierher gekommen sind?«
»Ich habe keine Ahnung davon, Herr Capitän. O Gott, welche Angst ich ausgestanden habe!«
»Sie sind also nicht freiwillig hier?«
»Nein, nein! Ganz und gar nicht!«
»Das verstehe der Teufel, aber ich nicht! Was haben Sie denn eigentlich hier unten zu suchen? Wer hat Ihnen erlaubt, hier einzudringen?«
Sie schlug ganz bestürzt die Hände zusammen und antwortete:
»Herr Capitän, ich bin unschuldig, vollkommen unschuldig!«
»Das kann kein Mensch glauben! Wer hat Sie denn hierher begleitet?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hören Sie, wenn Sie nicht ein freiwilliges Geständniß ablegen, werde ich Mittel finden, Sie zum Sprechen zu bringen!«
Die arme Zofe zitterte vor Aufregung und Furcht.
»Ich schwöre Ihnen bei allen Heiligen, daß ich nicht einmal weiß, wo ich bin!« betheuerte sie.
»Aber erklären Sie mir doch Ihre Anwesenheit!«
»Das bin ich ja selbst nicht im Stande! Ich ging gestern Abend schlafen, und als ich erwachte, befand ich mich hier.«
»Das klingt ganz wie ein Märchen, welches Sie sich ausgesonnen haben. Wo legten Sie sich denn schlafen?«
»Beim gnädigen Fräulein.«
»Bei Baronesse Marion? Im Zimmer derselben?«
»Ja.«
»Was! Sie haben im Bette des gnädigen Fräuleins geschlafen?«
»Ja.«
»Und wo befand Marion sich inzwischen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Hat sie selbst Ihnen erlaubt, in ihrem Zimmer zu schlafen?«
»Sie hat es mir sogar befohlen.«
»Weshalb?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie muß doch einen Grund angegeben haben!«
Die Zofe wollte Das, was Marion mit ihr gesprochen hatte, nicht verrathen, darum antwortete sie:
»Ich bin die Dienerin und habe zu gehorchen, ohne nach Gründen zu fragen.«
»Hm! So sind Sie das Opfer irgend eines dummen Spaßes geworden. Ich werde die Sache untersuchen und den Schuldigen sehr streng bestrafen. Also Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden?«
»Nein. Ich habe keine Ahnung davon.«
»Nun, so wollen wir sehen, wie sich die Sache arrangiren läßt. Können Sie schweigen?«
»O, ich will gern kein Wort sagen, wenn ich nur wieder frei sein kann.«
»Das Letztere soll geschehen. Aber wenn ich erfahre, daß Sie einem einzigen Menschen erzählen, was geschehen ist, so haben Sie es mit mir zu thun! Verstanden?«
»Ich kann die heiligsten Eide geben, daß ich schweigen werde.«
»Auch gegen die Baronesse?«
»Auch gegen diese.«
»Aber Sie sind jedenfalls von ihr vermißt worden. Auf welche Weise werden Sie sich entschuldigen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Hm! Nicht wahr, Sie haben im nahen Dorfe Ihre Eltern?«
»Ja.«
»Nun, Sie haben heute früh gehört, daß Ihr Vater oder Ihre Mutter krank geworden sei, und sind hingegangen. Sie kehren erst jetzt zurück. Verstanden?«
»Ja, das werde ich sagen.«
»Und mir werden Sie Alles wieder sagen, was Marion spricht – jedes Wort?«
»Sehr gern!«
»Nun, ich will es glauben. Kommen Sie einmal her!«
Er zog sein Taschentuch hervor und verband ihr die Augen.
»Haben Sie keine Angst, es geschieht Ihnen nichts,« sagte er dabei. »Sie brauchen nicht zu sehen, welchen Weg wir gehen. Das ist die einzige Ursache, daß ich Ihnen die Augen verbinde. Kommen Sie jetzt! Ich führe Sie.«
Er verriegelte die Thür und faßte sie dann bei der Hand. Sein Weg führte ihn jetzt nach dem Gartenhäuschen, aus welchem er sie in das Freie brachte. Dort führte er sie zwischen den Büschen einige Male im Kreise und nahm ihr dann das Tuch wieder von den Augen weg.
»So,« sagte er. »Jetzt sind Sie frei. Gehen Sie an Ihre Arbeit und schweigen Sie.«
Sie entfernte sich, so schnell es nur möglich war. Der Graf war natürlich mit ihnen gegangen. An ihn wendete sich der alte Capitän:
»Was sagen Sie dazu?«
»Eine Dummheit von uns, sogar eine sehr große.«
»Wieso?«
»Wir hätten uns überzeugen sollen, ob wir auch wirklich Marion hatten. Aber Sie bestanden ja darauf, kein Licht sehen zu lassen. Ich bin nicht schuld.«
»Ich auch nicht. Wer konnte ahnen, daß Marion auf die ganz und gar ungewöhnliche Idee kommt, die Zofe in ihrem Zimmer schlafen zu lassen!«
»Mir auch eine ganz unbegreifliche Idee.«
»O, nicht nur unbegreiflich, sondern sogar verdächtig.«
»Verdächtig? Wieso?«
»Hm! Eine Baronesse pflegt ihr Lager nicht ohne besondere Gründe ihrer Dienerin zu überlassen.«
»So ist es unsere Aufgabe, diese Gründe zu erfahren.«
»Das werden wir. Für jetzt freilich können wir nichts als nur Vermuthungen hegen.«
»Ich habe keine Ahnung. Oder, sollte Marion vielleicht eine Ahnung gehabt haben?«
»Wovon?«
»Von unserem Vorhaben.«
»Wie wäre das erklärlich?«
»Das weiß ich freilich nicht. Es wird Ihre Sache sein, das zu erfahren, lieber Capitän.«
»Ich werde mich sofort erkundigen. Kommen Sie!«
»Wohin? Nach dem Schlosse?«
»Ja. Natürlich!«
»Danke bestens! Ich habe keine Lust, mein zerfetztes Gesicht öffentlich sehen zu lassen, bevor es wenigstens einigermaßen wieder heil geworden ist.«
»Sie denken, wir kehren durch den unterirdischen Gang zurück?«
»Ja; ich bitte darum.«
»Gut; der Umweg ist ja nicht so groß.«
Sie verschwanden mit einander wieder im Gartenhäuschen.
Marion befand sich auf ihrem Zimmer, als die Zofe zurückkehrte. Als sie das Mädchen erblickte, wußte sie sofort, daß der alte Capitän sich nach dem Gewölbe begeben hatte, um Erklärung zu suchen.
»Ich habe nach Dir geklingelt und Dich gesucht,« sagte sie im Tone des Vorwurfes.
»Verzeihung,« antwortete die Zofe. »Ich erhielt kurz nach meinem Erwachen die Nachricht, daß meine Mutter unwohl sei.«
»So bist Du jetzt zu Hause gewesen?«
»Ja.«
»Bis wann hast Du hier geschlafen?«
»Bis ungefähr nach fünf Uhr.«
»Es ist gut. Du hast Deine Pflicht als Kind thun müssen.«
Das Mädchen war außerordentlich froh, glimpflich davon gekommen zu sein. Marion aber war weit entfernt, an die vorgebrachte Entschuldigung zu glauben. Nur befand sie sich über das einzuschlagende Verfahren im Unklaren. Daher begab sie sich nach Müllers Wohnung. Es gelang ihr, unbemerkt dorthin zu gelangen.
Müller saß an seinem Tische und arbeitete. Er schrieb an einem fingirten militärischen Gutachten, welches er mit Hilfe seines Großvaters in die Hände des vermeintlichen Malers Haller zu spielen gedachte. Als Marion bei ihm eintrat, erhob er sich in sichtlicher Ueberraschung vom Stuhle.
»Sie, mein Fräulein?« fragte er.
»Ja, ich. Ich muß mir Verhaltungsmaßregeln holen.«
»Wegen unsers Erlebnisses?«
»Ja.«
»Das ist gefährlich. Der Capitän kann uns hier beobachten.«
»Kann er auch hören, was wir sprechen?«
»Deutlich vielleicht nicht.«
»Nun, so denke ich, daß wir es wagen können.«
»Wollen es versuchen. Bitte, sich zu placiren! Wir nehmen ein Buch in die Hand und geben uns den Anschein, als ob wir uns über den Inhalt desselben unterhalten.«
Er griff nach einem Buche, öffnete dasselbe und fragte, ohne das Auge von den Zeilen zu verwenden:
»Welche Verhaltungsmaßregeln meinten Sie, gnädiges Fräulein?«
»Betreffs der Zofe, welche soeben zurückgekehrt ist.«
»Ah, er hat sie befreit?«
»Das war leicht zu denken.«
»Was sagte sie?«
»Sie gab vor, bis nach fünf Uhr geschlafen zu haben. Dann hat sie die Nachricht erhalten, daß ihre Mutter, welche im nahen Dorfe wohnt, erkrankt sei. Dorthin sei sie gegangen.«
»Diese Aussage ist ihr vom Capitän eingegeben worden.«
»Ganz gewiß.«
»Was haben Sie dazu gesagt?«
»Ich habe gethan, als glaube ich es.«
»Das war vielleicht das Richtige.«
»Sie meinen also nicht, daß ich merken lasse, daß ich weiß, wo sie sich befunden hat?«
»Man möchte allerdings gern erfahren, welcher Art ihre Unterhaltung mit dem Capitän gewesen ist; aber es ist jedenfalls für uns vortheilhafter, so zu thun, als ob wir gar nichts wissen.«
»Auch wenn der Capitän mich wieder fragt?«
»Er hat Sie bereits gefragt?«
»Ja. Er verlangte, zu wissen, wo ich mich während dieser Nacht befunden habe.«
»Welche Auskunft gaben Sie?«
»Ich antwortete: In Sicherheit.«
»Das war ein Wenig zweideutig. Es erlaubt ihm, zu ahnen, daß Sie von seinem Plane gewußt haben.«
»So war es wohl ein Fehler?«
»Nein. Er befindet sich doch im Zweifel, und das ist gut für uns. Ein Mensch, der nicht weiß, woran er ist, wird auch nicht wissen, wie er sich zu verhalten hat. Uebrigens war der Augenblick, an welchem Sie eintraten, für mich ein geradezu unbezahlbarer.«
»Für mich ebenso. Aber, nun befinde ich mich doch wohl ganz noch in derselben Gefahr!«
»Für heute, morgen und übermorgen nicht; dafür werde ich Sorge tragen, gnädiges Fräulein. Ich hoffe, daß Sie dieser meiner Versicherung Glauben schenken.«
»Ganz gern, Monsieur. Ich habe Sie als einen Mann kennen gelernt, welcher weiß, was er spricht. Jetzt aber muß ich mich zurückziehen. Ich möchte nicht weniger vorsichtig sein als Sie es sind.«
Sie reichte ihm die Hand, welche er an seine Lippen führte; dann entfernte sie sich. Das geschah gerade zur richtigen Zeit; denn kaum hatte sie ihr Zimmer erreicht, so trat der Capitän bei ihr ein. Das war um so auffälliger, als es außerordentlich selten zu geschehen pflegte, daß er sich persönlich zu ihr bemühte.
Sein Blick flog scharf und forschend im Zimmer umher. Dann setzte er sich nieder und fixirte sie mit finsterem, unfreundlichem Blicke. Sie blieb stehen und hielt seinen Blick ruhig aus, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Du wunderst Dich, mich hier zu sehen?« begann er.
»Beinahe,« antwortete sie.
»Es ist allerdings kein gutes Zeichen, wenn man gezwungen ist, Denjenigen, welche zu gehorchen haben, nachzulaufen.«
»O, ich denke, daß ich zu jeder Zeit zur Verfügung stehe!«
»Ganz das Gegentheil! Warum gingst Du so schnell, als ich im Speisesaal mit Dir zu sprechen hatte?«
»Weil ich glaubte, daß unsere Unterredung zu Ende sei.«
»Sie sollte erst beginnen.«
»Davon hatte ich freilich keine Ahnung. Der Gegenstand schien erschöpft zu sein.«
»Mit nichten. Ich wollte wissen, wo Du Dich während dieser Nacht befunden hast.«
»Wer sagt Dir, daß ich nicht bei mir gewesen bin?«
»Ich habe erfahren, daß Deine Zofe bei Dir geschlafen hat!«
»Ah, Du fragst die Zofe nach der Herrin aus? Das ist ein Verhalten, welches ich rügen muß. Nur im Bauernstande pflegt es vorzukommen, daß die Herrschaft sich auf diese Weise mit dem Gesinde in's Einvernehmen setzt.«
Seine Brauen zogen sich zusammen, und die Spitzen seines Schnurrbartes stiegen empor. Er zeigte die langen, gelben Zähne und stieß dann hervor:
»Was? Rügen? Rügen willst Du mein Verhalten? Du?«
»Allerdings!«
»Mädchen, was fällt Dir ein! Du überschätzest Dich bedeutend. Du weißt nicht, mit wem Du sprichst!«
»Ich kenne Dich lange genug, um dies wissen zu können!«
»Und dennoch irrst Du Dich gewaltig. Du schlägst seit einiger Zeit einen Ton an, den ich mir sehr streng verbitten muß!«
»Weil Du stets gewohnt warst, diesen Ton allein für Dich als Monopol in Anspruch zu nehmen. Du sagst, daß ich mich überschätze? Vielleicht ist das bei Dir in noch viel höherem Grade der Fall. Was hast Du mir noch zu sagen?«
»Zunächst will ich wissen, wo Du während der verflossenen Nacht gewesen bist.«
»Darüber bin ich Dir nicht Rechenschaft schuldig!«
Da sprang er von seinem Sessel auf und rief:
»Donnerwetter! Das bietest Du mir?«
»Ja,« antwortete sie ruhig.
»So? Ah! Schön! Weißt Du, wer hier Herr und Meister ist?«
»Der Baron de Sainte-Marie, nicht aber der Capitän Richemonte.«
»Ich bin der Vater des Barons, Dein Großvater!«
»Beweise mir diese Verwandtschaft!«
Er war beinahe starr vor Erstaunen.
»Mädchen,« knirrschte er, »bist Du verrückt?«
Sie wendete sich mit einer unbeschreiblichen Handbewegung ab und sagte:
»Brechen wir ab! Ich sehe, daß Du nicht einmal weißt, in welcher Weise man mit einer Dame zu verkehren hat. Du gefällst Dir seit einiger Zeit ganz in dem Betragen eines Plebejers, den man nur bemitleiden kann.«
Da ergriff er sie beim Arme und sagte in einem Tone, welcher beinahe pfeifend erklang:
»Ja, ja, Du bist verrückt, sonst könntest Du so Etwas nicht wagen. Aber ich bin der Mann, Dich zu zähmen! Also Du sagst nicht, wo Du gewesen bist?«
»Nein!
»Dein Bräutigam will es wissen!«
»Ich habe keinen Bräutigam. Nimm Deine Hand von meinem Arme!«
»O nicht doch! Ich werde Dich festhalten und sogar züchtigen, wenn Du bei diesem Tone bleibst!«
»Gut! Schlagen wir einen anderen Ton an! Ehe er es zu verhindern vermochte, ergriff sie den Glockenzug und läutete, daß man es fast durch alle Corridore zu hören vermochte. Man hörte sofort Thüren öffnen.
»Ah, dieses Mal gelingt Dir es noch!« sagte er. »Ich will den Eclat vermeiden; darum gehe ich; das nächste Mal aber bin ich der Sieger! Richte Dich darauf ein!«
Er ging.
»Es ist Nichts! Packt Euch zum Teufel!« herrschte er der durch das Läuten herbeigerufenen Dienerschaft entgegen.
Dann begab er sich nach seinem Zimmer, in einer Aufregung, welche er kaum zu bemeistern vermochte.
Unterdessen hatte Müller seine Arbeit beendet. Er war noch über dem Einsiegeln derselben, als sein Blick zufällig durch das Fenster fiel. Er gewahrte draußen an der Linde das mit dem Wachtmeister verabredete Zeichen.
»Fritz wieder da!« sagte er erfreut. »Er hat mit mir zu sprechen. Das ist schön. Er kann mir gleich diese Arbeit nach der Post bringen.«
Sein Auge glitt von der Linde nach dem Schlosse zurück. Da gewahrte er einen Wagen, welcher sich dem Thore näherte. In demselben saßen Madelon und Nanon, die beiden Schwestern.
»Da kommen sie,« dachte er. »Die Gegenwart von dieser Madelon kann mir von Nachtheil sein. Ich werde mich vorerst gar nicht von ihr sehen lassen.«
Er wartete, bis die Beiden ausgestiegen und in das Gebäude getreten waren; dann begab er sich durch den Park in den Wald. An der verabredeten Stelle trat ihm Fritz entgegen.
»Grüß Gott, Herr Doctor!« sagte er. »Ich komme, meine Wiederkehr pflichtschuldigst zu melden.«
»Schön! Ich dachte, Du würdest länger bleiben. Wie ist es Dir ergangen?«
»Sehr gut mit Abenteuern.«
»Abenteuer? Das klingt verheißungsvoll. Komm, und erzähle mir.«
Sie schritten mit einander tiefer in den Wald hinein und Fritz berichtete seine Erlebnisse. Am Schlusse langte er in die Tasche und zog einige Papiere hervor.
»Hier sind die Notizen, welche ich mir in der Pulvermühle bei Schloß Malineau gemacht habe.«
»Danke! Du denkst also, daß sie für uns wichtig sind?«
»Jedenfalls. Ich habe zum Beispiele daraus ersehen, daß es die letzte Pulverladung ist, welche der Capitän empfängt.«
»Das beweist, daß er mit seinem Arrangement fast zu Ende ist. Wir müssen uns also sputen!«
»Gewiß! Ist er gesund?«
Der Sprecher blinzelte bei dieser Frage sehr bezeichnend mit den Augen.
»Ich habe nicht gehört, daß er sich unwohl fühlt.«
»Dann haben Sie Ihr Versprechen gehalten.«
»Natürlich! Ich wollte diese unterirdischen Gänge nicht vor Deiner Rückkehr untersuchen. Nun aber werde ich nicht länger zögern. Der Alte soll schon heute die Tropfen erhalten.«
»Ist das nicht schwierig?«
»Nein. Er pflegt sich nach Tische ein Glas Absynth kommen zu lassen. Er erhält dabei immer ganz dasselbe Glas, welches auf dem Büffet steht. Die Tropfen sind ihm also gewiß.«
»Ob sie wohl heute noch wirken werden?«
»Das werden wir erfahren. Komme nach elf Uhr wieder hierher an diese Stelle. Du wirst mich treffen.«
Er kehrte nach dem Schlosse zurück. Dort erfuhr er, daß der Capitän heute, wie so oft, in seinem Zimmer speisen werde. Als er sich zur Tafel nach dem Speisesaal begab, that er das um einige Minuten früher als gewöhnlich. Nanon und Madelon befanden sich bereits dort. Die Erstere kam ihm freudig entgegen und sagte:
»Sie sehen, daß ich wieder eingetroffen bin, Herr Doctor. Hier meine Schwester, die Sie ja an der Unglücksstelle bereits gesehen haben.«
Er und Madelon verbeugten sich sehr förmlich vor einander, ganz so, als ob sie sich im Leben noch nie begegnet seien. Aber im Laufe der Unterhaltung erhaschte sie einen passenden Augenblick und raunte ihm zu:
»Keine Sorge! Sie haben Nichts zu befürchten!«
Das beruhigte ihn. Nach der Tafel, während man sich noch unterhielt, befand er sich stets in der Nähe des Büffets. Er nahm sich ein Glas Wein und benutzte diese Gelegenheit, die vierzig Tropfen in das Glas des Alten fallen zu lassen.
Als dann der Diener eintrat, mit einem kleinen Präsentirteller in der Hand, wußte er, was dieser wollte. Er schenkte sich selbst einen Absynth ein und fragte dann wie so nebenbei:
»Ein Glas auch für den Herrn Capitän?«
»Ja, Herr Doctor!«
»Hier!«
Der Diener nahm das Glas und entfernte sich mit demselben.
Nun begann eine Zeit des Wartens für Müller. Er hörte, daß Marion nach Thionville sei, um ihre neue Freundin Harriet de Lissa zu besuchen. Auch der Amerikaner hatte das Schloß verlassen, vielleicht zu demselben Zwecke. Der Abend war nahe; da entstand ein sehr bemerkbares Hin- und Herlaufen in den Corridoren, und dann verließ ein Reitknecht das Schloß, um im Galopp auf der Straße nach Thionville hinzufegen. Müller verließ sein Zimmer und erkundigte sich, was das zu bedeuten habe.
»Der Herr Capitän ist plötzlich erkrankt,« antwortete der Diener, an den er sich gewendet hatte.
»Was fehlt ihm?«
»Er hat einen Krampfanfall.«
»Heftig?«
»O nein. Aber er scheint nicht sprechen und sich auch kaum bewegen zu können.«
»O weh! Das klingt ja ganz und gar gefährlich!«
Da räusperte sich der Mann und sagte leise:
»Hm! Ich wollte, daß es gefährlich wäre!«
»Pst! Um Gotteswillen!«
»O, Sie werden mich nicht verrathen, Herr Doctor. Aber an dem Alten würden wir doch nur unseren Peiniger verlieren.«
Nach angemessener Zeit kehrte der Diener zurück. Doctor Bertrand kam mit ihm und begab sich sogleich zu dem Patienten. Er untersuchte den Letzteren und erklärte den Anfall für zwar heftig, aber keineswegs für gefährlich. Er blieb zum Abendessen da. Als er im Speisesaal erschien, wurde er mit Fragen bestürmt.
»Haben Sie keine Sorge,« antwortete er. »Es handelt sich um eine Krampfesart, welche keineswegs gefährlich ist.«
»Aber er kann bereits nicht mehr sprechen,« sagte die Baronin, welche es für angezeigt hielt, eine Besorgniß zu zeigen, welche sie aber keineswegs auch wirklich empfand.
»Er wird die Sprache wiederfinden.«
»Und die Bewegung hat er verloren.«
»Er wird lernen, sich wieder zu bewegen. Ich kenne diese Krankheit sehr genau und kann Sie vollständig beruhigen. Der Herr Capitän wird zwei Tage und zwei Nächte lang unbeweglich liegen und dann wie aus einem tiefen Schlafe erwachen. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«
Er warf dabei auf Müller einen Blick, der diesem sagte, daß diese Worte besonders an ihn gerichtet seien, um ihn zu benachrichtigen, daß er von jetzt an zwei Tage lang freie Hand habe, nach Belieben zu schalten und zu walten.
Daher begab sich der Erzieher zu der angegebenen Zeit in den Wald, wo Fritz seiner bereits wartete.
»Guten Abend!« sagte der Letztere. »Er hat die Tropfen!«
»Ja.«
»Und sie haben sehr gut gewirkt!«
»Woher weißt Du das?«
»Der Arzt wurde geholt; das genügt, um zu wissen, woran man ist. Wie steht es, Herr Doctor? Wann beginnen wir unsere Entdeckungsreise?«
»Sogleich.«
»Ah, das ist gut! Haben Sie Alles mit?«
»Natürlich. Wir steigen in dem Gartenhäuschen ein.«
Das geschah. Sie gelangten unter das Häuschen, da wo rechts sich der Gang nach dem Schlosse zog und links eine verschlossene und verriegelte Thür zu sehen war.
Sie hatten die Laternen angebrannt und Fritz blickte neugierig in den dunklen Gang hinein.
»Hier muß es nach dem Schlosse gehen! Nicht?« fragte er.
»Ja.«
»Schlagen wir diese Richtung ein?«
»Nein. Ich habe diesen Theil der Geheimnisse bereits studirt. Jetzt muß ich wissen, was sich hinter dieser Thür verbirgt.«
»Werden wir öffnen können?«
»Ich hoffe es. Wir haben ja die Hauptschlüssel.«
Er probirte und wirklich, es ging. Sie sahen, nachdem sie geöffnet hatten, einen Gang vor sich, welcher ganz dieselbe Beschaffenheit mit demjenigen hatte, der nach dem Schlosse führte. Sie schlossen die Thür hinter sich wieder zu und schritten dann langsam vorwärts.
Nach einiger Zeit bemerkten sie zur Seite eine Thür und dann wieder eine.
»Was mag da drin stecken?« fragte Fritz.
»Das werden wir später erfahren.«
»Warum nicht jetzt?«
»Ich will mich vorerst nicht bei Details aufhalten. Ich muß vielmehr vor allen Dingen mich über die Lage, Natur und Richtung der Gänge unterrichten. Komm weiter!«
Sie erblickten mehrere Thüren, ohne aber eine derselben zu öffnen. Nach einiger Zeit erreichten sie einen großen viereckigen Raum, in welchem der Gang durch einen zweiten rechtwinklig durchkreuzt wurde.
»Das ist's, was ich suche!« sagte Müller. »Wie es scheint, hat mich meine Ahnung nicht getäuscht.«
»Wegen der Richtung dieser Gänge?«
»Ja. Gerade aus kommen wir jedenfalls nach dem Waldloche, welches wir bereits kennen, rechts nach der Ruine, in welcher Du fast ergriffen worden wärst und links nach dem alten Thurme, wo der Geist der todten Baronin sein Wesen treibt.«
»Wie gehen wir da?«
»Zunächst gerade aus.«
Sie thaten das, konnten aber bereits nach kurzer Zeit stehen bleiben. Müller beleuchtete eine der hier befindlichen Thüren und sagte:
»Die kommt mir bekannt vor. Hinter dieser Thür haben wir die Schlüssels gefunden oder vielmehr annectirt. Laß uns einmal sehen.«
Er schloß auf und sie traten ein. Sie schritten zwischen den Kisten hindurch nach dem Hintergrunde, wo Müller die dort befindliche Thür aufriegelte.
»Ja, ich irre mich nicht,« sagte er. »Hier liegen leere Säcke.«
»Sie sind leer? Wozu liegen sie dann hier?«
»Um Marion als Lager zu dienen.«
»Mademoiselle Marion? Sollte die hier liegen?«
»Ja. Der Capitän wollte an ihr eine Gewaltthat begehen, die ich aber verhindert habe. Ich werde Dir noch davon erzählen. Wir wollen jetzt nach dem Kreuzgang zurückkehren.«
Als sie diesen erreichten, wendeten sie sich links. Auch dieser Gang war ganz genau wie der vorige – rechts und links Thüren, welche sie aber jetzt noch nicht öffneten. Endlich standen sie vor einer Thür, welche ihnen gerade entgegen stand. Auch hier paßte einer der Schlüssel.
Als sie eintraten, sah Fritz sich um und sagte sogleich:
»Ja, Sie haben Recht. Hier ist die Ruine.«
»Kennst Du Dich aus?«
»Es ist der Saal, in welchem ich beinahe erwischt worden wäre. Ich irre mich nicht.«
»So können wir zunächst wieder umkehren, um den vierten Gang zu untersuchen, welcher meines Erachtens nach dem alten Thurme führt.«
Als sie diesen Gang erreichten, fanden sie vorerst nichts, was ihn von den anderen unterschieden hätte. Bald aber zweigte sich nach rechts ein zweiter Stollen ab.
»Gehen wir da hinein?« fragte Fritz.
»Ja. Wenn mich meine Berechnung nicht täuscht, führt er nach der Richtung, in welcher der Steinbruch liegt. Wollen einmal sehen.«
Sie hatten eine ziemliche Strecke zurückzulegen, ohne daß sie eine Thür bemerkten; dann war der Gang plötzlich verschüttet.
»Ah, das ist schade!« sagte Fritz. »Nun können wir nicht weiter.«
»Ich möchte doch behaupten, daß wir uns gar nicht weit entfernt vom Steinbruche befinden. Doch laß uns nun den Hauptgang wieder verfolgen.«
Sie kehrten zurück und schritten weiter in denselben hinein. Hier gab es wieder Thüren rechts und links. Plötzlich blieb Fritz stehen, ergriff seinen Herrn am Arme und hielt ihn fest.
»Pst!« warnte er.
Sofort verschwand die Laterne in Müllers Tasche, so daß es vollständig dunkel war.
»Was giebt es?« fragte der Letztere.
»Mir war es, als wenn Jemand gesprochen hätte.«
»Wo?«
»Da vorn, vor uns.«
»Ich habe nichts gehört.«
»Ich kann mich getäuscht haben, aber horchen wir!«
Sie verhielten sich vollständig ruhig und bewegungslos. Wirklich, nach kurzer Zeit drangen Töne an ihr Ohr, welche nur von einer menschlichen Stimme hervorgebracht werden konnten und die von einem taktmäßigen Klopfen begleitet wurden.
»Hören Sie jetzt?« fragte Fritz.
»Ja. Sogar ganz deutlich. Laß uns vorsichtig weiter schleichen!«
Je weiter sie kamen, desto vernehmlicher wurde die Stimme. Zuletzt erblickten sie einen schmalen Lichtstreifen, welcher aus einer nicht ganz zugemachten Thür zu kommen schien.
»Das ist kein Mann, sondern ein weibliches Wesen,« bemerkte Fritz.
»Du hast Recht; ich höre es auch. Kannst Du ahnen, wer es vielleicht ist?«
»Nein.«
»Wir befinden uns jedenfalls in der Nähe des alten Thurmes.«
»Ganz gewiß.«
»Nun, welches weibliche Wesen giebt es dort?«
»Sapperment! Liama?«
»Ich vermuthe, daß sie es ist.«
»Wenn das wäre! So hätten wir endlich den Geist greifbar in den Händen!«
»Laß uns weiter gehen! Aber mache ja kein Geräusch.«
Sie erreichten die Thürspalte. Müller blickte hinein. Er stand am Eingange eines ziemlich großen Gemaches, in welchem sich ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl befand. Eine sehr einfache Oellampe hing an einem Drahte von der Decke herab und beleuchtete eine weiß gekleidete weibliche Gestalt, welche am Boden saß und damit beschäftigt war, Maiskörner auf einem Steine zu zerklopfen. Dieses Klopfen geschah im Takte und dazu erklangen aus dem Munde dieser Gestalt die Worte:
»Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen! – Der Klopfende! Wer ist der Klopfende? Wer lehrt Dich begreifen, was der Klopfende ist? An jenem Tage werden die Menschen sein, wie umhergestreute Motten und die Berge wie verschiedenfarbige gekämmte Wolle. Der nun, dessen Wagschale mit guten Werken schwer beladen ist, der wird ein Leben in Vergnügen führen, und der, dessen Wagschale zu leicht befunden wird, dessen Wohnung wird der Abgrund der Hölle sein. Wer aber lehrt Dich begreifen, was der Abgrund der Hölle ist? Es ist das glühendste Feuer!«
Diese Worte waren die einhundertunderste Sure des Kuran, welche die muhammedanischen Frauen beim Klopfen der Fruchtkörner abzusingen pflegen.
Auch Fritz betrachtete die Arbeitende.
»Kennst Du sie?« fragte Müller.
»Ganz genau.«
»Nun?«
»Es ist dieselbe, welche uns erschien, als wir das Grab geöffnet hatten.«
»Also Liama. Auch ich erkenne sie wieder.«
»Welch eigenthümliche Kleidung.«
»Es ist diejenige der Beduinenfrauen.«
»Dieses Weib muß einst schön, sehr schön gewesen sein.«
»Ja. Sie besitzt die Züge Marion's, ihrer Tochter.«
»Was thun wir? Treten wir ein?«
»Wir erschrecken sie.«
»Hm! Aber unbenutzt können wir diese Entdeckung doch nicht lassen.«
»Keineswegs. Gehen wir eine Strecke zurück. Dann kommen wir mit lauten Schritten näher.«
Sie thaten das. Sobald ihre Schritte hörbar wurden, öffnete sich die Thür und Liama erschien unter derselben.
»Kommst Du heute schon wieder?« fragte sie. »Laß mich doch ruhig weinen und in Frieden beten.«
»Sallam aaleikum – Friede sei mit Dir!« antwortete Müller.
»Aaleikum sallam – mit Dir sei Friede!« entgegnete sie. »Aber wessen Stimme ist das? Ich habe sie noch nie gehört.«
»Es ist die Stimme Deines Erretters, welcher Dich der Freiheit und dem Lichte der Sonne wiedergeben will.«
»Tritt näher.«
Sie trat in das erleuchtete Gemach zurück, und Müller folgte ihr. Fritz blieb noch draußen im Gange stehen. Sie betrachtete ihn aufmerksam und sagte dann:
»Deine Augen sind die Augen der Güte, und in Deinem Gesichte steht geschrieben das Wort von der Wahrheit. Dein Herz kennt nicht die Täuschung, und Dein Mund redet keine Lüge. Was bringst Du mir?«
»Die Freiheit.«
»Behalte sie für Dich!«
»Das Glück.«
»Liama kann nie wieder glücklich sein.«
»Die Seligkeit.«
»Die Seligkeit wird Liama nicht hier auf Erden finden, sondern erst nach dem Tode. Bist Du von ihm gesandt?«
»Wen meinst Du?«
»Den alten Weißbart, dem Alle gehorchen müssen.«
»Nein, er ist es nicht, der mich sendet.«
»Weiß er, daß Du Dich hier befindest?«
»Nein.«
»So fliehe eilends fort von hier, sonst bist Du verloren. Er ist voller Macht und Grausamkeit!«
»Ich fürchte ihn nicht!«
»Und ich ermahne Dich, ihn zu fürchten, sonst wird er Dich verschlingen, wie der Panther das unschuldige Lamm verschlingt!«
Sie winkte ihm, fortzugehen. Er aber trat näher und sagte:
»Du bist Liama, die Tochter der Beni Hassan?«
»Ich bin nicht Liama sondern ihr Geist.«
»Dein Vater war Menalec, der Scheik Eures Stammes?«
»Er war es.«
»Hast Du gekannt Saadi, den Liebling Allahs und seines Propheten?«
Da richtete sie sich auf und antwortete:
»Ob ich ihn gekannt habe! Er war meine Seligkeit, und ich ging in die Hölle, um ihn zu retten.«
»Er ist todt!«
»Nein, er lebt. Saadi kann nicht sterben.«
»Und kennst Du Marion, die Enkelin der Beni Hassan?«
»Marion? Ja, ich kenne sie!«
Sie faltete die Hände, blickte flehend zu Müller herüber und fragte:
»Hast Du sie gesehen?«
»Ja, ich sehe sie täglich.«
»Spricht sie auch mit Dir?«
»Wir sprechen oft, sehr oft mit einander.«
»Kennt sie noch den Namen ihrer Mutter?«
»Sie kennt ihn und spricht ihn stündlich aus.«
»Allah segne sie! Sie sollte sterben. Um sie zu retten, ist Liama ein Geist geworden. Liama lebt nicht mehr; sie ist todt. Aber ihre Tochter lebt und wird glücklich sein.«
»Deine Tochter weiß, daß Du nicht gestorben bist!«
»Um Allah's willen, sie darf es nicht erfahren!«
»Sie weiß es bereits.«
»So soll sie es keinem Menschen sagen.«
»Sie hat große Sehnsucht, Dich zu sehen und mit Dir zu sprechen.«
»Ich darf nicht mit ihr sprechen. Ich habe geschworen beim höchsten Himmel und bei der tiefsten Hölle, meine Tochter nicht zu sprechen, nie wieder im ganzen Leben.«
»Wem hast Du es geschworen?«
»Malek Omar.«
»Dem Manne mit dem grauen Barte?«
»Ja. Er hat das Leben meiner Tochter in seiner Hand. Sie soll nicht sterben, sondern leben bleiben. Er kommt und bringt mir Speise und Trank.«
»Kommen auch andere Männer zu Dir?«
»Es kommen ihrer viele, und ich beschütze sie.«
»Kennst Du auch Abu Hassan, den Zauberer?«
»Ich kenne ihn. Er ist alt und grau geworden; ich habe ihn gesehen an meinem Grabe.«
Liama war jedenfalls ihrer Geisteskräfte nicht mehr vollständig Herr. Was Müller jetzt von ihr erfuhr, das gab ihm eine furchtbare Waffe gegen Richemonte in die Hand.
»Wie bist Du in diese Höhle gekommen?« fragte er.
»Ich habe sie mir selbst gewählt.«
»Man hat Dich nicht gezwungen?«
»Nein. Ich bin todt und wohne unter meinem Grabe.«
»Willst Du nicht leben, leben und glücklich sein?«
»Ich bin todt. Ich bin glücklich, wenn mein Kind lebt.«
»Darf ich mir Deine Wohnung betrachten?«
Er bemerkte nämlich eine Thür, welche weiter führte. Seine Frage brachte einen ganz unerwarteten Eindruck hervor. Sie sprang an die Thür, stellte sich vor dieselbe und rief:
»Zurück! Zurück! Wer diesen Eingang erzwingen will, der muß eines fürchterlichen Todes sterben und ich mit ihm!«
Müller ahnte, daß diese Thür die Verbindung mit dem Grabe und dem Thurme herstellte. Er hätte gar zu gern das Geheimniß kennen gelernt, aber er hütete sich, dem armen Weibe zu schaden. Darum sagte er in beruhigendem Tone:
»Ich will ihn nicht erzwingen. Ich fragte Dich nur.«
»Frage auch nicht! Ich darf Dir nicht antworten, denn ich habe es geschworen. Verlaß mich! Ich will allein sein.«
»Darf ich nicht wiederkommen?«
»Nein, jetzt nicht.«
»Auch nicht später?«
»Vielleicht. Sage mir dann, was meine Tochter mit Dir vom Geiste ihrer Mutter spricht.«
»Ich werde Dir Alles mittheilen.«
»Aber laß es Dem mit dem grauen Barte nicht wissen!«
»Nein. Wirst Du es ihm sagen, daß ich hier gewesen bin?«
»Nein, denn sonst würde er Dich erwürgen. Nun aber gehe! Allah sei mit Dir!«
Sie schob ihn zur Thür hinaus und verriegelte sie dann von innen. Fritz war von ihr gar nicht gesehen worden. Die beiden Männer tappten sich im Dunkeln fort und Müller zog erst dann die Laterne hervor, als sie den Kreuzgang erreicht hatten. Auch hier erst begann er zu sprechen.
»Hast Du Alles gehört?« fragte er.
»Alles!«
»Welch eine Entdeckung! Welche Waffe gegen den Capitän giebt sie mir in die Hand.«
»Er ist verloren, sobald Sie wollen.«
»Ja, aber ich darf noch nicht wollen.«
»Warum nicht? Solches Ungeziefer muß man sofort vertilgen. Es leben zu lassen, ist Sünde.«
»Und dennoch darf ich nicht – meines Vaters wegen.«
»Ihres Vaters wegen?« fragte Fritz ganz erstaunt.
»Ja.«
»Der ist wohl jedenfalls todt.«
»Nein; er lebt.«
»Himmel! Wo sollte er sein?«
»Hier in diesen Gewölben.«
Der gute Fritz machte ein Gesicht, als ob er überzeugt sei, daß er jetzt seinen Verstand verlieren werde.
»Hier in diesen Gewölben? Kreuzmillionendonnerwetter! So muß er heraus und zwar sofort! Wo steckt er denn? Die Schlüssels haben wir!«
»Noch kann ich das nicht sagen. Daß er hier ist, vermuthe ich überhaupt; gewiß ist es noch nicht. Und befindet er sich hier, so sind wir ihm gerade in diesem Augenblicke jedenfalls sehr nahe.
Laß uns hier an diesem Orte einmal suchen, ob wir ein verborgenes Gefängniß zu entdecken vermögen!«
Er erinnerte sich genau der Worte, welche der kranke Baron im Speisesaale gesprochen hatte. Hier dieser Kreuzgang war der Mittelpunkt aller Gewölbe; hier mußte sich der Gesuchte finden, wenn er überhaupt sich hier befand.
Die Beiden forschten und boten allen ihren Scharfsinn auf, allein vergebens. Es war nichts zu entdecken.
»Wir haben ja noch keine einzige der vielen Thüren geöffnet,« sagte Fritz. »Vielleicht ist er da irgendwo versteckt!«
»Das glaube ich nicht. Aber wissen müssen wir freilich, was sich hinter diesen Thüren befindet. So wollen wir also einmal nachforschen.«
Sie gingen von Gang zu Gang, von Thür zu Thür. Diese Letzteren waren alle mittelst der Schlüssel zu öffnen. Es gab da Raum an Raum, und alle die Räume waren mit Waffen und Munition angefüllt. Das machte auf die beiden Eindringlinge einen beinahe bewältigenden Eindruck.
Wie viele Menschenleben sollten durch diese Vorräthe zu Grunde gehen! Nein, das durfte nicht geschehen!
»Ehe ich zugebe, daß die Franzosen sich dieser Waffen bedienen können, würde ich den ganzen Kram in die Luft sprengen,« sagte Fritz.
»Das ist auch meine Ansicht. So viel an mir liegt, sollen diese Gewehre und Munitionen keinem einzigen Deutschen Schaden machen. Aber weißt Du, daß der Tag gleich anbrechen wird? Es ist Zeit, Schicht zu machen. Wir haben noch einen ganzen Tag, bevor der Alte wieder gesund sein wird.«
»Er sollte liegen bleiben, liegen bleiben und tausendfache Schmerzen erdulden! Warum zeigen Sie ihn nicht an?«
»Weil ich meinen Vater suche, welcher vielleicht elend verhungern und verschmachten müßte, wenn der Capitän gefänglich eingezogen würde.«
»Ah so! Das begreife ich. Aber Liama? Was wird mit dieser?«
»Hm! Ich werde sie einstweilen lassen müssen, wo sie ist.«
»Und auch Niemandem Etwas von ihr sagen?«
»Keinem Menschen.«
»Aber doch wenigstens ihrer Tochter?«
»Auch dieser nicht. Ich würde voraussichtlich ihr und der Mutter schaden. Ehe ich handle, muß ich sämmtliche Geheimnisse dieser unterirdischen Gewölbe kennen. Dann wird der ganze Bau des Alten in einem einzigen Augenblicke zusammenbrechen. Wehe ihm, wenn ich einmal mit ihm abzurechnen beginne!«
Es vergingen einige Tage. Die Voraussage des Arztes zeigte sich als wohl begründet. Nach zwei Tagen erwachte der Capitän, fühlte sich doch aber so angegriffen, daß er sich noch gar nicht sehen ließ. Das äußere Leben ging seinen ruhigen Gang, scheinbar ohne eine Aenderung hervor zu bringen. Aber die tiefer liegenden Pulse klopften heimlich und da gab es denn stille Entwickelungen, von denen Niemand Etwas zu bemerken schien.
Marion verkehrte täglich mit Harriet de Lissa, und – der Amerikaner suchte ebenso gern das Haus des Arztes auf. Er wurde mit unwiderstehlicher Gewalt von der vermeintlichen Engländerin angezogen und es wollte ihm vorkommen, als ob sie seine Nähe nicht ungern empfinde.
So war er auch heute gekommen, sie zu sehen. Er hörte, daß sie sich im Garten befinde und begab sich dorthin. Er fand sie in einer offenen Weinlaube sitzen, welche ganz nahe an dem Zaune stand und erhielt die Erlaubniß, neben ihr Platz zu nehmen.
Er fühlte sich so glücklich in der Nähe des schönen Wesen. Er dachte gar nicht daran, von seiner Liebe zu sprechen, denn es war ihm ganz so, als ob sie das auch ohne Worte bereits erfahren habe.
Da kam ein kurzes, sehr dickes Männchen hinter den Gartenzäunen langsam daher. Er trug einen riesigen Calabreser auf dem Kopfe und in den Händen eine Mappe und einen Feldstuhl.
Er schritt auf einem Rasenwege und so mochte es kommen, daß man ihn nicht hörte. Es war der gute Herr Hieronymus Aurelius Schneffke, welcher soeben von Metz gekommen war.
Indem er so, halb in Gedanken versunken, dahinschritt, zuckte er plötzlich zusammen und blieb stehen. Er hatte ein halblautes, wohltönendes Lachen gehört.
»Donnerwetter!« flüsterte er. »Dieses Lachen kenne ich.«
Er horchte. Ja, jetzt hörte er auch eine weibliche Stimme sprechen.
»Die Gouvernante ist's, die Gouvernante! Das ist so fest und gewiß wie Pudding! Aber wo ist sie?«
Er trat hart an den Gartenzaun und blickte durch das Stacket.
»Bei Gott! Dort sitzt sie in der Laube, so frisch und so schön wie Blüthe und Sonnenschein. Und bei ihr sitzt – – Mohrenelement! Wer ist das?«
Er betrachtete sich den Amerikaner genau und sagte dann:
»Ja, es stimmt; es stimmt ganz genau! So ein characteristisches Gesicht kann es nicht zweimal geben. Das ist das Original des Porträts in Schloß Malineau, nur älter als das Bild. Das ist der Herr von Bas-Montagne wie er leibt und lebt! Ich werde – –«
Er wollte sich am Zaune ein Wenig emporziehen, um besser sehen zu können; aber er war zu schwer. Es krachte – die beiden Latten, welche er mit den Händen gefaßt hatte, brachen ab, und der gute Hieronymus stürzte zur Erde nieder.
Der Amerikaner hatte das Prasseln gehört. Er eilte herbei, um den Uebelthäter wo möglich zu erwischen. Er kam gerade zur rechten Zeit, um zu bemerken, daß Schneffke sich wieder vom Boden erhob.
»Herr, was suchen Sie hier?« fuhr er ihn an.
»Zaunlattenspitzen,« antwortete Schneffke.
»Und die brechen Sie sich ab?«
»Ja.«
»Zu welchem Zwecke denn?«
»Um auf die Erde zu fallen. Das sehen Sie ja.«
»Mann, Sie scheinen mir so eine Art von Strolch zu sein.«
»Freilich! Und zwar von der allerschlechtesten Sorte.«
»Donnerwetter! Wollen Sie sich über mich lustig machen?«
»Nicht übermäßig viel, denn Sie sehen mir wirklich gar nicht sehr lustig aus. Wie heißen Sie denn eigentlich?«
»Ah, das ist stark! Dieser Mensch kommt her, um Zaunlatten abzureißen und fragt mich nach meinem Namen! Wie ist denn der Ihrige, he?«
»Der meinige ist einigermaßen selten. Ich bin der Thiermaler Hieronymus Aurelius Schneffke aus Berlin.«
»Schön! Was haben Sie als Maler denn hier am Zaune zu schaffen?«
»Das habe ich Ihnen ja bereits gesagt. Aber nun bitte ich, auch Ihren Namen erfahren zu dürfen.«
»Das finde ich nicht für nöthig. Ich gebe meine Karte nur ganz anständigen Menschen.«
»Und ich bin kein solcher?«
»Jedenfalls nicht! Sie haben mehr das Aussehen eines Bummlers als eines Malers und daher ziehe ich es vor, meinen Namen als mein ausschließliches Eigenthum zu betrachten.«
»Daran thun Sie sehr recht, da Ihr Name nicht viel werth zu sein scheint. Wer einen guten Namen hat, braucht ihn nicht zu verschweigen.«
Das war eine sehr kräftige Zurechtweisung. Ihre Spitze traf den Amerikaner wie ein Dolchstoß.
»Herr, das wagen Sie, mir zu sagen!« rief er. »Soll ich etwa – –«
Er hielt inne; ein warmes, weiches Händchen legte sich auf seine Schulter. Die Engländerin war herbei gekommen.
»Wen haben Sie da, Monsieur?« fragte sie.
»O, einen Menschen, der es gar nicht verdient, daß man – –«
Und abermals konnte er nicht ausreden, denn sie unterbrach ihn:
»Wen sehe ich da! Das ist ja unser guter Herr Schneffke aus Berlin!«
Der Maler zog den Hut, machte eine ehrerbietige Verbeugung und sagte im höflichsten Tone:
»Ja, ich bin es noch, meine Gnädige.«
Er betonte dabei das Wörtchen »noch« so sehr, daß es auffallen mußte.
»Noch?« fragte sie. »Wie meinen Sie das?«
»Es giebt Leute, welche das heute nicht mehr sind, was sie gestern waren.«
Sie lächelte und fragte:
»Ja, die Verhältnisse verändern sich oft plötzlich.«
»So daß aus Gouvernanten reiche Damen werden.«
»Warum nicht! Aber, Herr Schneffke, lassen Sie sich gratulieren, daß Sie jenen Unglückszug versäumten.«
»Ich danke! Bei dem Pech, welches ich habe, befände ich mich heute jedenfalls unter den ewig Seligen.«
»Haben Sie Ihr Ziel glücklich erreicht?«
»Ja, danke. Ich habe dort sogar ein Glück gefunden, welches ich kurz vorher anderwärts vergebens suchte.«
Sie ahnte sofort, was er meinte. Darum fragte sie:
»Verstehe ich Sie recht, so darf ich nochmals gratulieren?«
»Hm! Was meinen Sie, meine Gnädige?«
»Sie sind – verlobt?«
»Donnerwetter! Ja, Sie haben es errathen.«
»Ah, schön! Wie heißt sie?«
»Marie.«
»Ein hübscher, poetischer und auch frommer Name!«
»Ja, hübsch ist sie, poetisch ebenso und fromm auch. Sie hat so ziemlich meine Statur. Wir passen ausgezeichnet zu einander.«
Da stieß der Amerikaner, der sich nicht zu halten vermochte, ein lautes Lachen aus.
»Und das nennen Sie hübsch?«
»Ja; warum nicht?« fragte Schneffke.
»Nun, betrachten Sie sich doch einmal genauer!«
Die Dame glaubte, daß sich der kleine Maler in Wirklichkeit beleidigt fühlen werde, darum sagte sie in bittendem Tone:
»Monsieur Deep-hill!«
Da horchte Schneffke auf.
»Was?« fragte er. »Deep-hill heißt dieser Herr?«
»Ja.«
»Er hat mir seinen Namen verschwiegen. Es wäre jedenfalls klüger gewesen, ihn mir zu nennen; das werde ich ihm doch noch beweisen. Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein!«
Er ging, ohne sich umzusehen. Aber als er dann um die Ecke gebogen war, blieb er einen Augenblick stehen und murmelte:
»Wunderbar! Höchst wunderbar! Diese Aehnlichkeit! Sollte er es wirklich sein? Das wäre ein Zufall oder eine Gottesschickung, wie es besser keine geben könnte! Deep-hill heißt auf Französisch Bas-Montagne und auf Deutsch Untersberg. Hier werde ich einmal den Herrgott spielen und diesen Leuten zeigen, was Herr Hieronymus Aurelius Schneffke eigentlich für ein Kerl ist.«
*