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Der Kutscher knurrte Etwas, was der Lauscher nicht verstehen konnte. Jedenfalls aber sollte es Etwas wie eine Zustimmung bedeuten. Charles Berteu fuhr fort:
»Ich muß Dir nämlich sagen, daß ich Etwas von den beiden Mädchen erfahren will, was sie mir nicht freiwillig mittheilen wollen. Ich muß sie also dazu zwingen. Dies kann aber nur dadurch geschehen, daß ich sie in Furcht jage, natürlich ohne ihnen wirklich ein Leid widerfahren zu lassen. Solchen Mädchen öffnet die Furcht den Mund am Leichtesten. Dabei nun sollst Du mir behilflich sein.«
»Gern, wenn ich nämlich keinen Schaden davon habe,« antwortete der Kutscher.
»Schaden ganz und gar nicht. Du sollst ja nicht einmal wissen, welchen Scherz ich mit ihnen vornehmen will.«
»Das ist mir lieb, denn Ihre Scherze pflegen zuweilen nicht sehr spaßhaft zu sein.«
»Soll das ein Vorwurf sein, oder vielleicht selbst ein Scherz?«
»Keins von Beiden. Was ich sagte, sollte nichts sein als eine einfache Bemerkung, welche mir von der Erfahrung in die Hand gegeben wurde.«
»Ich will nicht untersuchen, wie weit Du als mein Diener zu einer solchen Bemerkung berechtigt bist. Heute handelt es sich um einen wirklichen Scherz, nämlich um so eine Art von Entführung.«
»Donnerwetter. Ist das nicht gefährlich?«
»Nein. Die beiden Mädchen kommen ja sofort wieder frei.«
»Das lasse ich eher gelten. So einen Spaß kann sich ein Bruder mit seinen Schwestern schon erlauben.«
»Gut! Wir sind also ganz einerlei Meinung. Nämlich die Schwestern wollen heute bereits abreisen. Ich habe sie gebeten, länger zu bleiben; sie aber wollen nicht. Sie werden ihren Wagen kommen lassen und abreisen. Da ist nun mein Plan, daß sie nicht nach der Stadt gefahren werden, sondern an einen Ort, von welchem aus sie dann gezwungen sind, wieder nach hier zurück zu kehren. Auf diese Weise setze ich meinen Willen durch, sie länger hier bei mir in der Heimath zu behalten.«
»Da sehe ich aber doch nicht ein, was ich dabei thun könnte. Sie werden ihren Kutscher kommen lassen, und dieser fährt sie natürlich dahin, wohin sie wollen.«
»Dummkopf! Siehst Du denn nicht ein, weshalb ich Dich in die Schänke geschickt habe?«
»Nun, um zu sehen, welche Aehnlichkeit zwischen ihrem Geschirr und dem unsrigen ist!«
»Und weshalb habe ich mich über diese Aehnlichkeit unterrichten wollen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und kannst es auch nicht errathen?«
»Das Rathen ist niemals meine starke Seite gewesen.«
»Nun, so muß ich Dir allerdings zu Hilfe kommen. Nämlich Du sollst sie an Stelle ihres Kutschers fahren.«
»Sapperlot! Das wird schwer gehen!«
»Sogar sehr leicht! Nämlich, sobald ich merke, daß sie abreisen wollen, lasse ich es Dich wissen. Dann spannst Du ein und bringst Dein Geschirr an einen Ort, den wir verabreden werden. Hast Du das verstanden?«
»Sehr gut sogar.«
»Die Schwestern werden dann in das Dorf nach ihrem Geschirr senden. Der Bote aber geht nicht in das Dorf, sondern zu Dir.«
»Ah, jetzt beginne ich zu begreifen.«
»Nun?«
»Ich fahre hier vor. Sie müssen denken, ich sei ihr Kutscher.«
»So ist es. Darum muß Alles ähnlich sein.«
»Gut. Ich werde also meinen alten Mantel umnehmen müssen, da ihr Kutscher auch einen solchen hat.«
»Ja. Du nimmst natürlich den Kragen hoch. Wenn Du dann so verfährst, daß Dich der Schein der Thürlaterne nicht treffen kann, so werden sie sich leicht täuschen lassen.«
»Wo aber fahre ich sie hin?«
Berteu that, als ob sein Plan noch nicht ganz fertig sei, als ob er selbst sich erst einen passenden Ort erdenken müsse.
»Wohin?« fragte er sinnend. »Hm, das ist eben die Frage. In das Dorf natürlich nicht; da könntest Du ihrem Kutscher in die Hände gerathen. Es muß eben ein Ort sein, an welchem sie diese Nacht nicht bleiben können, so daß sie gezwungen sind, wieder nach hier zurück zu kehren.«
»Das stimmt. Aber außerhalb des Dorfes giebt es ja keinen solchen Ort, kein Haus, wo man anhalten und sagen könnte, daß man in die Irre gefahren ist. Finster genug dazu ist es heute.«
»Hm! Sollte sich denn gar nichts finden lassen!«
»Freilich wohl; aber das liegt zu nahe. Man könnte nicht sagen, daß man sich verirrt hat.«
»So macht man einen Umweg hin. Welchen Ort meinst Du denn?«
»Die Pulvermühle.«
Das war es, was Berteu haben wollte. Er sagte im nachdenklichen Tone:
»Die Pulvermühle. Ja, das ginge. Meinst Du nicht auch?«
»Es wäre das Beste. Aber es ist ja heute kein Mensch dort.«
»So geht man hin. Wenn die Schwestern einsteigen, nehme ich von ihnen Abschied und begebe mich sodann schnell nach der Mühle. Ich nehme Freund Ribeau mit, damit es nicht so sehr einsam ist. Wenn Du dann nach einem Umwege dort ankommst, sind wir bereits dort.«
»Ah, gut! Ich werde so thun, als ob ich gar nicht wüßte, wo ich mich befinde. Ich klopfe also an, und Sie öffnen.«
»Ja. Wir öffnen Dir die Durchfahrt. Du fährst herein, und hinter Dir schließen wir wieder zu, so daß uns die Mädchen nicht entwischen können. Wir haben natürlich kein Licht, während wir Euch öffnen. Wir führen die Beiden nach meiner Schreibstube, in welcher Licht brennt. Sie erkennen mich, und die Ueberraschung, die es dabei geben wird, kannst Du Dir denken.«
»Und ich?«
»Nun, Du wartest eine Weile, bis ich Dich benachrichtige, ob wir mit Dir nach Hause fahren oder ob wir gehen. Im letzteren Falle fährst Du natürlich eher zurück, denn wir werden den Scherz mit einigen Flaschen Wein begießen, welche wir mitnehmen.«
»So handelt es sich nur noch um den Ort, an welchem ich mit dem Geschirr zu warten habe.«
»Nun, auf dem Wege nach der Pulvermühle. Da sieht Dich kein Mensch. Es kommt Niemand hin, und sodann ist ja rechts und links der hohe, dunkle Wald, so daß Dich Einer, der zufälliger Weise hinkäme, gar nicht erkennen könnte.«
»Na, mir recht! Meine Instruction habe ich. Ich möchte nur die Gesichter der beiden Damen sehen, wenn sie denken, sich an ein einsames Waldhaus verirrt zu haben, und dann ihren Bruder erkennen!«
»Ja, es wird jedenfalls köstlich! Also mache Deine Sache gut! Auf keinen Fall aber darfst Du die Mädchen aussteigen lassen, bevor Du die Mühle erreicht hast. Es ist ja möglich, daß sie Verdacht schöpfen. Da mußt Du klug sein!«
»Keine Sorge. Ein Frauenzimmer steigt so leicht nicht aus, so lange die Kutsche in Bewegung ist!«
Er ging fort, und Berteu begab sich zu der Gesellschaft zurück.
Fritz hatte jedes Wort verstanden. Er errieth die Absicht dieses Franzosen. War der Kutscher wirklich so dumm, den Plan seines Herrn nicht zu durchschauen, oder stellte er sich nur so? Fritz sagte sich, daß Berteu heute jedenfalls die Gelegenheit ergriffen habe, Nanon seine Liebesanträge zu erneuern; höchst wahrscheinlich aber war er abgewiesen worden, und nun wollte er Nanon mit List nach der Mühle bringen lassen, um sie dort in seine Gewalt zu bekommen. Freilich, Nanon allein konnte er nicht haben; Madelon war dabei. Daher nahm er einen jedenfalls gleich gesinnten Freund mit. Wehe den Mädchen, wenn sie wirklich in die Hände dieser beiden gewissenlosen Schurken fallen sollten!
Fritz hatte genug gehört; er brauchte nicht mehr zu lauschen. Daher kletterte er an dem Spaliere wieder hinab und entfernte sich so vorsichtig, daß ihn Niemand bemerkte. Dann blieb er überlegend stehen.
»Hm!« sagte er sich. »Ich könnte den Streich vereiteln, ohne die beiden Damen in Gefahr zu bringen. Ich brauchte ihnen denselben einfach nur zu verrathen. Wenn ich jetzt zu ihnen gehe und ihnen erzähle, was ich gehört habe, so werden sie das Schloß sofort mit mir verlassen. Wir gehen in das Dorf, steigen in den Wagen und fahren nach Etain. Berteu hat dann den Aerger und das Nachsehen. Aber soll er wirklich so billig davonkommen? Eine kräftigere Lehre ist ihm recht gut zu gönnen, und die möchte ich ihm herzlich gern geben. Uebrigens spricht mich diese alte Mühle außerordentlich an. Es ist mir, als ob dort Etwas zu holen sei. Und der Kutscher hat auch einen anderen Lohn verdient, als er sich einbildet.«
Der brave Fritz war ein verwegener Character, aber doch nicht unvorsichtig. Er legte sich alle Gründe für und wider zurecht und kam endlich zu dem Entschlusse:
»Gut, es wird gewagt! Zwei Revolver und zwei kräftige Fäuste sind genug, um mit diesem Berteu und seinem Freunde Ribeau fertig zu werden, den Spaß, den ich mir persönlich machen werde, gar nicht mit in Rechnung gebracht!«
Er begab sich in das Dorf und da in die Schänke. Dort versah er sich mit einem Lichte und sagte dem wartenden Kutscher, daß er ein Bote der beiden Damen sei, die ihn ersuchen ließen, von jetzt an in einer Stunde mit dem eingespannten Geschirr auf sie zu warten. Es war das eine Vorsichtsmaßregel, welche er für etwaige Eventualitäten traf. Sein Plan konnte ja auch anders ausfallen, als er dachte.
Nun begab er sich nach dem Schlosse zurück und bog da in den Fahrweg ein, welcher nach der Pulvermühle führte und wo der Kutscher warten sollte. Der Letztere war noch nicht da, doch dauerte es gar nicht sehr lange, so hörte Fritz Pferdegetrappel und das leise, langsame Rollen von Rädern. Er war im Stalle der Schänke gewesen und hatte da noch einige kurze Stricke gesucht, die er zu sich gesteckt hatte.
Er befand sich an einer etwas breiten Stelle der Straße, weil er sich gesagt hatte, daß hier der Kutscher jedenfalls umlenken und dann warten werde. Das geschah auch. Der Mann stieg vom Bocke, befestigte die Zügel und öffnete den Kutschenschlag, um hinein zu steigen und es sich dort bequem zu machen.
Das war der geeignete Augenblick. Fritz huschte unhörbar unter dem Baume, hinter dem er sich versteckt gehabt hatte, hervor und legte dem Kutscher die beiden Hände so fest um die Kehle, daß der so unerwartet Ueberfallene keinen Laut ausstoßen konnte. Der Mann war vor Schreck ganz steif und bewegungslos, und als Fritz seine Finger noch fester zusammenschloß, stieß der Franzose ein tiefes Röcheln aus und sank zur Erde. Er war beinahe erwürgt und hatte die Besinnung verloren.
Fritz nahm ihm den Mantel und den breitkrämpigen Hut ab, legte Beides einstweilen zur Seite, faßte den Mann dann und schleifte ihn eine ziemliche Strecke in den Wald hinein. Dort band er ihn mit Hilfe seiner Stricke an einen Baum und band ihm sein eigenes Taschentuch vor den Mund, damit er, zur Besinnung zurückgekehrt, sich nicht durch Rufen Hilfe verschaffen könne.
Dann kehrte er zu dem Wagen zurück, nahm den Mantel um, vertauschte den breitkrämpigen Hut mit dem seinigen, den er einstweilen in den Sitzkasten versteckte, machte die Zügel los, griff zur Peitsche und stieg auf den Bock.
Nun war er bereit und wartete auf den Boten, der ihn holen sollte. Dieser kam nach vielleicht einer Viertelstunde.
»Pst!« sagte er, als er die Kutsche erreicht hatte.
»Ja,« antwortete Fritz halblaut. »Ist's Zeit?«
»Ja, aber nicht zu schnell, denn vom Dorfe ist es weiter hin als von hier.«
Die Pferde zogen an. Nach kurzer Zeit hielt Fritz vor der Thür, aber so, daß ihn das Licht nicht treffen konnte. Er hatte den Kragen aufgeschlagen und die Hutkrämpe ziemlich weit herunter gebogen, so daß man sein Gesicht gar nicht erkennen konnte.
Nanon und Madelon traten aus der Thür, von Berteu, seiner Mutter und einigen Gästen begleitet. Sie nahmen Abschied und stiegen ein. Berteu näherte sich den Pferden und flüsterte dem Kutscher zu:
»Umweg wenigstens eine halbe Stunde.«
Fritz nickte mit dem Kopfe und fuhr dann ab, natürlich in der Richtung nach dem Dorfe zu. Die beiden Damen hatten wirklich Nichts gemerkt und waren ganz ohne Ahnung der Gefahr, welche ihnen gedroht hatte. Eine kurze Strecke vor dem Dorfe hielt der Wagen, und sie bemerkten, daß der Kutscher vom Bocke stieg. Nanon öffnete das Fenster und fragte:
»Was giebt es? Warum halten Sie?«
»Weil ich mit Ihnen zu sprechen habe?«
Sofort wurde es den Beiden angst. Was konnte dieser Mensch hier mit ihnen zu sprechen haben?
»Steigen Sie nur wieder auf!« gebot Madelon. »Im Dorfe ist es auch noch Zeit, uns Ihre Mittheilungen zu machen!«
»Nein, Mademoiselle Madelon,« antwortete er, näher tretend, mit seiner richtigen Stimme.
»Mein Gott!« rief Nanon. »Das ist ja nicht der Kutscher! Diese Stimme kenne ich! Das ist ein Anderer!«
»Nun, wer bin ich, Mademoiselle Nanon?«
»Sie sind – – ah, Monsieur Schneeberg, sind Sie es?«
»Ja, kein Anderer. Fürchten Sie sich nicht.«
»Gott sei Dank! Mir begann bereits angst zu werden. Aber, Monsieur, wo ist denn unser Kutscher?«
»Im Dorfe wartet er auf Sie mit seinem Wagen.«
»Ah! Ist denn dieser nicht der seinige?«
»Nein. Dieser Wagen nebst Pferden gehört Ihrem lieben Bruder Charles Berteu.«
»Gott, was hat das zu bedeuten? Der Wagen des Bruders! Laß uns sofort aussteigen, Madelon!«
»O bitte, warten Sie noch!« bat Fritz.
»Aber das geht nicht mit rechten Dingen zu.«
»Allerdings nicht. Sie sollten entführt werden.«
»Entführt!« riefen Beide.
»Ja. Aber ich hatte Ihnen doch versprochen, über Sie zu wachen.«
»Ich danke Ihnen, Monsieur. Aber inwiefern sollten wir denn entführt werden?«
»Sie sollten nach der Pulvermühle geschafft werden, wo Sie von Berteu und Ribeau erwartet werden.«
»Ribeau, dessen ich mich kaum erwehren konnte!« sagte Madelon.
Fritz erzählte ihnen Alles, bis der Plan ihres Bruders klar vor ihren Augen lag. Sie schauderten.
»Welche Schlechtigkeit!« meinte Nanon. »Ich hätte diesen Tag nicht überlebt.«
»Ich auch nicht!« fügte Madelon hinzu. »Herr Schneeberg, Sie haben uns das Leben gerettet. Fahren wir eilig nach dem Dorfe!«
»Fürchten Sie sich wirklich so sehr vor diesen beiden Menschen?« fragte er.
»Nun Sie bei uns sind, haben wir keine Angst mehr.«
»Das ist mir sehr lieb; denn das giebt mir den Muth, eine recht große Bitte auszusprechen.«
»Reden Sie, lieber Monsieur Schneeberg!« sagte Nanon.
»Ich möchte am Liebsten nicht nach dem Dorfe.«
»Wohin sonst?«
»Ich möchte Sie lieber nach der Mühle fahren.«
»Mein Gott! Zu diesen beiden Menschen?«
»Ja.«
»Warum? Ich begreife das nicht!«
»Um sie vor Ihren Augen zu bestrafen. Und außerdem habe ich noch einen besonderen Grund, mir das Innere dieser Mühle einmal anzusehen.«
»Aber, Monsieur, welche Gefahr für uns!«
»Nicht die mindeste! Oder haben Sie kein Vertrauen zu mir?«
»Gewiß vertrauen wir Ihnen. Sie sind stark, muthig und treu!«
»Und vorsichtig!« fügte er hinzu. »Ich werde Sie ganz gewiß nicht einer Gefahr aussetzen, welche ich nicht zu beherrschen vermag!«
»Davon sind wir überzeugt. Aber die einsame Mühle. Und diese beiden Menschen dort.«
»Sollen sie nicht bestraft werden?«
»Eigentlich, ja! Was sagst Du dazu, Madelon?«
»Ich würde ihnen eine Strafe gönnen.«
»Du hast also Muth, mit hinzufahren?«
»Ja, da Herr Schneeberg uns versichert, daß er uns schützen werde.«
»Aber was wird dort geschehen? Was haben wir zu thun?«
»Ich werde,« antwortete Fritz, »die Rolle des instruirten Kutschers spielen. Ich fahre bei der Mühle vor und thue so, als ob wir uns verirrt haben. Man wird uns im Dunkeln öffnen und dann hinter uns die Thür verschließen.«
»Dann sind wir gefangen!«
»Das ist mir lieb. Man wird Sie sodann nach der Schreibstube Ihres Bruders bringen.«
»Uns allein? Ohne Sie?«
»Allerdings; aber Sie stehen trotzdem unter meinem Schutze. Haben Sie bereits einmal einen Revolver in der Hand gehabt?«
»Ja,« antworteten Beide.
»Hier sind zwei. Stecken Sie dieselben zu sich, um sie im Nothfalle zu gebrauchen. Schießen Sie in Gottes Namen Jeden nieder, der Sie nicht mit Achtung behandelt. Ich werde die Folgen auf mich nehmen!«
»Einen Menschen erschießen!« sagte Madelon schaudernd.
»O, so weit wird es gar nicht kommen. Wenn diese beiden Kerls die Waffen sehen, werden sie den Muth verlieren. Diese Sorte von Menschen pflegen Feiglinge zu sein. Wo liegt die Schreibstube? Sie haben ja hier gewohnt. Sie werden es wissen.«
»Am entgegengesetzten Ende von der Durchfahrt, wo Sie sich befinden werden. Sie werden also nicht in unserer Nähe sein.«
»Haben Sie keine Sorge! Ich werde auf jeden Fall bei Ihnen sein, sobald Sie meiner bedürfen. Also, wollen Sie sich mir anvertrauen?«
Sie zögerten mit der Antwort. Dann fragte Nanon:
»Also Sie geben uns Ihr Wort, daß sie uns beschützen werden?«
»Mein festes Wort! Es soll Ihnen kein Mensch ein Haar krümmen.«
»Nun, so fahre ich sogar gern mit, um diesen beiden Menschen sagen zu können, wie sehr ich sie verachte. Die Gefahr scheint mir allerdings nicht sehr groß, seit wir die Revolver haben. Brechen wir also auf, Monsieur Schneeberg.«
Fritz stieg wieder auf, lenkte um, kehrte auf der Dorfstraße zurück und lenkte dann in den nach der Mühle führenden Fahrweg ein. Er war am Tage hier gewesen und hatte sich bei dieser Gelegenheit genugsam orientirt. Als er das Gebäude erreichte, so daß die Pferde mit ihren Köpfen beinahe an das Thor stießen, klatschte er einige Male mit der Peitsche.
»Heda! Holla! Wohnt hier Jemand?« rief er dann.
Erst als er diesen Ruf, natürlich mit verstellter Stimme, wiederholt hatte, ließ sich im Innern des Gebäudes eine Bewegung vernehmen. Dann wurde das Thor ein Wenig geöffnet und man fragte:
»Wer ist denn hier draußen?«
»Verirrte. Wo befinden wir uns hier?«
»Alle Teufel! Verirrte! Und zwar mit einer Equipage! Wo wollen Sie denn hin?«
»Nach Etain.«
»Und wo kommen Sie her?«
»Von Schloß Malineau.«
»Da sind Sie allerdings bedeutend abseits gerathen. Wenn Sie für eine Viertelstunde absteigen wollen, werde ich mich nachher gern auf den Bock setzen, um Sie auf den richtigen Weg zu bringen.«
»Das werden wir thun. Die Damen werden es erlauben!«
»Ah, Damen sind es? Um so mehr ist der kleine Unfall zu bedauern. Bitte, fahren Sie herein. Wir haben leider hier kein Licht; aber wir werden die Damen führen, nachdem sie ausgestiegen sind.«
Diese Verhandlung zwischen Ribeau und Fritz, denn jene waren die Sprecher, war natürlich beiderseits mit verstellter Stimme geführt worden. Jetzt wurde das Thor weit geöffnet und dann aber, als Fritz eingefahren war, sogleich hinter dem Wagen wieder verschlossen.
Die beiden Damen stiegen aus, jedenfalls jetzt mit dem innigen Wunsche, daß sie sich doch lieber nicht in diese Gefahr begeben haben mochten. Jede von ihnen fühlte sich bei der Hand ergriffen und durch eine Thür gezogen.
Fritz blieb scheinbar auf dem Bocke sitzen. Aber als er die Schritte der sich Entfernenden nicht mehr hörte, stieg er ab, schleifte die Zügel fest und zog dann das Licht hervor, um es anzubrennen. Beim Scheine desselben bemerkte er, daß das Thor durch einen langen, hölzernen Riegel verschlossen war, den er leicht entfernen konnte.
Nun trat er durch die Thür, durch welche die Damen geführt worden waren. Es war der eigentliche Mühlenraum, in welchem er sich befand. Er durchschritt denselben der Länge nach und vernahm sehr laute männliche und weibliche Stimmen, welche auf einen sehr ernsten Wortwechsel deuteten. Als er die Thür erreichte, hinter welcher sich die sprechenden Personen befanden, verlöschte er sein Licht und begann, zu lauschen.
Als vorhin nach der Unterredung Berteu's mit seinem Kutscher der Letztere sich entfernt hatte, war der Erstere zu seinen Gästen zurückgekehrt. Unter diesen befand sich ein junger Mann, der sich eigentlich durch seine Figur und die Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge ausgezeichnet hätte, wenn in den Letzteren nicht die verheerenden Spuren schlimmer Leidenschaften zu finden gewesen wären. Er hatte sich etwas abseits der übrigen Anwesenden gehalten, um – Madelon beobachten zu können, welche seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.
Sie hatte diese Aufmerksamkeit gar wohl bemerkt, aber doch so gethan, als ob sie von derselben nicht die geringste Notiz nähme. Sie hatte es auch so eingerichtet, daß er stets von Nanon bedient wurde; einmal aber konnte sie es doch nicht vermeiden, daß er ihr sein leeres Glas entgegenhielt, um es sich von ihr füllen zu lassen.
Dieser junge Mann war Ribeau, von dem Berteu zu seinem Kutscher gesprochen hatte.
»Mademoiselle,« sagte er, indem sie ihm den Wein eingoß, »wissen Sie, daß Sie ein reizendes Wesen sind?«
»Soll das ein Compliment sein?« fragte sie frostig.
»Nein, es ist die reine Wahrheit. Werden Sie länger hier bleiben?«
»Ich reise bereits heute wieder ab.«
»Wie schade!«
»Wie gut!«
Sie hätte sich entfernen können, aber es drängte sie, ihn für seine auffällige Beachtung zu bestrafen; darum blieb sie diese kleine Weile bei ihm stehen.
»Wie gut, sagen Sie!« fuhr er fort. »Haben Sie mit Ihrer Heimath gebrochen? Gefällt es Ihnen nicht hier?«
»Allerdings nicht!«
»Aber Schloß Malineau ist doch schön!«
»Das ist wahr. Aber die Menschen hier sind mir nicht sympathisch.«
»Darf man die Gründe davon wissen?«
»Gewiß. Es giebt nur einen einzigen: Man weiß hier nicht die Augen zu beherrschen. Auch Blicke können unhöflich und beleidigend sein. Haben Sie das nicht gewußt?«
»Ah! Sie sind eine kleine, allerliebste Schlange! Aber Ihr Gift tödtet nicht; es wirkt vielmehr nur berauschend.«
»Nun, so nehmen Sie sich vor dem Katzenjammer in Acht!«
Jetzt ging sie von ihm fort und das war gerade der Augenblick, an welchem Berteu zurückkehrte und auf ihn zugeschritten kam.
»Was hast Du?« fragte der Letztere. »Du siehst ein Wenig echauffirt aus.«
»Ich bin es auch. Ich hatte ein kleines Intermezzo, welches mich erregt hat.«
»Mit wem?«
»Mit Deiner Schwester Madelon.«
»Ah! Einen galanten Wortwechsel?«
»Von meiner Seite, ja; sie aber war weniger höflich, das muß ich aufrichtig gestehen.«
»Du darfst es ihr nicht übel nehmen. Sie wohnt ja in Deutschland!«
»Allerdings! Im Lande der Bären und Ochsen! Wie kann man da Umgangsform erwarten. Aber ein schönes Mädchen ist sie doch!«
Er folgte ihr auch jetzt noch mit begierigem Blicke. Berteu bemerkte das mit innerer Befriedigung.
»Sie gefällt Dir?« fragte er.
»Ausnehmend! Alle Teufel! Du kennst mich. Sie ist zwar Deine Schwester, aber eigentlich geht sie Dich doch nichts an, und so glaube ich, sagen zu dürfen, daß – – –«
»O bitte, genire Dich nicht. Wir sind Freunde. Diese beiden Schwestern sind mir fremd. Uebrigens kann ich Dir sagen, daß mir Nanon ebenso sehr gefällt, wie Dir die Andere.«
»Ah! Könnte sich nicht ein kleines Abenteuer entwickeln lassen?«
»Wie wir es gewohnt sind? Hm!«
»Nicht? Ja? Nein?«
»Vielleicht doch; aber es handelt sich dabei um die allergrößte Verschwiegenheit.«
»Pah, Alter! Ich dächte, daß Du mich genugsam kennen gelernt hättest! Uebrigens höre ich, daß die beiden Mädchen heute schon wieder abreisen wollen?«
»Das haben sie sich allerdings vorgenommen.«
Ribeau sah seinen Freund mit einem fragenden, gespannten Ausdruck an.
»Du sagst das mit so eigenthümlicher Betonung!« meinte er. »Du bist in Nanon verliebt; heute noch will sie fort und dennoch sprichst Du von der Möglichkeit eines Abenteuers? Alter, ich beginne, Etwas zu ahnen.«
»Was?« fragte Berteu lächelnd.
»Daß das Abenteuer bereits eingeleitet ist, sich vielleicht bereits im Gange befindet?«
»Schlaukopf!«
Da sprang Ribeau von seinem Stuhle auf und sagte:
»Du, Freund, aufrichtig! Bezieht sich Dein Abenteuer nur auf Nanon?«
»Nein, sondern auf Beide.«
»Donnerwetter! So hast Du bereits einen Gefährten? Ein Anderer ist mir zuvorgekommen?«
»Nein; ich habe noch keinen Zweiten engagirt.«
»So engagire mich!«
»Ich dachte allerdings an Dich!«
»Prächtig! Also heraus! Um was handelt es sich?«
»Um ein Liebesquartett unter acht Augen.«
»Zwei Paare also?«
»In der Pulvermühle.«
»Bist Du toll? In diesem alten Neste?«
»Nirgends anders.«
»Und heut Abend noch?«
»Gewiß. Wann sonst?«
»Aber, sie reisen doch ab!«
»Ich sehe, daß ich Dir mein Project erklären muß. So höre!«
Er detaillirte seinen Plan. Ribeau hörte aufmerksam zu. Am Ende sagte er:
»Höre Charles, wir haben manchen Streich ausgeführt, der heutige aber macht Deiner Erfindung alle Ehre.«
»So bist Du mit dabei?«
»Das versteht sich ganz von selbst! Aber, ich verlange diese kleine Schlange Madelon für mich!«
»Sie ist Dein, notabene, falls Du es verstehst, ihr Interesse zu erregen!«
»Keine Sorge. Sie ist grob gegen mich gewesen. Das ist ein sicherer Beweis, daß sie sich für mich interessirt. Mit einem gleichgiltigen Menschen ist man nicht grob; mit ihm spricht man gar nicht.«
Damit war das Abenteuer besprochen. Und als dann später die Schwestern erklärten, daß sie aufbrechen wollten, war Ribeau überzeugt, zu seinen vielen Siegen einen neuen verzeichnen zu können.
Als die Kutsche mit Nanon und Madelon abgegangen war, erklärte Berteu seiner Mutter, daß er sich für einige Zeit entfernen wolle. Sie solle ihn entschuldigen.
»Aber wenn man nach Dir verlangt?« fragte sie.
»So sage, ich sei unwohl!«
»Und wenn man zu Dir will?«
»Das verbitte ich mir!«
»Wenigstens mir wirst Du sagen, wohin Du gehst!«
»Warum nicht? Ich gehe, um mir meine Frau zu holen.«
Sie richtete einen ganz und gar verständnißlosen Blick auf ihn.
»Ich begreife Dich nicht!« sagte sie.
»Ich kann einfach nur wiederholen, was ich bereits sagte: Ich gehe, mir eine Frau zu holen.«
»Wohin?«
»Nach der Pulvermühle.«
»Dort?« fragte sie besorgt. »Wieder eins Deiner Abenteuer! Am Begräbnißtage Deines Vaters.«
»Nicht ein Abenteuer, sondern ein glänzendes Geschäft ist es, was ich dort suche. Ich treffe Nanon dort.«
»Nanon?« fragte sie erstaunt. »Die ist ja fort!«
»Ja, und zwar nach der Pulvermühle, wo sie mich erwartet, um mir ihr Jawort zu geben.«
Die Frau hatte die ganz richtige Ahnung, daß ihr Sohn im Begriffe stehe, einen dummen Streich zu unternehmen; aber sie wußte, daß sie keinen Einfluß auf ihn besitze. Darum bat sie nur:
»Keine Unvorsichtigkeit, Charles!«
»Ganz und gar nicht. In kurzer Zeit werde ich Dir Nanon als meine Braut vorstellen.«
»Sie sagt freiwillig Ja?«
»Sie sagt Ja; das ist genug. Der Grund ist hier Nebensache.«
Er steckte einige Flaschen Wein nebst vier Gläser zu sich und machte sich mit Ribeau auf den Weg. Indem sie neben einander durch das nächtliche Dunkel schritten, war es Berteu, als ob er einen eigenthümlichen, menschlichen Laut vernommen habe.
»Horch!« sagte er.
»Was?«
»War das nicht wie ein Stöhnen hier links im Walde?«
»Pah! Der Wind geht durch die Aeste.«
Sie setzten ihren Weg fort. Das Stöhnen aber hatte der gefesselte Kutscher verursacht, welcher mit Anwendung seiner ganzen Kraft daran arbeitete, sich aus seiner Lage zu befreien.
In der Pulvermühle angekommen, zu welcher Berteu den Schlüssel bei sich führte, begaben sie sich sogleich nach der Schreibstube, wo sie die dort vorhandene Lampe anzündeten und sodann die Flaschen und Gläser auf den Tisch stellten. Der Raum war nicht groß und recht behaglich eingerichtet.
»Nicht übel hier,« meinte Ribeau mit einem cynischen Lächeln. »Zwei solche Zimmer aber wären besser!«
»Wegen Trennung der Paare?«
»Gewiß! Nicht?«
»Pah! Zwei Freunde und zwei Schwestern! Laß uns zunächst eine Cigarre anbrennen!«
»In einer Pulvermühle!«
»Es ist jetzt keine Gefahr vorhanden. Die Vorräthe sind in dem Keller gut aufbewahrt, und in den oberen Räumen giebt es keine gefährlichen Stoffe.«
Er öffnete das Schreibpult, in welchem sich auch die Cigarren befanden, und nachdem sie sich je eine angesteckt hatten, nahmen sie neben einander Platz.
»Ich bin wirklich ungeheuer gespannt auf die erstaunten und betroffenen Gesichter, welche wir sehen werden,« meinte Berteu.
»Wir müssen den ersten Schreck benutzen. Der Schreck lähmt den Widerstand. Ich wette, daß Madelon von mir zehn Küsse erhalten hat, ehe sie nur zu Worte kommt!«
»Vielleicht geht es anders, als Du denkst!«
»Wie anders soll es gehen? Sie werden erst zürnen, dann bitten und zuletzt die liebevollsten Damen sein. Horch!«
»Das ist der Kutscher mit der Peitsche.«
»Gehen wir!«
Sie begaben sich nach der Einfahrt, wo Ribeau die Unterredung mit dem Kutscher führte. Als die Schwestern ausgestiegen waren, geleiteten sie dieselben durch den dunklen Mühlenraum nach der Schreibstube.
Berteu öffnete dieselbe, und die beiden Damen traten ein, die Männer hinter ihnen. Die Letzteren hatten sich eingebildet, nun die verworrensten Ausrufe des Schreckes und der Angst zu hören: darum waren sie nicht wenig erstaunt, als die Mädchen wortlos nach dem kleinen Sopha schritten und sich neben einander auf demselben niederließen.
Dies war eine gute Berechnung. Sie hatten da die eine Wand im Rücken, die andere an der Seite und den Tisch vor sich.
Berteu blickte Ribeau an und Ribeau Berteu, Einer gerade so verwundert wie der Andere. Sie vergaßen ganz, sich den beiden Damen zu nähern. Endlich sagte Berteu:
»Donnerwetter, Ihr seid es? Wer hätte das gedacht! Aber sagt doch nur, wie Ihr Euch verirren konntet?«
»Und zwar nach rückwärts verirren!« fügte Ribeau hinzu.
»Die Schuld liegt jedenfalls am Kutscher!« antwortete Nanon.
»So habt Ihr Euch einen sehr dummen Menschen gemiethet!«
»Oder Du hast uns einen sehr verschlagenen Kerl auf den Bock gesetzt!«
Er lachte laut auf.
»Denkst Du?« fragte er.
»Ja, das denke ich! Entweder sehr verschlagen oder sehr stupid!«
»Jedenfalls das Erstere!«
»Ich denke vielmehr das Letztere!«
»Was kann das Leugnen nützen! Wäre er stupid, so hätte er meine Befehle nicht so gut ausgeführt. Wir wollten Euch für einige Stunden hier bei uns sehen. Nun können wir es Euch erzählen, wie wir das angefangen haben. Natürlich aber nehmen wir bei Euch Platz. Ich hoffe, daß Ihr Nichts dagegen habt!«
Er schickte sich an, den Tisch zur Seite zu schieben.
»Nein,« antwortete Nanon, »vorausgesetzt, daß Ihr auch Nichts hiergegen habt!«
Sie zog dabei ihren Revolver hervor, und Madelon that dasselbe.
»Alle Teufel!« rief Berteu. »Sie sind bewaffnet!«
»Das habt Ihr nicht erwartet, nicht wahr? Ich sage Euch, daß wir den, der uns anzurühren wagt, niederschießen werden!«
»Unsinn! Wo habt Ihr diese Waffen her? Ihr hattet sie doch am Tage nicht!«
»Leuten Eures Schlages gegenüber muß man stets bewaffnet sein!«
»Aber,« bemerkte Ribeau, »man muß auch verstehen, mit den Waffen umzugehen!«
Er schien ein gewandter Turner zu sein. Ein rascher Schritt um den Tisch, und sich schnell über denselben hinüber biegend, hatte er mit einem kühnen Griffe seiner Hände die beiden Revolver gepackt und den schwachen Frauenhänden entrissen. Ein zweistimmiger Schreckensschrei erscholl. Die beiden Männer lachten.
»So,« sagte Ribeau, »jetzt sind wir nun die Herren der Situation; und wir werden unsere Gesetze vorschreiben!«
»Noch nicht!«
Diese beiden Worte wurden hinter ihm gesprochen. Er wollte sich umdrehen, kam aber nicht dazu, denn ein gewaltiger Faustschlag saußte auf seinen Kopf herab, so daß er wie ein Klotz zu Boden fiel. Berteu fuhr zurück, er glaubte, seinen eigenen Kutscher vor sich zu haben.
»Mensch! Schurke!« rief er. »Was fällt Dir ein? Ich jage Dich auf der Stelle aus –«
Er sprach nicht weiter, denn ein eben solcher Faustschlag hatte ihn getroffen, so daß er nun neben seinem Cumpan auf der Diele lag. Jetzt erst legte Fritz den Hut und den Mantel ab.
»So!« sagte er. »Diese beiden Messieurs werden einige Zeit lang kein Wort mehr reden. Ich kenne meinen Hieb. Zunächst wollen wir einmal von dieser Sorte kosten! Er öffnete eine der Flaschen, goß sich ein Glas voll ein und trank es aus. Dann hob er die beiden Revolver auf, welche Ribeau entfallen waren.
»Wie gut, daß Sie kamen!« sagte Nanon. »Wir waren nun ohne Waffen. Was thun wir jetzt? Am Besten wird es sein, daß wir uns sofort entfernen!
»Ich bitte, doch noch ein Wenig zu warten,« sagte Fritz dann.
Er öffnete das Pult und blickte hinein. Zunächst zog er ein Packet starken Bindfaden hervor, mit welchem er die beiden besinnungslosen Franzosen band. Dann legte er sie so, daß sie, selbst wenn sie erwachen würden, nicht sehen konnten, was im Zimmer vorging.
Nun untersuchte er den Inhalt des Pultes sorgfältig. Dabei nahm sein Gesicht den Ausdruck steigender Genugthuung an. Madelon wußte, daß er preußischer Wachtmeister war; sie kannte also auch den Grund, weshalb er diese Bücher und Papiere so genau durchsuchte. Nanon hatte aber keine Ahnung davon. Sie war ganz erstaunt über das Interesse, welches er für diese Scripturen zeigte.
»Interessiren Sie sich so sehr für die Pulverfabrikation?« fragte sie.
»Nein, aber desto mehr für die Handschriften, welche ich hier finde. Ist Ihnen diese Unterschrift bekannt?«
Er legte ihr einige Briefe hin.
»Ah, der alte Capitän!« sagte sie.
»Und hier?«
»Graf Rallion.«
»Diese Sachen interessiren mich so, daß ich wünsche, eine Abschrift von ihnen zu haben. Ich werde Ihre Geduld nicht lange auf die Probe stellen.«
Er nahm Tinte, Feder und von dem vorhandenen Papiere, und begann zu schreiben. Nanon verwunderte sich schier über die Gewandtheit, welche dieser Pflanzensammler im Umgange mit der Feder besaß. Es war eine eigenthümliche Situation: Dort die beiden Gefesselten, deren Besinnung noch nicht zurückgekehrt war; hier die beiden Mädchen, soeben aus einer großen Gefahr errettet und an diesem gräulichen Orte dem schreibenden Kräutermanne mit einer Ruhe zusehend, als wenn sie sich in bester und bequemster Sicherheit befänden.
»So!« sagte er nach einiger Zeit. »Jetzt bin ich fertig, und wir können aufbrechen.«
Er steckte die Abschriften zu sich und brachte die Originale wieder an Ort und Stelle. Eben wollte er sein Licht anstecken, um dann die Lampe verlöschen zu können, als er aufhorchte.
»Man klopft!« sagte Nanon.
»Das ist kein Klopfen,« meinte Fritz. »Man hämmert förmlich gegen die Thür. Und da, dieses Rufen! Ich glaube gar, man belagert uns. Sollte es dem Kutscher gelungen sein, sich zu befreien und die Gäste zu alarmiren?«
»Das kann uns nichts schaden!« meinte Nanon. »Oeffnen wir!«
Aber Madelon verstand die Situation besser. Fritz befand sich in größter Gefahr.
»Nein, nicht öffnen!« sagte sie.
»Aber, warum nicht?«
»Davon später!«
Fritz nickte ihr beistimmend zu.
»Sie Beide befinden sich wohl weniger in Gefahr,« sagte er. »Aber wenn man sich meiner bemächtigt, so erwartet mich nichts Gutes. Ich habe den Kutscher gefesselt und diese beiden Messieurs niedergeschlagen.«
»Das ist schlimm, sehr schlimm!« sagte Madelon. »Was ist da zu thun? Man klopft und ruft immer stärker!
»Kommen Sie!« meinte Fritz. »Man muß sehen, was sie wollen.«
Er ließ Hut und Mantel des Kutschers liegen. Die Revolver hatte er zu sich gesteckt. Er nahm die beiden Damen bei den Händen und führte sie im Dunkeln fort bis vor, wo die Pferde mit dem Wagen standen. Es waren draußen viele Menschen beschäftigt, das Thor aufzusprengen.
»Hätten Sie doch Ihr Gepäck nicht mit im Wagen!« flüsterte er.
»Lassen wir es im Stich!« antwortete Nanon. »Nein. Man wird doch sehen, ob diese Messieurs es fertig bringen werden, uns festzuhalten. Ein Glück, daß dieser Raum hier groß genug ist, um den Wagen umlenken zu können. Bitte, steigen Sie ein!«
»Herrgott!« sagte Nanon. »Es wird wohl gefährlich?«
»Für Sie nicht!«
»Aber für Sie?«
»Auch das befürchte ich nicht. So! Jetzt sitzen Sie fest. Jetzt wollen wir ein Wort mit diesen Leuten reden.«
»Wer ist draußen?« fragte er laut. »Ich, ich, ich, wir, wir!« antworteten viele Stimmen.
»Was wollt Ihr denn eigentlich?«
»Wo ist Monsieur Berteu?«
»Im Schreibzimmer.«
»Und Monsieur Ribeau?«
»Auch dort.«
»Und der Fremde, der mich gewürgt und gebunden hat?«
»Das war der Kutscher.«
»Der bin ich.«
»Also auf! auf! auf!«
»Sogleich! Im Augenblick!«
Er hatte den Wagen umgelenkt und die Zügel fest in der Hand. Das Thor ging nach auswärts auf; daher gelang es den Leuten nicht, es mit Gewalt zu öffnen. Während sie erfolglos pochten und hämmerten, konnten sie nicht hören, daß er den Holzriegel zurückschob. Im nächsten Augenblicke saß er auf dem Bocke, die Peitsche in der Rechten, die Zügel und den einen Revolver in der Linken. Ein Hieb mit der Peitsche, und die Pferde zogen an; das Thor prallte auf und riß mehrere der draußen Stehenden über den Haufen.
»Zurück! Platz gemacht!« kommandirte er.
Sechs Revolverschüsse krachten; die erschrockenen Pferde bäumten sich; aber er hatte sie fest im Zügel. Noch einige Peitschenhiebe, und die Kutsche flog zum Thore hinaus und im Galoppe auf dem Waldwege dahin.
Hinter ihr ertönten Flüche.
»Nach, nur immer nach!« hörte man rufen.
Fritz lachte laut und fröhlich auf. Seine Pferde konnte kein Fußgänger einholen. Er lenkte im Galoppe aus dem Waldwege heraus und in die Straße ein, welche nach dem Dorfe führte. In kaum fünf Minuten war das Letztere erreicht.
Vor der Schänke hielt der Kutscher.
»Ist die Zeche bezahlt?« fragte Fritz.
»Alles!«
»Schnell umsteigen, und dann fort!«
In kaum einer Minute saß er mit den beiden Schwestern im andern Wagen, der sich in rascheste Bewegung setzte. Berteu's Kutsche aber blieb stehen, nachdem vorher Fritz seinen Hut wieder an sich genommen hatte.
Es war nicht gerathen, heute Nacht in Etain zu bleiben. Darum beschlossen sie, als sie dort ankamen, sofort wieder abzureisen. Der Kutscher aus Metz, mit dem sie gekommen waren, mußte sofort anspannen.
Das ging nicht ohne einiges Geräusch ab. Eben wurde das Gepäck aufgeladen; Fritz stand mit den Damen am Wagen, beleuchtet von der Hauslaterne. Da wurde über ihnen ein Fenster geöffnet, und ein Kopf erschien, um herunter zu blicken. Madelon war im Begriffe, einzusteigen.
»Halt! Heda! Halt!« rief es da oben.
Fritz blickte empor, um zu sehen, ob der Zuruf ihnen gelte.
»Halt! Heda! Warten!« wiederholte es.
Dann verschwand der Kopf.
»Es scheint doch, daß wir gemeint waren,« sagte Nanon.
»Wahrscheinlich. Warten wir also!«
Die Hausflur war sehr hell erleuchtet und die Treppe ebenso. Die Stufen der Letzteren kam eine kurze, dicke Gestalt herabgeeilt, in eine rothe Tischdecke gewickelt und einen riesigen Kalabreserhut auf dem Kopfe. In der Eile verwickelte sich der Mann mit den Füßen in die Decke; er verlor die Balance und fiel die letzten Treppenstufen herab.
Bei dieser Gelegenheit flog die Tischdecke auseinander, und man sah, daß der Mann nur Unterhose und Hemde trug. Sogar barfuß war er. Er raffte sich schnell wieder empor, stülpte den Hut wieder auf den Kopf, schlang die rothe Decke wieder um seine umfangreiche Gestalt und rief:
»Halt! Warten! Nur einen Augenblick!«
Nun kam er herbei.
»Meinen Sie uns, Monsieur?« fragte Fritz.
»Natürlich!«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Hieronymus Aurelius Schneffke, Kunstmaler. Ich – – –«
»Ah, kenne Sie bereits sehr gut!« lachte Fritz.
»Wie? Sie kennen mich?«
»Ja, per Renommée und per Distance.«
»Freut mich, freut mich! Gehören Sie zu diesen Damen?«
»Ja.«
»Erlauben Sie mir vielleicht, mit der Einen ein Wort zu sprechen?«
»Gern, sobald es der Dame selbst genehm ist.«
Hieronymus trat an den Wagenschlag zu Madelon.
»O, bitte, Fräulein, ich möchte mir gern eine Erkundigung gestatten!«
»Ich stehe zu Diensten!«
»Ist sie wirklich eine Engländerin?«
»Wer?«
»Nun, die Gouvernante!«
»Ach so!« lachte sie. »Ja, sie ist eine Engländerin.«
Sie sah sich durch die Verhältnisse zu einer Unwahrheit gezwungen.
»O weh! Das ist so dumm wie Pudding! Und sie heißt auch wirklich Miß de Lissa?«
»Allerdings.«
»Dann hole der Teufel sämmtliche Gouvernanten!«
Er drehte sich zornig ab, um in sein Zimmer zurückzukehren, kam aber doch noch einmal zurück und fragte:
»Darf ich fragen, wo Sie jetzt gewesen sind?«
Das war allerdings eine etwas zudringliche Frage; aber sie hatte den eigenthümlichen Menschen beinahe lieb gewonnen. Darum antwortete sie bereitwillig:
»In Schloß Malineau.«
»Alle Wetter! Wer hätte das gedacht!«
»Kennen Sie diesen Ort?«
»Ich will ja hin!«
»Ah! Haben Sie die lange Reise nur um dieses Zieles willen unternommen?«
Er besann sich doch, ob er die Wahrheit sagen dürfe. Er hatte seinem Auftraggeber versprochen, sehr vorsichtig zu sein; darum antwortete er:
»Nein. Ich will das Schloß abzeichnen, da ich einmal in dieser Gegend bin. Wohnt nicht dort ein Monsieur Berteu?«
»Was soll er sein?«
»Schloßverwalter.«
»Der ist gestorben und heute begraben worden.«
»Hm, hm! Waren Sie mit bei diesem Begräbnisse?«
»Ja. Ich habe die Reise nur deshalb unternommen.«
Es war ein eigenthümlicher, verständnißinniger Blick, den er auf sie warf. Dann sagte er:
»Sie waren wohl mit Monsieur Berteu verwandt?«
»Er war unser Pflegevater. Hier ist meine Schwester.«
»Und wohin reisen Sie jetzt?«
»Wieder zurück. Vorher aber gehe ich mit meiner Schwester nach Schloß Ortry bei Thionville.«
»Ortry, hm! Mademoiselle, nehmen Sie einmal hier meine Hand! Ich mag Ihnen unbequem geworden sein; ich bitte Sie um Verzeihung. Es ist mir, als ob wir uns wiedersehen müßten, und zwar unter Verhältnissen, welche für Sie erfreuliche sein werden. Gute Nacht, und gute Reise!«
Er kehrte in sein Zimmer zurück und sah durch das geöffnete Fenster den Wagen fortfahren. Dann entfernte er die Spuren der Zerstörung, welche er angerichtet hatte! Er war nämlich trotz seiner Müdigkeit vom Bette aufgestanden, um zu sehen, was es mit dem drunten stehenden Wagen für eine Bewandtniß habe, und dabei hatte er Madelon erkannt. Sie wollte abreisen, das hatte er gesehen; sprechen wollte er vorher mit ihr, und da er keine Zeit fand, sich anzukleiden, so hatte er schnell den Calabreser aufgestülpt und die Decke vom Tische gerissen, um sie als Nachtmantel um sich zu schlagen. Dabei aber hatte er Alles, was auf dem Tische stand, heruntergerissen. Als er dann am folgenden Morgen sein Portemonnaie suchte, fand er es in Gesellschaft mit dem goldenen Klemmer in demjenigen Geschirr, aus welchem man weder zu essen noch zu trinken pflegt. Er hatte Beides mit vom Tische herabgerissen.
*