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Die Vorhersage des Arztes ging in Erfüllung: Hugo von Königsau wurde von einem hochgradigen, hitzigen Fieber ergriffen, während dessen er nur von Gutsverkäufen, Einbrechern und Kriegskassen phantasirte. Bei seinem hohen Alter war wenig Hoffnung vorhanden, ihn genesen zu sehen. Frau Margot starb am vierten Tage, ohne wieder in Besitz ihrer Sinne gekommen zu sein. Es war in dem Hause langjährigen Glücks tiefe Trauer und großer Jammer eingekehrt; Armuth, Krankheit und Tod hatten jählings ihren Einzug gehalten, und Keiner machte sich solche Vorwürfe wie Kunz von Goldberg, welcher sich einbildete, daß aus dem Verkaufe nichts geworden wäre, wenn er sich nicht so warm dafür erklärt hätte.
Man hatte natürlich sofort an Gebhardt telegraphirt, und die Antwort lautete, daß er schleunigst kommen werde, indessen keinen Freund Namens de Lormelle kenne. Goldberg ließ sich Urlaub geben, um der jetzt verwaisten Familie ein Helfer sein zu können. Auch Hedwig, seine Frau, rief er herbei.
Aber ehe Beide eintrafen, nämlich Hedwig und der Urlaub, stellten sich zwei Andere ein. Am fünften Tage nach dem Unglücksfalle kam einer der Diener und meldete Kunz von Goldberg, daß zwei Fremde angekommen seien, welche mit Herrn Hugo von Königsau zu sprechen verlangt hätten.
»Du sagtest doch, daß dieser krank sei und unfähig, Jemand zu empfangen?«
»Allerdings. Darum wünschten sie, bei Ihnen eintreten zu dürfen.«
»Ihre Namen?«
»Sie wollten dieselben Ihnen selbst sagen.«
»Eigenthümlich! Aber führe sie zu mir.«
Nach einigen Augenblicken traten die Angemeldeten ein. Kaum hatte Kunz einen Blick auf sie geworfen, so sprang er von seinem Stuhle auf. Nicht Rallion war es, welcher seine Aufmerksamkeit hervorrief, sondern Richemonte, dessen Antlitz er mit seinem Blicke durchbohren zu wollen schien. Wer dieses Gesicht einmal gesehen hatte, der war nicht im Stande, es wieder zu vergessen. Und er hatte es gesehen, drüben in Africa, kurz nach der Löwenjagd.
Die Beiden verbeugten sich, aber auf eine Weise, welche die Absicht erkennen ließ, das gerade Gegentheil von Höflichkeit erkennen zu lassen.
»Sie sind Herr von Goldberg?« fragte Rallion.
»Wie Sie wissen!« antwortete Kunz. »Sie kommen jedenfalls, um mir Ihr Verschwinden aus dem Postwagen zu erklären.«
»O, ich werde Ihnen noch ganz andere Sachen zu erklären haben.«
»Vielleicht werden Sie mir endlich auch Satisfaction geben wollen!« meinte Kunz in verächtlichem Tone.
»Gewiß! Das ist ja gerade der Grund meiner Anwesenheit. Ich komme nämlich, um Ihnen mitzutheilen – – –«
»O bitte, bitte!« unterbrach ihn Kunz. »Wollen Sie mir nicht vorher den andern Herrn vorstellen?«
»Eigentlich wollte ich dies erst später thun, doch kann ich Ihnen den Namen meines Freundes sagen: Herr Capitän Albin Richemonte.«
Goldberg fühlte sich einen Augenblick lang nicht im Stande, sich zu bewegen oder einen Laut von sich zu geben; aber er war ein vollendeter Charakter und beim Militär so gut geschult, daß er seine Züge zu beherrschen verstand. Also das war der Mensch, welcher der Teufel der Familie Königsau genannt werden müßte.
Im Gesichte Goldbergs zuckte keine Miene. Sein Auge ruhte mit einem starren, fast todten Ausdrucke auf dem Capitän; dann meinte er zu Rallion:
»Fahren Sie jetzt fort.«
»Das wird sofort geschehen. Herr von Königsau hat seine bisherigen Besitzungen an den Grafen von Smirnoff verkauft?«
»Ja.«
»Unter der Bedingung, diese Besitzungen mit seinem Privateigenthum binnen einem Monate, vom Tage des Kaufabschlusses an gerechnet, zu verlassen?«
»Ja.«
»Nun, so theile ich Ihnen mit, daß ich in alle Rechte des Grafen Smirnoff getreten bin. Ich habe ihm die beiden Güter abgekauft.«
Zwischen Goldbergs Zähnen drang ein zischendes Pfeifen hervor, der einzige Laut, welchen er während einer ganzen Weile hören ließ. Tausend Gedanken und Vermuthungen kreuzten sich in seinem Kopfe.
»Ich hoffe, daß Sie gehört haben, was ich soeben sagte!« meinte Rallion.
Goldberg nickte leise und antwortete sodann:
»Ich habe Sie sehr wohl verstanden. Ich glaube sogar, daß Sie mir mehr, viel mehr mitgetheilt haben, als was Sie bezweckten. Ich ersuche Sie, mir in das Nebenzimmer zu folgen!«
Er stieß eine Thür auf und ließ die Beiden vorangehen. Sie blieben wie gebannt am Eingange stehen. Das Gemach, in welchem sie sich befanden, war mit schwarzem Tuche ausgeschlagen; kein Tisch, kein Stuhl, kein Möbel war vorhanden. In der Mitte des Raumes aber erhob sich ein imposantes Castrum doloris, ein mit schwarzem Krepp und Sammet drapirter Katafalk, an dessen Seiten auf hohen Leuchtern eigenartig duftende Walrathskerzen brannten. Die Fenster waren verhangen, und das Licht der Kerzen fiel auf einen Sarg, welcher die Blicke der beiden Eingetretenen magnetisch auf sich zog. In demselben lag Margot, die einstige Liebe eines Kaisers, in helles, schimmerndes Weiß gekleidet. Der schöne Mund war scharf geschlossen, das herrliche Auge gebrochen, die glänzende Wange eingefallen. Auf der einst so elfenbeinernen Stirn spielten gelbgraue Töne, und das Grau des einst so herrlich blauschwarzen Haares hatte im Tode seinen Glanz verloren.
Niemand schien bei der Leiche zu sein, aber unten am Katafalke hatte ein vom vielen Weinen bleicher und matter Knabe gesessen und immerfort geschluchzt: »Großmama, meine liebe, traute Großmama!« Aber als sich die Thür geöffnet hatte, da hatte er sich in die tiefen Falten des Sammets versteckt.
Kunz von Goldberg stieg die Stufen empor und deutete mit der Rechten auf die Todte.
»Kennen Sie Diese hier?« fragte er mit tiefer Stimme, welcher man nicht abnehmen konnte, ob sie vor Rührung oder vor Gram zitterte. »Ich sagte vorhin, daß Sie mir mehr mitgetheilt haben, als Sie eigentlich beabsichtigten. Sie haben mir eingestanden, daß Sie das Eigenthum dieser Hingemordeten durch einen Dritten kauften und den Kaufpreis durch einen Vierten rauben ließen, um ein Werk entsetzlicher Rache auszuüben. Die Hingegangene ist ein Opfer dieser Rache geworden, und auch Der, mit welchem sie im Leben verbunden war, ringt mit dem Tode. Ich lege meine Hand auf das erstarrte Herz der Todten und schwöre bei Gott und bei allen Mächten seines Himmels, daß ich nicht ruhen und rasten werde, bis Eure Thaten an das Licht gebracht sind und ihren Lohn gefunden haben. Graf Rallion, feiger Mörder, wagen Sie es, Ihrem Opfer in das Angesicht zu blicken? Capitän Richemonte, fühlen Sie beim Anblicke Ihrer Schwester nicht den Brand einer Hölle in Ihrem Herzen? Nein, Sie sind ein Teufel und haben diesen Brand nicht zu fürchten. Aber es wird der Tag kommen, an welchem wir im Namen der ewigen Gerechtigkeit mit Ihnen zusammenrechnen, und dann wird sich kein Engel finden, der um Erbarmen für Sie bittet. Gehen Sie, gehen Sie! Es ist hier nicht Raum für Sie und die Leiche dieser Reinen, deren Mörder Sie sind.«
Er zeigte mit der Linken nach der Thür. Rallion fühlte ein unendliches Grauen in allen seinen Gliedern und wendete sich zum Gehen. Richemonte aber faßte ihn am Arme.
»Warten Sie!« sagte er zu ihm.
Dann ging er langsam näher, stieg die Stufen empor, trat ganz nahe zum Sarge hin, und nahm die Leiche mit einem kalt musternden Blicke in Augenschein. Es zeigte sich in seinem kalten Gesichte nicht die mindeste Spur einer Gefühlsregung. Dieser Mensch schien da, wo bei Anderen das Herz klopft, welches man ja als Sitz der Empfindungen zu bezeichnen pflegt, eine leere Stelle zu haben. Er hatte die Todte, welche seine Schwester gewesen war, verfolgt, so lange er sie kannte. Und nun sie als Leiche vor ihm lag, war bei ihm von Reue nicht die Rede. Er hatte kein Gewissen.
Nachdem er sie betrachtet hatte, wie man eine Wachsfigur in Augenschein nimmt, wandte er sich ruhig ab, zuckte die Achsel und sagte:
»Sie ist nicht zu bedauern. Sie hat trotz aller Mühe, welche ich mir mit ihr gegeben habe, nie erkannt, was zu ihrem Besten dient. Ich habe es nicht glauben wollen, aber es giebt wirklich Menschen, welche Alles wollen, Alles, nur ihr eigenes Glück nicht.«
Das war eine Frechheit sonder Gleichen. Goldberg fühlte sich im tiefsten Innern darüber empört.
»Schurke!« stieß er zornig hervor.
Richemonte wendete sich an ihn und fragte:
»Meinen Sie etwa mich, Monsieur?«
»Ja, Sie! Keinen Anderen.«
»Sie sind nicht zurechnungsfähig.«
»Und Sie würde ich niederschlagen und dann aus dem Hause werfen lassen, wenn mich nicht ehrfürchtige Scheu vor dieser Todten abhielt, jetzt so Etwas zu thun.«
Da ermannte sich auch Rallion wieder.
»Herr von Goldberg,« sagte er, »nehmen Sie sich in Acht, daß nicht Sie es sind, welcher hier aus dem Hause geworfen wird!«
»Feigling.«
Dies war das einzige Wort, mit welchem Goldberg antwortete.
»Feigling?« meinte Rallion. »Es hat ein jeder Mensch seine eigene Manier, zu kämpfen. Während Andere im Kugelregen fechten, thut der Minirer seine Pflicht unter der Erde, und er ist nicht weniger muthig als die Ersteren. Gebhardt von Königsau war einst so toll, mich zu fordern. Ich habe diese Aufforderung angenommen, aber ich verzichtete darauf, mit Waffen zu kämpfen, welche ihm als Officier geläufiger waren als mir. Die Parthie wäre ungleich gewesen, und die Entscheidung würde eine ungerechte geworden sein. Ich habe nach anderen Waffen gegriffen; ich habe mit ihm nicht um das Leben, sondern um seine Existenz gekämpft, und Sie sehen jetzt, daß ich Sieger bin.«
Da trat Goldberg rasch einen Schritt vor und rief:
»Ah, damit geben Sie zu, daß der Schlag, welcher die Familie Königsau getroffen hat, von Ihnen ausgeführt wurde.«
»Pah. Denken und vermuthen Sie, was Sie wollen! Sollten Sie so sinnlos sein, anzunehmen, daß ich bei Ihnen eingestiegen bin und das Geld genommen habe, welches Ihnen abhanden gekommen ist, so habe ich nichts dawider. Ich begnüge mich damit, Herr der Besitzung zu sein, welche meinem Gegner gehörte. Wollen Sie den Kampf noch weiter treiben, so bin ich bereit, ihn wieder aufzunehmen. Ich theile Ihnen mit, daß ich hier nicht wohnen, sondern die Verwaltung der Besitzung einem Beamten anvertrauen werde. Glauben Sie vielleicht, irgend welchen Rechtstitel geltend machen zu können, so bedienen Sie sich meinetwegen der Ihnen zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mittel: aber sorgen Sie dann dafür, daß mein Verwalter bei seinem Anzuge Niemand von denen vorfindet, welche zu lieben ich keine Veranlassung habe. Ich würde in diesem Falle in unnachsichtlicher und strengster Weise mein Hausrecht in Anwendung bringen! Adieu, Monsieur!«
Er ging, und Richemonte folgte ihm.
Der Schlag war gefallen, und er traf alle Betheiligten schwer. Wie gut, daß Margot von Königsau durch den Tod verhindert worden war, ihn mitzufühlen. Sie wurde begraben. Alle ihre einstigen Untergebenen betrauerten in ihr eine Herrin, welche wie eine Mutter für das Wohl Aller bedacht gewesen war.
Hugo von Königsau hatte seine kräftige Natur bis in sein gegenwärtiges Alter bewahrt. Er war von dem Fieber zwar niedergeworfen worden; es hatte ihn dem Tode nahe gebracht, aber er starb nicht, sondern er genaß.
Als er das erste Mal das Lager verlassen konnte, befand er sich bereits seit langer Zeit nicht mehr auf der verlorenen Besitzung, sondern in Berlin, wo Kunz von Goldberg ihm eine Wohnung gemiethet hatte. Seine Schwiegertochter und seine beiden Enkel waren bei ihm, aber er fühlte sich trotz ihrer Gegenwart einsam und fast verlassen. Ihm fehlte das treue Weib, Margot, die seine Seele gewesen war. Man hatte ihm ihren Verlust natürlich erst dann mittheilen können, als die Aerzte es gestatteten; aber dennoch war es als ob diese Schreckenskunde ihn wieder auf das Lager werfen wollte. Es bedurfte der ganzen Liebe und Anhänglichkeit der Seinigen, seine Gedanken von diesem Verluste, den er erlitten hatte, wenigstens zeitweilig abzulenken.
Besser wurde dies, als Gebhardt endlich eintraf. Er war zwar von Allem unterrichtet worden; er wußte, daß seine Mutter todt und sein Vater schwer krank sei; er wußte auch, daß ihr Vermögen verloren sei und daß ihr Feind sich auf ihrem Eigenthume eingenistet habe. Er hatte darum seine Rückkehr nach Kräften beeilt, aber es war ihm nicht möglich gewesen, eher zu kommen.
Jetzt nun nahm er das Werk in die Hand, an welchem bereits Goldberg und die Polizei vergeblich gearbeitet hatten, nämlich die Erforschung dessen, was damals geschehen war.
Bei reiflicher Erwägung schien es fast sicher, daß zwischen jenem Diebstähle und dem Ankaufe der Güter durch Rallion ein Zusammenhang stattfinde; aber war die Lüftung des darüber ausgebreiteten Schleiers bisher eine Unmöglichkeit gewesen, so blieben auch alle weiteren Nachforschungen ohne Erfolg. Dieser Letztere war nur denkbar, wenn der Dieb, der sogenannte Henry de Lormelle, entdeckt und ergriffen wurde; aber es gelang nicht, auch nur die leiseste Spur von ihm aufzufinden.
Inzwischen war zu dem bereits erlebten Unglück auch noch ein weiteres gekommen. Eines Tages nämlich traf ein schwarzgerändeter und ebenso schwarzgesiegelter Brief aus Paris bei Gebhardt von Königsau ein, welcher folgendermaßen lautete:
»Mein Herr!
Hierdurch wird Ihnen mitgetheilt, daß Ihre entfernte Verwandte, die hochselige Frau Gräfin Juliette de Rallion, in Folge eines plötzlichen Schlaganfalles mit dem Tode abgegangen ist und kein Testament hinterlassen hat.
Aus diesem letzteren Grunde und ebenso zu Folge des Umstandes, daß Ihre Frau Gemahlin und deren Schwester, Frau Hedwig von Goldberg, an Ausländer verheirathet sind und auch über die gesetzlich hier einschlagende Frist im Auslande gewohnt haben, fällt das Ganze der Hinterlassenschaft dem einzigen männlichen Erben der Verstorbenen, dem Herrn Grafen Jules Rallion zu. Ergebenst
Erneste Vafot,
Oeffentlicher Notar u. Nachlaßverwalter.«
Die gute Tante Rallion war hochbetagt gewesen, und Gebhardt machte kein Hehl daraus, daß er gehofft habe, es werde ihm bei ihrem Ableben ein Theil ihres Nachlasses zufallen. Das wäre in seiner gegenwärtigen Lage eine große Hilfe für ihn gewesen. Nun war auch diese Hoffnung vernichtet. Ihr Feind, der Graf Jules Rallion, war auch hier vom Glücke begünstigt worden.
Nun galt es, zu arbeiten und zu schaffen, damit die nackte Armuth nicht ihren Einzug halte.
Zwar hatte Gebhardt an seinem Schwager Goldberg einen Freund, dessen ganzes Eigenthum ihm zur Verfügung gestanden hätte, aber er zog es vor, sich selbst allein das Dasein zu verdanken. Er versuchte, die Erfahrungen und Anschauungen, welche er sich auf seinen Reisen gesammelt hatte, zu verwerthen. Er schrieb Bücher, Berichte und Gutachten und hatte die Freude, seine Mühen anerkannt und belohnt zu sehen. Es gelang ihm, sich mit der Feder eine, wenn auch nicht glänzende, aber doch zufriedenstellende Existenz zu erobern.
Aber die Zeit rückte vor, und mit ihr stiegen die Ansprüche, welche das Leben und die Sorge für die Seinen an ihn machten. Der kleine Richardt hatte das Alter erreicht, in welchem er als Cadet eintreten sollte; dazu waren Mittel erforderlich, welche Gebhardt leider nicht besaß. Zwar griff hier Kunz von Goldberg ein; aber es war vorauszusehen, daß die Ausgaben von Jahr zu Jahr steigen würden. Schwager Goldberg sollte nicht gewohnheitsmäßig in Anspruch genommen werden; man mußte daran, sich irgend eine Hilfsquelle zu öffnen.
So saßen Großvater, Vater und Mutter oft sorgend beisammen, um zu berathen und Pläne zu entwerfen, welche sich aber stets als nicht wohl ausführbar erwiesen.
Ein einziger unter diesen Plänen war es, welcher, so abenteuerlich er auch auf den ersten Blick erschien, doch eine kleine Hoffnung des Gelingens gab. Und stets war es Großvater Hugo, welcher die Rede auf ihn brachte.
»Die Kriegskasse,« meinte er; »könnten wir doch die Kriegskasse finden!«
»Sie gehört nicht unser; sie ist Eigenthum Frankreichs,« wendete Gebhardt ein.
»Aber Frankreich muß dem Finder eine Gratification zahlen.«
»Nun wohl! Aber wo soll man sie suchen?«
»Ich kann mich leider nicht mehr besinnen; aber so weit meine Gedanken reichen, muß ich mir sagen, daß ich sie nicht gar sehr weit, und zwar südlich von dem Orte vergraben habe, wo sie erst lag. Die Zeichnung, welche ich damals fertigte, hat zwar Blücher erhalten, aber ich habe eine Copie genommen, welche wir noch jetzt besitzen.«
Dieses Gespräch wiederholte sich so oft, daß Gebhardt von Königsau sich endlich an den Gedanken gewöhnte, der verlorenen Kriegskasse nachzuforschen. Im Stillen that auch Ida alles Mögliche, ihn in diesem Beschlusse zu bestärken. So saßen sie auch einstmals in dem kleinen Gärtchen, welches zu ihrer gegenwärtigen Wohnung gehörte, und sprachen über denselben Gegenstand. Da erwärmte sich Großpapa Hugo so sehr für denselben, daß er schließlich ausrief:
»Nun gut, Gebhardt! Wenn Du nicht gehst, so gehe ich!«
»Du?« fragte der Angeredete. »Das geht nicht!«
»Warum nicht?«
»Grad jetzt macht Dir Deine alte Wunde sehr viel zu schaffen. Du bedarfst der Ruhe und hast für Monate hinaus jede größere Anstrengung zu vermeiden.«
»Die Reise ist keine Anstrengung!«
»Sie kann sogar eine sehr große werden!«
»Wieso?«
»Es ist keine Erholung, dort im Gebirge herum zu klettern und nach einem Ort zu suchen, den man nicht kennt! Dazu kommt, daß es heimlich geschehen muß, so daß Niemand Etwas davon merkt. Das Wetter darf gar nicht berücksichtigt werden; im Gegentheile, je schlimmer es ist, desto sicherer ist man vor etwaigen Lauschern.«
»Hm! Das mag sein! Also muß ich leider darauf verzichten; aber Du, lieber Gebhardt, könntest es doch versuchen!«
»Wenn Ihr es denn so dringend wünscht, so will ich Euch den Willen thun. Aber, wie es anfangen?«
Da ließ sich hinter ihm eine Stimme vernehmen:
»Das ist nicht schwer!«
Er drehte sich um. Da stand der alte, treue Kutscher Florian Rupprechtsberger, welcher damals mit Hugo nach Deutschland gekommen war und auch dann die Familie nicht verlassen hatte, als sie arm geworden war.
»Nicht schwer? Wieso?« fragte Gebhardt.
»Ich gehe mit!«
»Du? Hm!«
Florian war alt geworden. Gebhardt betrachtete seine Gestalt mit prüfendem Blicke, wie um zu taxiren, ob der brave Mann den Anstrengungen einer solchen Reise auch noch gewachsen sei.
»Das ist wahr,« sagte der Großvater. »Da ich nicht mit darf, so ist unser Florian der Einzige, welcher jene Gegend kennt.«
»Wird er sich ihrer auch erinnern können?« meinte Gebhardt.
»Gewiß!« antwortete Florian. »Ich war ja mit in der Schlucht, wo das Geld erst vergraben war. Das war an dem Tage, an welchem wir verfolgt und angegriffen wurden, und an welchem der Capitän Richemonte den Baron de Reillac ermordete.«
»Das hast Du schon oft erzählt; aber wirst Du diese Schlucht auch heute noch wiederfinden?«
»Das versteht sich!«
»Beschreibe den Weg!« befahl der Großvater.
»Man geht durch Bouillon, an dem Wirthshause vorüber, in welchem Sie einmal eingekehrt waren, ein Stück am Wasser hin, und dann bei den Bäumen biegt man links ein, um den schmalen Weg zu verfolgen, welcher an der Köhlerhütte vorüberführt. Von da aus hat man nur einige Minuten weiter durch den Wald zu steigen; dann öffnet sich zur rechten Hand die Schlucht.«
»Das ist sehr richtig,« meinte der Großvater. »Aber seit jener Zeit sind viele Jahre vergangen, und es wird Manches verändert sein, vielleicht so verändert, daß man das Terrain gar nicht mehr wieder erkennt.«
»Den Berg haben sie doch nicht fortschaffen können, und die Schlucht ist also auch noch da.«
»Wohl wahr! Aber wenn Ihr nun die Schlucht gefunden habt, was dann?«
»Dann nehmen wir den Situationsplan in die Hand, den Sie damals gezeichnet haben, und suchen, indem wir uns von der Schlucht aus immer nach Süden halten.«
»Glaubst Du denn, daß Du eine solche Reise noch mit unternehmen kannst?«
»Ich?« fragte der treue Diener im zuversichtlichsten Tone. »Ich laufe mit um die Erde herum, wenn es gilt, Etwas zu thun, was Ihnen Freude macht!«
»So habe ich nichts dagegen, daß Du mit Gebhardt reisest. Und da wir einmal diesen Entschluß gefaßt haben, so wollen wir auch nicht lange zögern, ihn in Ausführung zu bringen!«
Der gute Florian zeigte eine außerordentliche Freude über die Erlaubniß, welche ihm geworden war.
»Wie schön! Wie herrlich!« rief er aus. »Bei dieser Gelegenheit kann ich auch einmal meine Verwandten besuchen. Die Alten sind freilich gestorben, und die Jungen habe ich noch gar nicht gesehen; aber wir schreiben uns zuweilen. Und dann das schöne Geld, welches Sie erhalten werden! Vielleicht werden Sie dadurch wieder grad so reich, wie Sie gewesen sind!«
Das erregte die Wißbegierde Idas. Sie fragte:
»Den wievielten Theil des Ganzen würdet Ihr wohl erhalten?«
Da antwortete Großvater Hugo lächelnd:
»Ich bin mit dieser Frage, natürlich ohne mich zu verrathen, hier bei einem Advocaten gewesen. Er hat nachgeschlagen und gesagt, daß eine Kriegskasse, welche so lange Zeit vergraben liege, unter den Begriff des Schatzes falle. Und nun rathet, wieviel in Frankreich da der Finder erhält!«
»Den zwanzigsten oder wohl gar den zehnten Theil?« rieth Frau Ida von Königsau.
»Das wären fünf oder zehn Procent. Nein; er bekommt gerade die Hälfte, während die andere Hälfte dem Besitzer des Grundes und Bodens gehört, auf welchem der Schatz gefunden wird.«
Diese Auskunft erweckte geradezu eine Art Begeisterung für das Unternehmen, und es wurde einstimmig beschlossen, die Vorbereitungen zur Abreise sofort zu treffen. –
Unterdessen wohnte der Capitän Richemonte mit dem Baron und der Baronin Liama de Sainte-Marie noch auf Jeanette. An dem Zustande des Barons hatte sich nichts gebessert; er war vielmehr noch tiefsinniger geblieben. Der in der Sahara an den unschuldigen Arabern verübte Massenmord quälte sein Gewissen und der Gedanke an jene ruchlose That versetzte ihn zeitweilig in einen Zustand finstern, dumpfen Brütens. Später traten sogar Stunden ein, in denen er die Geister der Ermordeten zu sehen glaubte und mit ihnen kämpfte.
Er durfte gar nicht mehr ohne Aufsicht gelassen werden, und diese Aufsicht mußte der Capitän selbst übernehmen. Wäre eine andere Person damit betraut worden, so stand ja zu befürchten, daß die ganze Vergangenheit verrathen werde.
Schließlich aber mußte doch ein Arzt zu Rathe gezogen werden. Er erhielt so viel mitgetheilt, als möglich war, ohne gefährliche Vermuthungen in ihm zu erwecken, und rieth nach einiger Beobachtung des Kranken Zerstreuung und eine Ortsveränderung, welche in einer Reise bestehen könne. Diese Reise müsse aber möglichst anstrengend sein, da körperliche Anstrengung und Ermüdung einen heilsamen Einfluß auf den erkrankten Geist üben werde.
Der Capitän fluchte im Stillen über den krankhaften Zustand seines Verwandten und Adoptivsohnes. Sich seiner zu entledigen, ihn aus der Welt zu schaffen, wäre nichts sein Gewissen Belästigendes gewesen, da er ja überhaupt gar kein Gewissen besaß; aber er überlegte es sich, daß dies nur heiße, einen sehr dummen Streich begehen. Starb der Baron de Sainte-Marie, so gab es keine anderen Erben als die Familie Königsau, welcher dann Jeanette wieder zufiel. Darum mußte der Kranke weiter leben.
Richemonte beschloß, mit ihm eine Fußreise zu unternehmen, und zwar in das Gebirge, da eine Gebirgsreise ja angestrengter ist als jede andere. Er wollte nach den Argonnen hinauf und dann in den Ardenner Wald.
Die Vorbereitungen machten nicht viele Umstände. Ein junger, starker Knecht wurde als Diener mitgenommen, um bei der Bewältigung des Kranken behilflich zu sein, wenn sich bei demselben ja ein Anfall von Tobsucht einstellen sollte. Dann ging es fort.
Erst ging es mit der Post nach Chalons und dann in den Argonner Wald, welcher von Bar le Duc bis nach Launoy durchwandert wurde. Diese anstrengende Fußtour war von ganz ausgezeichneter Wirkung auf den Baron. Einige leichtere Anfälle in den ersten Tagen abgerechnet, war über ihn nicht zu klagen gewesen, und selbst sein Trübsinn, welcher ihn seit Jahren nicht verlassen hatte, schien nach und nach einer andern Stimmung Platz zu geben. Er wurde von Tag zu Tag heiterer und gesprächig und begann, sich für Alles, was er erblickte, immer lebhafter zu interessiren. Nur von der Vergangenheit zu sprechen, mußte Richemonte streng vermeiden. Selbst wenn der Kranke nur an dieselbe dachte, stellte sich sofort die frühere trübe Stimmung wieder ein.
Zwischen Launoy und Siguy le Grand liegt ein allerliebstes kleines Dörfchen, in welchem lauter gut situirte Landleute wohnen. Es gab nur eine einzige Familie, welche wirklich arm genannt werden konnte, nämlich diejenige des Hirten, welcher Verdy hieß. Er bewohnte eine kleine Hütte, welche nur einen einzigen Raum bildete und Mensch und Vieh zu gleicher Zeit beherbergte. Er besaß Nichts, als was er auf dem Leibe trug, und da sein Einkommen ein außerordentlich spärliches war, so hätte er wohl Hunger leiden müssen, wenn seine Familie eine zahlreiche gewesen wäre. Glücklicher Weise aber bestand dieselbe nur aus drei Personen, aus ihm, seinem Weibe und einer Tochter.
Diese Letztere war sein Augapfel, machte ihm aber fast mehr zu schaffen als der sämmtliche Thierbestand des Dorfes, über welchen er auf der Weide die Aufsicht zu führen hatte.
Die Tochter führte den für ein Hirtenkind nicht ganz passenden Namen Adeline. Sie war als Kind von den Kindern der reichen Bauern verachtet und zurückgesetzt worden; darum hatte sie sich an die Einsamkeit gewöhnt. Aber sie wäre gar so gern auch reich gewesen und hätte sich eben so gern hübsch gekleidet wie die Andern.
Sie war eitel. Je älter sie wurde, desto mehr wuchs diese Eitelkeit. Sie sah sich im Spiegel; sie verglich sich mit den andern Mädchen, und sie kam zu der Ueberzeugung, daß sie unter ihnen Allen die Schönste sei.
Nun wollte sie sich putzen. Dazu fehlte ihr nicht mehr als Alles, und so sann sie nach, ob sie nicht Etwas verdienen könne. Als Magd vermiethen wollte sie sich nicht; sie wollte sich nicht von den Mädchen befehlen lassen, welche nicht so schön waren wie sie.
Da kam ihr ein anderer Gedanke. Ihr Vater hatte einige Erfahrung in der Behandlung kranker Thiere. Sie hatte oft für ihn hinaus auf das Feld und in den Wald gehen müssen, um heilsame Pflanzen zu holen. Sie wußte, daß die Apotheker solche Kräuter brauchen und von Sammlern kaufen müssen. Darum begann sie, Theepflanzen zu holen und an die Apotheker zu verkaufen. Das war eine leichte, sogar hübsche Arbeit und brachte Geld ein, viel zwar nicht, aber doch immer so viel, wie sie für sich brauchte.
Es dauerte nicht lange, so hatte sie Schuhe und Strümpfe, einen hübschen Rock und eine weiße Schürze. Einige Bänder und Schleifen kamen dazu, und nun begannen auch die Burschen, ihre Blicke auf sie zu richten. Aber sie wollte nichts von denen wissen, von welchen sie zuvor nicht beachtet worden war.
Während ihres einsamen Aufenthaltes in Wald und Feld gab sie allerlei Gedanken Audienz, guten und schlimmen, und da sie verachtet worden war und sich darüber verbittert fühlte, so war es kein Wunder, daß sie mehr schlimme als gute Gedanken hatte. Vor allen Dingen wollte sie sich rächen. Aber wie?
Sie sann lange Zeit darüber nach, bis ihr endlich die Ueberzeugung kam, daß die eclatanteste Rache darin bestehe, den Mädchen den vornehmsten Burschen des Dorfes wegzuangeln. Dies war natürlich der Sohn des Maire.
Von diesem Augenblicke an begann sie, die Angeln nach ihm auszuwerfen. Die Andern merkten dies und verspotteten sie; aber der Bursche sah recht gut, daß sie die Hübscheste von Allen sei, und that sein Möglichstes, um gefangen zu werden.
Zuerst trafen sie sich zufällig hier oder da; sodann geschah das Zusammentreffen weniger zufällig, aber stets da, wo sie mit einander nicht gesehen wurden. Und endlich wurden wirkliche Verabredungen getroffen.
Sie war ein Naturkind, besaß aber eine gute Dosis angeborener Schlauheit. Sie erzwang von ihm die Einwilligung, auch einmal beim Tanz erscheinen zu dürfen. Sie hatte sich bisher dort nie sehen lassen, und so war es für sie ein unendlicher Triumph, als der Sohn des Maire sich mit ihr im Kreise drehte und auch nicht eine einzige Andere engagirte.
Der Bursche war ihr wirklich gut. Er hatte ganz ehrliche Absichten, aber mit diesen stimmten nicht diejenigen seiner Eltern überein. Es kam zu Vorwürfen und Erklärungen, deren Resultat und Ende war, daß der Vater dem Sohne verbot, mit diesem Mädchen jemals wieder ein Wort zu sprechen.
Der Befehl wurde zwar angehört, aber nicht befolgt. Die Beiden trafen sich nun im Stillen, hinter dem Rücken seiner Eltern. Jedermann aber weiß, daß solche verbotene Zusammenkünfte mit bedenklichen Gefahren verknüpft sind, und diesen Gefahren erlag die schöne Hirtentochter.
Es kam die Stunde, in welcher sie weinend dem Geliebten gestand, daß sie sich unglücklich fühle, weil sie Etwas verheimlichen müsse, was später an den Tag kommen werde.
Das gab dem Burschen seine Ueberlegung zurück. Es regte sich der reiche Bauernsohn in ihm. Er begann, zu überlegen, und kam ganz von selbst zu der Einsicht, daß die Tochter des armen Hirten keine Frau für ihn sei.
In Folge dieser Erkenntniß begann er, sich von ihr zurückzuziehen. Sie bemerkte es und stellte ihn weinend zur Rede. Die Thränen der Geliebten fallen wie glühende Tropfen auf das Herz; es kann durch sie auch ein sonst willenskräftiger Mann besiegt werden. Aber die Thränen einer Person, welche man bereits nicht mehr so gut leiden kann wie früher, haben eine ganz andere Wirkung. Das Weinen ist dann etwas sehr Unschönes, ja Widerwärtiges und spült den noch vorhandenen Rest der Liebe vollends von dannen.
So ging es auch hier. Die Vorwürfe und Thränen des Mädchens erkälteten den Burschen. Er nahm sich vor, gar nicht wieder mit ihm zu sprechen. Was sich so ein reicher Dorfprinz einmal vorgenommen hat, das pflegt er auch zu halten. Landleute haben einen harten Kopf. Es gab für das verlassene Mädchen fast gar keine Gelegenheit mehr, den Geliebten zu sehen, als den Tanz. Darum ging es hin. Aber es feierte keine Triumphe mehr, sondern es erlitt Niederlagen.
Das kränkte Adeline erst ganz entsetzlich; dann ärgerte es sie, und endlich fühlte sie an Stelle der früheren Liebe nur den Wunsch, sich zu rächen. Aber wie sollte sie sich an ihm rächen, sie, das blutarme Mädchen an dem reichen Sohne des Dorfschulzen! Ja, wenn Einer gekommen wäre, der noch vornehmer wäre als er. Welch eine Rache wäre das gewesen! Mit diesem Gedanken ging sie schlafen, und mit ihm erwachte sie.
Da, eines Sonntags Abends saß sie wieder im Saale. Alle waren lustig; nur sie blieb allein und unbeachtet. Keiner kam, um sie zum Tanze abzuholen.
Da plötzlich richteten sich Aller Augen nach der Thür. Es waren zwei Männer eingetreten, zwei fremde Herren, welche dem Tanze zuschauten. Fremd mußten sie sein, denn es kannte sie Niemand, und Herren, vornehme Herren waren es; das sah man an der feinen Kleidung, welche sie trugen.
Der Eine war ein alter Herr mit grauem Schnurrbarte. Er blickte gar grimmig drein, und es ließ sich vermuthen, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen sei. Der Andere war jünger, viel jünger; er konnte wohl der Sohn des Ersteren sein. Er war zwar nicht mehr ganz jung, aber er war nicht häßlich und hatte einen so eigenthümlich leidenden Blick, so etwas Duldendes an sich, was bekannt große Anziehungskraft auf Frauen auszuüben pflegt.
Nachdem sie eine Weile zugeschaut hatten, schien der Alte sich zu langweilen. Er ging. Der Andere aber blieb neben dem Eingange stehen und setzte seine Beobachtungen fort. Adeline sah, daß sein Blick von einem Mädchen zu dem andern ging, als ob er ihre Schönheit prüfen wolle, und jetzt, jetzt ruhte sein Auge auch auf ihr.
Sie senkte den Blick und fühlte dabei, daß ihr das Blut in die Wangen stieg. Als sie nach einer Weile die Augen wieder aufschlug, sah er sie noch immer an, und dabei lag ein leises, freundliches Lächeln auf seinem Gesichte.
»Ich habe ihm gefallen!« dachte sie. »Was mag er sein?«
Sie beobachtete ihn heimlich und bemerkte, daß sein Auge wieder und immer wieder zu ihr zurückkehrte. Endlich nickte er ihr gar zu, leise zwar, daß kein Anderer es bemerken konnte, aber doch so, daß sie sah, daß er sie meine. Sie erglühte von Neuem. Hatte er bemerkt, daß auch sie ihn beobachtete?
Da, jetzt fühlte sie, daß ihr das Herz laut unter dem Mieder zu klopfen begann. Er hatte seinen Platz verlassen und schritt langsam, wie promenirend, an der Seite des Saales entlang, wo die Mädchen saßen und die Burschen, welche ihm jetzt während der Pause im Wege standen, ihm ehrerbietig Platz machten.
Er kam näher und näher. Jetzt war er da. Sie senkte die Augen. Sie fühlte eine peinigende Angst. Worüber? Ob er vorüber gehen, oder ob er sie anreden werde? Er war bei ihr stehen geblieben, denn jetzt hörte sie seine Stimme:
»So allein und abgesondert von den Andern, Mademoiselle!«
Sollte sie ihm antworten? Jedenfalls. Das Gegentheil wäre ja unhöflich gewesen. Sie war also gezwungen, den Blick zu erheben. Sie sah Aller Augen auf sich und ihn gerichtet. Sie sah die freundliche Miene, mit welcher er sie anblickte, und da antwortete sie:
»Ich bin stets allein, Monsieur.«
»Warum, mein Kind?«
»Die Andern sind reich, ich aber bin arm!«
»Was thut das! Sind die Andern denn so stolz?«
»Ja, sehr stolz.«
»Lächerlich! Worauf kann so ein Bauernknabe oder so eine Bauerndirne denn stolz sein? Auf Bildung und Kenntnisse etwa? Jedenfalls nicht!«
Wie wohl thaten ihr diese Worte! Und wie schade, daß nur sie allein dieselben gehört hatte! Er fuhr fort:
»So tanzen Sie wohl gar nicht?«
»Nein.
Das war ein Geständniß, welches ihr die Schamröthe in das Gesicht trieb. Er aber schien ihr die Zurücksetzung gar nicht entgelten zu lassen, denn er sagte:
»Daran thun Sie recht! Aber Sie tanzen wohl gern?«
»Ich habe noch nicht viel getanzt, aber ich tanze nicht ungern.«
»Dürfen auch Fremde an diesem Vergnügen theilnehmen?«
»Wer wollte es ihnen untersagen, Monsieur?«
»Nun wohl! Werden Sie mir die Erlaubniß ertheilen, die nächste Tour mit Ihnen zu versuchen?«
Das Herz wollte ihr vor Freude zerspringen. Sie mußte die Hand auf den vollen Busen legen, damit derselbe nicht so unruhig woge und vielleicht gar das Mieder zersprenge.
»Sie scherzen!« hauchte sie.
»O nein, ich scherze nicht! Auch ich tanze gern; aber ich war lange Zeit nicht in Frankreich, sondern in einem Lande, wo man nicht tanzt. Werden Sie mir die Erlaubniß verweigern?«
»O nein!«
»So bitte, kommen Sie! Die Musik beginnt!«
Es wurde ein Walzer gespielt. Der Fremde legte den Arm um sie, ergriff mit der Linken ihre rechte Hand und begann.
Sie war so glücklich. Sie ließ sich von ihm willenlos dirigiren. Sie hielt die Augen geschlossen, und darum bemerkte sie nicht, daß kein anderes Paar an diesem Tanze theilnahm. Man fürchtete, den fremden Herrn zu verletzen, wenn man ihm in den Weg tanze. Aber als er ruhend mit ihr stehen blieb, ergriffen einige Burschen ihre Mädchen und schwenkten in die Reihe.
Noch zwei Mal kam an die Beiden die Reihenfolge, dann schwieg die Musik. Und während der augenblicklichen Stille, welche da eintrat, kam ein dritter Fremder in den Saal, schritt auf ihren Tänzer zu, und sagte laut, daß Alle es hörten:
»Herr Baron, der Herr Capitän läßt fragen, ob Sie jetzt mit zu Abend speisen werden!«
»Nein,« antwortete er. »Sage ihm, daß er nicht auf mich warten möge. Ich esse später.«
Der Bote – es war der Diener, der Knecht aus Jeanette – kehrte nach der Gaststube zurück.
»Nun?« fragte Richemonte, welcher bereits an dem einfach gedeckten Tische saß.
»Der Herr Baron bittet, nicht auf ihn zu warten.«
»Ah! Wie kommt das? Amüsirt er sich denn da oben?«
»Er scheint,« meinte der Diener zögernd, »soeben einen Tanz versucht zu haben.«
»Donnerwetter! Wirklich?«
»Ja. Der Walzer war zu Ende, und der Herr Baron hatte noch sein Mädchen am Arme.«
Das Gesicht Richemontes verzog sich zu einem ironischen Lachen, und dann sagte er:
»Was war es denn für eine Nymphe? Hübsch oder häßlich, lang oder kurz, dick oder dünn?«
»Sie war sehr hübsch.«
»Hm. Wir sind hier nicht gekannt; da mag es gehen. Er mag also in seinem Spaße ungestört bleiben. Ich gehe nach dem Essen sofort schlafen; Du aber magst ihn dann bedienen!«
Droben hatten die Worte des Dieners eine ungeheuere Wirkung hervorgebracht. Ein Capitän und ein Baron waren da, und der Letztere hatte mit der Tochter des Schäfers getanzt!
Adeline schwamm in einem Meere von Wonne. Sie hätte die ganze Welt umarmen mögen. Ein Baron war er, ein Baron. Das war die Rache für den untreuen Geliebten, der jetzt dort in der Ecke stand und ein Gesicht machte, als ob er nicht genau wisse, ob er sich ärgern solle oder nicht.
Der Baron hatte sie nicht wieder nach der Bank geführt, auf welcher sie gesessen hatte, sondern an einen Tisch. Das war viel feiner und anständiger.
»Werden Sie mir erlauben, mich zu Ihnen zu setzen, Mademoiselle?« fragte er, und zwar mit einer Verbeugung.
Das war ihr noch nie geschehen. Aber sie hatte sich bereits in das Ereigniß gefunden und ihre Verlegenheit überwunden. Sie antwortete:
»Ich bin solche Ehren nicht gewohnt, Monsieur.«
»Aber werth sind Sie solcher Ehren. Wissen Sie, daß Sie schön sind, sogar sehr schön, mein Kind?«
Sie erröthete bis über den Nacken herab und schwieg. Er fuhr fort:
»Ich wünsche, ich wäre der Sohn eines Bauern, wie diese hier.«
Und als sie ihm abermals nicht antwortete, fügte er hinzu:
»Können Sie sich nicht denken, weshalb ich diesen Wunsch hege?«
»Nein.«
Aber sie konnte es sich gar wohl denken, durfte es ihm aber nicht sagen. Er bog sich ein Wenig weiter zu ihr herüber und meinte:
»So werde ich es Ihnen sagen. Wenn ich ein Bauernsohn wäre, so könnten Sie öfters meine Tänzerin sein!«
»O, Monsieur, Sie würden sein wie die Anderen und eine Reiche vorziehen!«
»Nein. Ich würde die vorziehen, welche mir gefällt, und das sind Sie. Haben Sie noch Eltern?«
»Ja. Beide leben noch.«
»Und was ist Ihr Vater?«
»Er ist nur der Hirt des Dorfes.«
»Nur! Warum gebrauchen Sie dieses Wort? Ein jeder Mann ist ein ganzer Mann, wenn er seinen Platz ausfüllt. Sie werden mich neugierig schelten und mir zornig werden. Aber ich möchte so gern erfahren, ob Sie einen Geliebten haben. Wollen Sie mir das sagen?«
»Ich habe keinen,« antwortete sie erröthend.
»Sagen Sie die Wahrheit?«
»Gewiß, Monsieur.«
»Aber Einen, den Sie lieb hatten, hat es bereits gegeben?«
Sie blickte verlegen vor sich nieder und zögerte, zu antworten; darum sagte er nach einem Weilchen:
»Ich sehe Sie heute zum ersten Male und bin Ihnen fremd; daher ist es unrecht von mir, Ihnen solche Fragen zu stellen.«
Da blickte sie voll zu ihm auf und antwortete:
»Und doch will ich Ihnen antworten, Monsieur. Ja, ich habe einen Geliebten gehabt; aber wir sprechen nicht mehr mit einander.«
»Ah! Wirklich? Befindet er sich heut Abend hier?«
»Ja, er ist hier.«
»Wollen Sie mir ihn zeigen?«
»Er steht jetzt ganz allein am Büffet und läßt sich Wein geben.«
»Dieser ist es? Er hat keinen Geschmack, Mademoiselle, keinen Geschmack und kein Herz, und darum wären Sie nicht glücklich mit ihm gewesen. Sie haben mir auf meine so zudringliche Frage geantwortet; das giebt mir den Muth, noch zwei weitere Erkundigungen einzuziehen. Darf ich?«
»Ich werde Ihnen antworten.«
»Verstößt es gegen den Gebrauch dieser Gegend, wenn ich Sie einlade, heute Abend mit mir zu speisen?«
»Nein. Aber es würde auffallen, wenn wir dies an einem andern Orte thäten, wo wir allein wären.«
»Also müßte es hier geschehen?«
»Ja, hier, wo man uns offen beobachten kann.«
»Gut! So sagen Sie mir nur noch, ob es auffällig sein würde, wenn ich Sie nachher nach Hause begleitete.«
»Ja; man würde sehr darüber sprechen, und ich dürfte mich nicht wieder sehen lassen.«
»Und doch wäre ich so glücklich gewesen, wenn Sie mir die Erlaubniß dazu hätten ertheilen können!«
Sie befand sich in einer großen Verlegenheit. Sie hatte geträumt von Einem, der vornehmer sein müsse, als der Sohn des Maire; dieser Traum war so wunderbar in Erfüllung gegangen. Sollte sie sich die Gunst des Schicksals dadurch verscherzen, daß sie diesem Baron seine Bitte versagte? Und doch wußte sie, daß sie sich einem bösen Gerede aussetze, wenn sie auf seinen Wunsch einging.
Er sah, daß sie mit sich kämpfte, daß sie wohl nicht ganz abgeneigt war, ihm die erbetene Erlaubniß zu ertheilen. Daher fügte er weiter hinzu:
»Könnten wir es nicht so einrichten, daß man es nicht bemerkt?«
»Was würden Sie da von mir denken, Monsieur!«
»Ich würde nur denken, daß Sie ein sehr verständiges Mädchen sind, Mademoiselle.«
»Was veranlaßt Sie aber zu dem Wunsche, mich zu begleiten?«
»Wenn Sie sich das nicht selbst sagen wollen, kann ich es Ihnen auch nicht erklären. Eine schöne Musik hört man gern so lange wie möglich, und ein schönes Gemälde betrachtet man, bis man seine Schönheiten alle aufgefunden und genossen hat. Das Glück, bei einer jungen, hübschen Dame sein zu dürfen, dehnt man aus demselben Grunde so weit wie möglich aus. Es wäre ja ganz leicht, daß ich vor Ihnen den Saal verlasse und Sie dann erwarte. Der Abend ist so schön. Wir könnten noch ein Wenig promeniren gehen.«
»Dann würde es klüger sein, daß ich eher gehe und Sie erwarte.«
»Warum?«
»Weil es ungebräuchlich ist, daß die Dame den Herrn erwartet. Man wird also nicht so leicht auf den Gedanken kommen, daß ich dies thue, sondern glauben, daß ich nach Hause gegangen bin.«
»Ah, Sie sind nicht blos schön, sondern auch klug! Also werde ich Sie begleiten dürfen?«
»Ich weiß noch nicht. Um dies sagen zu können, müßte auch ich Ihnen eine Frage vorlegen dürfen.«
»So fragen Sie!«
»Aber diese Frage wird Sie vielleicht verletzen!«
»Aus Ihrem Munde verletzt sie mich nicht.«
»Nun wohlan! Sie sind verheirathet?«
Er hatte gewußt, daß es diese Frage sei, und doch wußte er nicht sofort, was er antworten solle; erst nach einer kleinen Pause erklärte er ihr:
»Nein. Ich war es, aber meine Frau ist gestorben.«
»So sind Sie Wittwer?«
»Ja.«
»In diesem Falle ist es mir erlaubt, Ihre Begleitung anzunehmen. Wenn Sie nach mir den Saal verlassen, so gehen Sie rechter Hand des Dorfes hinaus. Es ist nur zwei Minuten bis zum letzten Hause; dort werde ich Sie erwarten.«
Er nickte ihr dankbar zu. Er hätte ihr gern die Hand dafür gedrückt, oder ihr einen Kuß gegeben; aber das Erstere wäre aufgefallen, und das Letztere war gar unmöglich.
Sie blieben für den Abend mit einander an dem Tische beisammen. Er tanzte noch öfters mit ihr, und so fiel es gar nicht auf, daß sie an seinem Mahle theilnehmen durfte. Höchstens fühlte man anstatt Mißtrauen, Mißgunst. Und als sie endlich Abschied nahm und von ihm höflich entlassen wurde, war allen Hintergedanken die Möglichkeit abgeschnitten.
Er wartete noch einige Minuten und ging dann auch. Er suchte seinen Diener auf und befahl ihm, da er noch ein Wenig frische Luft schöpfen wolle, dafür zu sorgen, daß er bei seiner Rückkehr die Thür noch offen finde. Dann verließ er das Haus.
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