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Viele meiner Leser sind, wie ich weiß, in Palästina gewesen. Die meisten von diesen werden wohl auch, wie einst der Mann im Gleichnisse Christi, von Jerusalem hinab nach Jericho gegangen sein. Er-Riha wird diese Stadt vom heutigen Araber genannt. Von ihr aus geht es über eine alte, verfallene Brücke nach dem fernliegenden »Toten Meere«. Nach der andern Seite führt, an zerlumpten, niedrigen Beduinenzelten vorüber, ein bequemer Weg nach Aïn es Sultan, wo die eingeborenen Bettler gern unter Wasser tauchen, um die für sie hineingeworfenen Geldstücke herauszuholen. Trinken aber mag man lieber vor als nach dieser Prozedur!
Geht man von hier aus noch weiter, so sieht man den imposanten Dschebel Qarantel vor sich liegen, der sich aus dem Abgrunde wie ein böser Traum aus tiefem Schlaf erhebt. Seine Einsamkeit hat schon in den frühesten Zeiten anziehend auf fromme Anachoreten gewirkt. Die Höhlen wurden von ihnen bewohnt. Zelle gesellte sich zu Zelle. Sie sind hoch am schwindelnd steilen Fall der Felsen gelegen. Heute wird diese Siedlung als Strafkolonie für griechisch-katholische Priester gebraucht.
Warum diese scheinbar unmotivierte Abschweifung nach dem gelobten Lande? Der Aehnlichkeit der Orte wegen. Ich kann die Lage des von dem Ustad bewohnten »hohen Hauses« eigentlich nur Denen deutlich machen, welche den Dschebel Qarantel gesehen haben. Und doch wie so verschieden sind sie beide von einander. Bei Jericho jeder Nomade ein geborener Bettler; hier in dem abgelegenen, kurdischen Orte jeder Bewohner ein Ehrenmann. Dort Einöde, hier das gepflegte Tier- und Pflanzenleben. Dort abgrundtiefes Grauen und hier ein herzerfreuender Blick von der Höhe in die Tiefe. Dort die unerbittlich geballte Faust der geistlichen Oberbehörde und hier aber die stets gütig geöffnete Hand dessen, der nur von der Liebe zu seiner dominierenden Würde emporgehoben worden war. Auch in Jericho habe ich unter freiem Himmel wiederholt ganze Nächte durchgewacht. Warum? Der Unsauberkeit und des Ungeziefers wegen, welches mich aus der Wohnung heraus bis an den verwilderten Garten trieb. Da strahlten mir auch die Sterne; aber die körperliche Qual ließ auch nur häßliche geistige Bilder zu. Ich sah am Tel ed Dem den Chan Chadrur vor mir liegen, welcher die Herberge sein soll, in die der barmherzige Samariter seinen Pflegling brachte. Dort habe ich für eine Flasche allerschlechtesten Bieres drei Mark bezahlt. Ein Glas widerlich parfümiertes Wasser kostete einen Frank. Wer aus Sparsamkeit nicht einkehrt, ist des fernern Weges nicht sicher. Die Verhältnisse sind nach zweitausend Jahren noch ganz dieselben.
Das ist »das gelobte Land«! Wie herrlich weit hat man es dort gebracht! Damals war der Samariter, der verachtete Ketzer, der Barmherzige. Wie ist es jetzt? Wenn ich mir diese Frage unter dem Sternenhimmel Jericho's vorlegte, so stand kein Stern mehr über Bethlehem, und keine Schar Engel fand sich ein, um ihr »Et in terra pax, hominibus bonae voluntatis« zu singen. Vor christlicher Zeit wurde der Jude von Räubern überfallen, beraubt und fast erschlagen. Jetzt, nach zwanzighundert Jahren, steht es nicht besser um diese und ähnliche, oft intellektuelle und moralische Wegelagerei. Jetzt fallen Christen über Christen her. Besonders wer es wagt, nicht den von jedermann betretenen, sondern seinen eigenen Glaubensweg von oder nach der heiligen Stadt zu gehen, der kann sehr leicht an sich selbst erfahren, was Lucas 10 Vers 30 zu lesen ist. Christus wußte gar wohl, weshalb er grad dem Schrift- und Buchstabenstolz mit seinem Gleichnisse vom barmherzigen Samariter diese ewig unheilbare Wunde schlug. Auch wir Christen haben unser Jerusalem und unser Jericho mit dem »Toten Meere« in der Nähe. An dem Wege zwischen beiden liegt das un- mit dem egogläubigen Strauchrittertum im Hinterhalte. Wo ist die Humanität, die wahre christliche Liebe und Barmherzigkeit? Soll sie auch noch in der Gegenwart nur dem ketzerischen Samariter überlassen bleiben? Gehen etwa auch jetzt noch Priester und Leviten an dem Angefallenen vorüber, ohne sich seiner anzunehmen? Solche Fragen kamen mir in den Sinn, als ich des Nachts unter den staubigen Oleandern von Jericho saß und an die göttliche Lehre von der Nächstenliebe dachte.
Dagegen hier im christenfernen Kurdistan! Welch eine herrliche Auslegung hatte da das Gleichnis des Herrn an uns selbst gefunden. Wer und was waren hier die Barmherzigen? Etwa Christen? Priester und Leviten? Vielleicht auch nur Ketzer, denn ich hatte ja ihre Glaubenssatzungen noch gar nicht kennen gelernt. Es war bisher nur von Chodeh, also von Gott gesprochen worden. Gab es bei ihnen überhaupt Satzungen? Waren sie mir verschwiegen worden, weil man annahm, daß nur die Liebe, nicht aber die Konfession barmherzig sei? Was für ganz andere, viel tröstlichere Gedanken waren mir gestern abend unter dem hiesigen Sternenhimmel gekommen! Hier war ich nicht um meines Dogma willen, sondern als Mensch von guten Menschen aufgenommen und mit größter Aufopferung gepflegt worden. Niemand hatte mich gefragt, wo ich getauft und wo ich konfirmiert oder gefirmt worden sei. Giebt das der Liebe einen mindern oder höhern Wert? »Wer ist mein Nächster?« – »Der, welcher die Barmherzigkeit an mir that!« Wenn aber ein Christ mir Haß oder Neid anstatt der Liebe giebt, was ist er dann für mich? Mein Nächster? Oder noch schlimmer als nur fremd? Ist er dann überhaupt ein Christ?
Wie herrlich war der Nachmittag unter den Platanen, in deren Schatten man für mich die Kissen zum Sitzen aufgerichtet hatte. Die Sonne brannte, doch konnten die Strahlen nicht durch die dichten Wipfel dringen. Die Rosen dufteten; jede Pflanze schien Wohlgeruch auszuatmen. Ich befand mich nicht weit genug vom Hause entfernt, um es und seine Lage ganz überschauen zu können. Es stand auf kompaktem Felsengrund, dessen Spalten durch festes Mauerwerk ausgefüllt worden waren. Sein hinterer Teil nahm die natürlichen Höhlungen des Gesteines ein. Der vordere Teil ragte frei empor, mehrere Stockwerke hoch und war von ansehnlicher Breite.
Das Dach war glatt, vorn mit einer assyrischen Mauerkrönung; wie man sie in Dur-Sargon zu sehen bekommt. Doch habe ich ganz ähnliche Krönungen auch in alten Orten des obern Niles getroffen. Ueber dem Dache gab es in dem Felsen offene Höhlungen, zu denen schmale Stege emporführten. Das erinnerte mich lebhaft an den »Stabl Antar« bei Siut, der ganz ebenso zu ersteigen ist. In einer dieser Höhlen sah ich die beiden Glocken hängen. Sie war halbkugelförmig ausgebaucht. Die Tonschwingungen konnten nur nach der einen, offenen Seite fließen, was ihnen eine erhöhte Stärke und beträchtlich erweiterte Hörbarkeit verlieh.
Glocken hier im persischen Kurdistan? So wird wohl mancher fragen. Ich habe freilich viele, viele Menschen kennen gelernt, welche der falschen Ansicht sind, daß nur das Christentum Glocken besitze und daß es in früherer Zeit noch keine gegeben habe. Wenn sogar im Konversationslexikon von Pierer zu lesen ist, daß die Glocken eine Erfindung der christlichen Kirche seien, so darf man sich nur wundern. Kleinerer Glöcklein bediente man sich schon im frühesten Altertume; aber schon im alten China gab es größere und sogar große. Die zu Peking ist über zwölfhundert Zentner schwer und fast fünf Meter hoch. In Aegypten wurden die Osirisfeste durch Glockenspiele eingeläutet. Man hat kleine Bronzeglocken in Assyrien ausgegraben. Im alten Indien wurden die Buddhisten durch große, metallene Glocken zum Gottesdienste zusammengerufen. Bei den Griechen bedienten die Priester der Kybele und der Persephone ihre Glocken, und Kaiser Augustus ließ eine Glocke vor dem Tempel des Jupiter aufhängen. Glocken indischer oder assyrischer Form kamen nach Persien. Die griechische Kirche liebte und verbreitete besonders das Glockenspiel. Im Quellenlande des Euphrat und des Tigris, wo es heut noch Christen uralten Bekenntnisses giebt, besaßen wohlhabende Gemeinden schon zu frühen Zeiten ihre Glocken. Der Islam verhielt sich ablehnend, doch geduldete Christen durften ihre Glocken behalten. So war es also gar kein Wunder, daß auch die Dschamikun zwei besaßen, zu denen sie, wie ich später erfuhr, durch den Ustad auf ganz eigentümliche Weise gekommen waren. Es führte eine bequeme Treppe zu ihnen hinauf, so daß man also auch des Nachts ohne Besorgnis emporsteigen konnte.
Von da aus, wo ich saß, konnte man den Eingang zu dem freien Platze sehen. Man verschloß ihn durch ein großes Thor, welches jetzt offen stand. Von diesem Platze aus stieg man die Stufen zu der Halle empor. Links führte ein Weg nach einer breiten, hohen Thür, deren starke Steinpfosten gewiß schon seit Jahrtausenden standen. Rechts ging man nach einem Garten, in welchem zwischen Obstbäumen Blumen und Gemüse gepflegt wurden. Dorthin beschloß ich, meinen ersten Spaziergang zu machen. Ich griff zum Stocke und stand auf. Die Beine zitterten zunächst ein wenig, und die Füße wollten lieber auf dem Kissen liegen bleiben. Aber sie mußten gehorchen, und als sie sahen, daß ich bei meinem Willen blieb, fügten sie sich in das Unvermeidliche.
Ich kam über den ganzen Platz hinüber bis zur Garteneinzäunung, an der ich aber halten blieb, um auszuruhen. Nachdem ich dies gethan hatte, ging es weiter, in den Garten hinein. Er war sehr groß. Es gab da eine ganze Menge Beete, von deren Erträgnissen ein großer Haushalt bestritten werden konnte. Zwischen ihnen standen viele Bäume, welche Früchte trugen. In leidlicher Entfernung sah ich ein Weichselgebüsch, an welchem eine Bank stand. Dort wollte ich mich niedersetzen.
Ich ging also hin. Hierbei kam ich an zwei nahe beieinander stehenden, persischen Erikan vorüber, welche so voller Früchte hingen, daß ihrer fast mehr als Blätter waren. Es war eine frühe, eigroße, köstlich blaurot gefärbte Pflaume! Ja, köstlich!!!
Wenn ich hier erst ein und dann sogar drei Ausrufezeichen mache, so hat das seinen guten Grund. Obst geht mir über jede andere Speise. Ich esse da gewiß so viel, wie sogar meine vier Ausrufezeichen schwerlich vermuten lassen. Und Pflaumen? Gar von dieser geradezu zum Stehlen einladenden Sorte? Man würde staunen, wenn ich sagen wollte, wieviel ich da essen und aber auch vertragen kann. Ich sage es also lieber nicht. Das alles gilt aber nur vom Obste. In Beziehung auf andere Speisen sind die sogenannten Tafelfreuden für mich nichts als Tafelarbeiten. Ich weiß, und ich schmecke, was gut ist oder nicht; ich kann sogar auch tadeln; aber ich esse nicht, um zu essen, sondern weil ich leben bleiben will. Gekünsteltes oder Complicirtes schiebe ich zurück. Ich will einfach essen, womöglich nur eine einzige Speise, aber gut. Das Zusammengesetzte ist keineswegs so zuträglich wie man denkt. Ich habe das an mir und tausend Andern erfahren. Wenn die Menschen doch wüßten, was die Art und Zubereitung der Nahrung für einen Einfluß, für eine Wirkung hat! Doch, hierüber könnte man Bücher schreiben, und es würde doch vergeblich sein. Aber, daß ich jetzt als Sechzigjähriger mich körperlich und geistig noch genau so jung und arbeitsfreudig wie ein Zwanzigjähriger fühle, das habe ich wohl vorzugsweise dem Umstande zu verdanken, daß ich so einfach und so wenig wie nur möglich esse. Obst aber, so viel ich immer kann, das ganze Jahr hindurch. Nach dem Preise soll man da nicht fragen. Und Pflaumen! Solche, wie grad hier –!
Da stand ich unter den Bäumen und schaute sehnsüchtig hinauf. Wem gehörten sie? Wer war der Glückliche, der da pflücken oder gar schütteln konnte, ohne erst jemand fragen zu müssen? Der Ustad? Der Pedehr? Weder der eine noch der andere war da. Es gab überhaupt im ganzen Garten keinen Menschen, an den ich eine Bitte hätte richten können. Was nun thun? Soll ich? Oder soll ich nicht? Darf ich überhaupt? Adam und Eva im Paradiese wußten wenigstens, daß sie nicht durften; ich aber wußte nicht einmal das! Doch wozu diese übermäßige Zartheit des Gewissens! Bei solcher Art von Pflaumen! Ich war ja Gast! Und der Garten gehörte einem Orientalen, nicht einem abendländischen Besitzer, bei dem das Bäumeschütteln nicht mit zu den unveräußerlichen Rechten des bei ihm Aufgenommenen gerechnet wird! Ich legte also beide Hände an den einen Stamm und – schüttelte.
Hei! Was gab das für einen Erfolg! Es regnete förmlich Pflaumen auf mich nieder! Das freilich hatte ich nicht gewollt! Es hatten nur einige fallen sollen; aber sie waren beinahe überreif, und in Anbetracht meiner jetzt noch so geschwächten Kräfte hatte ich mich zu energisch in das Zeug gelegt: Weit über die Hälfte der Früchte lagen nun jetzt unten. Ich stand da mit wohl demselben Gefühle wie jener Reiter, der sich links so kräftig auf das Pferd geschwungen hat, daß er rechts, auf der anderen Seite wieder hinuntergefahren ist. Jedes Zuviel ist eben schädlich! Aber da ich die herabgefallenen Pflaumen doch unmöglich wieder oben anheften konnte, so füllte ich mir die Taschen, ließ die andern liegen und ging dann nach der erwähnten Bank, um dort zu thun, was nun das beste war, nämlich meinen Raub genießen.
Ich saß nun so, daß ich die beiden Pflaumenbäume nicht mehr sehen konnte. Das minderte die Kraft der Vorwürfe, welche ich mir zu machen hatte. Ich aß! Aber, es ist nichts so fein gesponnen, El Aradsch bringt es an die Sonnen. Wer ist El Aradsch? Das wird man sogleich sehen und sogar auch hören. El Aradsch heißt: der Lahme.
»Auch Frenk maidanosu mit, zur Abendsuppe!« rief hinter mir eine eigentümlich fette Stimme.
Frenk maidanosu ist ein türkisches Wort und heißt zu deutsch Kerbel. Also für heute abend stand eine Potage von Kerbel in Aussicht. Das war zwar gut und auch leicht verdaulich, aber für mich sollte das in meiner gegenwärtigen Eigenschaft als Pflaumendieb außerordentlich verhängnisvoll werden. Zunächst noch ganz ahnungslos, drehte ich mich um, zu sehen, wer gesprochen hatte und wem die Worte galten. Ich mußte mit der Hand das Weichselgezweig auseinander schieben, um nach dem Hause hinschauen zu können. Ich erblickte zunächst eine unendlich lange, männliche Gestalt, welche bis über die Kniee hinauf barfuß war. Von dieser Gegend an war ein blaues, sackähnliches Hemd zu sehen, welches mit Mühe und Not den Hals erreichte. Dann kam ein unverhältnismäßig kleiner Kopf mit einem Gesicht, welches mir ein Lächeln abnötigte. Dieser Mann war ganz gewiß nicht unter vierzig Jahre alt, hatte aber so junge, kindlich weiche Züge, daß der Kontrast zwischen Gesicht und Gestalt allerdings zum Staunen nötigte. Dazu kam, daß er eine kurdische Ledermütze trug, deren Streifen ihm hinten bis in das Genick und vorn über die Nase herabhingen. Man denke sich einen aus Leder geschnittenen Stern, dessen Mitte auf dem Scheitel liegt, während die Strahlen wie die Beine eines präparierten, monströsen Spinnentieres nach allen Seiten herunterflattern! Seine Arme schienen noch länger zu sein als seine Beine, von denen das eine kürzer als das andere war; er hinkte. Er trug einen leeren Korb in der Hand und ging grad nach der Gegend hin, wo die beiden Pflaumenbäume standen, der eine noch als Zeuge meiner Ehrlichkeit, der andere aber als Beweis der Missethat, die ich begangen hatte.
Das war die Person, welcher die Anweisung zur Kerbelsuppe gegolten hatte. Wer aber hatte sie gegeben?
Ich sah eine jetzt geöffnete Thür, welche ich vorher nicht beachtet hatte. Da stand ein weibliches Wesen, so strahlend weiß wie eine abendländische Festjungfrau gekleidet. Festjungfräulich waren auch die langen Zöpfe, in welche sie ihr herabhängendes Haar geflochten hatte. Festlich auch die beiden Rosen, die rechts und links auf die Ohren niederschauten. Und das Gesicht? Könnte ich es doch beschreiben! Dieses Gesicht war zwar etwas Ganzes, sogar etwas seltsam Harmonisches, und aber doch schien es, als ob jeder einzelne seiner Teile sich bestrebe, herauszutreten und für sich selbst zu bestehen. Jede Wange bildete ein blühend rotes, nach ganz besonderem Ansehen trachtendes Halbkügelein. Das Kinn that sich weiter unten fast noch mehr hervor; es schien auf sein mehr als neckisches Grübchen ganz besonders stolz zu sein. Das Näschen begann erst da, wo andere Nasen fast schon zu Ende sind, und schaute zwischen den beiden Wangen so frohsinnig heraus und in die Welt hinein, als ob seinesgleichen nirgends mehr zu finden sei. Auch die glatte, faltenlose Stirn trat heiter vor. Und die Aeuglein unter ihr! Ja, diese Aeuglein! Wer kann überhaupt Augen beschreiben? Und nun gar so liebe, kleine, gute, außerordentlich lebendige! Und wie das Gewand, so war auch dies Gesicht ein Abglanz allergrößter Sauberkeit. Man darf ja nicht denken, daß es häßlich gewesen sei. O nein! Es war zwar nicht schön, nicht hübsch, nicht lieblich, nicht – ja, was noch nicht? Es war überhaupt alles nicht, aber es war gut, ja wirklich gut! Aber wie alt? Zwanzig? Dreißig? Vierzig? Wer das nur sagen könnte! Ich wollte genauer hinsehen, da aber drehte sie sich um und verschwand nach innen. Wenn diese personifizierte Reinlichkeit etwa die Gebieterin der Küche war, so konnte man von ihr alles, ganz gleich, ob mit oder ohne Kerbel, mit Vergnügen essen!
»Maschallah – Wunder Gottes!« hörte ich jetzt von seitwärts her einen Ruf.
Ich wendete mich zurück und machte nach dorthin eine Lücke ins Gezweige. Da stand der Lahme vor den Pflaumen, so lang, wie er war, vollständig starr und steif vor Schreck. Hierauf kam einige Bewegung in ihn, aber nicht viel; er schüttelte den Kopf.
»Ahija – o wehe!« klagte er.
Hierauf sah man, daß er eine Anstrengung machte, nachzudenken. Es gelang.
»Ja charami – o, du Spitzbube!« rief er aus, indem er sich nach allen Seiten umschaute.
Es ging ihm also eine Ahnung auf, daß die Pflaumen nicht von selbst heruntergefallen seien.
»Iil'an Daknak – verflucht sei dein Bart!« schimpfte er, und als er den Thäter nicht erblickte, fügte er noch viel zorniger hinzu: »Allah jelisak borneta – Allah setze dir einen Hut auf!«
Mit diesem Wunsche leistete er sich die allergrößte Schande für den Dieb. Wer einen europäischen Hut, vielleicht gar einen hohen Cylinder, occidentalisch »Angströhre« genannt, aufgewünscht bekommt, mit dessen Ehre ist es nach streng orientalischen Begriffen ganz gewiß für immer aus! Nun griff der lange Mensch unter die Mütze und rieb sich die Stirn. Er that dies einigemal. Wahrscheinlich wollte er die Antwort auf die Frage, wer der Spitzbube wohl sein könne, herausreiben. Es gelang ihm aber leider nicht.
»Allah ja'lam el gheb – Allah kennt das Verborgene!« seufzte er endlich erleichtert.
Das war das einzige und, wie es schien, ihn sehr beruhigende Resultat, welches er sich aus der Stirn frottiert hatte. Dann kniete er nieder, um die Pflaumen in den Korb zu lesen. Dabei betrachtete er jede einzelne mit einem Blicke, als ob er sie sich ganz besonders vorgemerkt habe. Aber plötzlich fuhr er halb empor. Er hatte etwas Wichtiges gesehen. Das waren die Fußstapfen, welche ich in dem weichen Boden zurückgelassen hatte.
»Men schabar nahl – wer Ausdauer hat, dem gelingt es!« rief er aus.
Er glaubte wohl, auch jetzt noch immer gerieben und nachgedacht zu haben. Nun erhob er sich und hinkte den Spuren langsam nach. Sie führten ihn natürlich her zu mir. Als er um die Ecke des Gebüsches trat, steckte ich soeben eine Pflaume in den Mund. Zunächst blieb er wie eine Salzsäule vor mir stehen. Er bewegte kein Glied. Nicht einmal seine Wimper zuckte.
»Wer bist du?« fragte ich.
»Du – du – du hast die Pflaumen – meines Ustad gestoh –«
Weiter kam er nicht. Die Stimme versagte ihm. Also diese Früchte waren für den Ustad reserviert! Da konnte ich ruhig sein; der gönnte sie mir gewiß. Aber dieser meiner Ruhe stand ein ebenso schnelles wie gewaltsames Ende bevor, denn der Lahme bekam plötzlich seine ganze Bewegungsfähigkeit, sogar zehnfach gesteigert, wieder, und ehe ich nur den Gedanken hätte fassen können, daß so etwas möglich sei, warf er sich mit aller Macht über mich her, schlang die überlangen Arme anderthalbmal um mich herum und begann, aus Leibeskräften um Hilfe zu schreien. Nach den Ausdrücken, die aus seinem Munde flossen, war eigentlich zu schließen, daß er eine ganze Bande von Dieben, Räubern und Mördern ergriffen habe. Er war ein außerordentlich kräftiger Mann, mich aber hatte die Krankheit so geschwächt, daß ich vergeblich versuchte, von ihm loszukommen. Glücklicherweise dauerte es nur ganz kurze Zeit, bis mir die von ihm herbeigerufene Hilfe kam. Wahrscheinlich sah er sie, denn er hörte auf mit Schreien; statt seiner aber hörte ich die fette Stimme der sich eiligst nähernden »Festjungfrau«.
»Wo sind denn die Räuber, die Mörder?« fragte sie.
»Hier, hier! Komm, komm!« antwortete er.
»Wen haben sie ermordet?«
»Die Pflaumen, die Pflaumen des Ustad, die Früchte meines lieben, hohen Herrn!«
»Unsinn! Pflaumen werden doch nicht ermordet!«
»Komm nur; komm, und sieh ihn an!«
Sie kam; sie stand schon da.
»Zeig, Tifli!« gebot sie ihm.
Tifli heißt »mein Kind«, sogar »mein kleines Kind«. Er ließ mich los. Ich hatte im Gefühle meiner Ohnmacht mich ganz passiv verhalten und konnte nun gar nicht anders, ich mußte ihm lachend in das grimmige Kindergesicht sehen. Wenn dieser Mann ein »kleines Kind« war, welche Länge mußten da die großen Kinder wohl hier zu Lande haben! Die »Festjungfrau« war zunächst auch ganz ohne Worte. Sie schien nicht recht zu wissen, aus wem von uns dreien sie klug zu werden habe.
»Das ist er!« sagte er, indem er beide Zeigefinger schnurstracks auf mich richtete.
»Wer?« fragte sie.
»Der Dieb.«
»Was hat er gestohlen?«
»Die Pflaumen! Dort liegen noch welche!«
Er deutete nach den Bäumen. Sie schaute hin, sah die Früchte unten liegen, schlug die dicken Händchen patschend zusammen und jammerte:
»Die besten, grad die allerbesten!«
»Aufgehoben haben wir sie für unsern Herrn!« klagte er mit.
»Bis zur Stunde der höchsten Reife!« fuhr sie fort.
»Dann erst ißt er sie, seine Lieblinge!« fügte er hinzu.
»Er hat wohl noch genug!« tröstete ich.
Da sahen beide mich so erstaunt an, als ob ich etwas ganz Unbegreifliches gesagt habe. Dann fuhr mich der Lange zornig an:
»Sie sind alle sein, alle, alle! Wer bist du denn?«
»Ja, wer bist du? Das wollen wir wissen!« erklärte mir die Besitzerin des frohsinnigen Näschens.
»Das wißt ihr nicht?« antwortete ich.
»Nein,« sagte sie.
»Ihr habt mich noch nicht gesehen?«
»Noch nie! Doch, wer du auch seiest, wie darfst du es wagen, hier Früchte zu stehlen! Kein einziger Dschamiki stiehlt. Du mußt ein Fremder sein!«
»Aus der Fremde kam ich allerdings, doch gehöre ich zum Hause. Ich bin des Ustad Gast.«
»Seit Wochen schon.«
»Seit Wo – Wo – Wochen – Wo –!«
Das runde, kleine Mündchen blieb ihr offen stehen, so offen, daß man die kerngesunden, perlengleichen Zähne sehen konnte. Die Wänglein verloren die Farben; das Kinn zeigte sich ängstlich gespannt; das Näschen wollte verschwinden, und die Aeuglein schlossen sich, zwar langsam aber ganz. Hatte sie etwa einmal von einer Europäerin gesehen, welche Ritterdienste in solchen Fällen von einer kleinen Ohnmacht zu erwarten sind? Nein! Die Aeuglein öffneten sich wieder. Sie wurden sogar noch größer, als sie vorher gewesen waren.
»Heut – heut – verläßt der – der fremde Effendi – zum erstenmal – das Haus –«, stotterte sie.
»Du hast ihn wirklich noch nicht gesehen?« fragte ich.
»Nein. Niemand von uns – durfte die Halle betreten. Bist du – du etwa der – der Effendi?«
»Ja, ich bin's.«
Da fuhr sie vor Entsetzen zwei Schritte zurück. Ihr liebes Gesicht verlor nun alle, alle Farbe. Der Lange aber schoß in seinem Schreck noch höher empor, als er eigentlich gewachsen war. Wahrscheinlich wollte er mit der gedankenreichen Stirn so hoch hinaus, daß ihr meine Rache unmöglich etwas anhaben konnte. Diese Bewegung brachte ihn auf eine rettende Idee:
»Ich hole Kerbel!« rief er aus.
Mit drei Sätzen seiner langen Beine war er bei den beiden Bäumen, raffte den Korb auf, schüttete die hineingelesenen Pflaumen wieder heraus und rannte fort, um die fernste Ecke des Gartens zu erreichen. Ich sah ihm lachend nach und hatte dabei nicht acht auf meine »Festjungfrau«. Da erklang es neben mir:
»Und ich muß in die Küche!«
Da drehte ich mich um. Sie war schon weg. Ich schob die Zweige auseinander, um ihr nachzusehen. Sie schoß in größter Eile auf einige Hausbedienstete zu, welche auch von den Hilferufen angelockt worden waren, aber nicht gewagt hatten, näher zu kommen.
»Fort! Weg mit euch!« rief sie, indem sie an ihnen vorüberkam. »"Das Kind" hat wieder eine Dummheit gemacht. Stört dort den Effendi nicht!«
Hierauf verschwand sie in ihrem wohlthätigen Reiche. Vor mir lag eine ihrer beiden Rosen, die ihr entfallen war. Ich hob sie auf und steckte sie zu mir. –
Warum erzähle ich dies eigentlich nichts weniger als bedeutende Ereignis hier? Weil im Menschenleben oft das, was gleichgültig erscheint, später größere Wichtigkeit gewinnt, als man vorher vermuten konnte.
Nach einiger Zeit kam »das Kind« aus seiner Gartenecke zurück, hütete sich aber wohl, an mir vorbeizugehen. Es machte vielmehr einen Bogen hinterwärts, um wieder in die Küche zu gelangen. Hierauf verließ auch ich den Garten, versäumte aber nicht, mir die Taschen noch einmal mit Pflaumen zu füllen. Noch hatte ich mich nicht lange niedergesetzt, da kam der Pedehr. Er war in der Küche gewesen, und die Köchin hatte ihm erzählt, was geschehen war. Er fragte mich, ob mir ›das Kind‹ sehr wehe gethan habe. Ich beruhigte ihn mit Vergnügen.
»Er wird von uns nur ›Kind‹ genannt,« sagte er. »Andere pflegen ihn El Aradsch, den Lahmen, zu nennen. Es hat mit ihm eine eigene Bewandtnis, welche du später auch noch kennen lernen wirst. Du liebst das Obst?«
»Ja. Ich esse es sehr gern, und zwar ungewöhnlich viel.«
»Thue das, so lange du lebst! Die reine, keusche Lebenskraft ist nicht im Fleische des ausgewachsenen Tieres vorhanden. Genießt man welches, so soll es nur ganz junges sein. Das reife Tier giebt auch dem Menschen, der es genießt, tierische Reife. In der Frucht des Baumes aber ist das reinste Leben aufgespeichert, weil Wurzeln, Stamm und Zweige das Unreine zurückbehalten haben. Nun weißt du, warum der Ustad uns gelehrt hat, nicht nur Felder, sondern auch Gärten anzulegen.«
Hatte der Pedehr recht? Ich habe mich später an seine Weisung gehalten und befinde mich sehr wohl dabei!
Hanneh und Kara kamen abwechselnd zu mir auf den Vorplatz heraus. Ich erfuhr von ihnen, daß Halef still und ruhig schlafe.
Später hatte ich das Vergnügen, die Köchin und »das Kind« wiederzusehen. Sie wollten miteinander hinunter in das Dorf und mußten da an mir vorübergehen. Das Kind hatte jetzt ein längeres Gewand angelegt, welches fast bis an die Knöchel reichte. Die Gebieterin der Küche hatte sich mit einem langen, weiten, weißen, schleierähnlichen Stoff geschmückt, welcher, ihr Gesicht freilassend, von dem Kopfe aus hinten niederfiel und, nach vorn zusammengerafft, die ganze Gestalt einhüllte. Es war an ihr überhaupt, jetzt und auch später, nichts als nur Weiß zu sehen.
Man sah Beiden an, daß sie sich meinetwegen in Verlegenheit befanden. Sie näherten sich nur zögernd. Sie sagte ihm etwas und schob ihn dann mit der Hand, voranzugehen. Da ermannte er sich, that einige schnelle, lange Schritte bis zu mir her, verbeugte sich und sagte:
»Effendi, ich bin Tifl.«
Das war ganz genau dasselbe, als wenn er in deutscher Sprache gesagt hätte: »Effendi, ich bin ein kleines Kind.« Ich mußte lächeln und nickte ihm zu.
»Aber ich bin nicht klein!« fuhr er fort.
Ich nickte wieder.
»Ich bin ein Mann!« versicherte er.
Ich nickte abermals.
»Ich habe Mut, sehr viel Mut. Ich fürchte mich niemals, vor keinem einzigen Menschen!«
»Das hast du an mir bewiesen,« bestätigte ich.
»Ja, an dir! Sogar an dich habe ich mich gewagt! Man hat mich dafür sehr gescholten; aber ich behaupte, daß ich richtig gehandelt habe. Sage du es selbst: Hattest du die Pflaumen meines Herrn herabgeworfen?«
»Ja, das hatte ich.«
»Und mir aber sind sie anvertraut. Habe ich gegen meine Pflicht gesündigt?«
»Nein, du bist ein treuer Wächter im Garten deines guten Herrn.«
Da breitete sich der Ausdruck herzlichster Befriedigung über sein kleines Gesicht. Er drehte sich zu der Köchin um und sagte:
»Hast du es gehört, o Pekala?«
Pekala ist ein türkischer Name und bedeutet »die Köstliche«. Sie machte ein sehr ernsthaftes Gesicht, womit sie aber fast grad das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung hervorbrachte, und antwortete ihm:
»Ich habe es freilich gehört, aber der Effendi ist gütiger gegen dich, als du verdienst. Merke dir: Man hat sogar auch Pflaumendiebe höflich zu behandeln, falls man nicht genau weiß, wer oder was sie sind. Du bist eben unser kleines, unerfahrenes Kind, welches nichts als Fehler macht. Und nun thu, was ich dir befohlen habe!«
Er wendete sich mir wieder zu, und zwar mit einer so komisch verlegenen Miene, daß sein Gesicht jetzt ganz genau demjenigen eines ausgescholtenen kleinen Knaben glich.
»Soll ich es wirklich machen, Effendi?« fragte er mich.
»Was?«
»Pekala hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten.«
»Wofür?«
»Daß ich dich als Spitzbube behandelt und festgehalten habe.«
»Höre, lieber Tifl, das hast du recht gemacht!«
»Recht?« fragte er in freudiger Ueberraschung.
»Ja. Pekala meint es gut mit mir. Sie will das Unrecht, welches ich that, entschuldigen. Aber ich war wirklich ein Pflaumendieb. Ich habe dir also nichts zu verzeihen, sondern ich lobe dich, denn du hast deine Pflicht gethan.«
Da nahm sein Gesicht einen frohen, weichen, und doch beinahe männlichen Ausdruck an.
»Du tadelst mich also nicht?« fragte er.
»Nein.«
»Sondern du hast mich gelobt, wahrhaftig gelobt?«
»Ja.«
»Effendi, das werde ich dir nie und nie vergessen! Mein Herz ist dein Eigentum. Wir gehen jetzt miteinander hinunter in das Dorf. Hast du vielleicht eine Besorgung? Soll ich dir etwas mitbringen?«
»Nein, lieber Tifl.«
»Lieber Tifl! Hast du es gehört, meine gute Pekala?
Lieber Tifl hat er gesagt! Andere Europäer sind ganz anders als er. Er ist grad so wie ich: er ist nicht stolz. Es bleibt dabei: mein Herz ist sein. Komm!«
Er griff nach ihrer Hand, um sie fortzuziehen. Aber sie blieb noch stehen. Ihr Auge war auf meine Brust gerichtet; ich dachte nicht daran, weshalb.
»Hast du die Rosen lieb, Effendi?« fragte sie mich.
»Ja, sehr,« antwortete ich. »Jede Blume. Blumen gleichen den Seelen guter Menschen; sie erfreuen uns, ohne daß diese Freude uns später betrübt. Warum fragst du mich?«
»Weil du die Rose aufgehoben hast, welche ich verloren habe. Es ist die Rose einer niedrigen Dienerin. Erlaubst du mir, dir täglich einige zu pflücken?«
»Ja. Ich nehme sie sehr gern von dir, o Pekala.«
»Ich danke dir! Oemürün tschok ola!«
Das sind türkische Worte. Sie bedeuten den Wunsch: Möge dein Leben lang sein! War sie etwa osmanischer Abstammung?
»Allah billingdsche olsun – Gott sei mit dir!« antwortete ich.
Da schlug sie die kleinen, dicken Hände freudig zusammen und sagte:
»Du verstehst türkisch?«
»Ja.«
»So darf ich in meiner Muttersprache mit dir reden, wenn du zu mir sprichst?«
»Das sollst du sogar, damit ich von dir lerne!«
Da war sie es, die sich stolz mit der Frage an ihren Tifl wendete:
»Hast du es gehört? Lernen will er von mir! Auch mein Herz ist sein Eigentum. Jetzt komm!«
Sie machten mir eine sehr tiefe und darum sehr höfliche Verbeugung, bei welcher er, der Lange, natürlich weit herablassender verfahren mußte als sie. Dann entfernten sie sich. Wie leicht es doch ist, Menschenherzen zu erfreuen! Warum thut man das so wenig?
Kurze Zeit hierauf kam Kara aus der Halle. Er sagte mir, daß sein Vater für einige Augenblicke aufgewacht sei, und dabei, wie noch halb im Schlafe, mit leiser Stimme die Worte gesagt habe:
»Kara muß die Pferde üben!«
Er hatte darum die Absicht, jetzt, wo die Hitze des Tages vorüber war, bis zum Abend auszureiten, und zwar mit allen drei Pferden, weil Assil und Barkh so lange Zeit nicht vom Hause fortgekommen waren. Er sattelte auch sie, weil er es nicht für vornehm hielt, sie nackt nebenherlaufen zu lassen, setzte sich auf Ghalib und ritt dann zum Thore hinaus.
Hierauf mochten kaum zehn Minuten vergangen sein, so hörte ich von der Gegend dieses Thores her ein lautes, schnaufendes Atemholen. Ich drehte mich um. Tifl kam wieder, aber wie! Er machte Sprünge, als ob es sich um sein Leben handle. Seine langen Beine flogen nur so! Um bei dem so eiligen Laufe die Mütze nicht zu verlieren, hatte er sie abgenommen und trug sie in der Hand.
»Was ist geschehen?« fragte ich, als er an mir vorüber wollte.
Er blieb für einen Augenblick stehen.
»Der junge Haddedihn!« antwortete er, indem er die Hand mit der ledernen Spinne durch die Luft schwang.
»Kara Ben Halef?«
»Ja.«
»Der ist soeben fort.«
»Ich weiß es, Effendi.«
»Und ich darf mit! Ich habe ihn gefragt! Hamdulillah! Ich bin schnell heraufgerannt, um das Pferd zu holen!«
Hierauf rannte er weiter, nach dem Garten hin, hinter dem sich, was ich noch nicht wußte, eine grasige Weide für Pferde an der Seite des Berges hinzog. Wie »das Kind« sich freute! Für Kara war es freilich nützlich, jemand, der die Gegend kannte, mitzunehmen. Aber grad diesen Tifl? Und wer weiß, auf welchen alten Gaul er sich wagen durfte! Es sollte doch wohl eine Schnelltour mit unsern edlen Tieren werden!
So waren meine Gedanken. Ich kannte »das Kind« eben nicht. Man soll sich stets hüten, vorschnell zu urteilen! Wer kam nach kaum einer Minute im eiligen Trabe aus dem Garten? Sahm, der Braune des Ustad. Ohne Sattel und Zaum! Nicht einmal eine Leine um den Hals! Er sprang nach dem Thore zu. Hinter ihm her rannte »das Kind«, strahlende Wonne im ganzen Gesicht.
»Den willst du reiten?« rief ich ihm zu. »Er geht dir ja durch!«
Da lachte er laut auf. Mit zwei, drei weiten Sätzen hatte er das Pferd erreicht. Ein kühner, wundervoll abgemessener Sprung, und er saß oben. Die langen Beine legten sich fest an den Leib des Pferdes. Ein Wehen mit der Kurdenmütze nach mir zurück, dann flog der seltsame Centaur zum Thore hinaus. Wer hätte denken können, daß dieser so willenlos und unbehilflich erscheinende Tifl ein solcher Reiter sei! Es war zum Verwundern!
Wie aber hatte Kara auf den Gedanken kommen können, grad »das Kind« und keinen andern mitzunehmen? Das war folgendermaßen geschehen:
Als der junge Haddedihn den Berg hinabritt, hatte er die Absicht, den Weg einzuschlagen, den er mit seiner Mutter gekommen war. Dies war ja der einzige, den er kannte, doch auch nicht genau, weil es bei der Ankunft ja nicht mehr Tag, sondern Abend gewesen war. Als er jetzt nun durch den Duar ritt, sah er die Köchin und Tifl vor einem Hause stehen, mit dessen Bewohnern sie sprachen. Er wollte an ihnen vorüber, doch ging das nicht so glatt, wie er gedacht hatte. Assil und Barkh zeigten nämlich die Absicht, stehen zu bleiben. Sie drängten nach Pekala und ihren Begleiter hin.
»Kennen euch die Pferde?« fragte er.
»Sehr gut,« antwortete die »Köstliche«. »Sie haben sogar sehr innige Freundschaft mit uns geschlossen.«
»Wie ist das gekommen? Ich habe noch nie gesehen, daß sie Fremden eine solche Zuneigung schenkten.«
»Wahrscheinlich ist es Dankbarkeit. Sie grämten sich; sie weigerten sich, zu fressen. Da habe ich ihnen die besten und grünsten Leckerbissen aus der Küche hinausgetragen oder durch »unser Kind« geben lassen. Das nahmen sie. So lernten sie uns kennen. Nun freuen sie sich stets, wenn sie uns sehen.«
»Ja, Tiere sind für die ihnen erwiesenen Wohlthaten oft dankbarer als die Menschen. Auch ich danke Euch!«
»Aber diese ihre Dankbarkeit hat die beiden Rappen nicht verleiten können, ihren Herren ungehorsam zu sein.«
»Wie meinst du das? Was deutest du da an?«
Da zeigte sie auf Tifl und antwortete, indem sie pfiffig lächelte:
»Richte deine Frage an diesen hier, an unser Kind! Ich habe es nur gesehen; er aber hat es gefühlt!«
Da sprach der Lange in vorwurfsvollem Tone:
»Warum sprichst du davon, o Pekala? Du solltest es doch nicht verraten! Was habe ich dir gethan, daß du mich so beschämen willst?«
»Es geschieht zu deiner Erziehung. Kinder müssen erzogen werden. Ich hatte es dir verboten, und du thatest es aber doch. Da flogst du freilich herab!«
»Ah, du bist aufgestiegen?« fragte Kara.
»Ja,« gestand Tifl, indem sein Gesichtchen einen unendlich kläglichen Ausdruck annahm.
»Auf welchen? Assil oder Barkh?«
»Ich habe es mit beiden probirt.«
»Nun, weiter?«
Da riß er sich mit der linken Hand die Spinnenmütze vom Kopfe, um mit der Rechten kratzend in die Haare zu fahren, und antwortete:
»Ich mußte herunter!«
»Ja, das glaube ich! Wir haben es sie so gelehrt. Du warst kaum oben, so flogst du wieder herab!«
Da richtete sich »das Kind« in seiner ganzen Länge auf und rief:
»Kaum oben? Oho! Ich bin Tifl, der nur dann aus dem Sattel geht, wenn er will! Es hat mich noch kein Pferd zwingen können, es unfreiwillig zu verlassen!«
»Aber diese beiden doch!«
»Ja. Aber ich würde schwören, daß es eine Lüge sei, wenn ich nicht selbst der heruntergeworfene Tifl wäre! Doch so sehr schnell, wie du meinst, ist es nicht geschehen. Es gab einen Kampf, einen schweren Kampf, doch, doch – doch –«
Er zögerte mit den Worten; es fiel ihm schwer, seine Niederlage einzugestehen. Da fiel die Köchin lachend ein:
»Ich stand dabei; ich sah den Kampf. Tifl glaubte, es erzwingen zu können; aber die Pferde wollten nun einmal nicht, und so mußte das Kind fliegen.«
»Erst nach längerer Zeit? Nicht gleich?« fragte Kara. »Das ist sonderbar! Dann müßtest ja du eigentlich ein besserer Reiter sein, als ich je einen gesehen habe!«
»Der? Das Kind? Ein Reiter? Bloß eigentlich?« fragte Pekala. »Natürlich ist er das! Er ist ja Sa'is beim Schah-in-Schah gewesen!«
»Maschallah! Sa'is? Beim Beherrscher von Persien? Warum ist er das nicht geblieben?«
»Weil das Kind zu sehr wuchs. Es brauchte mit jeder neuen Woche auch eine neue Uniform,« scherzte die Köchin. »Darüber wurde es dem Schah-in-Schah himmelangst; er konnte das nicht aushalten und schickte Tifl also fort. Hier bei uns kann er wachsen, so hoch er will. Wir haben keine kostbaren Stallungen, welche er dadurch demoliert, daß er mit dem Kopfe durch die Decken stößt.«
»O, meine Pekala, was hast du heut wieder einmal für ein böses Herz!« klagte der Lange. »Ich weiß ja, daß ich dem Schah-in-Schah zu lang, zu dünn und also zu häßlich wurde; aber grad dieser meiner Länge wegen sitze ich auf dem schlimmsten Pferde fest, weil meine Beine seinen ganzen Leib umfassen –«
»Und mit den Füßen kannst du unten sogar noch einen besonderen, festen Knoten knüpfen«, fiel sie ein. »Darum bist du der einzige, der unsern Sahm richtig zu reiten versteht.«
»Wer ist Sahm?« fragte Kara.
»Das ist die berühmte, echtblütige Stute des Ustad, auf welcher unser Pedehr von Kara Ben Nemsi eingeholt worden ist. Hätte ›das Kind‹ auf ihr gesessen, so –«
Tifl ließ sie den begonnenen Satz nicht vollenden; er fiel schnell und eifrig ein:
»Ich hätte mich ganz gewiß nicht einholen lassen!«
»Assil schlägt jedes andere Pferd!« behauptete Kara.
»Kennst du unsere Stute?« fragte Tifl.
»Nein.«
»Hast sie aber gesehen?«
»Noch nicht.«
»Soll ich sie holen?«
»Hierher? Warum holen? Ich darf sie wohl später sehen!«
»Du reitest aber jetzt spazieren. Mit deinen edlen Pferden. Wohin?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich kenne eure Gegend noch nicht. Ich will unsere Tiere im Laufen üben. Weißt du, des Wettrennens wegen!«
»Bei diesem Rennen werde ich Sahm reiten. Erlaube mir, daß ich jetzt mit dir übe. Ich eile. Ich hole die Stute. Warte hier! In zehn Minuten bin ich wieder hier!«
Er rannte fort, ohne die Antwort Karas abzuwarten. Diesem blieb nichts anderes übrig, als zu verweilen, bis nach noch nicht zehn Minuten Tifl auf ungezäumtem und ungesatteltem Pferde wieder bei ihm eintraf. Er ritt die Stute, damit Kara sie beobachten möge, in den verschiedenen Gangarten einigemale hin und her und fragte ihn dann, was er zu ihr sage. Kara besaß zwar viel von der großen Lebhaftigkeit seines Vaters, hatte dazu aber von seiner Mutter jene Bedachtsamkeit geerbt, welche vorschnelles Reden oder Thun vermeidet. Er hütete sich also, ein Urteil auszusprechen, und lobte ihre sichtbaren Vorzüge, ohne zu sagen, ob er einen Fehler an ihr entdeckt habe. Dann fragte er Tifl, nach welcher Gegend man einen Spazierritt, wie der beabsichtigte sei, am besten machen könne. Der Gefragte antwortete, seinem Namen ›Kind‹ gar nicht entsprechend, außerordentlich sachgemäß:
»Wir müssen einen großen, freien Platz zum Galoppieren haben, dann aber auch steile, beschwerliche Wege, welche uns zeigen, was unsere Pferde auf ihnen zu leisten vermögen. Von hier aus nach Osten liegt eine weite Ebene, welche erst grasig und dann nur noch sandig ist. Jenseits von ihr erhebt sich das Gebirge, über welches zwei Pässe führen, der Boghaz-y-Chärgusch, welcher so heißt, weil es dort in den Büschen viele Hasen giebt, und der Boghaz-y-Ghulam, den man so nennt, weil dort einmal ein Bote des Beherrschers ermordet worden ist. Wenn wir einen dieser Pässe hinaufreiten und durch den andern zurückkehren, lernst du die Gegend kennen, durch welche sich die östliche Grenze unsers Gebietes zieht.«
»Ist es weit?«
»Für gewöhnliche Pferde, ja; für unsere aber nicht.«
»Da mein Vater krank ist, möchte ich nicht erst spät des Nachts heimkehren.«
»Wir kehren um, sobald du willst!«
»Ist die Gegend sicher?«
»Ja.«
»Du siehst, daß ich nur mein Messer bei mir habe; du aber bist ganz unbewaffnet. Auf eurem Gebiete duldet ihr wohl keinen bösen Menschen, doch kommen wir ja, wie du sagst, bis an die Grenze desselben. Und die Massaban sind sogar bis hierher zu euch gedrungen, um euch zu überfallen. Wirklich und unausgesetzt sicher ist wohl kein Ort hier in den Bergen.«
»Das ist richtig. Aber wer solche Pferde reitet wie wir, der kann jedem Uebel schnell und leicht entgehen. Fürchtest du dich vielleicht?«
Welch eine Frage für Kara! Ob er sich fürchte! Das war bei ihm ein vollständig unmögliches Gefühl. Er war zu verständig, sich als beleidigt zu betrachten, und als Gast der Dschamikun hatte er sich zu hüten, selbst beleidigend zu werden. Darum hielt er es für das beste, so zu thun, als ob diese Frage ganz ungehört an seinem Ohre vorübergegangen sei.
»Komm! Vorwärts!« sagte er, indem er seinem Ghalib das Zeichen zum Weitergehen gab. Assil und Barkh hatten ihren Willen gehabt und folgten ohne Widerstreben.
»Kommst du noch vor Nacht zurück?« wurde ›das Kind‹ von der Köchin gefragt.
»Sehnst du dich schon jetzt nach mir?« antwortete er lachend.
»Nicht an dich, sondern an Kara Ben Halef denke ich. Ich weiß, daß es weder Zeit noch Schranken für dich giebt, wenn du auf Sahm sitzest. Er aber hat noch von der Reise auszuruhen. Ich werde dich sehr streng bestrafen, wenn du dich verspätest!«
»Welche Strafe wird das sein?«
»Du bekommst nichts zu essen!«
»Das kenne ich! Mit dem Munde entziehst du mir die Kost, aber schon nach einer Viertelstunde giebst du mir sie mit den Händen doppelt, weil mein Hunger nicht meinem Magen, sondern deinem Herzen wehe thut!«
»Da sehe ich, wie schlecht ich dich erzogen habe! Die Liebe ist verderblich für solche Kinder, du sollst aber von jetzt an meine Strenge kennen lernen!«
»Die giebt es ja gar nicht! Leb wohl, o Pekala. Hast du noch einen Wunsch?«
»Bring frohe und hungrige Gäste mit!«
Das ist ein oft gebrauchter, beduinischer Abschiedsgruß. Die Köchin sagte das wohl nur, um überhaupt etwas zu sagen. Sie ahnte nicht, daß, oder gar in welcher Weise er in Erfüllung gehen werde.
Der Ritt ging zunächst des Sees entlang und dann über das ganze Thal desselben hin, bis es zwischen den Bergen einen tiefen Einschnitt gab, welcher sich jenseits auf die von Tifl erwähnte Ebene öffnete. Dort wurde den Pferden erlaubt, zu galoppieren. Tifl erwies sich als ein unübertrefflicher Naturreiter. Von den feineren, erzieherischen Verhältnissen zwischen Mensch und Tier aber wußte er wohl nichts. Wer ihn so sicher, so fest, so ganz wie mit dem Pferde zusammengewachsen, im Sattel sitzen sah, der mußte es freilich für fast unmöglich halten, daß er sowohl von Assil als auch von Barkh abgeworfen worden sei; aber diese unsere Hengste waren nicht, wie die braune Stute des Ustad, gewohnt, augenblicklichen Instinkten, sondern einem zielbewußten, sich stets gleichbleibenden Willen unterthan zu sein.
›Das Kind‹ machte verschiedene Versuche, den jetzigen Ritt zu einem Wettrennen zu gestalten, hatte aber damit bei dem bedachtsamen Kara keinen Erfolg. Dieser war einerseits viel zu klug, eine Niederlage der ›Sahm‹ sich wiederholen zu lassen, während andererseits sein Stolz ihm nicht gestattet hätte, etwa aus Höflichkeit freiwillig auf den Sieg zu verzichten. Es blieb also bei dem, was er sich vorgenommen hatte, nämlich bei einem Uebungsreiten, welches keinem leidenschaftlichen Zweck zu dienen hatte.
Die Stute hielt, so lange der Boden grasig war, sehr leicht den gleichen Schritt mit unsern Pferden; aber später im tiefen Sande fiel sie bemerklich ab. Das konnte ihr aber nicht zur Schande gereichen, weil sie kein Pferd der sandigen Steppe war. Als dann der Hasenpaß erreicht wurde und der langsame Aufstieg auf steinigem Boden begann, mußten dafür nun unsere Tiere sich anstrengen, es ihr gleichzuthun, worauf Kara von Tifl wiederholt aufmerksam gemacht wurde.
Die Gegend war hier felsig und unfruchtbar. Niedriges, trockenes Gestrüpp überzog die Berge mit schmutzigem Grau, und nur hier oder da gab es einen Baum, dessen dünn benadelte Zweige keinen Schatten spendeten. Als die Höhe des Passes erreicht worden war, konnte man darum die Aussicht nach allen Seiten frei genießen. ›Das Kind‹ deutete auf einen der aufgerichteten Steinhaufen und sagte:
»Das ist das Grenzzeichen. Bis hierher gehört das Land den Dschamikun.«
»Und wem sodann?« fragte Kara.
»Allen Menschen.«
»Giebt es keinen besonderen Besitzer?«
»Das ist der Schah-in-Schah, dem ja das ganze Reich gehört. Die Gegend hier ist so öd und dürr, daß niemand sie haben will. Wer sie bekäme, müßte Steuern zahlen; wer aber kann diese hier aus solchen Felsen ziehen? Wenn der Muhassil kommt, so fragt er nicht, ob der Boden etwas getragen hat, sondern er nimmt alles mit, was man besitzt.«
»Das weißt du nicht?«
»Nein.«
»Das ist der unwillkommenste aller Gäste, die es giebt. Jedermann in Persien soll Steuern zahlen. Auch die freien Stämme werden dazu angehalten. Unser Ustad hat versprochen, es zu thun, und wir halten Wort. Darum wird kein Muhassil zu uns kommen. Andere aber zahlen nicht eher, als bis sie dazu gezwungen werden, denn sie behaupten, ein freier Mann sei auch von Steuern frei. Zu ihnen wird ein möglichst strenger, vielleicht gar hartherziger Offizier oder Beamter gesandt, der Soldaten mitbringt, die ihm helfen müssen, den Mal-i-Divan und den Sadir Avariz mit Gewalt einzutreiben. Sobald er diese Gewalt auszuüben beginnt, hat man ihn mit dem Titel Muhassil zu ehren. Er nimmt zunächst das, was er für den Beherrscher haben will. Sodann nimmt er das, was er für sich selbst haben will, und das ist gewöhnlich alles, was noch da ist.«
»Leistet man ihm denn da nicht Widerstand?«
»Widerstand? Er würde nur gehen, um dann mit noch mehr Soldaten zurückzukehren. Das beste Mittel, ihm zu entrinnen, ist die Flucht. Aber er kommt meist so unerwartet, daß sie unmöglich ist. So hat er kürzlich auch die Kalhuran überrascht, welche eigentlich noch gar keine Steuern zu bezahlen haben.«
»Wer sind diese Kalhuran?«
»Ein Nomadenstamm, dessen Land nicht mehr ausreichte, ihn zu ernähren. Eine Abteilung von ihm bat um neues Land und bekam die Gegend, welche du hier östlich vor uns liegen siehst. Sie beginnt zwar erst jenseits dieser Felsenberge, ist aber von so geringer Fruchtbarkeit, daß lange Jahre dazu gehören, den Boden zu verbessern; darum wurde den Kalhuran gesagt, daß sie erst nach dem zehnten Sommer Steuern zu bezahlen hätten. Sie sind nun erst vier Jahre hier; dennoch sandte man ihnen einen Boten, welcher sie benachrichtigte, daß sie jetzt schon zu bezahlen hätten. Sie weigerten sich. Da stellte sich ganz unversehens ein Muhassil mit einer ganzen Schar von Soldaten bei ihnen ein. Der hat es sich bei ihnen so bequem gemacht, als ob er jahrelang bleiben wolle. Er wird so lange an ihrer Habe saugen, bis sie kein einziges Pferd, kein armes Schaf mehr haben.«
»Maschallah! Der sollte das einmal bei unsern Haddedihn versuchen! Weißt du, welchen Namen dieser Dschady hat?«
»Er heißt Omar Iraki. Der Scheik der Kalhuran ist ein junger Mann, dem der Ustad eine Tochter unsers Stammes zum Weibe gegeben hat. Sein Name ist Hafis Aram. Ich kenne ihn, denn er war ja bei uns, als er sie hinüber zu sich holte. Chodeh beschütze ihn! Vor dem Muhassil aber bewahre er alle Menschen. Grad von diesem Omar Iraki hat man nur Böses, aber kein einziges gutes Wort gehört. Komm, reiten wir hinab! Unten wenden wir uns dann nördlich, um durch den Paß des Couriers heimzukehren.«
Auf dieser Ostseite fielen die Berge steil zur Tiefe. Der Weg ging in zahlreichen Windungen hinab, so daß er immer nur für kurze Strecken zu überschauen war. Um so freier war die Aussicht in die Ferne, über die steppenähnliche Fläche hinüber, zu welcher die beiden jetzt hinunterritten.
Als sie die letzte, unterste Krümmung des Weges überwunden hatten und schon daran dachten, wieder galoppieren zu können, bot sich ihnen plötzlich ein unvorhergesehenes Hindernis dar. Da standen nämlich zwischen den Felsblöcken zerstreut, wohl gegen zwanzig Pferde, deren Reiter an einer versteckten Stelle plaudernd bei einander saßen. Einer hockte als Wächter auf einem hochgelegenen Steine, von welchem aus man einen weiten Ausblick in die Steppe hatte. Das waren persische Soldaten, und zwar Kavalleristen. Eigentliche Uniformen trugen sie nicht. Auch ihr Anführer war an keinem Rangabzeichen, sondern nur an einem langen, schweren Schleppsäbel zu erkennen, den er trug. Ihre Waffen taugten nicht viel; desto besser aber waren ihre Pferde. Die persische Kavallerie ist überhaupt recht gut beritten. Als sie die beiden Reiter sahen, sprangen sie alle auf.
»Sallam!« grüßte Kara kurz, aber in höflichem Tone und indem er ihnen die Hand entgegensenkte.
Sie antworteten nicht. Ihre Augen waren bewundernd auf die vier Pferde gerichtet. Kara hielt nicht an. Er wollte an ihnen vorüber. Da aber stellte sich ihm der Anführer in den Weg.
»Halt!« sagte er in befehlendem Tone. »Wer seid Ihr?«
Man darf nicht vergessen, daß Kara der Sohn meines wackeren Hadschi Halef war, dem, außer wenn er wollte, niemand imponieren konnte.
»Sag vorher, wer bist du?« forderte er den Perser auf.
»Du siehst, daß ich Soldat bin!« antwortete dieser stolz.
»Und du siehst, daß ich keiner bin! Ich diene nicht; ich bin ein freier Mann!«
»Ein Mann?« lachte der andere. »Schau meinen Bart und greif an den deinen dann! Ich stehe hier im Namen des Schah-in-Schah und frage dich nochmals, wer du bist!«
»Und ich sitze hier in meinem eigenen Namen im Sattel und antworte nur dann, wenn es mir beliebt! Allah schütze deinen Bart! Zum Fürchten ist er nicht!«
Als er dies sagte, richtet er seine dunklen Augen mit einem solchen Ausdrucke auf den Perser, daß dieser die Hand, welche er schon erhoben hatte, um Ghalib am Zügel zu fassen, wieder sinken ließ und von ihm zurücktrat.
»Ich höre an deiner Sprache, daß du ein Araber bist,« sagte er. »Ich bin Mülazim ewwel des Beherrschers aller Herrscher. Nun weißt du es.«
»Der Beherrscher aller Herrscher kann nur Allah sein! Ich bin Kara Ben Hadschi Halef, ein Haddedihn vom Stamme der Schammar.«
»Wo kommst du her?«
»Woher es mir beliebt!«
»Wo willst du hin?«
»Wohin es mir behagt!«
»Maschallah! Denn für ein großes Wunder Gottes scheinst du dich zu halten! Ich habe hier zu fragen!«
»So frage die, welche dir zu antworten haben; zu ihnen aber gehöre doch nicht ich!«
Das war keineswegs verwerflicher Hochmut von Kara, sondern das wohlberechtigte Selbstbewußtsein des freigeborenen Arabers der Dschesireh. Wenn die Fragen in höflichem Tone und nicht in der Weise eines Verhöres ausgesprochen worden wären, so hätte er sie wahrscheinlich beantwortet. Auch gefielen ihm die höhnischen Blicke nicht, mit denen Tifl von den sich herandrängenden Soldaten betrachtet wurde. Das verächtliche Lächeln dieser Leute forderte ihn heraus, ihnen zu zeigen, daß zum Lachen gar kein Grund vorhanden sei.
»Auch du gehörst zu Ihnen!« behauptete der Offizier. »Ich stehe an des Gesetzes Stelle. Ich bin hier Polizei!«
»Ich auch!«
Da fuhr der Perser um einige Schritte zurück. Er hatte imponieren wollen und sah und hörte nun aber, daß ihm dies nicht gelungen sei.
»Wagst du vielleicht, mit mir zu scherzen?«
»Sehe ich etwa so spaßhaft aus?«
Sein jugendlich schönes, wie aus dunklem Marmor gemeißeltes Gesicht zeigte allerdings keine Spur von Lust zum Scherzen. Der Grundzug unseres Kara war ein steter Ernst, welcher durch einen elegischen Hauch eher erhöht als gemildert wurde. In seinen Augen, die er von der Mutter hatte, lag etwas, was keine zudringliche Berührung duldete. Das wirkte auch jetzt. Der Oberlieutenant wagte es nicht, seinen Zorn hervortreten zu lassen; ja es klang sogar, als ob er sich entschuldigen wolle, als er nun sprach:
»Du weißt es nicht; aber ich stehe hier über dir, über jedem, der da kommt. Ich habe diesen Platz zu bewachen.«
»Warum?«
»Weil ich die Mörder des Muhassil fangen will.«
»Welches Muhassil?«
»Omar Iraki.«
»Wallah! Ist er ermordet worden?«
»Ja.«
»Von wem?«
»Von Hafis Aram und seinem Weibe.«
»Chodeh, Chodeh!« rief da »das Kind« erschrocken aus.
»Kennst du Hafis Aram?« fuhr der Offizier fort.
»Nein,« antwortete Kara.
Dann schwang er sich vom Pferde. Sein Interesse war erwacht. Er gedachte dessen, was Tifl ihm erzählt hatte, und es stieg eine Ahnung in ihm auf, daß sich hier ein Ereignis vorbereite, in welches er vielleicht nützlich eingreifen könne. Und mit der Bedachtsamkeit, die weit über seine Jugend ging, ließ er ein interessiertes Lächeln über seine Züge gleiten und sagte:
»Eine Mordthat ist begangen worden! An einem Muhassil! Das ist eine schreckliche That! Kann man erfahren, warum und wie sie geschehen ist?«
»Ja. Ich werde es dir erzählen. Aber vorher mußt du mir sagen, woher du kommst und wohin du willst.«
»Aus welchem Grunde willst du das wissen?«
»Weil du von jenseits gekommen bist, aus dem Gebiete der Dschamikun. Ich sage dir, daß ich es auf sie abgesehen habe! Du aber bist ja kein Dschamiki, sondern ein Haddedihn aus der Dschesireh.«
Da machte Kara eine stolze wegwerfende Handbewegung und fragte:
»Hafis Aram hat den Muhassil ermordet?«
»Ja.«
»Er ist der Scheik der Kalhuran?«
»Ja.«
»Sein Weib ist Dschamikeh?«
»Ja. Sie hat den ersten Schuß auf den Ermordeten gethan. Wir stehen also in Blutrache mit den Dschamikun. Nun sage mir, woher du kommst!«
Es war ein sehr ruhiges und überlegenes Lächeln, welches sich über Karas Lippen legte, als er antwortete:
»Ich sage es dir gern. Hier dieser mein Begleiter kommt mit mir von dem hohen Hause des Ustad. Er ist ein Dschamiki, und ich bin Gast der Dschamikun. Sie und ich, wir sind eins. Was sie thun, verantworte auch ich. Eure Blutrache trifft also auch meine Person!«
Da trat der Perser noch einen Schritt von ihm zurück und rief erstaunt aus:
»Kara Ben Halef – so nanntest du dich?«
»Kara Ben Hadschi Halef, ja!«
»Also, Kara Ben Hadschi Halef, bist du bei Sinnen?«
»Warum diese Frage?«
»Siehst du nicht, daß wir zwanzig Personen gegen euch beide sind? Das genügt doch wohl!«
»Aber es ist falsch! Richtiger ist, daß wir zwei Personen gegen nur zwanzig sind. Das genügt noch besser!«
»Du bist toll, wirklich toll! Hättest du nicht verschweigen können, daß du Gastfreund der Dschamikun bist?«
»Ja, ein anderer hätte das wohl gethan.«
»Warum nicht du?«
»Aus zwei Gründen: Erstens sage ich niemals eine Lüge, selbst wenn sie mir das Leben retten könnte. Und zweitens fürchte ich mich nicht vor euch. Wie ihr von mir denkt und was ihr von mir wollt, das ist für mich von keiner großen Wichtigkeit; die Hauptsache ist, daß ich mich vor mir selbst schämen müßte, wenn ich euch die Unwahrheit gesagt hätte. Und wenn ein Mensch sich selbst verachten muß, so ist dies das allerschlimmste, was ihm im Leben geschehen kann.«
Der Offizier schaute ihn eine ganze Zeitlang an, ohne ein Wort zu sagen. Dann fragte er:
»Nie!«
»Auch nicht in der Not?«
»Nein. Es giebt keine Not, welche die Lüge rechtfertigt, denn die Lüge ist die größte und entsetzlichste Not, an der die Menschen leiden!«
»Aber deine Aufrichtigkeit wird euch euer Leben kosten!«
»Du irrst!«
»Ich irre? Du bist zweifellos verrückt!«
Und sich an seine Leute wendend, fuhr er fort:
»Ihr habt es gehört. Da steht ein Mensch, ein junger Mensch, der niemals eine Lüge sagt, selbst wenn es ihm das Leben kosten sollte. Was sagt ihr dazu?«
Ein allgemeines Gelächter war die Antwort.
»Ich lache ebenso wie ihr,« stimmte er ihnen bei. Dann drehte er sich wieder nach Kara um: »Ihr seid natürlich unsere Gefangenen. Eure Pferde gehören uns!«
»Versuche es, sie dein zu nennen!«
»Ich brauche es nicht zu versuchen, denn ich habe es bereits gethan. Wir bringen hier die größte Beute heim, die jemals gemacht worden ist! Du, Knabe, bist der allerdümmste Kerl, den es auf Erden giebt! Dieser deiner Dummheit darf ich beantworten, was du mich vorhin fragtest. Setze dich!«
Er deutete auf einen Stein, der neben Kara lag. Dieser ließ sich auf ihn nieder. Dies schien Gehorsam zu sein. Auch Tifl war von seiner Stute gestiegen. Er trat zu Kara und setzte sich neben ihm auf den Boden nieder. Die Soldaten umringten die Pferde, um ihre bewundernden Bemerkungen über diese ebenso unerwartete wie unschätzbare Beute zu machen. Der Offizier aber sprach zu Kara weiter:
»Du hast also den Muhassil Omar Iraki nie gesehen?«
»Nie,« antwortete der Gefragte.
»Er war ein Herr, der einen starken Willen hatte. Kein Steuerverweigerer konnte ihm widerstehen. Daher wurde er überall hingesandt, wo Andere vor ihm nichts erreicht hatten. So kam er auch zu den Kalhuran, den räudigen Hunden, welche nicht zahlen wollten. Grad hundert Reiter waren bei ihm, welche von den Verweigerern als teure Gäste aufgenommen und verpflegt werden mußten. Nun waren nicht nur die Steuern, sondern auch unsere Löhne zu bezahlen. Die Schuld wurde von Tag zu Tag größer. Wir nahmen erst nur die Wolle, dann auch die Schafe selbst. Das reichte nicht. Wir griffen natürlich auch nach den anderen Herden. Da rotteten sich die Hunde zusammen, um uns zu widerstehen. Der Muhassil ließ den Scheik Hafis Aram ergreifen und zu sich in das Zelt bringen. Dort wurde er gepackt, niedergeworfen und zu den Füßen des Muhassil festgehalten. Dieser verlangte Geld. Der Scheik behauptete, keines zu haben. Da drohte der Muhassil mit der Peitsche. Hafis Aram aber leugnete fort. Da begann der Muhassil, ihn zu züchtigen, mit eigener Hand, denn er war ein sehr starker Mann, der die Peitsche zu führen verstand. Der Scheik wollte sich losreißen, aber acht Hände hielten ihm am Boden fest. Da war er still. Er nahm die Hiebe auf sich, ohne eine Klage, einen Laut hören zu lassen. Aber seine Augen waren unheimlich starr auf den Muhassil gerichtet, ohne daß er diesem auf seine bei jedem Schlag wiederholte Frage nach dem Gelde eine Antwort gab. Was sagst du zu solcher Hartnäckigkeit, Kara Ben Hadschi Halef?«
»Wißt ihr, was es heißt, einen freien Beduinen zu peitschen? Den Scheik eines ganzen Stammes?« fragte Kara.
»Was soll es weiter heißen, als daß er eben Prügel bekommt? Auch wir alle, die wir jetzt in des Beherrschers Diensten stehen, sind von freien Eltern geboren worden. Haben wir uns etwa dadurch, daß wir den Ungehorsam zwingen, die Gesetze zu erfüllen, in verächtliche Sklaven verwandelt? Stehen wir nicht im Gegenteile höher als die Widerspenstigen? Scheik Hafis Aram wäre ganz gewiß von dem Muhassil erschlagen worden, und zwar mit vollstem Rechte, wenn ihm nicht eine so ganz unerwartete Hilfe gebracht worden wäre, daß wir alle vor Ueberraschung versäumten, ihr zu widerstehen. Rate, von wem sie kam!«
»Ich rate nicht. Sage es!«
»Sie wurde dem Scheik von seinem Weibe gebracht, der Dschamikeh, welche Allah verdammen möge! Sie haßte und fürchtete den Muhassil. Als sie, von einem Gange zurückkehrend, vernahm, daß er ihren Mann habe holen lassen, wurde sie von ihrer Angst herbeigetrieben. Sie lauschte am Zelte, vor dem kein Wächter stand. Sie hörte die Streiche, welche fielen. Da trat sie ein. Sie sah, was geschah, und sprang zum Muhassil hin, um seinen Arm festzuhalten.«
»›Herr, du schlägst einen freien Moslem? schrie sie ihn an. ›Keinen Hieb weiter!‹«
»Er riß sich von ihrer Hand los, gab ihr selbst einen Schlag und dann dem Scheik einen zweiten. Da sprang sie zum Sufra, auf welcher die zwei geladenen Pistolen des Herrn lagen. In der Kürze eines einzigen Augenblickes hatte sie die eine ergriffen, gespannt, auf ihn gerichtet und schoß ihm die Kugel in die Brust. Er war nicht sofort tot, griff, indem er die Peitsche fallen ließ, mit den Händen nach der Wunde und stieß einen Schrei aus. Dann begann er, zu wanken. Wir eilten zu ihm, um ihn zu halten. Die vier Männer, welche den Scheik festhatten, erschraken ebenso wie wir. Sie ließen ihn los und sprangen auf, nur für den Muhassil besorgt. Da schnellte sich Hafis Aram empor, riß die zweite Pistole von der Sufra, jagte dem schon Verwundeten die Kugel in die Stirn und rief:
›So zahlt man Peitschenhiebe heim!‹
»Hierauf ergriff er die Hand seines Weibes und riß sie mit sich fort, zum Zelt hinaus. Der Muhassil glitt in unsern Händen tot zur Erde nieder. Wir hatten nur Augen für ihn. Darum konnten die beiden so schnell entkommen. Aber ich faßte mich doch bald und eilte fort, um sie ergreifen zu lassen. Da traf ich den Suari juzbaschysy. Einige Worte genügten, ihn zu unterrichten. Wir rannten nach dem Zelte des Scheikes, kamen aber schon zu spät. Er hatte mit der Frau auf zwei von seinen Pferden sofort die Flucht ergriffen. Diese Hunde laufen schneller, als man denkt!«
Kara war der Erzählung mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt. Jetzt fragte er:
»Habt ihr erfahren, wohin sie sich gewendet haben?«
»Ja. Die Spuren haben es uns gesagt. Denn keiner der Kalhuran wollte uns Auskunft geben. Schakale pflegen einander zu helfen. Zum Glücke hatte Hafis Aram nicht schnell genug gute Pferde erwischen können. Die zwei, welche ihm bequem gestanden hatten, sind alt und keine ausdauernden Renner. Wir sind besser, viel besser beritten als er. Darum hätten wir ihn wohl bald eingeholt, wenn er auf dem geraden Wege geblieben wäre. Aber die Angst vor uns hat ihm zu einem Umwege über felsigen Boden getrieben, wo seine Spuren nicht mehr zu sehen sind.«
»So seid ihr ihm dorthin nicht gefolgt?«
»Nein.«
»Und wißt also nun nicht, wo er sich befindet?«
»Nicht ganz genau, aber doch so, daß er uns nicht entkommen kann. Er will zu euch, zu den Dschamikun, weil sein Weib von ihnen stammt und weil er euern sogenannten Ustad für mächtig genug hält, ihn gegen uns zu beschützen. Dieses Ziel aber kann er nur durch den Paß der Hasen oder den Paß des Kuriers erreichen. Darum sind wir schleunigst hierhergeritten und haben beide besetzt.«
»Weißt du genau, daß es keinen andern Weg giebt?«
»Einen Weg nicht, aber wenn er jene felsigen Berge gut kennt, ist es vielleicht möglich, über sie hinweg so weit nach Norden zu entkommen, daß er die Pässe hier umgehen kann. Dem aber ist der Suari juzbaschysy auch zuvorgekommen, indem er mit unsern schnellsten Pferden und besten Reitern einen Bogen dorthin schlägt. Sieht er die Flüchtigen, so wird er sie mir hierher entgegentreiben. – So, das ist es, was ich dir aus Dankbarkeit erzählen sollte.«
»Dankbarkeit?!« lächelte Kara.
»Ja.«
»Wofür?«
»Zunächst für euch und sodann noch viel mehr für eure Pferde.«
»Du nennst sie jetzt wieder ›unsere‹ Pferde. Dies ist richtiger als das, was du vorhin sagtest!«
»Lächle nicht! Du thust es doch nur aus Verlegenheit! Ihr seid unsere Gefangenen. Wenn wir den Scheik und sein Weib nicht ergreifen sollten, so haben wir doch euch. Ihr werdet die Dijeh mit eurem Leben zahlen. Und eure Pferde sind uns noch viel, viel mehr wert als ihr selbst und der Scheik mit samt seinem Weibe. Sie gehören uns als rechtmäßige Beute. Wir werden sie dem Schah-in-Schah anbieten, welcher gewiß eine sehr große Summe für sie bezahlt, um in den Besitz solcher Zierden seines Stalles zu kommen.«
»Herrscher zahlen zuweilen ganz anders als mit Geld!«
»Das laß getrost nur unsere Sorge sein; dich gehen diese Pferde nichts mehr an!«
»Gut! Einverstanden! Nimm sie dir!«
Kara sagte das so gleichmütig, als ob es sich nur um eine Bagatelle handele.
»Ja, ich nehme sie. Du hast also eingesehen, daß du dich darein ergeben mußt. Ich werde sofort einmal diesen Rappen da probieren.«
Er meinte Barkh. Als seine Leute diese Worte hörten, wichen sie von den Pferden zurück, um ihm Platz zu machen. Sie waren natürlich nicht weniger als er über den vermeintlichen Fang erfreut, weil auch ihnen ein Teil des Ertrages zuzufallen hatte. Er ging hin und schwang sich so schnell in den Sattel, daß der Hengst gar keine Zeit fand, sich zu weigern. Aber schon im nächsten Augenblicke ging Barkh so rasch hintereinander erst vorn und dann hinten in die Höhe und bockte hierauf so kräftig zur Seite, daß der Offizier grad da auf die Erde zu liegen kam, wo das Pferd vorher gestanden hatte. Seine Leute lachten laut. Aber als er sich erheben wollte und es doch nicht zu können schien, kamen sie von dieser respektwidrigen Lustigkeit zurück. Er sagte zunächst kein Wort, hielt ihnen aber die Arme auffordernd hin, ihm behilflich zu sein. Nun richteten sie ihn auf. Er konnte stehen. Aber als er vorwärtsschreiten wollte, stöhnte er.
»Hast du Schmerzen?« fragte Kara.
»Ich bin auf den Säbel gefallen,« lautete die Antwort.
»Warum bliebst du denn nicht oben?«
»Schweig!« gebot er in donnerndem Zorne.
Dann hinkte er unter allerlei Gesichtsverzerrungen nach einem niedrigen Felsenstück, um sich da niederzusetzen und die schmerzenden Körperstellen prüfend zu betasten.
»Gebrochen habe ich nichts. Aber der Säbel ist kaputt, und gequetscht hat er mich. Das werde ich noch lange fühlen.«
Hierbei erinnerte er sich, daß über ihn gelacht worden war.
»Sellab!« rief er.
Der Genannte trat zu ihm.
»Ihr habt gelacht. Du am meisten. Hinauf auf diesen Hengst, der den Scheitan im Leibe zu haben scheint! Das sei deine Strafe. Wehe dir, wenn du auch herunter mußt!«
Der Mann gehorchte. Er kam ganz gut hinauf und wollte sich eben festsetzen, da saß er aber auch schon wieder unten. Der Oberlieutnant gebot einem andern Soldaten, den Versuch zu machen; den ließ aber Barkh gar nicht heran. Er hatte die Geduld verloren und schlug nach ihm aus.
»Eine Bestie!« konstatierte der Offizier. »Sind die andern ebenso?« fragte er Kara.
»Das mußt du doch wissen?« antwortete dieser.
»Ich? Wieso?«
»Es sind ja ›deine‹ Pferde! Das sagtest du!«
Der Zurechtgewiesene senkte den Kopf. Er dachte nach. Dann sagte er:
»Der Stute ist am meisten zu trauen. Wer will es mit ihr versuchen?«
Ein Mutiger näherte sich und begann damit, daß er sie vorsichtig liebkoste. Sie that, als ob er gar nicht vorhanden sei. Kara kannte sie noch nicht und warf deshalb einen forschenden Blick auf Tifl. Dieser machte ein Auge zu und blinzelte ihn mit dem anderen lustig an. Das war genug gesagt.
Der Soldat klopfte die Stute an verschiedenen Stellen. Sie bewegte nicht einmal die Spitze eines Ohres. Grad diese wartende, lauschende Unbeweglichkeit hätte ihm verdächtig vorkommen müssen; er aber gewann im Gegenteile durch sie den Mut, erst einen Vorder- und dann einen Hinterfuß der ›Sahm‹ aufzuheben, um die Hufe zu betrachten. Sie ließ auch das ruhig geschehen. Das machte ihn sicher. Er stieg auf. Auch jetzt noch stand sie still; aber sie wendete den Kopf, um ihr Auge auf ›das Kind‹ zu richten. Kara war höchst gespannt, welche ›Mucke‹ man zu sehen bekommen werde. Der Offizier aber freute sich des scheinbar guten Erfolges. Er sagte:
»Es ist also doch wohl nur dieser Rappe, dem man nicht trauen darf. Reite aber doch einmal vom Fleck!«
Der Soldat wollte gehorchen, aber damit war für die ›Sahm‹ die Zeit gekommen. Sie that nicht etwa einen Sprung, o nein. Sondern sie fiel einfach um, blitzschnell, als ob ein Schlag sie getroffen habe, wälzte sich zwei-, dreimal auf dem Reiter hin und her, sprang auf der andern Seite wieder auf und stand dann so ruhig und sanftäugig wieder da, als ob sie ganz außer stande sei, auch nur das kleinste Wässerlein zu trüben.
Für Reiter, welche stürzen, lautet im Abendlande der schonende Spottausdruck: »Er hat sich vom Pferde getrennt.« Hier aber hätte man berichten müssen: »Madame Sahm hat sich vom Reiter getrennt.« Dieser letztere blieb zunächst ein ganzes Weilchen vollständig still neben der nun harmlos mit dem Schwanze wedelnden Stute liegen. Dann begann er, sich mit den tastenden Händen in der Weise über sämtliche Teile seines Körpers zu fahren, wie man es bei Stubenfliegen beobachtet, wenn sie mit den Beinen die anhaftenden Lebestäubchen und Ansteckungsstoffe vom Leibe zusammenstreichen, um sie zum Heile der Menschen zu verzehren. Sein Gesicht war während dieser anatomischen Untersuchung ein nichts weniger als fröhliches. Als er zu der Ueberzeugung gekommen war, daß er trotz der dreifachen Umwälzung noch alles wohl beisammen habe, kam er zu dem Entschlusse, erhebend auf sich einzuwirken. Er richtete sich vorläufig nach löblicher Quadrupedenart auf Hände und Füße auf, schaute sich nach allen Seiten prüfend um, ob nicht vielleicht ein doch abhanden gekommenes Glied zu sehen sei, und ging endlich sehr langsam und höchst vorsichtig in jene aufrechte Stellung über, in welche selbst ein abgeworfener Reiter schließlich doch zurückzukommen strebt. Hierauf wankte er wie ein ängstlicher Quartaner, der zum erstenmal Schlittschuh fahren soll, vom Schauplatze der erlittenen ›Trennung‹ weg und verschwand hinter einem Felsenstücke, um sich da, fern von der verständnislosen Menschheit anzusiedeln. Es darf nämlich nicht verschwiegen werden, daß diese seine schmerzliche Auferstehung leider von seinen Kameraden mit lautem Gelächter begleitet wurde. Selbst der Offizier stimmte zunächst mit ein; dann aber fragte er ›das Kind‹ in zornigem Tone:
»Du saßest, als ihr kamt, auf diesem Pferde. Ist es dein?«
»Nein,« antwortete Tifl.
»Wem gehört es?«
»Dem Ustad.«
»Wußtest du, daß es sich wälzt?«
»Ja.«
»Auf welches Zeichen hin thut es das?«
»Frag das Pferd, nicht mich! Ich habe mich nicht gewälzt!«
Da sprang der Oberlieutenant auf, ging, obgleich er noch kurze Zeit vorher solche Schmerzen gehabt hatte, schnell zu ihm hin und fuhr ihn an:
»Mensch, so spricht man nicht mit mir! Wagst du das noch einmal, so antworte ich mit der Peitsche!«
Da richtete sich »das Kind« in seiner ganzen Länge, ihn weit über Kopfeshöhe überragend, vor ihm auf und sagte:
»Denk an den Muhassil! Was hat seine Peitsche ihm gebracht? Mehr sage ich dir nicht!«
Wer hätte diesem Tifl wohl ein so männliches Verhalten zugetraut! Seine Kinderzüge hatten einen so ernsten, so strengen Ausdruck angenommen, daß der Ausbruch von Thätlichkeit nun unvermeidlich zu sein schien. Da aber ertönte die Stimme des Wächters, welcher von seiner Warte herunterrief:
»Ich sehe zwei Reiter!«
»Wo?« fragte der Offizier, der sogleich seine ganze Aufmerksamkeit von Tifl weg nach oben richtete.
»Wie weit?«
»So weit, daß sie nur wie kleine Punkte sind.«
»Welche Richtung haben sie?«
»Das sieht man nicht sogleich. Warte!«
Man kann sich denken, daß nun eine allgemeine Spannung eintrat. Es vergingen mehrere Minuten, bis der Mann dann meldete:
»Sie nähern sich, aber nicht gerade.«
»Wie denn?«
»Sie sind jetzt schon viel weiter südlich als vorhin.«
»Da scheuen sie sich vor den beiden Pässen. Sie werden den Suari juzbaschysy gesehen haben, der sie mit seiner Schar zurückgetrieben hat. Paß auf, ob wohl noch andere Reiter kommen!«
»Sie sind schon da!«
»Wo?«
»Im Norden, hinter ihnen, aber sehr weit zurück.«
»Dann ist es so, wie ich sage. Der Suari juzbaschysy hat sie dort im Norden nicht durchgelassen. Sie sind umgekehrt, und er folgt ihnen. Sie kommen nicht hierher; sie hegen Verdacht. Sie versuchen, einen Ausweg nach Süden zu finden. Den muß ich ihnen verlegen. Zehn Mann mit mir auf die Pferde! Schnell, vorwärts! Wir treiben sie hierher. Die andern zehn bleiben hier, um sie zu empfangen und diese beiden Gefangenen zu bewachen!«
Einige Augenblicke später jagte er mit der Hälfte seiner Leute davon. Daß die, welche er seine ›Gefangenen‹ nannte, an Flucht denken könnten, das schien ihm gar nicht in den Sinn gekommen zu sein. Die Zurückbleibenden waren nicht weniger unbesorgt. Sie eilten zu dem Wächter hinauf, um von dort aus die Jagd besser sehen zu können.
Sogar der Soldat, von welchem sich die Stute in so unceremonieller Weise ›getrennt‹ hatte, krabbelte den andern langsam nach, um sich den Genuß, den sie dort oben suchten, ja nicht entgehen zu lassen. So waren also Kara und Tifl allein miteinander unten geblieben. Hatten sie sich schon vorher nicht als Gefangene betrachtet, so konnte es ihnen jetzt erst recht nicht einfallen, dies zu thun.
Tifl war sehr ernst. Er hatte sich im höchsten Grade lobenswert benommen. War er etwa, wie so mancher Mensch von sich behauptet, aus zwei verschiedenen Naturen zusammengesetzt? Oder besaß er die Eigenheit, sich dem über ihn genährtem Vorurteile gegenüber anders zu zeigen, als er eigentlich war? Er kletterte auf einen der nahen Felsen, schaute gen Osten und sagte dann:
»Sie sind es. Du hast alles gehört; o Kara Ben Hadschi Halef. Sag mir, was du zu thun gedenkst!«
»Wir müssen ihnen helfen,« antwortete der Haddedihn.
»Ja, das müssen wir!«
»Wie denkst du dir das? Den Mülazim mit seinen Leuten fürchte ich nicht; aber am Passe des Couriers steht eine zweite Schar, und da draußen kommt der Suari juzbaschysy mit der seinigen geritten. Wir haben keine Angst; aber der feigste Mensch kann, wenn er ein Gewehr besitzt, den tapfersten, der wehrlos ist, mit seiner Kugel oder Lanze töten; ohne selbst nur die geringste Gefahr zu laufen. Wir müssen uns also fern von diesen ihren Waffen halten. Was siehest du jetzt?«
»Die Pferde der Flüchtlinge sind schlecht. Nicht lange, so werden sie eingeholt sein.«
»Sie mögen sie stehen lassen. Wir geben ihnen Barkh und Assil dafür. Wie gut, daß ich diese mithabe! Ist das dir so recht?«
»O, wie so recht! Chodeh segne dich, o Kara Ben Hadschi Halef! Es ist die höchste Zeit!«
»So komm!«
Tifl kam vom Felsen herab. Beide stiegen in die Sättel und ritten dann in die Steppe hinaus. Als die Soldaten sie sahen, erhoben sie zwar ein lautes Geschrei, konnten aber damit nichts an der Thatsache ändern, daß ein Vorteil, den man nicht festzuhalten versteht, stets nur zum Nachteil wird. Kara und Tifl galoppirten.
Weil sie sich nun nicht mehr am höher liegenden Felsen sondern in gleicher Ebene mit den sich weit draußen bewegenden Reitern befanden, konnten sie zunächst von diesen gar nichts sehen. Bald aber tauchte die Linie, auf welcher diese Bewegung vor sich ging, als Horizont vor ihren Augen auf. Da konnten sie nun zunächst drei verschiedene Gruppen erkennen; die einzelnen Reiter waren noch nicht von einander zu unterscheiden. Es gab eine mittlere, kleine und rechts und links von ihr je eine größere. Das Verhältnis dieser Gruppen zu einander veränderte sich nur sehr langsam; dennoch aber war nach und nach immer deutlicher zu erkennen, daß die innere Gruppe von den beiden äußeren am seitwärtigen Ausbrechen verhindert und auf den Paß des Hasen zugedrängt wurde. Kara und Tifl hielten sich jetzt eng neben einander. Sie ritten voran, während Assil und Barkh ledig hinter ihnen folgten, ohne geführt zu werden. Nun sie einmal im Gange waren, fiel es diesen edlen Tieren nicht ein, auch nur um einen Schritt zurückzubleiben. Der schlanke Galopp brachte die beiden Reiter so schnell vorwärts, daß die erwähnten Gruppen sich schon nach Kurzem vor ihren Augen in Einzelpersonen aufzulösen begannen. Aber sobald dies geschah, war allerdings auch zu erkennen, daß die allergrößte Eile nötig sei.
Die beiden Reiter in der Mitte waren jedenfalls Hafis Aram, der Scheik der Kalhuran mit seiner Frau. Rechts von ihnen sah man den Oberlieutnant mit seinen zehn Kavalleristen. Diese konnten die größere Schnelligkeit entwickeln, weil sie wohlausgeruhte Pferde hatten. Links kam der Rittmeister mit seinen Leuten, welche gewiß nicht weniger als zwei Dutzend zählten. Die Verfolger waren den Verfolgten wohl um das Vierfache näher als Kara und Tifl.
»Müssen wir die Geheimnisse anwenden?« fragte darum der Letztere besorgt.
»Nein,« antwortete der Haddedihn. »Das thun wir nur im allerschlimmsten Falle.«
»Aber es steht doch schlimm!«
»Noch nicht!«
»Man wird sie gleich einholen.«
»Sie kommen ja grad auf uns zu! Mit jedem Sprunge der Pferde wird es besser.«
Kaum hatte er das gesagt, so geschah etwas, was dieses Wörtchen ›besser‹ Lügen strafen zu wollen schien. Der Scheik der Kalhuran nämlich hatte bisher angenommen, daß er es nur mit zwei feindlichen Abteilungen zu thun habe; nun aber sah er auch noch andere Reiter, die sogar genau von vorn grad auf ihn zukamen. Er mußte auch sie für Gegner halten. Die Entfernung war ja noch so groß, daß vom Erkennen der Gesichter keine Rede sein konnte. Er glaubte sich also in der allerhöchsten Not und versuchte, noch Rettung dadurch zu finden, daß er von der bisherigen Richtung schief nach rechts abwich. Er konnte freilich hoffen, hierdurch an den neuerschienenen Feinden glücklich vorüberzuschneiden, gab damit aber dem »Rittmeister« eine bedeutend größere Chance, ihn einzuholen.
»Das ist falsch!« rief Tifl erregt aus. »Das sollte er nicht thun!«
»Er weiß doch nicht, wer wir sind, und daß wir ihn retten wollen!« antwortete Kara. »Giebt es denn nicht vielleicht ein Zeichen, welches er kennt?«
»Nein!«
Aber schon nach einigen Augenblicken hatte er sich auf etwas besonnen. Er fügte hinzu:
»Doch, aber doch! Ich habe einen Gedanken. Ich werde einen Raum zwischen dir und mir lassen. Hoffentlich sieht er dann, daß hier die Stute unseres Ustad läuft. Und meine Mütze, die ich so oft vor ihm vom Kopf genommen habe! Ich zeige sie ihm. Wenn er scharfe Augen hat, so erkennt er mich an ihr!«
Er ließ zwischen sich und Kara so viel Abstand entstehen, daß die »Sahm« von Karas Pferden abgesondert zu sehen war. Dann richtete er seine lange, schmale Figur möglichst hoch empor, nahm die Mütze vom Kopfe und schwang sie in so auffälliger Weise über sich, daß der Scheik der Kalhuraa ganz besonders auf ihn aufmerksam werden mußte. Zur großen Freude des »Kindes« ließ der Erfolg der gegebenen Winke auch gar nicht lange auf sich warten; Hafis Aram lenkte wieder in die vorherige Richtung ein, und man sah trotz der noch großen Entfernung deutlich, daß er den Arm in die Höhe hob, um Antwort zu geben.
Ganz natürlich hatten aber seine Verfolger dieselbe Beobachtung wie er gemacht. Zwar wußte der »Rittmeister« nichts über Kara und Tifl; aber dafür mußte es dem »Oberleutnant« um so klarer sein, daß und durch wen den Flüchtlingen jetzt diese Hilfe kam. Es war zu sehen, daß er seine Leute antrieb, ihre Eile zu vergrößern.
»Er hat mich verstanden!« jubelte Tifl. »Aber, schau, was ist's mit seinen Pferden?«
Diese Frage war sehr gerechtfertigt, denn die Schnelligkeit der Verfolgten begann jetzt plötzlich, sich zu vermindern. Ihre Pferde konnten nicht mehr weiter. Sie fielen aus der bisherigen Karriere zunächst in einen kurzen, stoßweise noch erzwungenen Galopp; dann hielt mitten in demselben das eine an, that noch einige wankende Schritte vorwärts und brach hierauf, vollständig erschöpft, zusammen. Es war dasjenige, welches die Frau des Scheiks ritt. Sie besaß Gewandtheit genug, während des Sturzes abzuspringen, so daß sie nicht mit zu Falle kam. Sie ließ das Tier liegen und lief, so schnell sie konnte, weiter. Da stand auch das andere still, Hafis Aram glitt aus dem Sattel, faßte sein Weib, als es ihn erreichte, bei der Hand und zog es in eiligstem Laufe mit sich fort.
Während dies geschah, hatte sich der Abstand zwischen den verschiedenen Parteien so verringert, daß Kara und Tifl das jubelnde Geschrei der Verfolger hören konnten. Der erstere maß mit scharfem Auge die verschiedenen Abstände; der letztere besaß diese ruhige Kaltblütigkeit nicht.
»Das Geheimnis, das Geheimnis!« rief er aus. »Wir kommen sonst zu spät!«
»Nein,« entgegnete Kara. »Vielleicht nachher, doch nicht jetzt! Wir kommen grad zur letzten, rechten Zeit!«
Er hatte ganz richtig geschätzt. Der »Oberleutnant« ritt von allen seinen Leuten das beste Pferd und befand sich infolgedessen dem Scheik am allernächsten. Seine Untergebenen waren wohl noch an die hundert Pferdelängen hinter ihm. Man hörte seine drohend brüllende Stimme. Dreihundert Längen jenseits, links von ihm, kam der »Rittmeister« herangestürmt. Da fragte Tifl, natürlich mitten im Jagen:
»Werden Assil und Barkh sich nicht weigern, den Scheik und seine Frau zu tragen?«
»Nein,« antwortete Kara. »Ich sage ihnen ein Wort; das genügt. Ich befürchte nichts. Nur der ›Oberleutnant‹ kann uns stören.«
»Kümmere dich nur um die zu Rettenden, damit sie nicht zögern, aufzusitzen; ihn aber überlaß mir!«
»Getraust du dich an ihn?«
Da lachte »das Kind« laut auf und sagte:
»Getrauen? Hast du mich für feig gehalten? Paß auf! Gleich sind wir da.«
In diesem Augenblick blieben die Flüchtlinge stehen; sie waren außer Atem. Aber sie erkannten Tifl, sahen zwei ledige Pferde und sandten den Rettern freudige Rufe entgegen. Diese sausten heran. Kara zügelte seinen Ghalib und hielt mit ihm und den beiden Rappen vor Hafis Aram an.
»Steig schnell auf!« sagte er, indem er absprang, um die Hengste zu halten.
»Das ist edles Blut!« sagte der Scheik. »Werfen sie uns nicht ab?«
»Nein. Nur schnell hinauf! Ich halte sie!«
Es geschah das viel schneller, als man erzählen kann. Hafis Aram hob erst seine Frau empor und schwang dann sich selbst hinauf. Dabei entging ihnen das Zeichen, welches Kara den beiden Pferden gab. Sie wußten nun, daß sie zu gehorchen hatten.
Indessen war Tifl eine kleine Strecke weitergeritten, dem »Oberleutnant« entgegen. Da holte er nach rechts aus, ließ seine »Sahm« einen kurzen Bogen gehen, der ihn im Zurückkehren wieder herüber und an die Seite des Offiziers führte, welcher Kara wütend zubrüllte, sich nicht an den Flüchtlingen zu vergreifen. Er achtete nur auf diese, nicht auf Tifl, der bald so eng neben ihm ritt, daß die beiden Pferde sich berührten. Nun erst nahm er Notiz von ihm.
»Was willst du, Hund? Fort mit dir!« schrie er ihn an. »Fort, fort!« Dabei erhob er die Faust, um nach Tifl zu schlagen.
»Nein, nicht fort!« antwortete dieser. »Ich mache dir meinen Besuch.«
Er hob den einen Fuß auf den Rücken der Stute und schnellte sich von ihr zu dem Offizier hinüber, so daß er hinter diesem zu sitzen kam. Dann schlang er die langen Arme um ihn, legte die Beine fest an den Leib des Pferdes und rief aus:
»Ich thue dir nichts. Ich will nur sehen, wie es mit eurem Atem steht. Paß auf!«
Er drückte den Soldaten so an sich, daß diesem die Luft verging, und preßte die Weichen des Pferdes in der Weise zusammen, daß es im Galopp unterbrochen und nach wenigen langsameren Schritten gezwungen wurde, stillzustehen. Er hielt gerade da an, wo der Scheik soeben mit seinem Weibe auf die Rappen gestiegen war. Da sah man den »Rittmeister« gejagt kommen, in jeder Hand eine gespannte Pistole haltend.
»Fort! Schnell!« gebot Kara. »Er schießt; wir aber haben keine Waffen.«
Er galoppierte mit den beiden Geretteten davon, in der Richtung zurück, aus welcher er gekommen war. Tifl ließ sein nach Atem schnappendes Opfer los, sprang herab und hinüber zur »Sahm«, welche ganz in der Nähe stehen geblieben war. Er schwang sich auf.
»Halt! Bleib!« schrie der nun nahegekommene »Rittmeister«. »Ich fange dich!«
»Thue das!« antwortete der Angerufene.
»Ich schieße!«
»Das kannst du, aber treffen nicht!«
Um so wenig wie möglich Ziel zu bieten, bog er den Oberkörper tief an den Hals des Pferdes herab, welchem er mit einem Schnalzen der Zunge das Zeichen zum schnellsten Laufe gab. Es gehorchte. Da krachten hinter ihm zwei Schüsse, aber keiner von ihnen traf. Die Kavalleristen, welche ihre Offiziere nun einholten, schickten ein vielstimmiges Geschrei hinter ihm her.
»Das hätte meine gute Pekala sehen sollen!« lachte er in sich hinein. »Wie würde sie sich freuen!«
Nun keine Kugel mehr zu fürchten war, richtete er sich wieder auf. Er fühlte sich sicher, wenigstens für jetzt, denn von den Soldatenpferden eingeholt zu werden, davon konnte ja nicht die Rede sein.
Nach einiger Zeit schaute Kara sich um. Er sah, daß die beiden Kavalleristengruppen beisammenhielten. Ihre Offiziere schienen sich zu beraten. Da parierte auch er seinen Ghalib, um Tifl vollends herankommen zu lassen. Der Scheik hatte bis jetzt nichts weiter als vorhin seine ersten Worte gesagt. Er wollte jetzt sprechen, wahrscheinlich von seiner Dankbarkeit. Da aber sagte der junge Haddedihn zu ihm:
»Jetzt keine Worte, o Scheik der Kalhuran! Wir haben uns zunächst zu –«
»Wie? Du kennst mich?« unterbrach ihn dieser doch.
»Ja.«
»Sag, wer du bist! Ich kenne dich nicht.«
»Ich bin Kara Ben Hadschi Halef Omar, ein Haddedihn vom Stamme der Schammar.«
»Hadschi Halef Omar? Ist dieser dein Vater Hadschi Halef Omar etwa der Scheik eures Stammes?«
»Ja.«
»Maschallah, und doch auch nicht Maschallah! Es ist ein Wunder, aber dennoch keines! Ein Wunder Allahs ist es, daß wir errettet worden sind, grad als die Gefahr für uns am größten war. Und wiederum ist diese Rettung kein Wunder zu nennen, weil sie durch den Sohn eines Mannes geschah, dessen Leben aus einer ununterbrochenen Reihe solcher Ereignisse besteht. Du scheinst der Erbe seiner Thaten zu sein!«
Jetzt war Tifl herangekommen. Auch er schaute sich um. Als er sah, daß die Soldaten halten geblieben waren, sagte er zu dem Scheik:
»Frage jetzt nicht. Wir haben keine Zeit. Wir wissen, was geschehen ist. Deine Feinde haben es uns erzählt. Auch wir müssen beraten. Laßt uns aber dabei weiterreiten!«
Als sie ihre Pferde wieder in Bewegung gesetzt hatten, ergriff der Scheik abermals das Wort:
»Ich will also von dem Vergangenen noch schweigen; aber über das, was vor uns liegt, darf ich doch sprechen. Reiten wir durch den Paß des Hasen?«
»Nein,« antwortete Kara.
»Warum nicht?«
»Weil dort zehn bewaffnete Soldaten stehen. Der größte Mut ist ohnmächtig, wenn er keine Waffen hat.«
»So müssen wir nach dem Passe des Couriers hinüber.«
»Der ist mit noch mehr Leuten besetzt.«
»Wißt ihr das genau?«
»Ja.«
»So bleibt uns nur der Versuch, nach rechts oder links durchzubrechen. Ich habe das schon versucht, doch meine Pferde hielten es nicht aus.«
»Mit diesen hier wird es vielleicht gelingen,« meinte Kara.
»Nein,« sagte Tifl.
»Warum nicht?«
»Sieh hinter dich!«
Als Kara dieser Aufforderung folgte und sich umschaute, sah er, daß die Perser einen Entschluß gefaßt hatten. Sie unterließen es, den Flüchtlingen zu folgen. Sie hatten sich wieder in zwei Abteilungen getrennt, welche im Galopp die Richtung nach den beiden Pässen einschlugen.
»Sie trachten darnach, uns die beiden einzigen Wege zu den Dschamikun zu verlegen,« sagte der Scheik.
»Aber sie werden uns dabei nicht aus den Augen lassen,« fügte Kara hinzu. »Wollen wir nach rechts oder links, so sind sie gewiß schnell da. Ich möchte ihre Kugeln mehr wegen unserer Pferde als wegen uns selbst vermeiden. Soll ich daheim die Schande erleben, erzählen zu müssen, daß so edles, unersetzliches Blut durch das Blei solcher Leute zu Grunde gehen mußte?«
»So weiß ich keinen Rat!«
»Aber ich!« erklärte Tifl.
»Welchen?«
»Wir können zwischen den Pässen hinüberkommen!«
»Hamdulillah!« rief da der Scheik erfreut aus. »Giebt es denn noch einen Weg?«
»Einen Weg nicht, aber doch die Möglichkeit, die andere Seite zu erreichen, ohne daß man zu klettern braucht. Niemand ist so oft in diesen Bergen gewesen wie ich. Ich suchte da nach heilsamen Kräutern für den Pedehr.«
»So suchen wir diese Richtung auf!«
»Aber wir können da nicht reiten, sondern wir müssen gehen. Niemand darf von einem Pferde mehr fordern, als es leisten kann.«
»So steigen wir ab, sobald es nötig ist!«
»Also kommt!«
Tifl wollte bei diesen Worten seine Stute antreiben, doch forderte Kara ihn auf:
»Halt, noch nicht so schnell! Sag uns erst, wie lange es dauert, bis wir die Höhen hinter uns haben werden!«
»Das Kind« sah nach dem Stande der Sonne und antwortete sodann:
»Wir werden noch vor der Dämmerung die jenseitige Ebene erreichen.«
»Aber wahrscheinlich nicht wir allein.«
»Wer noch?« fragte der Scheik.
»Das Militär.«
»Du denkst, daß man hinter uns hersteigen werde?«
»Auch das ist möglich, doch meinte ich etwas Anderes. Die Soldaten beobachten uns. Wenn sie sehen, daß wir versuchen, hier in gerader Richtung über die Höhen zu kommen, werden sie schnell zu beiden Seiten durch die Pässe reiten, um uns drüben zu empfangen. Dann bleibt uns weiter nichts übrig, als in die Felsen zurückzukehren. Dann aber ist es Nacht geworden; wir müssen im Gebirge bleiben und uns früh am Morgen von neuem jagen lassen.«
»Da aber käme uns Hilfe von Pedehr.«
»Meinst du?«
»Ja. Denn da ich dich in Tifls Begleitung sehe, so vermute ich, daß du jetzt Gast der Dschamikun bist.«
»Das ist allerdings der Fall.«
»So kannst du dich auf die von mir vermutete Hilfe fest verlassen. Weiß man, wohin ihr geritten seid?«
»Nicht genau. Aber man hat gesehen, in welcher Richtung wir uns entfernten.«
»Das ist genug. Wenn ihr nicht nach Hause kommt, wird man euch suchen.«
»Man wird nicht suchen!« fiel Tifl ein.
»Doch!« behauptete der Scheik.
»Nein!« lächelte das Kind.
»Warum nicht?«
»Weil wir zur rechten Zeit nach Hause kommen werden.«
»Bist du überzeugt davon?«
»Ja.«
»So schwöre!«
Das klang im höchsten Grade ernst. Genau so, als ob es sich um Tod oder Leben handle. Darum schaute Kara den Scheik überrascht an. Dieser aber sah nichts weniger als ernst, sondern jetzt sogar ganz heiter aus.
»Du wunderst dich über mich?« fragte er. »Ich sehe, daß du unsern Tifl noch nicht kennst. Er hat gar manches Geheimnis unter seiner alten Mütze stecken. Also, Tifl, willst du das, was du sagtest, beschwören?«
»Nein,« antwortete der Gefragte.
»Warum nicht?«
»Weil ich niemals schwöre. Mein guter Ustad sagt, daß es Sünde sei. Es ist also verboten!«
Er sagte das so treuherzig bestimmt, so rührend überzeugt, so kindlich gehorsam, daß der neben ihm reitende Kara ihm die Hand hinstreckte und beistimmend zu ihm sagte:
»Ja, es ist verboten! Auch bei uns, den Haddedihn. Mein Vater weiß von Kara Ben Nemsi, daß jeder Schwur eine Sünde an Allahs Namen ist.«
»Aber eine Beteuerung ist erlaubt?« fragte der Scheik, indem er schalkhaft zu Tifl hinüberlächelte.
»Nun, so beteure es!«
Da nahm Tifl mitten im Reiten, und zwar mit einer Bewegung, als ob er jemandem eine Ehre zu erweisen habe, die zackige Mütze vom Kopfe und sagte, indem er den Blick des Scheiks mit heiterem Einverständnisse zurückgab:
»Wir werden zur rechten Zeit nach Hause kommen. Das versichere ich im Namen meiner guten Pekala, die, bis wir eintreffen, mit ihrer Kerbelsuppe auf uns warten wird. Beeilen wir uns also jetzt!«
»Aber wie willst du das anfangen?« fragte Kara.
Er erhielt keine Antwort, denn »das Kind« hatte sein Pferd schon bei den letzten Worten zum vollen Laufe angetrieben und flog so schnell voran, daß man ihm schleunigst folgen mußte. Der Haddedihn konnte sich den Vorgang nicht ganz erklären; er sah darum den Scheik fragend an.
»Du bist erst kurze Zeit bei dem Dschamiku?« erkundigte sich dieser.
»Ganz kurze.«
»So kannst du dieses ›Kind‹ allerdings noch nicht begreifen. Es steckt ein ganzer, seltener Mann in ihm, der aber daheim verborgen bleibt und nur zum Vorschein kommt, wenn Tifl zu Pferde sitzt. Dieser Mann ist nicht nur tapfer, sondern auch so klug, so ungewöhnlich klug, daß man sich ihm unbedingt anvertrauen darf. Und wenn er gar irgend etwas im Namen seiner geliebten Pekala verspricht, so weiß er, was und warum er es sagt, und es giebt für jeden, der ihn kennt, keinen Zweifel, daß es in Erfüllung gehen wird.«
»Also auch das jetzige Versprechen?«
»Ganz gewiß!«
»Aber wie? – Das ist mir rätselhaft.«
»Frage ihn nicht! Er würde es doch nicht sagen. Wenn er sich so verhält, wie eben jetzt, liebt er es nicht, ausgefragt zu werden. Er hat einen Gedanken, den er für gut hält, und wird ihn in der Weise ausführen, daß wir zufrieden sein können. Folgen wir ihm also, ohne in ihn zu dringen! Das gute »Kind« ist so unendlich glücklich, wenn man ihm vertraut!«
Die vier Pferde flogen jetzt nur so über die Steppe dahin. Die Frau des Scheiks saß fest; sie ritt so sicher wie ein Mann, Tifl schaute sich nicht um; aber man sah, daß er nach rechts und links die Perser beobachtete. Der Anführer derselben schien ein umsichtiger Mann zu sein, der seine Bestimmungen für verschiedene Möglichkeiten vorausgetroffen hatte. Denn jetzt, da es sicher war, daß die Flüchtigen grad über den Bergeszug wollten, trennten sich von seinen beiden Abteilungen Leute, welche von hüben und drüben her ganz dieselbe Richtung einschlugen und jedenfalls den Befehl hatten, den Scheik und seine Retter durch die Felsen zu verfolgen.
»Das war es, was du befürchtetest,« sagte Kara zu dem Scheik.
»Vorhin, aber jetzt nicht mehr!« antwortete dieser.
»War es vorhin bedenklicher als jetzt?«
»Nein; aber inzwischen hat uns Tifl sein Versprechen gegeben, und er wird es halten.«
»Aber bedenke den Unterschied! Hier auf ebenem Boden sind wir im Vorteile, weil wir bessere Pferde haben. Da oben aber werden die Soldatengäule den meinigen im Klettern überlegen sein. Wenn man uns nach oben folgt, wird man uns wahrscheinlich einholen.«
»Mag es geschehen!«
»Aber dann, was thun?«
»Ich frage nicht, Tifl weiß, was er will!«
Nun war der Fuß der Höhen erreicht. Es gab da eine zunächst sanft ansteigende, schuttartige Halde, vor welcher der spinnenmützige Führer nicht vom Pferde stieg. Er ritt hinauf; die andern folgten. Die Hufspuren waren in dieser Art von Boden mehr als deutlich zu erkennen. Als man oben angekommen war, deutete Tifl auf diese Fährte und sagte:
»Hier habe ich ihnen gesagt, wohin wir wollen. Sie werden uns folgen, weil sie es glauben.«
»Wie meinst du das?« fragte Kara. »Sollten sie es vielleicht nicht glauben?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ... weil ...«
Er brach mitten in der Antwort ab. Seine Brauen zogen sich zusammen; seine kindlichen Züge wurden um Jahre älter; sie nahmen einen ernsten, ja abweisenden Ausdruck an.
»Bist du hier daheim, oh Kara Ben Hadschi Halef?« fragte er.
»Nein.«
»Aber ich kenne diese Gegend. Wären wir bei den Haddedihn, so folgte ich dir. Wir befinden uns aber bei den Dschamikun. So folge mir!«
Er sprang vom Pferde und ging weiter, die Stute hinter ihm. Die andern stiegen auch ab und schritten hinter ihm her, wobei der Scheik und seine Frau die Rappen an den Zügeln führten, weil sie ihnen als Fremden wohl nicht so unbedingt und willig gefolgt wären, wie es nötig war. Es ging eine ziemlich steile Felsenlehne hinauf. Hier und da stand ein Busch, irgend ein Gestrüpp, Tifl brach da immer Zweige ab, die er fallen ließ, um die Verfolger hinter sich herzulocken. Man konnte sie nicht sehen, weil hohes Gestein dazwischen lag. Dann aber kam eine vortretende Stelle. Als die vier auf sie heraustraten, sahen sie die Soldaten tief unter sich, welche, ihre Pferde auch führend, den Berg heraufgestiegen kamen. Einer von ihnen schaute zufällig empor und sah die hoch oben Stehenden. Er machte seine Kameraden auf sie aufmerksam, worauf sie mit den geballten Fäusten drohten und zornige Rufe heraufsandten.
»Sie kommen wirklich!« sagte der Scheik. »Nun bin ich neugierig, was geschehen wird.«
»Das geschieht!« antwortete Tifl.
Er deutete nach rechts und links, wo weit draußen die übrigen Perser zu sehen waren, welche in größter Eile auf die Pässe zujagten. Hafis Aram sprach:
»Sie reiten hinüber, um uns jenseits zu empfangen, und diese hier jagen uns vorwärts. Wenn wir doch Waffen hätten. Ich fand nicht Zeit, die meinigen zu holen. Es mußte alles nur darauf gerichtet sein, so schnell wie möglich aus dem Duar zu verschwinden.«
»Wir brauchen keine Waffen – kommt!«
Mit diesen Worten wendete Tifl sich zum Berge zurück, um die Flucht fortzusetzen. Sie führte in ein Gewirr von Felsen hinein, durch welches der Kurde sonderbarer Weise nicht die gerade Richtung nahm. Er wich vielmehr bald nach dieser und bald nach jener Seite von ihr ab, so daß der zurückgelegte Weg beinahe einen Kreis bildete, auf welchem man fast wieder zurück zum ersten Punkte kam. Hier ging es zwischen zwei eng zusammenstehenden Felsen hinein, welche eine schmale, oben offene, sich abwärts senkende Höhle bildeten. Das war ein sehr beschwerlicher Weg, welcher nur höchst langsam zurückgelegt werden konnte. Warum Tifl gerade diesen Teil des Berges wählte, das war den Andern unerfindlich; sie sagten aber nichts.
Als man wieder in das Freie kam, befand man sich an einer Felsenwand, welche senkrecht nach oben stieg. »Das Kind« blieb lauschend stehen und gab mit der Hand zum Munde das Zeichen, zu schweigen. Da oben erklangen jetzt Stimmen.
»Wer ist das?« fragte leise der Scheik.
»Die Perser sind es,« lächelte Tifl, indem er ebenso leise antwortete.
»Also über uns?«
»Ja.«
»Maschallah!«
»Das ist der Vorsprung, auf dem wir vorhin standen, als wir sie kommen sahen. Wartet noch!«
Als es nach kurzer Zeit oben still geworden war, winkte der Kurde, ihm weiter zu folgen. Nach einiger Zeit sahen die andern zu ihrem Erstaunen, daß sie sich oberhalb der früher genannten Felsenlehne befanden, welche sie heraufgekommen waren. Sie trafen auf ihre eigene Fährte, die inzwischen durch die Spuren der Verfolger verstärkt worden war.
»Nun suchen sie da oben nach uns!« lachte Tifl. »Wir gehen wieder hinunter. Aber nicht hier, sondern dort, wo man auf dem festen Steine keine Eindrücke machen kann.«
Er deutete vorwärts, nach einer Stelle, wo das kompakte Gestein jenseits des weicheren Bodens hart zu Tage trat. Es senkte sich allmählich bis fast an den Rand der Steppe nieder. Die Pferde rutschten mehr als sie stiegen hinunter, wo man nur noch ein schmales Randgebüsch zu durchbrechen hatte. Jenseits desselben wieder auf der Ebene angekommen, wollte Tifl sich auf sein Pferd schwingen; da ergriff Kara ihn am Arm, sah ihm mit fast bewunderndem Ausdruck in das Gesicht und fragte:
»Tifl, sag, wo hast du das her?«
»Ich? – Was?« lautete die ruhige Antwort.
»Diese Klugheit, diese Umsicht.«
»Du meinst, daß ich klug gewesen sei?« erkundigte sich der Kurde, indem er das allerkindlichste seiner Gesichter zeigte.
»Ja, außerordentlich klug! Jetzt erst begreife ich dich. Sag: du hast gar nicht über die Berge hinüber gewollt?«
»Nein.«
»Sondern nur so gethan, um die Perser zu betrügen?«
»Ja.«
»Du wolltest sie veranlassen, durch die beiden Pässe nach der andern Seite der Höhe zu eilen?«
»Ja.«
»Damit wir hier freien Weg bekämen?«
»So ist es.«
»Aber was nun? Denkst du, daß wir jetzt über die Seitenberge reiten, von denen der Scheik wieder zurückgetrieben worden ist?«
»Nein, das haben wir nicht nötig.«
»Aber was ist denn deine Absicht?«
»Wir reiten ganz einfach durch den Paß der Hasen, durch welchen wir gekommen sind, wieder nach Hause.«
»Aber da treffen wir doch wieder auf die Perser!«
»Wo?«
»Nun, doch entweder noch im Passe selbst oder erst am Ende desselben.«
»O nein. Wenn du das von ihnen glaubst, so hältst du sie für unbeholfen. Du hast aber doch gesehen, wie umsichtig ihr Anführer sich alles überlegt hat. Denke dir grad in der Mitte zwischen den beiden Pässen eine Linie über das Gebirge. Er glaubt, daß wir dieser Linie folgen und also auch jenseits auf der Mitte zwischen ihnen eintreffen. Wird er da seine Leute dort bei den Pässen auf uns warten lassen?«
»Allerdings nicht,« gestand Kara ein.
»Sondern wo?«
»Eben in der Mitte.«
»Die Pässe werden also für uns frei. Es ist folglich sehr wahrscheinlich, daß wir heimreiten können, ohne von den Persern überhaupt gesehen zu werden.«
»Außer, wenn er in den Pässen Wachen zurückläßt.«
»Vielleicht thut er das, vielleicht auch nicht.«
»Und wenn er es thut, was dann?«
»Es käme darauf an, wie stark diese Wache ist, ob wir uns ihrer mit List erwehren können, oder ob wir Gewalt anwenden dürfen, ohne vor ihren Waffen besorgt sein zu müssen. Jetzt suchen uns die Soldaten da oben auf der Höhe; wir aber reiten nach dem Hasenpaß.«
Man stieg zu Pferde. Der Scheik der Kalhuran that dies langsam und mit so vorsichtigen Bewegungen, als ob er sich dabei zu verletzen befürchte. Seine Frau, welche bisher kein Wort gesagt, sich aber außerordentlich wacker gehalten hatte, beobachtete ihn dabei mit liebevoll mitfühlenden Blicken. Während des Weiterrittes war er sehr still. Zuweilen biß er die Zähne zusammen. Kara, welcher das alles sah, dachte an die Erzählung des »Oberleutnants« und was im Zelte des Muhassil mit Hafis Aram geschehen war.
»Hast du Schmerzen?« fragte er ihn teilnehmend.
Der Scheik zögerte mit der Antwort. Da aber ließ die Frau zum erstenmal ihre Stimme hören:
»Sagtet ihr nicht, ihr wüßtet, was sich in unserem Duar ereignet hat?«
»Ja. Der Offizier hat es uns erzählt.«
»Und da fragst du, ob Hafis Aram Schmerzen leide? Ich sage dir, er ist ein Held, den ich nicht genug bewundern kann! Du hast gehört, wie scheinbar ohne Qual er sprach. Du hast ihn sogar heiter lächeln sehen. Und doch ist er am Leibe so blutig wund, daß es mich grauste, als er mir meine Bitte erfüllte, es mir zu zeigen. Man hat ihn geschlagen wie einen Hund. Man ist mit ihm –«
Er unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Darf ich, dein Weib, welches dich so innig liebt, dir nicht mein Mitleid zeigen?« fragte sie.
»Mitleid?« antwortete er. »Ist es eine Ehre für einen Mann, bemitleidet zu werden?«
»Aber ich weiß, was für entsetzliche Schmerzen du so still zu tragen und zu beherrschen hast!«
»Du fühlst sie mit mir, weil du mich liebst, und dafür danke ich dir. Doch daß ein Mann, der Scheik eines Stammes, Schläge bekommen habe, das darf er in Gegenwart anderer selbst nicht aus dem Munde seines Weibes hören. Ich bitte dich also, jetzt nicht mehr davon zu sprechen.«
Er reichte ihr seine Hand hinüber. Sie zog sie an ihre Lippen und küßte sie. Es lag ein so inniges und doch zugleich so stolzes Erbarmen in den Augen, die sie kaum von ihm lassen konnte. Und sie war keine Europäerin, sondern sie gehörte einem Volke an, welches man als »halb wild« zu bezeichnen pflegt! Er aber gab sich nun doppelte Mühe, ihr keine Spur der Schmerzen, welche er als Mann und Krieger zu verheimlichen hatte, mehr sehen zu lassen.
Man kam durch den Paß, ohne von etwas Erwähnenswertem gestört zu werden. Als man sich dem Ausgange desselben näherte, stieg Kara vom Pferde und reichte dem »Kinde« die Zügel, es zu führen.
»Warum?« fragte Tifl.
»Ich will leise vorausgehen.«
»Du denkst, daß sich Wächter da vorn befinden?«
»Hast du das nicht selbst für möglich gehalten? Kommt langsam nach! Ist niemand da, so haben wir nichts als nur eine kurze Zeit verloren. Wird der Paß aber bewacht, dann könnte uns ein unvorsichtiges Vorwärtsreiten teuer zu stehen kommen.«
Er ging voran. Die andern hielten sich so weit hinter ihm, daß er den Hufschlag ihrer Pferde nicht hören konnte. Der Weg machte einige Windungen, welche verhinderten, ihm mit den Augen zu folgen. Als man an der zweiten Krümmung vorübergekommen war, sah man ihn an der dritten stehen. Er deutete warnend nach vorwärts und winkte mit der Hand, zu ihm zu kommen.
»Hast du jemand gesehen?« fragte der Scheik, als er ihn erreichte.
»Ja. Es sind fünf Soldaten hier.«
»Im Sattel?«
»Nein. Sie sitzen mitten auf dem Wege an der Erde, und ihre Pferde raufen zur Seite am Gestrüpp herum.«
»Ich will sie betrachten,« sagte Tifl.
Er stieg ab und schlich sich vorsichtig bis zur Krümmung hin. Indem er den Kopf nur bis zu den Augen vorstreckte, sah er, wer sich jenseits derselben befand. Dann kam er zurück. Er machte eine beruhigende Handbewegung und sprach:
»Sie sind ganz ahnungslos und also ungefährlich. Wir reiten über sie hinweg. Das wird sie so erschrecken, daß wir schon fern von ihnen sind, ehe sie an ihre Waffen denken können. Darf ich voran?«
»Ja,« nickte der Scheik. »Wir folgen sofort hinter dir her.«
Tifl schwang sich wieder auf. Dann schoß er auf seiner Stute hinter der Krümmung hervor, grad auf die Perser zu und in einem Bogen über sie hinweg. Sie schrien laut auf und wollten aufspringen, warfen sich aber, als sie noch die drei andern kommen sahen, statt dessen schnell glatt auf den Boden nieder. So kam es, daß sie von den Hufen der über sie hinwegspringenden Pferde nicht berührt wurden. Diese letzteren jagten noch eine ganze Strecke weiter und wurden erst dann, als man sich sicher fühlte, zu langsamerem Gange gezügelt. Nun schaute sich Kara nach den Wachen um. Sie hatten sich von ihrer Ueberraschung erholt, kamen aber nicht etwa hinterdrein, sondern sie galoppierten, den Paß verlassend, in nördlicher Richtung längs des Höhenzuges dahin.
»Sie wollen melden, daß wir entkommen sind,« sagte der Scheik.
»Ja, entkommen!« fügte seine Frau hinzu, indem sie tief und erleichtert Atem holte. »Chodeh sei Dank! Erst jetzt können wir in Wahrheit sagen, daß wir gerettet sind. O Tifl, Tifl, wie danke ich dir!«
Da zeigte »das Kind« die allerverlegenste seiner Mienen und antwortete, auf den Haddedihn deutend:
»Nicht mir gebührt der Dank, sondern diesem klugen Kara Ben Hadschi Halef Omar. Hätte er nicht zwei ledige Pferde mitgenommen, so wäre es uns unmöglich gewesen, euch zwischen den Reitern herauszuholen.«
Da reichte der Scheik Kara seine Hand und sprach:
»Verzeihe mir, daß ich jetzt keine lange Rede des Dankes halte. Ich bin sehr müd und möchte bald verbunden werden. Ich werde dich und diese drei herrlichen Tiere, so lange ich lebe, nicht vergessen. Nur mit solchen Pferden konnten wir gerettet werden! Dein Dunkelbrauner ist köstlich. Wem aber gehören die beiden andern?«
Da kam Tifl dem Haddedihn, welcher antworten wollte, schnell zuvor:
»Versuche, es zu erraten, o Scheik der Kalhuran.«
»Sollten diese Rappen zu dem Braunen gehören?« fragte dieser.
»Weiter!«
»Es gab einen schwarzen Hengst der Haddedihn, der von keinem andern Pferde jemals besiegt worden ist. Er hieß Rih und wurde von Kara Ben Nemsi geritten, so oft dieser bei Hadschi Halef Omar war.«
»So schau den Rappen an, auf welchem die Gebieterin deines Zeltes sitzt! Er heißt Assil Ben Rih.«
»So ist er Rihs Sohn? Maschallah! Und der andere Hengst? Der mich jetzt trägt?«
»Sein Name ist Barckh. Er hat den berühmten Scheik der Haddedihn zu uns gebracht.«
»Was höre ich! Hadschi Halef Omar ist bei euch?«
»Ja.«
»Aber zwei Rappen! Wer reitet den andern?«
»Denke nach!«
»Sollte – sollte Kara Ben Nemsi wieder einmal bei seinem Freunde sein?«
»Ja, auch der ist da. Und noch jemand ist da! Du wirst sie alle sehen. Wir wollen nicht hier erzählen, denn wir müssen uns nun beeilen, wenn wir heimkommen wollen, bevor es ganz dunkel wird.«
Es ging zunächst in nicht zu schnellem Gange über die tiefsandige Ebene hinüber. Hierbei verstand es sich ganz von selbst, daß zuweilen ein Blick zurückgeworfen wurde. Da waren nach verhältnismäßig kurzer Zeit die Kavalleristen zu sehen, welche von den Posten am Passe benachrichtigt worden waren. Sie kamen hinterher. Kara behauptete das; der Scheik aber wollte es nicht glauben. So blieb man also für einige Augenblicke halten, um sie zu beobachten.
»Es ist ja ganz unmöglich, daß sie auf den Gedanken gekommen sind, uns noch weiter zu verfolgen!« ließ sich Hafis Aram hören.
»Sie müssen doch eingesehen haben, daß sie uns auf ihren Gäulen nicht einholen können!« fügte Kara hinzu.
»Es ist nicht bloß das. Aber sie dürfen sich doch nicht auf das Gebiet der Dschamikun wagen!«
»Ist ihnen das verboten?«
»Ja. Der Ustad hat vom Schah-in-Schah das Recht erwirkt, kein bewaffnetes Militär bei sich zu dulden. Diese Soldaten befinden sich aber nicht bloß schon auf seinem Gebiete, sondern ich sehe es nun allerdings auch ganz deutlich, daß sie hinter uns dreingeritten kommen. Sind sie etwa so verwegen, uns bis zu den Wohnungen der Dschamikun zu verfolgen? Fast scheint es so!«
»So ist also der Ustad hier alleiniger Herr?«
»Er gehorcht nur dem Beherrscher selbst. Das steht auf einem Pergament geschrieben und wurde von dem Schah-in-Schah eigenhändig unterzeichnet und besiegelt. Ich bin zwar seit heut der Blutrache verfallen, weil ich den Muhassil erschossen habe; aber auf das Gebiet der Dschamikun darf mir kein Rächer folgen. Hier giebt es ewigen Frieden, der höchstens einmal von den Verachteten und Ausgestoßenen gebrochen werden kann, die keinem Gesetze gehorchen. Wenn diese Soldaten uns folgen, ohne dort an den Bergen ihre Waffen abgelegt zu haben, hat der Ustad das Recht, sie alle, vom ersten bis zum letzten niederschießen zu lassen! Tifl, sag, was meinst du dazu?«
»Ich werde es gleich beim ersten Hause melden, damit in der kürzesten Zeit es alle wissen,« antwortete der Genannte. »So laßt uns also eilen! Vorher aber sollst du mir sagen, o Scheik der Kalhuran, ob ich mein Versprechen erfüllen werde. Ich habe im Namen meiner guten Pekala beteuert, daß wir zur rechten Zeit daheim sein werden.«
»Du hältst stets dein Wort, besonders aber wenn du es im Namen deiner Pekala giebst. So auch heut.«
»Ich danke dir. Nun kommt!«
Sobald der tiefe Sand dieser Ebene in grasigen Boden überging, konnten die Pferde weit ausgreifen. Es dauerte dann nur noch kurze Zeit, bis man den See erreichte und mit ihm das erste Haus, an welchem Tifl anhielt, um die von ihm erwähnte Meldung abzugeben. Der Bewohner desselben war, so zu sagen, auf dieser Seite der Pförtner des Duars und hatte den die Sicherheit desselben betreffenden Nachrichtendienst zu verwalten. Als dies besorgt war, stand es fest, daß die Soldaten, falls sie wirklich kämen, den ihnen für solche Fälle vorherbestimmten Empfang finden würden, und Tifl konnte nun mit den drei Andern direkt nach dem »hohen Hause« reiten. Allen denen, die ihnen begegneten, fiel der ganz unerwartete Besuch Hafis Arams und seines Weibes auf, zumal er in dieser ganz seltenen Weise und ohne die imponierende Kamelsänfte geschah, aber es gab keinen, der irgend ein Aufheben davon machte. Höchstens, daß hier oder da Einer stehen blieb, um den Reitern verwundert, aber still nachzuschauen. Das Gemeindeleben war hier eben ein anderes, geordneteres und darum auch ruhigeres als in den Dörfern anderer Stämme. –
Das war es, was Kara während seines Rittes erlebt hatte. Er berichtete es mir später noch ausführlicher, als ich es hier erzählt habe. Dieser sogenannte Uebungsritt war also noch viel mehr geworden, als er ursprünglich hätte werden sollen.
Was mich betrifft, so war mir während dieser Zeit nichts Besonderes begegnet. Mit der »festjungfräulichen« Köchin gab es ein kurzes Gespräch. Als sie bei ihrer Rückkehr aus dem Thale an mir vorübergehen wollte, nickte ich ihr freundlich zu. Dies veranlaßte sie, stehen zu bleiben. Sie machte die kleinen Aeuglein zu, um besser nachdenken zu können, welchen Gegenstand des Gespräches sie am liebsten wählen könne; dann schlug sie sie wieder auf und fragte mich, natürlich in türkischer Sprache:
»Effendi, kennst du Teheran?«
»Ja,« nickte ich.
»Hast du dort Hagad, den Aschtschy gekannt?«
»Nein.«
»Das ist schade, denn er war mein Vater. Hast du aber Machub Suleiman Effendi gekannt, welcher Sefir war?«
»Nein.«
»Auch das ist schade, denn er war der Herr meines Vaters. Beide kamen nach Teheran, der Sefir, weil der Sultan ihn sandte, und mein Vater, um für ihn zu kochen. Meine Mutter war auch dabei, und als mein Vater ein Jahr lang für Machub Suleiman Effendi gekocht hatte, wurde ich geboren.«
»So stammst du also nicht aus der Türkei, sondern aus Persien?«
»Ich stamme von meinem Vater und von meiner Mutter, und beide waren Osmanen. Ich habe als Kind meist türkisch mit ihnen gesprochen, und darum liebe ich noch heute diese meine Muttersprache sehr. Mein Vater kochte auch mit für meine Mutter, und da ich sein Liebling war, hat er mich alles gelehrt, was er konnte. Ich half ihm gern und überall, und als meine Mutter gestorben war, ließ er sein Harem für immer leer, und ich blieb mit ihm allein. Als der Sefir nach Stambul zurückkehrte, blieb mein Vater in Teheran, weil er Koch des Beherrschers wurde. Aber unsern Tifl kennst du wohl?«
»Natürlich! Das weißt du ja!«
»Er hieß damals anders; aber ich habe ihn stets Tifl genannt. Manche heißen ihn El Aradsch, weil er hinkt. Ich glaube, seinen früheren Namen hat er ganz vergessen. Er kam mit anderen Kindern der Dschamikun nach Teheran, um Reitknecht des Schah-in-Schah zu werden. Er wohnte also im Ark, grad so wie ich, und wir wurden sehr bald und auch sehr gut mit einander bekannt, weil sein steter Hunger keinen Anfang und kein Ende hatte. Ich fütterte ihn und nannte ihn darum Tifl, das Kind. Alles, was er von mir bekam, schmeckte ihm köstlich, und weil dieses Wort in der türkischen Sprache pek ala heißt, so hat er mir den Namen Pekala gegeben. Daher kommt es, daß wir beide noch heut von jedermann Pekala und Tifl genannt werden. Mein Tifl war eigentlich nur für die Pferde geboren. Er wußte und wollte außer mir nichts anderes als sie. Und wie er sie liebte, so liebten sie ihn auch. Er war sehr klein, da that es ihm kein anderer Se ïs gleich. Darum waren seine Vorgesetzten außerordentlich mit ihm zufrieden. Aber das rührte ihn nicht; er achtete nur auf mich; ein Lob von mir war ihm lieber als tausend andere. Ich erzog ihn aber auch sehr sorgfältig und erziehe ihn noch heut! Ein Mann muß nämlich stets erzogen werden. Man darf nur freilich nicht darauf achten, wenn er sich dagegen sträubt. Sie sind alle, alle fast noch wie die Kinder!«
»Auch der Ustad? Oder der Pedehr?« unterbrach ich sie.
Diese meine Frage brachte sie sichtlich in Verwirrung. Sie sah mich verlegen an, rieb sich mit dem gebogenen Zeigefinger das kleine, unbedachtsame Näschen und ließ ihre runden Wänglein noch beträchtlich röter werden, als sie so schon waren. Dann warf sie plötzlich den Kopf zurück und verriet mir durch den triumphierenden Ausdruck, der sich ihres ganzen Gesichtes bemächtigte, daß sich unter der Ursprungsstelle ihrer langen Haarflechten ein rettender Gedanke eingefunden habe.
»Das sind doch keine Männer!« sagte sie.
»Was denn?«
»Herren und Gebieter! Du weißt doch, daß es zweierlei männliche Wesen giebt!«
»So?«
»Ja! Nämlich solche, welche zu gebieten, und solche, welche zu gehorchen haben. Die Herren sind schon erzogen; die anderen aber müssen es sich gefallen lassen, daß man es mit ihnen thut.«
»Und dazu seid wohl ihr Frauen da?«
»Ja! Denn zur Erziehung eines Mannes gehört außerordentlich viel Liebe, Geduld und Energie, und diese drei sind nicht bei euch, sondern nur bei uns zu finden. Wenn du das nicht glaubst, so frage nur »mein Kind«! Du wirst von ihm erfahren, was für Mühen und Sorgen mir seine Erziehung bereitet hat und auch heute noch bereitet. Es ist kein Spaß, die Mutter eines Jungen zu sein, der fast ganz genau so alt ist, wie ich selber bin. Er ist sogar einige Monate älter! Ich sage dir, Effendi, es hat keinen geringen Kampf gekostet, mich bei ihm in Respekt zu setzen, denn er glaubte, daß die Pflicht des Gehorsams nach der Körperlänge zu bestimmen und zu bemessen sei. Er aß für drei oder vier Personen, und dadurch sammelte sich in seinem Körper jene heimtückische Kraft zum Wachstum an, welche ihn später so überaus schnell in die Höhe trieb. Es gab eine Zeit, in der ich, wenn ich genau aufpaßte, ihn wachsen sehen konnte. Ich aber blieb klein. Das kränkte mich. Ich wollte so gern in gleicher Länge mit ihm bleiben. Darum begann ich, ebenso viel zu essen wie er. Aber die Kraft wirkte bei mir nicht nach oben hinaus, sondern sie ging in die Breite und rundum im Kreise. Ich wurde kugelrund, anstatt mir seine schlanke Höhe anzueignen. Er war gezwungen, auf mich herabzuschauen, und das erweckte in ihm die Einbildung, daß er überhaupt und in jeder Beziehung über mir erhaben sei. Meine Fülle imponierte ihm nicht; ja, er belächelte sie sogar. Wie mich das betrübte! Ich mußte ja befürchten, daß er meiner mütterlichen Zuneigung gewiß noch ganz entwachsen werde. Diese fast täglich zunehmende Körperlänge entfremdete ihn mir mehr und mehr. Er wurde immer stolzer auf sie. Er sah gar nicht, wie sehr sie ihm schadete. Ein Pferdejunge hat bei seiner bestimmten Größe zu bleiben. Er aber schoß weit über die Achseln seiner Vorgesetzten empor. Das nahmen sie ihm übel. Seine Hosen waren stets zu kurz; seine Aermel getrauten sich nicht über die Ellbogen hinaus. Das sah nicht schön, sondern häßlich aus, und darum wurde er mehr und mehr zurückgesetzt, obwohl er der geschickteste und gutherzigste von allen war. Das ärgerte ihn. Er wurde grob, besonders mit mir. Sein Magen blieb mir treu, aber sein Herz entfernte sich immer mehr von mir. So wären wir uns gewiß nach und nach immer fremder geworden, bis wir uns gar nicht mehr gekannt hätten, da aber trat ein Ereignis ein, durch welches die Verschiedenheit unserer Gestalten vollständig und für immer ausgeglichen wurde. Weißt du, daß der Islam den Wein verbietet, Effendi? Der Koran will es so.«
»Nein; der Koran will es anders.«
»Wieso! Ich verstehe dich nicht.«
»Die betreffende Stelle lautet: ›Alles, was betrunken macht, sei untersagt!‹ Also ist jeder betäubende Trank verboten, nicht aber der Wein besonders, falls man ihn so genießt, daß man nüchtern bleibt.«
»Du magst recht haben. Aber ein kluger Muselmann hütet sich lieber gleich ganz vor ihm, weil der Betrunkene nicht eher von dieser seiner Betrunkenheit etwas weiß, als bis er wieder nüchtern ist. Dann macht ihm die Trübsal seines Jammers nicht nur dieses eine Wort, sondern den ganzen Kuran plötzlich heilig! Aber der Schah-in-Schah hat zuweilen Gäste, welche nicht Muhammedaner sind. Er muß ihnen Wein geben, wenn sie bei ihm speisen. Darum giebt es einen Kabu, in welchem viele, viele Flaschen aufbewahrt werden, die bis zu den Hälsen herauf voll von den verschiedenen Betrunkenheiten sind. Der Weg von meiner Küche nach diesem Kabu war gar nicht weit, und es kam zuweilen vor, daß die Thür zu diesen Flaschen offen stand. Was glaubst du wohl, Effendi, was nun geschehen wird?«
»Tifl verläuft sich in den Keller!«
»Maschallah! Woher weißt du das?«
»Ich vermute es.«
»Er hat es dir nicht erzählt?«
»Nein.«
»Das würde mich auch wundern, denn er spricht nie davon. Denn seine Scham über das, was er dort that, ist größer, als der ganze Keller ist! Aber so schnell, wie du denkst, geht das nicht. Ich muß es dir genau der Reihe nach erzählen. ›Das Kind‹ hatte am Mittag bei mir gegessen, ich weiß noch ganz genau, was für Speisen und wieviel. Soll ich es dir sagen?«
»Nein, ich danke dir.«
»Ich hatte auch Dattelbrühe gemacht, über den dicken Reis zu gießen. Die war ihm zu dünn. Er zankte. Ich zankte wieder. Er wurde noch zorniger; ich auch. Er saß am Boden, und weil er da nicht länger war als ich, so benützte ich das sehr eilig und geschickt und stülpte ihm den ganzen Topf mitsamt der Dattelbrühe über den Kopf. Sie lief ihm in die Augen, in die Ohren, in die Nase, in den Mund. Er begann zu schreien, zu husten, zu niesen. Der Topf paßte ihm nur ganz eng auf den Kopf. Er schob und schob, um ihn zu entfernen; das ging sehr langsam. Sein Grimm wuchs, und ich bekam Angst. Ich glaubte, er werde sich dann mit dem Topfe an mir rächen. Ich floh also aus der Küche und versteckte mich. Erst nach langer, langer Zeit getraute ich mich zurück. Tifl war fort; der Topf lag zerbrochen am Boden. Ich las die Scherben auf und gelobte mir, die Dattelbrühe künftig noch viel dünner zu machen, als sie heut gewesen war. Der Nachmittag verging. Die Zeit zum Abendessen kam, aber Tifl nicht. Da wurde ich traurig und nahm mir vor, die Brühe doch nicht dünner zu machen. Am nächsten Morgen war Tifl noch nicht da; am Mittag auch nicht. Da grämte ich mich, denn ich sah ein, daß die Dattelbrühe viel, viel dicker sein müsse. Als dann am Abend und wieder am Morgen ›das Kind‹ immer noch nicht kam, gelobte ich mir, die Brühe noch dicker als den dicken Reis zu machen. Ich weinte. Aber das half nichts, denn früh fehlte Tifl immer noch. Nun erkundigte ich mich nach ihm. Niemand hatte ihn gesehen. Man suchte, aber man fand ihn nicht. Wie ich mich da grämte! Ich suchte die weggeworfenen Scherben wieder zusammen, sah sie traurig an und kam zu dem Entschlusse, sobald er wiederkehre, eine so dicke Dattelbrühe zu machen, daß man sie als Reitsattel auf den Rücken eines Kamels schnallen könne. Das half! Denn kaum hatte ich das gedacht, so kam der Märd-y-Scharab in die Küche gelaufen und meldete ganz außer Atem, daß Tifl gefunden worden sei. Er liege jammernd im Keller und könne nicht herauf, weil er ein Bein gebrochen habe. Weißt du, was ich that, Effendi?«
»Du liefst in den Keller!«
»Ich lief? O, ich glaube, ich bin geflogen! Ja, mein Tifl lag unten. Er war grad wieder nüchtern geworden.«
»Nüchtern? War er denn betrunken gewesen?«
»Wie kannst du fragen! Wenn ihr Männer zornig seid, thut ihr alles, was verboten ist! Der Zorn ist ja schon an sich nichts weiter, als eine Art von Rausch, von Betrunkenheit, und wenn dann so ein vom Zorne berauschtes ›Kind‹ gar noch die Thür des Kellers offen findet, so kann man sich denken, daß es nicht vorübergeht. Tifl war also hinabgestiegen. Du weißt, was er für ein Esser war. Meinst du, daß er nicht trinken konnte? Es lagen zehn oder zwölf leere Flaschen neben ihm.«
»Wie hatte er sie geöffnet!«
»Die Hälse fehlten. Er hatte sie abgeschlagen. Aber wie er das gemacht hatte, das wußte er nicht mehr. Er erinnerte sich nur, großen Durst gehabt und viel, sehr viel getrunken zu haben. Erst später fiel ihm ein, daß er die vielen steilen Stufen heraufgestiegen, aber wieder hinabgefallen sei. Dabei hatte er das Bein gebrochen. Es war ihm unmöglich gewesen, aufzustehen. Er glaubte, daß er dann weitergetrunken habe, bis er eingeschlafen sei. Aber welch ein Schlaf! Erst dem Märd-y-Scharab war es gelungen, ihn durch fortgesetztes Rütteln aufzuwecken.«
»Er wird inzwischen doch zuweilen für kurze Zeit erwacht sein. Stand es gefährlich mit dem Bein?«
»Es war unterhalb des Knies gebrochen und so sehr geschwollen, daß der Hekim, welcher gerufen wurde, sagte, er könne nicht eher etwas thun, als bis diese Geschwulst verschwunden sei. Dadurch ist das Bein kürzer geworden. ›Das Kind‹ hinkt und wird deshalb von vielen Leuten El Aradsch, der Lahme, genannt. Aber eine Schwäche ist nicht zurückgeblieben. Tifl springt und reitet ebenso schnell und ebenso vortrefflich wie vorher, doch Sa ïs konnte er nun als Hinkender unmöglich werden.«
»Ich vermute, du hast ihn gepflegt?«
»Natürlich! Kein anderer Mensch durfte ihn berühren; ich duldete es nicht. Ich war ja schuld an seinem Zorne, in dem er that, was er sonst gewiß unterlassen hätte. Und – und – darf ich dir etwas anvertrauen, Effendi?«
»Warum nicht?«
»So will ich dir sagen: Dieser Unfall hat mich mit meinem Tifl für immer so vereint, daß er mir gehorcht in allen Stücken, außer – außer – wenn er auf dem Pferde sitzt. Dann ist er der Herr; dann habe ich nichts zu sagen, ihm nichts zu befehlen. Er schämt sich noch heute jener Betrunkenheit. Ich brauche sie nur so von weitem zu erwähnen, so thut er alles, was ich will, nur damit ich schweige. Ist das im Abendlande, wo man alles, was man will, trinken darf, ebenso? Ist auch dort der Rausch der Vater und die Betrunkenheit die Mutter so fortgesetzter Scham?«
Welche Antwort hätte ich auf diese Frage wohl geben können! Glücklicherweise wartete Pekala sie gar nicht ab, sondern fuhr in ihrem Eifer sogleich fort:
»Wie dankbar mein Tifl damals war, und wie dankbar er jetzt noch ist! Er haßt und verachtet die Undankbarkeit ebenso wie ich. Wir haben beide einander gesundgepflegt, erst ich ihn und dann er mich.«
»Auch du wurdest krank?«
»O, wie sehr! Nicht mein Körper, sondern meine Seele. Kaum konnte Tifl wieder gehen, so trat der Tod zu uns und nahm mir meinen Vater. Weißt du, was das heißt? Ich hatte nur diese beiden, den Vater und ›das Kind‹, weiter keinen Menschen. Ich hatte nur für diese zwei gelebt. Als Vater tot war, wollte ich auch sterben, wollte ihm nach, wollte zu ihm. Ich weinte und jammerte den ganzen Tag; ich durchwachte alle Nächte. Man lachte über mich; mein Tifl lachte nicht. Aber er gab mir auch nicht Recht. Er schalt mich aus. Da wollte ich über ihn zornig werden, that es aber nicht, denn wir hatten uns mit Hand und Mund versprochen, nie wieder zu zanken, und das hielten wir. Er dachte über den Tod ganz anders als ich. Was sagst du von ihm, Effendi?«
»Es giebt gar keinen Tod,« antwortete ich.
Da schlug sie die Händchen zusammen und rief im Tone der Verwunderung aus:
»Auch du? Auch du? Und doch habe ich gehört, daß man im ganzen Abendlande ebenso fest an den Tod glaube, wie hier bei den muhammedanischen Sunniten und Schiiten! Der Ustad hat uns gelehrt, daß der Tod für ewig besiegt und überwunden sei. Ich glaubte, daß nur er dies sagen und beweisen könne, und nun höre ich, daß du dasselbe denkst! Der Tod war mir ein böser, finstrer Mann, der jeden holt und keinen wiedergiebt. Ich fürchtete mich vor ihm, wünschte aber doch, daß er komme und mich zu meinem Vater führe, denn ich liebte diesen mehr, viel mehr, als ich das Sterben fürchtete. War das klug oder thöricht, Effendi?«
»Keines von beiden! Aber du glaubst, damals über den Tod anders gedacht zu haben als jetzt?«
»Ja.«
»Nun, so sag: Was glaubst du jetzt?«
»Daß es keinen giebt, ganz so wie du.«
»Und damals?«
»Daß es einen giebt.«
»Du irrst. – Du glaubtest schon damals nicht daran.«
»Nicht? Effendi, das muß doch ich wissen, nicht aber du!«
»Du hast es doch selbst gesagt!«
»Wann?«
»Soeben! Du hast gewünscht, daß der Tod komme und dich zu deinem Vater führe. Kann es da einen Tod geben? Nämlich in deinen Gedanken!«
»Gewiß! Ich wünschte ihn ja herbei!«
»O Pekala, o Pekala!«
»Du lächelst? – Warum?«
»Der Tod soll dich zu deinem Vater führen. Wenn er das kann, so giebt es deinen Vater noch?«
»Natürlich!«
»Und wenn er dich zu ihm bringen soll, so bist auch du noch vorhanden?«
»Ja.«
»Also ihr beide, du und dein Vater, seid noch da?«
»Ja. Ich komme zu ihm!«
»So seid ihr aber doch nicht tot!«
Da machte sie eine Geberde des Erstaunens und rief aus:
»Maschallah! Das ist richtig! Du hast mich gefangen!«
»Nicht dich habe ich gefangen, sondern etwas ganz anderes! Denke weiter! Wenn ihr nach dem Tode nicht tot seid, giebt es doch gar keinen Tod!«
»Diesen Gedanken begreife ich. Aber man stirbt doch!«
»Ist dieses Sterben ein Aufhören, ein vollständiges Vernichtetsein?«
»Nein. Es bringt vielmehr das wahre, rechte Leben. So sagt der Ustad.«
»So sage auch ich; so sagst auch du, und so hast du stets gesagt, auch damals, als du dich nach dem Tode sehntest. Nur dies wollte ich dir beweisen. So reden Tausende und Abertausende vom Tode, ohne zu wissen, daß sie ihn mit ihren eigenen Worten aus dem Dasein streichen. Als der Mensch zum erstenmal von dem Tode sprach, wurde er, der Tod, im Menschengehirn geboren; aber es war das eine Totgeburt. Und die Gedankenleiche dieses Totgebornen hat man durch Millionen Gehirne und durch Jahrtausende bis auf den heutigen Tag weitergeschleppt und wird sie noch durch die folgenden Jahrhunderte zerren, ohne einzusehen, daß man alle diese lächerliche Furcht und Mühe auf einen Korkuluk verwendet!«
»Korkuluk! So ähnlich sagte damals auch mein Tifl.«
»Wie? Er, der junge Mensch?«
»Warum nicht, Effendi? Bedenke doch, daß unser Ustad sich bereits fünfzig Jahre bei den Dschamikun befindet! Was er glaubte und dachte, davon hat er die Alten überzeugt, und diese haben es den Jungen, den Kindern, überliefert. Weißt du, in welcher Weise das geschieht? Ganz so, wie mein Tifl mit mir that, als ich ihm sagte, daß ich sterben wolle. Es giebt im ganzen Duar kein einziges Kind, welches auf einen solchen Wunsch nicht sofort antworten würde, daß er ja gar nicht in Erfüllung gehen könne. Darf ich dir erzählen, wie Tifl zu mir sprach?«
»Ja, sage es mir!«
Da trat sie näher zu mir heran, kauerte sich in orientalischer Weise vor mir nieder, zog den weißen Schleier so um sich, daß nur ihr liebes Angesicht und die beiden Händchen aus demselben vorschauten, und begann:
»Es war am Abend; draußen vor der Küche, wo die Tarfasträucher ihre langen, niedlich blühenden Zweige über mich senkten, als ob sie Erbarmen mit meiner Trauer hätten, denn ich weinte leise vor mich hin und wünschte mir den Tod. Da kam Tifl, ebenso leise, leise, denn mein Schluchzen war ihm heilig. Er lehnte sich neben der Tarfa an die Mauer und sagte lange, lange nichts, kein Wort. Kein Laut war ringsum zu hören; in mir nur sprach die Sehnsucht nach dem Tode fort und fort in trostlosen Klagelauten. Da plötzlich ertönte die Stimme ›des Kindes‹ neben mir, halblaut, langsam, feierlich. Wie klang sie doch? Ganz anders als wie sonst! So hoch von oben! Als ob eine gütige Fee aus ›Alif leïla wa leïla‹ da über den Zweigen schwebe und von ihrer schönen, lichten Heimat zu mir sprechen wollte. Meine Tränen stockten. Ich lauschte.«
Pekala machte eine Pause. Ihre Augen suchten das nahe Rosengebüsch. Sie sann. Welch einen Ausdruck hatte jetzt ihr Gesicht! Als ob die Fee jetzt wieder bei ihr sei und ihr mit lieber Hand verschönernd und durchgeistigend über die Wangen gestrichen habe! Dann fuhr sie fort:
»Es kam ein Sonnenstrahl zum Monde nieder
Und hielt mit seinem Glanze bei ihm Rast,
Doch mit der Morgenröte ging er wieder
Und wurde dann der Erde Tagesgast.
Da sprach der Mond: Was soll ich um ihn trauern?
Ein Scheiden giebts im Licht, doch keinen Tod.
Es wird nur wenig, wenig Stunden dauern,
Da kehrt der Freund zurück im Abendrot!«
Sie schwieg und sah mich eigentümlich fragend an. Ich muß gestehen, daß ich zögerte, zu sprechen. Das war nicht, wie ich erwartet hatte, ein orientalisches Märchen, keine heidnische Sage, kein christliches Gleichnis. Wie sollte ich es nennen, wie rubrizieren? Aber war es denn so außerordentlich notwendig für mich, der nun sofort mit irgend einem Schema herbeistürzende Abendländer zu sein? Die Strophe wirkte ganz genau so, wie es der Dichter beabsichtigt hatte. Wer aber war dieser Dichter? Sie hatte von der Art und Weise des Ustad gesprochen, auf seine Leute einzuwirken. Geschah es vielleicht durch solche Gedichte, welche selbst von der Jugend sehr leicht verstanden und auswendig gelernt werden konnten?
»Hast du gehört, was ich gesprochen habe?« fragte sie, als ich so lange still war und nichts sagte.
»Jawohl, meine liebe Pekala,« antwortete ich.
»Und auch verstanden?«
»Gewiß.«
»Ich kann es nicht so sagen, wie es damals klang. Man muß die Augen voller Thränen um einen lieben Abgeschiedenen haben, um es so zu hören, wie es gehört werden soll. Und es muß mit einer Stimme gesprochen werden, die aus einem so kindlich gläubigen Herzen klingt, wie dasjenige meines Pfleglings damals war und heute noch ist und immer bleiben wird. Er fügte nichts hinzu, kein Wort, kein einziges. Er lehnte noch einige Zeit still an der Mauer und ging dann fort, so leise, leise wie er gekommen war. Ich aber saß noch lange, lange unter den überhängenden Tarfazweigen, und es wurde ruhig und immer ruhiger in mir. Meine Thränen hatten aufgehört zu fließen; meine Todessehnsucht schwieg. Ich sah durch die langen, feinen Blütenrispen hindurch den Mond am Himmel stehen. Der Sonnenstrahl war bei ihm: ich sah ihn leuchten. Unten bei mir, auf der Erde, war es dunkel. Aber morgen, morgen wird alles, alles um mich her im Sonnenglanze strahlen. Auch der Strahl ist dabei, den ich liebe, nach dem ich mich sehne. Oh, Effendi, Effendi, ob mein Auge dann wohl so geöffnet ist, daß ich im stande bin, ihn zu erkennen?«
Ich sah sie an und mußte mir Mühe geben, ihr nicht merken zu lassen, daß ich über sie staunte. War das noch die »festjungfräuliche« Köchin, die mir beinahe lächerlich vorgekommen war? In welchem Lichte erschien mir jetzt ihr ewig langer »Tifl«, den ich für einen Schwachkopf gehalten hatte! Hatten etwa die Bewohner des »hohen Hauses« alle zwei verschiedene geistige Gestalten? Muß man aus Europa zu den verachteten Kurden gehen, um Menschenseelen entdecken zu lernen? Sieht man nicht, so oft man eine solche Entdeckung macht, daß jeder Mensch eigentlich zu zweien ist? Warum wurde es mir hier so leicht, daheim aber so schwer gemacht, das zu erkennen, was der Scheik der Haddedihn »nicht den Hadschi, sondern den Halef« nannte? Ich riß mich von diesen Gedanken los, denn ich sah, daß Pekalas Augen betrachtend auf mich gerichtet waren.
»Wo hatte das ›Kind‹ den Gedanken her, dir grad mit diesem Gedichte den beabsichtigten Trost bringen zu können?« fragte ich.
»Die Liebe sagte es ihm, Effendi. Hast du noch nie bemerkt, daß die wahre, wirkliche Liebe stets das Richtige trifft? Es war nach dem Tode des Vaters nun zum erstenmal, daß ich ruhig und ununterbrochen bis zum Morgen schlief. Als ich erwachte, war ich ernst, doch weinte ich nicht mehr. Wenn eine Thräne emporsteigen wollte, dachte ich an den Sonnenstrahl, der nicht stirbt, sondern strahlend wiederkehrt. Und es geschah auch sehr bald, daß ich keine Zeit mehr hatte, mich der Trauer hinzugeben. Der Vater war tot; man brauchte mich nicht mehr. Was sollte ich thun? Wo sollte ich hin? Tifl ging nun lahm. Er konnte nicht Sa ïs werden. Man beschloß, ihn als unbrauchbar zu den Dschamikun zurückzuschicken. Da geschah es, daß unser Pedehr nach Teheran kam, um nach seinen Leuten zu sehen, welche bei der Leibgarde des Beherrschers standen. Er schaute auch nach Tifl, und dieser erzählte ihm von mir. Da ließ er mich zu sich kommen. Hast du gesehen, wie schön, wie gut seine Augen sind? Er richtete sie auf mein Angesicht, als ob er mir durch Leib und Seele schauen wolle. Dann fragte er mich, ob es mir recht sei, ›mein Kind‹ zu den Dschamikun zu begleiten und dort zu bleiben, so lange es mir gefalle. Wie glücklich mich das machte! Ich nahm sie an, die neue Heimat, die mir so lieb geboten wurde. Ich mag sie nicht verlassen, so lange, als ich lebe, und da es keinen Tod giebt, ist es mein allergrößter Wunsch, dann einst wie jener Sonnenstrahl zu sein, der mir gesagt hat, daß ich niemals sterben werde.«
Sie schlug den Schleier wieder auseinander und stand auf.
»Ich habe eine Bitte, Effendi,« sagte sie. »Wirst du sie mir erfüllen?«
»Gern, wenn ich kann.«
»Du kannst es, wenn du willst. Sei ein wenig lieb und gut zu ›meinem Kinde‹! Verzeihe ihm seinen heutigen Irrtum! Seine allergrößte Freude ist die Dankbarkeit, und diese Freude wirst du ihm bereiten, wenn du die Güte hast, ihn freundlich zu beachten.«
»Es bedarf dieser deiner Bitte nicht, meine gute Pekala. Wenn ich so weit gekräftigt bin, daß ich mich wieder in den Sattel setzen darf, werde ich hier täglich einen Ausflug unternehmen. Er kennt die Gegend und ist, wie ich gesehen habe, ein vortrefflicher Reiter. Darum soll er mich begleiten. Sage ihm das!«
»Wie wird er sich darüber freuen! Ich sage dir meinen Dank dafür, ja, den meinigen, denn ich bin stolz darauf, daß du keinem Andern diesen Vorzug giebst, als grad ›dem Kinde‹, welches ich erzogen habe!«
Sie legte die Hände auf der Brust zusammen, verbeugte sich und ging. Ich schaute ihr nach, bis sie jenseits der Gartenthür verschwand. Welch ein eigenartiges, psychologisch höchst interessantes Verhältnis zwischen diesen beiden Menschenkindern – Pekala und Tifl! Ist unsere sogenannte Psychologie überhaupt imstande, eine solche seelische Zusammengehörigkeit genügend zu erklären? Was ist die Seele? Wo ist die Seele? Welcher Art ist ihre Verbindung mit dem Leibe? In welcher Weise wirkt sie auf unsere körperlichen und geistigen Organe ein? Wir sprechen täglich, ja stündlich von ihr; aber man zähle doch einmal alles, alles auf, was man von ihr weiß! Wer darf behaupten, daß er sie kenne? Wer hat sie begriffen. Wer hat die Thür zum Prüfungssaale geöffnet, sie in ihrer ganzen, großen, herrlichen Identität eintreten lassen und gesagt: »Das ist die Seele des Menschen. Sie steht schon seit Jahrtausenden bereit, euch jede Auskunft zu erteilen; ihr aber habt eure Erkundigungen nur an euch selbst, doch nicht an sie gerichtet. Ihr habt in euch selbst hineingesprochen und darum nicht ihre, sondern nur eure eigene Antwort gehört. Nun bringe ich sie euch. Woher? Das wißt ihr nicht? Habt ihr den Mut, sie zu fragen, wer sie ist? Dann fragt sie nicht nach ihr, sondern nur nach euch. Sie hat nur eine einzige Antwort, die sie giebt, und diese Antwort seid – ihr selbst!« –
Hanneh, welche bei Halef war, ließ sich zuweilen unter dem Bogen der Halle sehen, um mir lächelnd zuzunicken. Einmal aber stieg sie die Stufen herab, kam zu mir her und sagte:
»Er schläft und nimmt, ohne dabei aufzuwachen, die Nahrung ein, die ich ihm von Zeit zu Zeit gebe. Ist das gut?«
»Ja,« antwortete ich. »Er schluckt den dünnen, aber stärkenden Trank ganz unwillkürlich. Bist du um etwas besorgt, so frage den Pedehr! Seine Auskunft ist zuverlässiger als die, welche ich dir geben kann.«
Als die Sonne verschwunden war, versuchte ich, mit Hilfe des Stockes die Treppe hinaufzusteigen. Es gelang. Ich brachte es sogar fertig, dann noch in die Halle hinein und bis hin zu Halef zu gehen. Dort setzte ich mich für einige Augenblicke nieder. Sein Gesicht sah nicht mehr mumienfarbig aus. Es war von jenem Lebenstone überhaucht, welcher mit Sicherheit darauf schließen läßt, daß das vorher stockende Blut seinen Kreislauf wieder begonnen hat. Sonderbar! Liegt wirklich eine befehlende Kraft im Blicke des menschlichen Auges? Zwei Personen: die eine schläft; die andere schaut ihr in das Angesicht und denkt dabei, ob sie wohl erwachen werde. Der Schläfer sieht das nicht. Seine Augen sind geschlossen. Wer in ihm ist es, der aber doch den Blick bemerkt und auch den Gedanken versteht? Denn gar nicht lange, so beginnt der Schläfer, sich zu regen. Besitzen alle Menschen diesen Einfluß? Oder nur einige?
Halef regte sich. Er wendete mir sein Gesicht langsam zu.
»Sihdi!« hauchte er.
Weiter war nichts zu hören. Ein leises, liebes Lächeln spielte um seine Lippen.
»Er ahnt, daß du hier bist,« flüsterte Hanneh mir zu. »Oder meinst du, daß er dich gesehen hat? Seine Augen sind aber doch fest geschlossen!«
»Hast du nur geahnt, daß er meinen Namen sagte?« fragte ich sie, natürlich ebenso leise.
»Geahnt? Nein. Er sagte ihn doch wirklich.«
»Von ihm aber soll es nur Ahnung sein, daß ich hier bei ihm bin? Er weiß es wirklich!«
»Woher? Von wem? Er sah dich nicht!«
»Kann man nur dann sehen, wenn man die Lider öffnet? Schließ deine Augen, Hanneh, und versetze dich in das Lager des Haddedihn?«
»Ich thue es,« nickte sie, indem sie die Augen zumachte.
»Ich sehe es.«
»Deutlich?«
»Ja, ganz genau so, wie es ist. Der Vorhang ist zurückgeschlagen; der helle Teppich glänzt heraus; mein Hündchen sitzt darauf. Im Nebenzelte bäckt man Brot. Ich sehe den dünnen Rauch, und ich rieche – ja, Sihdi, ich rieche, daß der Teig sich schon zu bräunen beginnt. Ich rieche es wirklich, gewiß, wahrhaftig! Ist das nicht sonderbar?«
»Nein, gar nicht sonderbar! Deine Seele war jetzt dort! Wer das nicht begreift, der nennt es Phantasie.«
»So war diese meine Seele jetzt nicht hier bei mir?«
»Doch!«
»Und sie soll zu gleicher Zeit auch dort im fernen Lager der Haddedihn gewesen sein? Das begreife ich nicht!«
»Ich will es dir erklären. Schau durch den mittlern Bogen, zum See und bis zum letzten Hause des Duar. Was siehst du dort?«
»Ein Mann steigt von dem Hause hinunter nach dem Wasser.«
»Steig mit ihm hinab!«
»Ich thue es. Jetzt ist er unten. Er wirft das Obergewand ab, um sich zu waschen.«
»Wo bist du jetzt, Hanneh?«
»Hier.«
»Warst du nicht soeben auch dort bei diesem Mann?«
»Ja, das war ich, doch aber mit dem Körper nicht. Es war mein Blick.«
»Nur dein Blick? Hast du nicht zu ganz derselben Zeit gesehen und zugleich gedacht?«
»Allerdings!«
»Wer war es, der sah? Wer war es, der dachte? Wo wurde gesehen? Hier oder am See? Wo wurde gedacht? Dort oder in dieser Halle? Wer ging mit dem Manne hinab? Wer zählte vielleicht sogar die Schritte und die Stufen? Wer fühlte es leise mit, wenn sein Fuß sie berührte?«
»Ich!«
»Aber du dachtest doch soeben, daß du nur hier, nicht aber dort gewesen seist!«
»Maschallah! Ich war auch dort, wirklich dort! Wenn ich die Augen offen habe, kann meine Seele nur so weit gehen, wie mein Blick reicht. Aber wenn ich sie schließe, so ist sie frei und kann so weit gehen, wie es ihr beliebt. Wie ist das zu erklären?«
»Denke selbst darüber nach! Es giebt Dinge, über welche man nur mit sich selbst fertig zu werden hat. Ich kann dir ebensowenig helfen, sie zu begreifen, wie ich dir behilflich sein kann, daß sich dein Körper aus den Speisen bilde, welche du genießest. So gebe ich dir Nahrung für den Geist und für die Seele; verdauen aber kannst du sie nur selbst. Du bist eine einsichtsvolle, kluge, wißbegierige Frau, meine gute Hanneh. Mit einer andern würde ich niemals über diesen schwierigen Gegenstand sprechen. Und es giebt auch noch einen andern, viel, viel triftigeren Grund, daß ich es thue.«
»Welcher ist das, Effendi?«
»Errätst du ihn nicht?«
»Nein.«
»Das wundert mich.«
»Sage ihn nur!«
»Denke an das, worüber du mich zuletzt fragtest, ehe ich mit deinem Hadschi Halef Omar diese Reise antrat!«
»Erlaube, daß ich mich besinne!«
Sie dachte nach. Dann blickte sie schnell und überrascht zu mir her und sagte:
»Jetzt weiß ich es! Ich war betrübt über die angebliche Seelenlosigkeit der Frauen und wendete mich mit der Bitte um Auskunft an dich. Ist es das?«
»Ja.«
»Halef war trotz seiner Liebe zu mir stets überzeugt, daß die Frauen keine Seelen haben und also auf die Himmel Allahs verzichten müssen. Das betrübte mich. Du aber gabst mir Trost. Ich werde dir das nie vergessen!«
»Damals gab ich dir Trost. Was aber heut?«
»Mehr, viel mehr, nämlich Ueberzeugung!«
»Sogar den Beweis!«
»Ich sagte damals, daß du mir die Seele gegeben habest. Jetzt aber hast du noch mehr gethan: du hast sie mir gezeigt. Ich weiß jetzt, daß sie da ist, in mir oder außer mir, vielleicht auch beides. Sie kann mit meinen Augen sehen; sie kann auch sehen ohne sie. Ich bin diese meine Seele, aber ich bin sie doch nicht ganz. Und hinwiederum ist diese meine Seele Hanneh, aber sie ist es auch nicht ganz. Sie ist etwas, was ich bin, und sie ist noch etwas, was ich nicht bin. Was und wo ist das aber, was sie ohne mich ist? Du siehst mich so verwundert an, Effendi. Warum?«
»Wegen dieser deiner Gedanken.«
»Sind sie falsch?«
»Oh nein! Aber ich habe solche Worte noch nie aus dem Munde einer Frau gehört!«
»Weil euern Frauen nicht gesagt wird, daß sie keine Seele haben. Sie sind also nicht gezwungen, sich zu grämen und über diesen angeblichen Mangel nachzudenken. Mich aber hat die Trauer darüber, daß mir die Seele abgesprochen wurde, veranlaßt, über sie nachzudenken. Und auch dann noch, als du mich getröstet und beruhigt hattest, habe ich in jeder ungestörten Stunde und gar manche ganze Nacht hindurch in mir gesucht, ob sie sich wohl offenbaren werde. Es geschah aber nicht. Dann kam ich hierher. Mein armer, kranker Halef liegt vor mir, bald wach und bald wieder ohne Bewußtsein. Ich beobachte ihn. Ich suche nach seiner Seele. Ist sie da, wenn er erwacht? Ist sie da, wenn er in halber Betäubung leise Worte redet? Wo ist sie, wenn ihm für lange, lange Zeit die Besinnung fehlt?«
»Und vor allen Dingen, wo ist die deinige, Hanneh? Wo ist sie jetzt?«
Da schaute sie mich verwundert an.
»Doch wohl hier, bei mir, in mir!« antwortete sie. »Oder ist sie es nicht, die jetzt mit meinem Munde zu dir spricht?«
»Die Antwort auf diese deine Frage ist doch leicht!«
»Für mich ist sie so schwer, daß ich sie nicht finden kann.«
»So bitte ich dich, zu überlegen! Denke dir, daß du eine Freundin suchst, welche du finden willst! Bist du selbst etwa diese Freundin?«
»Nein.«
»Oder ist sie da?«
»Auch nicht. Denn wäre sie da, so würde ich sie doch nicht suchen, Effendi.«
»Du sprichst von ihr. Sind das deine oder ihre Worte?«
»Die meinigen.«
»Richtig! Nun aber suchst du nach deiner Seele. Du sprichst von ihr mit mir, eben jetzt, in diesem Augenblick. Kann sie es sein, die mit mir redet?«
»Nein. Sie ist nicht ich, sondern wir sind ich und sie. Aber wer ist es, der sich jetzt meiner Lippen bedient, um von ihr zu sprechen?«
»Das ist Hanneh, die sich nach Allahs Himmel sehnt, der keinem Menschengeiste offen steht, wenn ihn nicht seine Seele aufwärts leitet. Sie kennt den Weg, denn sie ist bei Allah daheim. Nicht so der Geist, der nichts anderes weiß und nichts weiter anerkennt als nur das, was nicht über seine irdischen Begriffe geht.«
»So meinst du also, daß Seele und Geist verschiedene –«
Sie hielt inne, denn Schakara kam zur Thür herein. Sie hatte mit ihr zu sprechen und winkte sie von Halefs Lager zu sich hin. Ich ging hinaus, vor die Säulen, wohin inzwischen meine Kissen nach dem gewohnten Platz geschafft worden waren. Dort setzte ich mich nieder.
Ein Beduinenweib! Wie rührend dieses angstvolle Suchen nach jenem geheimnisvollen Wesen, dessen Hand uns den Schlüssel zu dem Menschheitsrätsel bietet, ohne daß wir uns die Mühe geben, seinen Flügelschlägen so zu lauschen, daß wir den rechten Augenblick erfassen könnten, den Schlüssel zu ergreifen. Der Orientale besitzt mehr Hinneigung zum Metaphysischen, als der Abendländer. Es darf darum nicht wunder nehmen, daß Hanneh, die nach unseren Begriffen fast gänzlich Ungebildete, der aber neben einem ungewöhnlichen Wissensdrange der leicht und schnell auffassende Scharfsinn verliehen war, ein so lebhaftes Interesse für Dinge besaß, welche jenseits des Bereiches unserer körperlichen Sinne liegen. Sie hatte schon in äußerer Beziehung Seltenes erlebt und darum war auch ihr inneres Leben reich gestaltet. Für eine Frau von ihren Eigenschaften lag es nahe, sich über die Gesetze dieses Innenreiches klar zu werden. Und da man Alles, was sich auf dasselbe bezieht, »seelisch« zu nennen pflegt, so hatte sie eben die »Seele« zum besonderen Gegenstande ihres Nachdenkens gemacht. Freilich waren ihre Gedankenwege ganz andere, als sie der nüchterne Occidentale einzuschlagen pflegt, der ja von seinen Zielen und Idealen verlangt, von gleicher Nüchternheit wie er selbst zu sein, doch pflegt ja wohl ein Jeder gern zu behaupten, daß nur der von ihm eingeschlagene Weg der einzig rechte sei. Wohl dem, der vorwärts kommt! Wer aber, weil er den Wald wegen der vielen Bäume nicht sieht, vor lauter topographischer Gelehrsamkeit im Dickicht stecken bleibt, dem ist allerdings ein nüchternes Ueberlegen anzuraten, falls er wirklich wünscht, endlich einmal in das Freie zu gelangen. –
Um die Kuppen der Berge spielte jener sanfte, abschiednehmende Schimmer, welcher der kurzen Dämmerung voranzugehen pflegt, weil er der Scheidegruß der fernen Abendröte ist, da lenkte der Schall von Hufschlag mein Auge dem Thore zu. Kara und Tifl kehrten zurück. Bei ihnen waren der Scheik der Kalhuran und sein Weib, die ich nicht kannte. Schakara hatte das Pferdegetrappel auch gehört. Sie kam aus der Halle. Als sie die Frau Hafis Arams erblickte, stieß sie einen Ruf der Ueberraschung aus und eilte die Stufen hinunter, um sie zu begrüßen. Der Scheik fragte, sobald er abgestiegen war, wo der Pedehr zu finden sei, und wollte sich zu ihm führen lassen. Er kam nach der Halle herauf, erreichte mich aber nicht ganz, sondern sank auf der Mitte der Treppe nieder und schloß die Augen. Seine Frau kniete mit Schakara erschrocken neben ihm nieder und nahm seinen Kopf in ihren Arm.
»Ich kann nicht mehr!« sagte er, ohne daß er die Augen öffnete. »Tragt mich hinein!«
Tifl eilte fort und kam sehr schnell mit einigen Kurden zurück, welche den vor unerträglichem Schmerz fast Ohnmächtigen durch die Halle in das Innere des Hauses trugen. Die andern gingen mit. Kara allein blieb da. Ich fragte ihn, wer die Beiden seien, die mit ihm gekommen waren. Er ging zunächst hinein, um nach seinem Vater zu sehen, und kam dann, mir meine Frage zu beantworten, mit seiner Mutter wieder heraus. Sie setzten sich zu mir, und dann begann er, sein interessantes Erlebnis zu erzählen.
Er berichtete sehr sachgemäß und bescheiden. Es fiel ihm nicht ein, seine Person hervorzuheben. Wenn es einer besonderen Betonung der Person bedurfte, so ließ er diesen Ton vielmehr nicht auf sich sondern auf Tifl fallen. Freilich gelang es ihm nicht, in ruhigem Zusammenhange zu sprechen. Zwar ich hörte ihm zu, ohne ihn zu stören, aber seine Mutter unterbrach ihn mit ungezählten Fragen und Bemerkungen. Ihr Liebling hatte ja etwas sehr Wichtiges erlebt, etwas, was Hadschi Halef Omar, wenn er jetzt bei uns gewesen wäre, ganz unvermeidlich eine »Heldenthat« genannt hätte, und diese That mußte natürlich in mütterlichem Stolze von allen Seiten auf das sorgfältigste beleuchtet werden. Als er geendet hatte, sah sie mich an und fragte:
»Du hast gehört, oh Sihdi, was er, die Wonne meiner Augen, uns erzählte. Nun sag, was du an seinem Verhalten auszusetzen hast!«
»Nichts,« antwortete ich.
»Wirklich nichts?«
»Nein.«
»Glaubst du, daß sein Vater, mein guter Hadschi Halef Omar, derselben Meinung sein würde?«
»Ja.«
»Ich danke dir! Denn das ist eine Anerkennung, welche gar nicht größer sein könnte! Bedenke doch, wie jung er ist. Ihr beide aber seid erfahrene Männer. Wenn er so gehandelt hat, wie ihr selbst gehandelt hättet, und du sagst ihm das, so ist das ein Lob, zu dem ich nichts hinzuzufügen habe. Für die Sorge aber, welche die Mutter um ihn hegt, ist er doch wohl etwas zu verwegen gewesen. Man soll Mut und Tapferkeit besitzen; aber man braucht sich doch nicht so mit aller Gewalt der Gefahr auszusetzen.«
»Hat er das gethan?«
»Ja.«
»Inwiefern?«
»Insofern, als er so offen gesagt hat, daß er der Gast der Dschamikun sei. Es wäre besser gewesen, wenn er das verschwiegen hätte. Dann hätten sie ihn nicht als ihren Gefangenen betrachten dürfen.«
»Es ist in Wirklichkeit ja gar nicht dazu gekommen, daß man ihn als solchen behandelt hat.«
»Aber man hätte es sehr leicht thun können! Man war ja berechtigt, ihn sofort zu töten, und da er keine anderen Waffen als sein Messer besaß, hätte er sich gar nicht dagegen wehren können.«
»So schnell geht das nicht!«
»In der Regel nicht. Jedem Blutgerichte pflegt eine Verhandlung vorauszugehen. Aber du weißt ja ebenso gut wie ich, daß es keine Regel giebt, die nicht ihre Ausnahmen hat. Du hast Kara gelobt, und ich stimme in dieses Lob so gern mit ein; dabei aber habe ich seine allzu große Kühnheit zu tadeln, ohne zu berücksichtigen, ob du dich an diesem Tadel beteiligst oder nicht. Er mußte unbedingt verschweigen, daß er jetzt zu den Dschamikun gehört.«
»Das hätte, wie er ja selbst ganz richtig gesagt hat, ihn zu Lügen führen müssen.«
»Lügen! Giebt es nicht Notlügen?«
»Für mich nicht.«
»Freilich giebt es die. Man wird durch die Not dazu getrieben, und darum sind sie erlaubt!«
»So sagt man. Aber grad daß es Notlügen gebe, das ist die größte aller Lügen. Ich nenne sie anders.«
»Wie?«
»Feigheitslügen! Es ist gar nicht schwer, sich bei jeder Lüge, die man macht, einen zwingenden Grund zu denken, den man dann als ›Not‹ bezeichnet. Aber nicht diese größere oder geringere Not ist es, welche zu der Lüge zwingt, sondern die Feigheit, mit welcher man vor ihr die Flucht ergreift, verhindert den furchtsamen Menschen, die Wahrheit offen zu bekennen. Es giebt keine Not, und wäre es sogar der Tod, die so groß wäre, daß die Folgen der Notlüge nicht noch weit über sie hinauswachsen könnten. Das hat unser Kara trotz seiner Jugend eingesehen, und darum ist es zwar sehr tapfer, aber noch vielmehr klug von ihm, daß er sich so fest vorgenommen hat, niemals, und würde er auch noch so sehr zu ihr gedrängt, eine Lüge zu sagen.«
»Aber wenn er sich nun durch sie das Leben retten kann? Sein Leben gehört doch nicht ihm allein, sondern auch mir und seinem Vater und uns allen. Er hat alles, alles zu thun, um es sich und uns zu erhalten!«
»Giebt es irgend eine Lüge, von der er ganz bestimmt voraussagen könnte, daß sie es ihm retten werde?«
»Da fragst du mich zu viel, Effendi. Es ist ja bei jeder Lüge möglich, daß sie sofort erkannt und durchschaut wird.«
»Sehr richtig! Und wird sie durchschaut, so verschlimmert sie nur die Lage. Sie verzehnfacht das Mißtrauen und verstärkt die Gefahr, die man durch sie vermeiden will. Das ist aber noch das Geringste, was ich gegen sie zu sagen habe. Die Lüge, auch die Notlüge, ist eine Mörderin. Sie tötet die Selbstachtung. Und geradezu fürchterlich ist es, daß der Lügner gar nicht bemerkt, daß er diesen Selbstmord fortgesetzt an sich begeht. Grad er setzt gern und stets den höchsten Trumpf auf seine Ehre. In Wirklichkeit aber fühlt er gar wohl, daß sie ihm vollständig fehlt. Das macht ihn ungewiß und mißtrauisch gegen andere. Der Glaube an sie geht ihm verloren. Er verliert das Vertrauen zur Menschheit durch seine eigene Schuld, durch seine eigene Lügenhaftigkeit. Er hat das moralische Band, welches ihn mit allen vereinigte, freventlich zerrissen und muß an jedem Augenblicke gewärtig sein, als rechtsloser Mensch, als Ausgestoßener behandelt zu werden.«
»Wie du das sagst, o Effendi, klingt es schlimm!«
»Jawohl! Aber auch das ist noch das Schlimmste nicht. Das Allerschlimmste an der Lüge sind die fliegenden Samen.«
»Fliegende Samen? – Wie meinst du das?«
»Es giebt Pflanzen, welche, wenn sie ausgeblüht haben, in ihren Kronen hunderte von kleinen, leichten Körnchen erzeugen, die alle mit einem weißen, federfeinen Schirmchen versehen sind. Ein jeder Lufthauch, der so ein Schirmchen faßt, nimmt den daran befindlichen Samen mit sich fort, und da, wo er ihn fallen läßt, entsteht eine neue Pflanze. So ein Gewächs kann durch diese Art der Verbreitung in kurzer Zeit für eine ganze Gegend verderblich werden. Das Unkraut verbreitet sich so, daß es nur mit der größten Anstrengung wieder auszurotten ist.«
»Und so thut es auch die Lüge?«
»Ja. Sie ist grad dann am gefährlichsten, wenn sie nicht entdeckt wird, wenn der Lügner seinen Zweck erreicht hat, wenn die sogenannte Notlüge die Not scheinbar beseitigt hat. Da gedeiht die Lüge in größter Heimlichkeit. Niemand sieht sie stehen. Niemand vernichtet sie. Nur der Lügner kennt sie. Er pflegt und hegt sie. Er sorgt dafür, daß kein Mensch sie bemerkt. Er sieht darauf und freut sich darüber, daß alle ihre Folgen und alle ihre Samen sich entwickeln. Sind diese Folgen reif, so bleiben sie nicht an Ort und Stelle; sie werden fortgetragen. Oft nicht weit, oft aber auch in große Ferne. Dort lassen sie sich nieder und beginnen zu wachsen und sich zu vermehren. Die Lüge treibt tausend neue Blüten, die alle, alle wieder Lügen sind, deren Samen dann weitergetragen werden, hierhin und dorthin, in Masse aber besonders auch wieder dorthin zurück, wo die erste stand und so gute Pflege fand. Der Same dieser ersten fiel auch in die Nähe. Er fand den besten Boden. Er wuchs und wuchs und brachte immer neue Pflanzen. Der Lügner hat, nachdem ihm die erste Lüge gelang, nicht wieder nachzusehen. Jetzt kommt er hin und sieht zu seinem Schreck, daß seine Unwahrheit zum Unkraut geworden ist, welches alles Gute überwuchert. Die Nachbarn werden laut, die ferner Wohnenden auch. Man fragt; man forscht, und man entdeckt die Herkunft dieses Uebels. Da ist es nun um ihn für alle Zeit geschehen. Verstehst du mich, Hanneh?«
»Beinahe,« antwortete sie.
»Ja, das Unkraut kann man freilich stehen sehen, die Lüge aber nicht, weil sie keinen Körper hat. Aber ihr Gift verpestet nicht bloß die Gedanken, sondern auch die Worte und Thaten, und diesen ist es deutlich anzumerken, daß sie bei Lug und Trug entstanden sind. Man nennt die Lüge einen häßlichen Schandfleck an dem Menschen; aber sie ist noch mehr: Sie ist die Mutter aller Uebel, die es giebt. Es giebt wohl keine Missethat, welche nicht durch die Lüge vorbereitet oder wenigstens begleitet wird. Hanneh, meine Freundin, ich sage dir, daß Kara recht gehandelt hat, als er die Wahrheit sagte. Oder glaubst du, daß man einer Lüge geglaubt hätte?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Ganz gewiß nicht! Er kam aus der Gegend der Dschamikun. Wäre er so feig gewesen, sie zu verleugnen, so wäre das Mißtrauen der Perser für ihn schädlicher geworden als die Wahrheit, die er ihnen so offen und ehrlich sagte. Sie nannten ihn dieses Mutes wegen »toll«. Sie hielten ihn für einen unbedachtsamen, leichtsinnigen Menschen, mit dem sie leichtes Spiel zu haben glaubten. Nur darum unterließen sie jene Vorsichtsmaßregeln, welche sie im andern Falle ganz gewiß getroffen hätten. Der Scheik der Kalhuran hat es vor allen Dingen der Wahrheitsliebe Karas zu verdanken, daß er gerettet worden ist. Eine Notlüge aber hätte diese Rettung höchst wahrscheinlich ganz unmöglich gemacht. Oder meinst du, hieran noch zweifeln zu müssen, wie du vorhin thatest?«
»Nein. Du hast mir ja bewiesen, daß ich unrecht hatte. O, Sihdi, ich bin keine Lügnerin; gewiß bin ich das nicht; aber so häßlich und so schädlich, wie du es jetzt beschrieben hast, habe ich mir die Lüge doch nie gedacht. Ich habe mich stets vor ihr gehütet, denn ich war zu stolz, mich mit ihr abzugeben; nun aber ist sie für mich ebenso wie für Kara, meinen Sohn, zur Unmöglichkeit geworden. Man töte mich; aber lügen werde ich nie! Geschlagen, geprügelt ist der Scheik der Kalhuran worden! Und dann die lange Flucht! Der schnelle Ritt! Die Sorge, angegriffen zu werden! Die Angst, nicht um sich, aber um sein Weib! Was muß er ausgestanden haben! – Hat er geklagt?«
»Nein,« antwortete Kara. »Sein Weib erwähnte einmal seine Schmerzen; da gebot er ihr aber, zu schweigen. Er hat fürchterlich gelitten. Hier aber brach er endlich zusammen. Die Menschenkraft war zu Ende. Er ist ein Mann!«
»Hier findet er die Pflege, die ihm nötig ist. Aber wird er vor der Rache sicher sein?«
»Ganz gewiß, so lange er sich hier befindet.«
»Denkst du, mein Sohn, daß die Soldaten ihm bis hierher folgen werden?«
»Sie kamen hinter uns über den Sand; dann aber verloren wir sie aus den Augen. Tifl hat sie unten angemeldet. Wenn sie kommen, werden sie niemand überraschen. Aber es ist so still im hohen Hause, was wohl nicht der Fall wäre, wenn man sie hier erwartete.«
»Du irrst, Kara,« sagte ich. »Siehst du die beiden Männer, welche da unten die Fackeln an die Pfähle stecken? Man will den Vorplatz erleuchten. Warum? Und schau! Jetzt schafft man unsere Pferde fort, nach dem Garten, hinter welchem die Weide liegt. Man braucht also den Platz. Für wen?«
Kara und Hanneh hatten nicht auf diese Umstände geachtet. Mir aber fielen sie auf, obwohl es jetzt so dunkel geworden war, daß man die da unten sich bewegenden Gestalten kaum noch erkennen konnte.
Da kam der Pedehr mit Tifl durch die Halle. Sie traten heraus zu uns.
»Also eile hinab, und sage es!«
Auf diese Worte des Ersteren sprang »das Kind« die Stufen hinunter, um sich nach dem Dorfe zu begeben. Der Pedehr reichte Kara die Hand und sprach:
»Ich habe so Gutes über dich gehört. Du hast einen Freund von uns und eine Tochter unseres Stammes gerettet. Ich danke dir! Der Platz hier vor euch wird sich in kurzer Zeit sehr beleben. Bleibt hier! Was auch geschehe, ihr könnt ganz ruhig sein. Der Haß ist bei der Liebe eingedrungen. Er wird sich ihr ergeben müssen. Sie hat ihn nicht zu fürchten, denn ihre Stärke ist stets größer als die seine.«
Ich fragte ihn nach dem Befinden des Kalhuran.
»Er bedarf der besten Pflege,« antwortete er. »Sein Unterkleid klebt am gänzlich wunden Leibe. Es mußte mit ihm sogleich in das Bad gelegt werden, damit es sich von dem aufgesprungenen Fleische löse. Aber er ist stark. Vom Wundfieber kann ich ihn nicht befreien, doch dann wird er, wie ich hoffe, schnell genesen.«
»Und sein Weib? Dieser Schreck! Dann die Anstrengung des Rittes! Die Aufregung wird sie aufrecht gehalten haben. Aber nun? Wie geht es ihr?«
»Sie ist ein rüstiges Weib: du brauchst keine Sorge um sie zu haben. Aber unser Ustad war sehr betrübt über sie.«
»Warum?«
»Das fragst du mich? Habe ich dir nicht mitgeteilt, daß ein Dschamiki niemals Menschenblut vergießt? Sie wird bestraft!«
Ich sah ihn ungläubig an.
»Ja,« nickte er ernst; »sie wird bestraft! Das Leben des Menschen ist nicht bloß das, als was es von dem Durchschnittsmanne betrachtet wird. Es ist etwas ganz Anderes. Es ist mehr, viel mehr als bloß ein Existieren auf der Erde, welches mit der Geburt seinen Anfang und mit dem Tode sein Ende nimmt. Ja, es ist sogar auch mehr als bloß ein Irgendwoherkommen zu der Erde und dann ein Irgendwohingehen von der Erde! Es hat nämlich einen Zweck! Und wenn dieser Zweck durch irgend einen unglückseligen Umstand, sei es, wie hier, durch eine tötende Hand, nicht erreicht wird, so wird nicht nur das augenblickliche Leben, die gegenwärtige Existenz vernichtet, sondern mit ihr auch alles, was seit Anbeginn bis heut vorhanden war und unter unendlichen Kämpfen sich entwickelte, um diejenige Form des Daseins zu erreichen, welche nun von der verbrecherischen That zertrümmert worden ist. Muß da nicht selbst die größte, die höchste Liebe als strafende Gerechtigkeit eingreifen?«
Als er dies sagte, stellte ich mir die Scene vor, welche dem Muhassil das Leben gekostet hatte. Was hätte wohl ich an der Stelle des Gepeitschten gethan? Und seine Frau! Wie mußte der Anblick der fürchterlichen Schande, die man ihm anthat, ihre ganze Natur empören! Sie handelte unter der Einwirkung des Augenblickes, und weil dieser Augenblick ein blutiger war, so sprang auch das, was sie that, als Erzeugnis des Momentes blutigrot gefärbt aus ihr hervor.
»Du sprichst von Strafe,« sagte ich. »Meinst du damit auch Hafis Aram selbst?«
»Nein. Er ist ein Kalhur. Ihn haben wir nicht zu richten.«
»Gehört sein Weib noch zu eurem Stamm?«
»Ja. Die Dschemma der Dschamikun wird zusammentreten, um das Urteil zu fällen.«
»Wer wird der Vorsitzende dieser Versammlung sein?«
»Ich.«
»Nicht der Ustad?«
»Nein. Er ist der geistliche Scheik des Stammes. Für weltliche Angelegenheiten bin ich es.«
»Darf ich der Dschemma beiwohnen?«
»Wir werden dich sogar auffordern, es zu thun.«
»Darf ich mitsprechen?«
»Ja, denn du bist als unser Gast ein Dschamiki, und wenn wir dich rufen, beizuwohnen, so haben wir dich damit als würdig anerkannt, das Vorrecht der Aeltesten mit uns auszuüben.«
»So bitte ich, die Angeklagte verteidigen zu dürfen!«
»Du darfst es; jeder von uns darf es, denn welcher gerechte Richter könnte nur Ankläger und nicht zugleich auch Verteidiger sein? Uebrigens hat sich ein besonderer Verteidiger bereits gemeldet.«
»Wer?«
»Der Ustad.«
»Von dem du aber sagtest, daß er über die Angeklagte und das, was sie that, betrübt sei!«
»Diese seine Betrübnis wird der Verteidigung nicht den geringsten Eintrag thun. – Da schau! Sie kommen!«
Man hörte die Schritte vieler Leute, welche zum Thore hereinkamen. Ich konnte zwar nicht die einzelnen Gestalten unterscheiden, aber ich sah, daß es ihrer viele, ja sogar sehr viele waren. Der Pedehr ging zu ihnen hinab. Ich vernahm aus dem Tone seiner Stimme, daß er ihnen kurze, sehr bestimmte Weisungen erteilte. Dann zerstreuten sie sich nach allen Seiten; wohin, das war in der abendlichen Dunkelheit nicht zu erkennen.
Hierauf wurden die Fackeln angezündet. Nun war der Platz in der Weise erhellt, daß man deutlich sehen konnte, was auf ihm vorging. Jetzt war er leer. Nur Tifl allein stand da. Er kam bis an die unterste Stufe herbei und sagte zu uns herauf:
»Sie kommen!«
»Wer?« fragte Kara.
»Die Soldaten.«
»Doch nicht etwa alle?«
»Alle! Man hat sie ruhig durch den Duar reiten lassen. Kein Mann ist ihnen begegnet. Die Häuser waren verschlossen. In den Zelten gab es nur einige Frauen, welche ganz genau wußten, wie sie sich zu verhalten und welche Auskunft sie zu geben hatten. Diese Perser werden sich wundern. Sie glauben, es kurz mit uns machen zu können; wir aber werden mit ihnen noch viel kürzer sein. Unser Pedehr hat nachgeschaut, ob alles in Ordnung ist. Da kehrt er zurück.«
Der Genannte kam von der dem Garten entgegengesetzten Seite des Hauses her, wo ich das Thor mit den uralten Säulenpfosten gesehen hatte.
»Ich war im Gefängnisse,« sagte er, indem er die Treppe halb erstieg und sich dort auf eine der Stufen niedersetzte.
»Es giebt hier bei euch ein Gefängnis?« fragte ich verwundert.
»Für uns nicht, denn wir brauchen keins. Aber für Fälle wie den, der sich jetzt ereignen wird, sind Räume für unwillkommene Gäste vorhanden, deren wir uns entledigen wollen.«
»Die Soldaten sollen gefangen genommen werden?«
»Ja.«
»Und wenn sie sich wehren?«
»Dazu finden sie gar nicht Zeit. Ich höre ihre Pferde. Sie sind also schon in der Nähe und werden sogleich dort an dem Thore erscheinen.«
Wir schauten hin. Zunächst sahen wir zwei Frauen, welche sich von den Persern sehr freiwillig hatten zwingen lassen, ihnen den Weg hier herauf zu zeigen. Sie eilten sofort nach dem Garten, in welchem sie verschwanden. Hierauf kamen die Offiziere, nämlich der Suari jüzbaschysy, der Mülazim ewwel und ein Mülazim sani. Der letztere hatte bei der Jagd auf Hafis Aram den Paß des Kurirs zu bewachen gehabt, und darum hatten Kara und Tifl ihn noch nicht gesehen. Hinter diesen Dreien folgten die Kavalleristen, denen die helle Beleuchtung des Vorplatzes gar nicht aufzufallen schien. Auch wurde es von keinem von ihnen beachtet, daß, als sie alle herein waren, irgend jemand hinter ihnen das Thor zumachte. Sie waren, ohne den geringsten Widerstand gefunden zu haben, durch den ganzen Duar geritten und glaubten nun, hier oben auf dieselbe Ergebung in das Unvermeidliche zu treffen. Die Dschamikun waren ihnen als Leute geschildert worden, welche den Frieden liebten und so viel wie möglich jede Streitigkeit vermieden. Es mußte ja leicht sein, so unkriegerischen Menschen einen solchen Schreck einzujagen, daß sie sich in alles fügten, was man von ihnen verlangen wollte. Hierzu stimmte der Umstand ganz besonders, daß man nicht die geringste Vorbereitung zum Widerstande bemerkte, sondern nur einige Personen sah, welche auf der Treppe saßen und auch ganz ruhig sitzen blieben. Außerdem stand nur Tifl noch unten an den Stufen.
Die Kavalleristen ritten in einer geraden Reihe auf und bildeten dann gegen die Treppe Front. Die Offiziere kamen bis nahe an dieselben hin und stiegen da von ihren Pferden. Als hierbei der Oberleutnant »das Kind« erblickte, rief er, sich an den Rittmeister wendend, aus:
»Da steht der lange Kerl, der Halunke, der mit dabei war! Soll ich ihm Fesseln anlegen lassen?«
Der Angeredete warf einen Blick auf Tifl und auf dessen Umgebung und antwortete dann in verächtlichem Tone:
»Fesseln? Wie überflüssig! Wir haben ja das ganze Haus mit allem, was da wohnt, in unserer Gewalt!«
»Und da – da –« fuhr der Oberleutnant fort, indem er auf Kara zeigte, »da neben dem Weibe sitzt auch der Andere, der bei dem Langen war!«
»Laß ihn sitzen! Auch er ist unser. Du siehst ja, daß sich die Kerle vor Angst gar nicht zu regen wagen. Wenden wir uns zunächst an den Alten da!«
Er meinte den Pedehr. Er trat bis an die letzte Stufe heran und richtete die Frage an ihn:
»Du bist ein Dschamiki?«
»Ja,« antwortete der Gefragte, ohne aufzustehen.
»In diesem Hause wohnt der Mann, den ihr den Ustad zu nennen pflegt?«
»Ja.«
»Hole ihn!«
»Das ist unnötig.«
»Warum?«
»Er wird nicht kommen.«
»Ich befehle es ihm!«
»Du – du –?«
Dieser Frage wurde ein so ganz eigenartiger Ton gegeben, daß der Rittmeister darauf verzichtete, seinem »Befehle« Nachdruck zu verleihen. Er fuhr vielmehr, sich zu erkundigen, fort:
»Es giebt hier einen alten Schech el Beled, welcher Pedehr genannt wird?«
»Ja. Aber er ist nicht bloß Schech el Beled.«
»Was noch?«
»Er läßt sich nur von den Bewohnern dieses Gebietes Pedehr nennen, weil er sich als den Vater dieser seiner Kinder betrachtet. Für jeden Fremden aber, also auch für dich, ist er Schir Alamek Ben Abd el Fadl Ibn ilucht Marah Durimeh, der Scheik der Dschamikun vom freien Volke der Bachtijaren.«
Als ich das hörte, erstaunte ich, denn ich hatte nicht ahnen können, daß er ein Großneffe meiner herrlichen Marah Durimeh sei. Warum hatte er mir das nicht gesagt? Auf den Rittmeister machte diese Mitteilung freilich einen ganz andern Eindruck. Er rief lachend aus:
»Welch ein Name! Wer kennt Abd el Fadl, und wer kennt diese Marah Durimeh! Ich kenne nicht einmal diesen Schir Alamek! Kann ein Löwe der Sohn der Güte sein? Lächerlich!«
Abd el Fadl heißt nämlich »Diener der Güte«. Schir heißt Löwe und ist in jenen Gegenden ein Ehrentitel, den man sich durch bewiesene Furchtlosigkeit erwirbt. Der Offizier fuhr fort:
»Ich habe mit dem Besitzer dieses langen Namens zu sprechen. Rufe ihn!«
»Auch das ist unnötig,« antwortete der Pedehr.
»Warum?«
»Ich bin es.«
»Ah! Du?«
Er betrachtete ihn in zudringlich übelwollender Weise und fügte dann in befehlendem Tone hinzu:
»Steh auf! Ich komme im Namen des Schah-in-Schah. Man hat mich nicht sitzend zu empfangen!«
»Nimm diesen deinen Wunsch zurück!«
»Es ist kein Wunsch, sondern ein Befehl!«
»Hier hat niemand zu befehlen, als nur ich allein! Und so befehle ich dir, mir zu beweisen, daß du im Namen des Schah-in-Schah zu uns gekommen bist!«
»Ich bin sein Offizier!«
»Das ist kein Beweis. Hast du eine Schrift, von der eigenen Hand des Beherrschers unterzeichnet?«
Da schlug der Offizier an seinen Degen und rief:
»Ich brauche keine Schrift von ihm! Ich schreibe meine Befehle selbst, und dieser Säbel hier ist meine Feder. Paß auf, was gleich geschehen wird!«
Er drehte sich nach seinen Leuten um und gab ihnen den Befehl zum Absitzen. Sie gehorchten. Nun ließ er sie zu Fuß so weit vorrücken, daß ihre Linie ihn beinahe erreichte. Es war also zwischen ihnen und ihren Pferden ein Zwischenraum entstanden. Jetzt wendete er sich dem Pedehr wieder zu und sprach zu ihm weiter:
»Du siehst, welchen Nachdruck ich meinen Befehlen geben kann. Weißt du, warum wir kommen?«
»Ja.«
»Steh auf, sage ich! Man hat sich zu erheben, wenn ich spreche. Das hörtest du bereits!«
»Und du hast bereits gehört, daß ich dich warnte, an diesem Wunsche festzuhalten!«
»Eine Warnung? – Warum?«
»Sobald ich mich erhebe, hast du dich zu erniedrigen!«
»Du redest irre!«
»Irre? Wohlan, so sollst du sehen, wer sich irrt. So lange ich noch sitze, scheinst du der Herr zu sein; sobald ich mich erhebe, bin ich es in der That. So war es verabredet. Du willst es haben. Gut, ich thue es!«
Er richtete sich auf und gab mit dem emporgehobenen Arm ein Zeichen. Was hierauf folgte, ist nicht so schnell zu erzählen, wie es geschah. Die bisher versteckt gewesenen Dschamikun kamen nämlich infolge dieses Winkes von allen Seiten herbei. Sie füllten im Momente den ganzen Zwischenraum zwischen den Reitern und den Pferden aus. Sie warfen sich auf die ersteren, um sie zu entwaffnen. Sie waren ihnen an Zahl so überlegen, daß Widerstand eine Albernheit gewesen wäre. Auch wirkte die Plötzlichkeit dieses Ueberfalles so verblüffend, daß den Persern die Waffen entrissen waren, noch ehe sie sich entschlossen hatten, selbst nach ihnen zu greifen. Und das geschah von seiten der Dschamikun ohne allen Lärm, ohne jedes Geschrei, in vorher anbefohlener Schweigsamkeit. Die Kavalleristen freilich waren nicht ebenso still. Sie brüllten und fluchten; sie wollten dreinschlagen, um wenigstens mit den Fäusten nun das Versäumte nachzuholen. Aber bei jedem Einzelnen von ihnen standen mehrere Dschamikun, welche die ihm entrissenen Waffen drohend auf ihn richteten. Es gab nur noch eine kleine Weile ein Hin- und Herwogen zusammengedrängter Gestalten, einen vereinzelten Ruf, eine zornige Verwünschung; dann trat auf dem Vorplatze eine Ruhe, eine Stille ein, als ob die auf ihm stehende Menge nur aus friedlich gesinnten Menschen bestehe.
Auch bei uns an der Treppe spielte sich die Scene mit außerordentlicher Schnelligkeit ab. Kaum war der Pedehr aufgestanden, so sprang Tifl zu den Offizieren heran, riß dem Suari jüzbaschysy und dem neben ihm stehenden Mülazim sani die Pistolen aus den Gürteln, richtete eine von ihnen auf sie und rief drohend:
»Bewegt euch nicht, sonst schieße ich!«
Kara war zwar in das, was geschehen sollte, nicht eingeweiht, doch begriff er augenblicklich, um was es sich handelte. Er schnellte sich von seiner Mutter weg, die Stufen herunter und auf den Mülazim ewwel, bemächtigte sich seiner Pistole, hielt sie ihm vor die Brust und sagte:
»Nicht ihr hattet uns, sondern wir haben euch; ich sagte es dir! Rühre dich nicht, wenn du nicht willst, daß ich schieße!«
Die drei vorher so siegesbewußten Offiziere wagten nicht, zu widerstreben. Es war eine Ueberraschung sondergleichen, welcher sie und alle ihre Untergebenen jetzt verfallen waren. Der Pedehr stand hoch aufgerichtet an seinem Platze und überschaute den Erfolg.
»Führt sie ab!« gebot er mit lauter Stimme. »Es wird keinem etwas geschehen; nur der, welcher sich weigert, wird sofort erschossen!«
Da setzten sich die untenstehenden Gestalten in Bewegung, hin nach dem alten Thore zu, welches jetzt weit offen stand. Es ging zwar langsam, aber mit ununterbrochener Regelmäßigkeit. Man hatte gehört, daß man an Leib und Leben nichts zu fürchten habe; das beruhigte jedes etwa noch vorhandene Bedenken; man fügte sich. Es verschwand ein Perser nach dem andern in dem Raume, welchen der Pedehr vorhin als Gefängnis bezeichnet hatte. Er sah jetzt die drei Offiziere lächelnd an.
»Schnallt eure Säbel ab, und übergebt sie Tifl!« gebot er ihnen, indem er auf »das Kind« deutete.
Sie gehorchten, ohne ein Wort zu sagen.
»So!« sprach er. »Jetzt habt ihr gesehen, was es heißt, wenn man es wagt, von dem Scheike der Dschamikun zu verlangen, sich vor einem unwillkommenen Menschen von seinem Sitze zu erheben. Nun steht ihr so vor mir, wie es sich für solche Leute schickt und ziemt. Ich kann mich also wieder setzen, Kara und Tifl neben mir. Die Eindringlinge aber bleiben stehen!«
Er ließ sich auf seinen vorigen Sitz nieder. Die beiden Genannten nahmen bei ihm Platz, der bescheidene Tifl eine Stufe tiefer.
»Ich stehe nicht, sondern ich gehe!« rief der Rittmeister zornig aus.
»Wohin?« fragte der Pedehr.
»Fort!«
»Wenn du deine Leute im Stiche lassen willst, so kannst du es ja thun. Ich halte dich nicht, sondern ich erlaube dir, ›im Namen des Schah-in-Schah‹ feig die Flucht zu ergreifen. Es werden zwei meiner Dschamikun mitgehen, um dich zum Duar hinauszuführen. Das Zurückkehren ist dir dann streng verboten!«
»Mitgehen?«
»Ja.«
»Du meinst, mitreiten!«
»Nein, du wirst laufen.«
»Fällt mir nicht ein!«
»Versuche doch, es zu ändern! Wer bewaffnet die Grenze der Dschamikun überschreitet, ohne unsere Erlaubnis zu besitzen, der ist uns mit allem, was er bei sich hat, verfallen. Es ist eine Gnade von mir, wenn ich dir die Freiheit schenke. Pferd und Waffen gehören uns. So lautet der Vertrag, den der Beherrscher mit unserm Ustad eingegangen ist. Ihr erklärtet unsere vier Pferde für eure Beute, obwohl euch von ihren Reitern nichts geschehen war. Ihr aber kamt in schlimmer Absicht zu uns; ihr wagtet es, die Herren zu spielen, mir hier befehlen zu wollen. Es ist ganz folgerichtig, daß nun wir von Beute sprechen. Der einzige Unterschied ist, daß alle eure Gäule zusammen nicht so viel wert sind wie ein einziges von unsern edlen Tieren.«
»Was wir besitzen, gehört nicht uns, sondern dem Schah-in-Schah!« behauptete der Rittmeister.
»Auch alles, was ihr den Kalhuran raubtet? Ihr habt es wieder herzugeben. Man wird eure Taschen untersuchen, eure Kleider, alles, was ihr bei euch habt. Ich lasse Kalhuran kommen, welche dies thun. Ihre Herden, die ihr für euer Eigentum erklärtet, werdet ihr ihnen nun wohl lassen müssen, denn der Muhassil ist tot, und vor seinen Soldaten, welche, wenn ich sie freigegeben habe, sich ohne Pferde und Waffen von Mitleid zu Mitleid betteln müssen, braucht sich niemand mehr zu fürchten!«
Die Offiziere sahen einander betroffen an. Das hatten sie nicht erwartet! Und nun, grad jetzt, geschah etwas, aus dem sie erkannten, daß es dem Pedehr sehr ernst mit seinen Worten war. Nämlich die Dschamikun hatten ihre Gefangenen untergebracht. Eine bestimmte Anzahl von ihnen war zu deren Bewachung beordert. Andere verbreiteten sich über den Platz, um zum Dienste des Pedehr bereit zu sein. Die übrigen aber setzten sich, als ob dies etwas ganz Selbstverständliches sei, auf die Soldatenpferde und ritten auf oder mit ihnen zum Thore hinaus und nach dem Dorfe hinunter. Das war natürlich alles vorher so bestimmt worden. Es bedurfte hierzu weder eines Befehles noch irgend einer Frage. Dennoch aber hatte der Pedehr bei der Entwerfung seines Verteidigungsplanes einen großen Fehler, eine Unterlassungssünde begangen. Er hatte etwas nicht mit in Betracht gezogen, was von einer andern und zwar höchst wichtigen Person für ungeheuer wesentlich gehalten wurde. Diese Person war unsere vortreffliche Pekala.
Eben als der letzte der Dschamikun zum Thore hinausgeritten war, leuchtete vom Garten her das weiße Gewand der »Festjungfrau« in unseren Augen. Sie nahte sich der Treppe, langsam, zögernd, jetzt bedachtsam überlegend, ob sie ihre Absicht ausführen dürfe, dann aber wieder einige sehr energische Schritte vorwärts machend. Das erregte unser aller Aufmerksamkeit. Tifl stand von seinem Sitze auf und fragte ihr entgegen:
»Suchst du vielleicht mich, meine gute Pekala?«
Da kam sie schnell vollends herbei und antwortete:
»Nicht nur dich, sondern euch alle.«
Sich hierauf an den Pedehr besonders wendend, fuhr sie in klagendem Tone fort:
»Was habe ich dir getan, o Pedehr, daß du mich heut so ganz vergessen hast? Ich möchte meine Augen in Thränen baden, ganz so, wie mein Herz in Wehmut und Jammer gebadet ist!«
»Warum denn solches Herzeleid?« fragte er lächelnd.
»Es läuft mir alles über!«
»So laß doch das Feuer kleiner werden!«
»Dann wird sie zu dick; sie dämpft mir ein!«
»Wer?«
»Die Suppe!«
»Ah, die Suppe! Liebe Pekala, die ist jetzt Nebensache. Laß das Feuer ausgehen!«
Da schlug sie die kleinen, fetten Hände zusammen, daß es nur so klatschte, ließ das Weiße ihrer Aeuglein sehen und rief im Tone fachmännischer Entrüstung aus:
»Das Feuer ausgehen! Da erkaltet sie mir doch zu Kleister, den ich durch keine Hitze wieder genießbar machen kann! Sie war zur Zeit des Abendessens fertig, denn ich hatte mir die größte Mühe gegeben, weil grad der Frenk maidanosu die allergrößte Pünktlichkeit verlangt. Ich richtete alles mit der größten Liebe vor. Ich freute mich auf die Bewunderung meines gelungenen Werkes. Und nun stehe ich ganz allein in meiner Küche, welche die überflüssigsten Wasserdämpfe weint, und kein Mensch hat Zeit und Lust, zu genießen, was ich mit meiner größten Kunst für alle, die ich ernähren muß, bereitet habe!«
»Das ist nicht zu ändern, meine gute Pekala. Wir haben an Wichtigeres als an deinen Frenk maidanosu zu denken!«
»Wichtigeres? Du scherzest, o Pedehr! Mein Kerbel wurde gepflückt, noch ehe an die Soldaten zu denken war; er geht ihnen also vor! Er muß gereinigt, gewaschen, geschnitten, gewiegt und gekocht werden; sie aber bleiben, wie sie sind; er geht ihnen also vor! Wenn er zu lange in der Hitze steht, so verdirbt er, weil er seinen Wohlgeschmack verliert; an den Soldaten aber ist überhaupt nichts mehr zu verderben; er geht ihnen also vor. Tifl hat gewußt, daß es Kerbelsuppe giebt; Kara Ben Nemsi hat es gewußt; Kara Ben Halef hat es erfahren; Hanneh, seiner Mutter, habe ich es sagen lassen; durch das ganze Haus ist diese beglückende Nachricht gegangen, und nun sie, die heiß Ersehnte und wunderbar Gelungene fertig ist, bin ich allein anwesend, um ihren Triumph zu feiern, während ihr die Schande angethan wird, die Verachtung aller Abwesenden zu erfahren. Ich bin entrüstet, o Pedehr! Ich habe nicht verdient, daß ich grad so entwaffnet und grad so verächtlich behandelt werde wie diese drei jammervollen Sklaven des Muhassil, welche so weinerlich vor dir stehen, als ob der letzte Rest ihres Mutes im Begriffe stehe, vor lauter Herzensangst grad so wie meine Kerbelsuppe aus dem Topfe herauszulaufen! So! Das war es, was ich dir sagen wollte. Und nun entscheide du jetzt, wer wichtiger ist, mein Frenk maidanosu oder sie!«
Die verächtliche Handbewegung, welche sie den Offizieren hinüberwarf, konnte gar nicht geringschätzender sein. Sie schickte ihnen noch einen, ihrer Ansicht nach vollständig vernichtenden Blick zu, ließ dann die Augenlider entrüstet niederfallen und wendete sich hierauf in einer Weise von ihnen ab, als ob diese Leute gar nicht mehr für sie vorhanden seien.
Vorhin hatte der Pedehr über Pekala gelächelt; jetzt aber war sein Gesicht sehr ernst geworden. Hatte er etwa das gleiche Gefühl mit mir?
Er war jedenfalls geneigt gewesen, die drei Perser als Offiziere zu behandeln. Grad als Pekala erschien, hatte er im Begriffe gestanden, eine mehr oder weniger eingehende Aussprache mit ihnen herbeizuführen. Aber waren sie das wert? Gab es bei ihnen überhaupt eine ethische Frage, an welche er anzuknüpfen, auf welche er einzugehen, die er mit ihnen zu behandeln hatte? Ich gestehe, daß ich selbst auch ebensowenig wie er hieran gedacht hatte. Da wurde diese geistig einfache und bescheidene »Festjungfrau« von der Sorge um ihren gefährdeten Frenk maidanosu herbeigeführt, um uns in ihrer drastischen Weise die »Herren Offiziere« derart wahrheitsgetreu zu zeichnen, daß wir uns der Wirkung ihrer Strafrede nicht entziehen konnten. Der Pedehr stand auf und rief einige Namen über den Platz hinüber. Die genannten Dschamikun kamen herbei.
»Führt diese drei Männer auch fort!« gebot er ihnen.
»Wohin?« fragte der Rittmeister.
»Zu euren Leuten.«
»Zu ihnen? – Wir sind Offiziere!«
»Ja; ihnen in allem Bösen voran! Fort mit euch!«
»Du wolltest uns ja gehen lassen!«
»Ihr seid aber nicht gegangen. Fort!«
Um nicht von den Fäusten der Dschamikun zum Gehorsam gezwungen zu werden, ergaben sie sich in das Unvermeidliche und schritten unter deren Bedeckung dem mehrfach erwähnten Thore zu.
»Nun, Pekala?« fragte der Pedehr, indem sein früheres Lächeln wiederkehrte.
»O mein guter, guter Pedehr!« antwortete sie.
»Bist du zufriedengestellt?«
»Grad so sehr, wie ich dich und euch alle zufriedenstellen werde. Ich danke dir! Die Kerbelsuppe wartet nur noch auf den letzten, verklärenden Guß des kochenden Wassers. Ich eile, ihn ihr beizubringen!«
Schon wollte sie fort. Da kam ihr ein Gedanke. Sie sprang mehr, als sie stieg, die Stufen zu mir herauf, neigte sich mir mit wichtiger Miene zu und fragte:
»Giebst du mir nun recht, Effendi?«
»Worin?« fragte ich.
»Daß die Männer alle noch der Erziehung bedürfen?«
»Hm!«
»Sogar – aber das sage ich ganz leise, und du verschweigst es ihm – sogar zuweilen auch unser Pedehr?«
»Hm!«
»Du sollst nicht bloß brummen, sondern mir eine deutliche Antwort geben!«
»Wenn dein Frenk maidanosu gut ist, bekommst du sie, sonst aber nicht.«
»So ist sie mir gewiß. Ich fliege nach meiner Küche!«
Und sie flog! Ihre helle Gestalt schien den Boden nicht zu berühren, und die weißen Falten ihres Gewandes wehten wie Flügel hinter ihr.
»Ihr werdet sie schon noch kennen lernen,« scherzte der Pedehr. »Sie greift zuweilen derart in die Zügel der Regierung ein, als hätte sich jedermann, vom Ustad an bis zum kleinsten Pferdehüter herab, als ihren ›Tifl‹ zu betrachten. Wir aber sind damit gern einverstanden. Sie hat ein eigenes Gefühl für den rechten Augenblick.«
Diese seine letzteren Worte interessierten mich. Auch ich lernte während unsers Aufenthaltes im »hohen Hause« Pekala von dieser Seite kennen. Es giebt glücklicherweise nicht wenige solcher Leute. Wohl dem Menschen und wohl auch seiner Umgebung, der, wie der Pedehr sich ausdrückte, »ein eigenes Gefühl für den rechten Augenblick« besitzt! Aber was heißt das? Sind diese Worte der richtige, treffende Ausdruck für das, was sie eigentlich sagen sollen? Nein! Man bedient sich hierfür oft auch des Ausdruckes Instinkt; man sagt, daß derartige Personen instinktiv handeln. Aber was ist Instinkt? Naturtrieb! Was versteht man unter Natur? Man spricht auch von einer »geistigen Natur«. Was heißt »natürlich«? Körperliches, Geistiges, Seelisches kann »natürlich« sein! War es eine Folge des Instinktes, des Naturtriebes, daß Pekala grad in dem Augenblicke bei uns erschien und dem Ereignisse eine so unerwartete Wendung gab, an welchem wir mit den drei Personen auf »dem toten Punkte« standen? Gewiß nicht! Sie befand sich in ihrer Küche und wußte gar nicht, was hier bei uns gethan oder gesprochen wurde. Mancher bringt die Ahnung mit dem Instinkte in Verbindung. Hatte Pekala etwas geahnt? Nein! Auch pflegt man instinktiv und unwillkürlich gleichzustellen. Hatte Pekala die Küche unwillkürlich verlassen? War ihre Strafrede eine unwillkürliche Mitteilung? Auch nicht! Man beobachte die Personen, welche jenes »Gefühl für den rechten Augenblick« besitzen! Man wird da oft von feinem Sinn, von Zartgefühl, von Takt und dergleichen sprechen; man wird das, was sie thun, ihrer besonderen Einsicht, ihrer Unterscheidungsgabe, ihrer Scharfsichtigkeit zuschreiben; aber alle diese Ausdrücke sind unzureichend, und selbst wenn man das, was sie bedeuten, addieren könnte und dann die Summe prüfte, so würde man finden, daß dieses Exempel ein ganz falsches sei.
Turenne sagte einst zu einem seiner Generale: »Ihr kommandiert nicht, sondern ihr werdet kommandiert!« Ist die Ahnung für den »rechten Augenblick« eine Thätigkeit von mir, oder wird sie mir gegeben? Ist es richtig, zu sagen, daß ich ahne, oder habe ich zu sagen, daß mir diese Ahnung irgendwoher komme? Ich handle unwillkürlich, also ohne Willkür, ohne Willen. Der Antrieb kommt nicht von mir. Von wem sonst? Jedenfalls von einer Seite, auf welcher es größere Einsicht giebt, als ich besitze! Und diese außer mir existierende und auf mich wirkende größere Klugheit soll ich als einen in mir vorhandenen Naturtrieb bezeichnen? Nein! Wer aber ist der Turenne, der mich im »rechten Augenblicke« vorwärts kommandiert? Wie schaut er aus? Wo ist der erhabene Punkt, von welchem aus er, was ich denke, will und thue, dirigiert? Ist er jenes für uns leider noch so außerordentliche unbekannte Wesen, welches wir die »Seele« nennen? Wenn diese Seele sowohl in uns als auch außerhalb von uns in der Weise thätig ist, daß beide Arten dieser Thätigkeit in innigem Zusammenhange miteinander stehen, so ist es erklärlich, warum wir die uns von außen her gegebene »Ahnung« für eine innere Thätigkeit von uns selbst halten. Und es gilt hierbei, der Wahrheit gemäß zuzugeben, daß der Turenne da draußen unendlich mehr überschaut, als unser schwacher, blöder Blick erfassen kann. Das sind nicht etwa metaphysische Schlüsse, sondern sie gründen sich auf täglich sich wiederholende Vorkommnisse im Innern meiner vor aller Augen existierenden Persönlichkeit. Wer nicht gelernt hat, die Vorgänge seines innern Lebens ebenso unausgesetzt wie scharf und unbefangen zu beobachten und zu vergleichen, dem wird es allerdings bequemlich sein, sehr vieles, was er nicht zu begreifen versteht, ganz einfach postlagernd nach dem Reiche des Uebersinnlichen zu adressieren, damit er, der physisch gern Bequeme, hinter seinem eigenen Schalter ruhig schlafen könne. –
Als der Pedehr sich entfernt hatte, holte Tifl für Hanneh, Kara und mich ein niedriges Serir und brachte uns dann die von Pekala so energisch verteidigte Frenk maidanosu-Suppe, welche wir zusammen aßen. Dann ging ich schlafen, denn der heutige lange Aufenthalt in der ozonreichen, freien Luft hatte mich ermüdet.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Kara schon wieder ausgeritten, doch ohne Tifl, weil dieser durch verschiedene Besorgungen in Betreff der gefangenen Soldaten zurückgehalten wurde. Halef war einmal für kurze Zeit aufgewacht. Er hatte mit Hanneh gesprochen. Es waren zwar nur wenige Worte gewesen, aber so lieb und klar, daß die Gute sich ganz glücklich über diesen Fortschritt fühlte. Als Schakara mir das Frühstück brachte und ich mich nach dem kranken Scheik der Kalhuran erkundigte, antwortete sie:
»Er befindet sich in guter Pflege, denn seine Frau weicht fast keinen Augenblick von seiner Seite. Unser Pedehr kennt eine gute Salbe, welche die Schmerzen der Wunden stillt. Hafis Aram wird wahrscheinlich nur wenige Tage das Lager zu hüten haben.«
»Wie steht es mit den Soldaten?«
»Sie stecken drüben im Gewölbe. Sie wollten uns vorschreiben, wie sie zu behandeln seien, haben aber zur Antwort bekommen, daß man sich genau so zu ihnen verhalten werde, wie sie es verdienen. Man wird heute wohl einige von ihnen laufen lassen.«
»Einige?«
»Ja. Gäbe man sie alle zu gleicher Zeit frei, so könnten sie durch ihre große Zahl den zerstreuten Bewohnern des Gebirges schädlich werden. Darum wird man von Tag zu Tag nur wenige auf einmal freigeben, und auch diese werden zu Pferde nach so verschiedenen Richtungen über die Grenze gebracht, daß es ihnen gewiß schwer werden sollte, sich zusammenzufinden. Die Offiziere kommen zuletzt daran. Auch sind heut früh Boten ausgesandt worden, welche dafür zu sorgen haben, daß jedermann vor den etwa diebisch Herumstreifenden gewarnt werde. Wen man entläßt, dem wird vorher alles abgenommen, was ihm nicht zu gehören scheint. Man hat sie alle ausgesucht und da außerordentlich viel gefunden, was den Kalhuran von ihnen abgezwungen worden ist.«
»Diese sind natürlich auch benachrichtigt worden?«
»Gewiß! Das war ja das allererste, was gethan werden mußte! Sie brauchen nur zuzugreifen. Was man ihnen unter dem Vorwande der Steuern weggenommen hat, das wird nur von ein paar zurückgebliebenen Soldaten bewacht. Diese wird man einfach fortjagen. Sie sind fast alle keine Muhammedaner, sondern Armenier aus der Vorstadt Dschulfa bei Isfahan.«
»So werden sie dorthin gehen und Lärm machen. Dann kommt ein neuer und noch viel schlimmerer Muhassil zu den Kalhuran!«
»Schlimmer als dieser Omar Iraki war, kann keiner sein! Auch hat unser Ustad noch während dieser Nacht einen Bericht geschrieben, welchen sichere Boten zu dem Beherrscher bringen. Eine Abschrift davon bekommt der Hekim-i-Schera von Isfahan. Du siehst also, daß nichts versäumt worden ist, was uns von der Vorsicht geboten wird. Wir haben nichts, gar nichts zu befürchten, denn der Schah-in-Schah hat unsern Ustad lieb, und wir wissen gar wohl, daß unsere Gefangenen gar keine eigentlichen Soldaten sind.«
»Gesindel, welches der Muhassil zusammengetrommelt hat!«
»Ja. Nicht einer von ihnen trägt eine wirkliche Uniform. Sie können nur froh sein, daß wir sie nicht allesamt dahin schicken, wohin wir die Massaban geschickt haben. Wahrscheinlich hätten wir es gethan, wenn es nicht zu viele Mühe machte. Es bedarf dazu einer ganzen Schar von Leuten, welche den Transport zu führen und zu bewachen haben. Mein Oheim hat also hierauf verzichtet.«
Oheim! Es war zum erstenmal, daß sie sich einer Bezeichnung der Verwandtschaft bediente. Ich wußte seit gestern wohl, wen sie jetzt meinte, that aber doch, als ob es mir unbekannt sei, und fragte:
»Du hast einen Oheim hier?«
»Ja. Weißt du das noch nicht? Habe ich es dir noch nicht gesagt? Ich könnte sogar von zweien sprechen.«
»Darf ich erfahren, wer es ist?«
»Unser Pedehr. Sein Vater Abd el Fadl war der Sohn einer Schwester unserer Marah Durimeh.«
»Und der zweite Oheim?«
»Das ist der Ustad selbst. Auch er ist mit Marah Durimeh verwandt; aber wie, das weiß ich nicht genau.«
»Hast du ihn nicht einmal gefragt?«
»Ich that es einst. Es war da draußen vor der Halle, da wo du jetzt des Abends zu sitzen pflegst. Wir waren allein und sprachen von ihr. Da fragte ich ihn. Er antwortete nicht sogleich. Er sah so lange und so still hinüber nach unserm Gotteshause, welches im Mondenscheine wie ein frommes Märchen aus dem Paradiese lag. Dann legte er mir die Hand auf das Haupt und sagte: ›Meine Verwandtschaft mit Marah Durimeh? Was weißt du, liebes Kind, von dem, was eigentlich Verwandtschaft ist! Sie ist nicht leiblicher Natur. Der Körper, welcher sich fort und fort erneuert, bleibt nicht derselbe Leib, den uns die Mutter gegeben hat. Er verändert zwar nicht die Gestalt, doch stets und ununterbrochen die Stoffe, aus denen er zusammengesetzt ist. Er nimmt sie auf und giebt sie ab, beides zu gleicher Zeit. Der Körper, in dessen Ohr du heut das liebe Wörtchen 'Vater' rufst, ist durch die Ausscheidung seiner jetzigen und die Aufnahme neuer, ihm ganz fremder Bestandteile nach zwei Jahren ein vollständig anderer geworden, und du aber nennst auch diesen gänzlich fremden noch deinen 'Vater'. Der Stoff also ist es nicht, der uns befreundet. Doch aber aus dem Mutterherzen floß dem Kinde, bis es geboren wurde, mit jedem Pulse das Leben zu. Und aus dem Elternherzen strahlte ihm die Liebe, die es nährte, pflegte und auferzog, um es in dem ebenso täglich und immerfort sich erneuernden Menschheitskörper Aufnahme finden zu lassen. Ist es nicht diese Liebe, welche befreundet? Und nimmt also an dieser Verwandtschaft nicht die ganze Menschheit teil? Der Körper, den heut unsere Marah Durimeh besitzt, ist mir vollkommen fremd; er hat mit dem meinigen nichts, als die menschliche Form gemein. Und was verbindet diese beiden Gestalten mit den längst verwesten Körpern unserer Ahnen? Nichts, nichts und wieder nichts! Das, was ich Verwandtschaft nenne, besteht nur und allein in der liebenden Zuneigung zwischen Geist und Geist, zwischen Seele und Seele. Kann ich da aber von Onkel und Tante, von Neffe und Nichte sprechen? Giebt es da Vater und Mutter, Sohn und Tochter? Wenn ein großer, hoch entwickelter Geist einen kleinen, unentwickelten an sich zieht und zu sich emporhebt, ist der eine dann der Vater und der andere der Sohn? Oder wenn eine zarte, kindlich schwache Seele sich an eine gottbegnadete, starke schmiegt, um bei ihr Schutz und Sicherheit zu finden, ist die eine dann die Mutter und die andere die Tochter? Trachtet dein Geist, den meinen zu begreifen, so wirst du mir mehr und mehr verwandt, und verbindet deine Seele sich immer inniger und inniger mit der meinen, so treten wir uns durch diese Freundschaft näher, als wir durch die körperliche Geburt uns nähern konnten; aber in keiner Sprache der Menschen giebt es passende Worte, die Grade dieser geistigen und seelischen Verwandtschaft zu bezeichnen. Ich sage dir ein großes Geheimnis, mein liebes Kind: Es kann ein neuer Geist von einem oder einigen anderen geboren werden; Seelen aber stammen nicht von Menschenseelen, sondern nur allein von Gott, dem Herrn! Mein Leib und Marah Durimehs Leib gehen einander nichts an, obwohl wir gleiche Ahnen haben. Unsere Seelen kamen von Chodeh. Aber mein Geist wurde aus dem ihrigen geboren. Willst du nun noch fragen, ob ich vielleicht ihr Vetter oder wohl ihr Neffe sei?‹ – So oder ähnlich antwortete mir der Ustad. Ich habe viel darüber nachgedacht und endlich es begriffen. Begreifst du es auch, Effendi?«
»Ja. Sein Geist verschmäht schon längst die Oberfläche des Lebens; er schöpft nur aus der Tiefe. Und seine Seele wurde zwar in das Thal gesandt, nun aber wohnt sie hoch oben auf dem Berge. Wie glücklich seid ihr, in ihm ein Vorbild zu besitzen, nach welchem ihr, ungestört von andern, streben könnt!«
»Habt ihr nicht auch Vorbilder? Strebt ihr ihnen nicht nach?«
»Unser Leben ist unendlich vielgestaltig. Ueber tausend, tausend Nichtigkeiten stolpert unser Fuß. Der eine beschimpft, was dem andern heilig ist. Es giebt kein Ideal, welches nicht von feindlicher Seite mit Schmutz beworfen würde. Jeder hält allein nur sich für klug. Keiner ist nur allein Mensch, sondern hauptsächlich etwas Anderes. Alle verlangen, daß ihnen vergeben werde, aber wo ist der, der auch selbst vergeben will? Wer –«
Ich hielt inne. Beinahe erschrak ich über mich selbst. Ich hätte ja stundenlang in diesem Tone fortfahren können, aber was sollte da Schakara von unserm schönen, stolzen Abendlande denken! Durfte ich so unvorsichtig sein, von Dingen zu sprechen, welche ich hier unbedingt zu verschweigen hatte? Die junge, unverdorbene Kurdin sah mich, als ich so plötzlich schwieg, fragend an. Ich öffnete schon den Mund, um von etwas Anderem anzufangen, da glitt ein verständnisvolles Lächeln über ihr Gesicht, und sie sagte:
»Ich weiß, ich weiß, Effendi! Es ist bei euch nicht alles so, daß wir es wissen dürfen. Christen gegen Heiden, Christen gegen Juden, Christen gegen Christen, so sieht es bei euch aus. Und alle, alle, alle diese Feindseligkeit nur um des wahren Christentumes willen! Wir wissen es; du brauchst es nicht zu verschweigen. Ein einziges Wort Christi, welches dieser so und jener anders deutet, kann bei euch die Liebe, welche der Heiland predigte, in den grimmigsten Haß verwandeln. Wir haben gehört von – doch, du hast ja geschwiegen, und da habe auch ich still zu sein. Wirst du heut wieder hinaus auf den Platz gehen?«
»Ja, und zwar sogleich.«
»So werde ich dir die Kissen hinausschaffen lassen. Soll ich dich führen?«
»Nein. Ich danke dir! Der Stock genügt vollständig.«
Ich stand auf und ging zunächst zu meinem Hadschi Halef Omar hin. Sein Gesicht gefiel mir heut mehr als gestern. Hanneh sah, daß ich mich freute. Sie gab mir froh die Hand. Hierauf begab ich mich hinaus, die Stufen hinunter und dorthin, wo ich gestern gesessen hatte. Noch war ich nicht lange da, so kam Pekala. Sie hatte in der einen Hand ein Körbchen mit Pflaumen und in der andern einige Rosen.
»Ich habe auf dich gewartet, Effendi,« sagte sie. »Unser Ustad sendet dir diese Früchte, und ich lege diese Rosen hinzu, weil du beide, die Früchte und die Blumen, liebst.«
»Sag dem Ustad meinen Dank; dir gebe ich ihn selbst!«
»Du sollst täglich welche haben, so lange es welche giebt. Erlaubst du mir nun eine Frage?«
»Gern. Aber welche?«
»Ich möchte so gern wissen, ob du gestern abend mit meiner Frenk maidanosu-Suppe zufrieden gewesen bist.«
»Sie war gut.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Erinnerst du dich an das, was du mir versprochen hast, falls sie dir schmecken würde?«
»Ah! Du meinst die Erziehung?«
»Ja. Du versichertest, mir eine Antwort zu geben.«
»Nun wohlan!«
Ich machte eine sehr ernste Miene und fuhr fort:
»Ich gebe dir zu, daß du recht hast: Wir Männer bedürfen noch alle der Erziehung!«
»Oh, Effendi, wie bist du verständig und einsichtsvoll! Was du sagst, ist immer richtig! Ihr habt noch viel zu lernen!«
»Aber wir werden es lernen, damit wir dann auch die Frauen erziehen können.«
»Wen?« fragte ich rasch.
»Die Frauen. Oder meinst du, daß es besser für euch sei, unerzogen zu bleiben?«
»Effendi, jetzt höre ich, daß das, was du sagst, doch nicht immer richtig ist!«
»Das schadet nichts, liebe Pekala. Wir irren alle. Du nicht zuweilen auch?«
»Ja, zuweilen; aber in Betreff der Erziehung weiß ich, was ich weiß. Da kommt unser Pedehr. Er scheint zu dir zu wollen. Erlaube, daß ich gehe!«
Sie entfernte sich, um in ihre Küche zurückzukehren. Der Pedehr kam die Stufen herunter und zu mir her. Ich bot ihm eines der Kissen an, und er setzte sich nieder. Er erzählte mir in Beziehung auf die gefangenen Soldaten, was ich bereits von Schakara erfahren hatte. Da kam »das Kind« von links, wo sie steckten, herüber und meldete ihm, daß der Suari Jüzbaschysy behaupte, sehr notwendig mit ihm zu sprechen zu haben. Er erhielt die Weisung, ihn zu holen.
Als der Rittmeister gebracht wurde, war sein Auftreten keineswegs so selbstbewußt wie gestern, als er kam. Er hielt den Kopf gesenkt. Der Stolz war ihm benommen; aber aus seinem Auge sprach der zurückgehaltene Grimm.
»Was willst du von mir?« fragte der Pedehr.
»Alles!« antwortete er.
»Was verstehst du unter diesem Alles?«
»Alles, was ihr uns abgenommen habt; dazu die Waffen, die Freiheit und die Pferde!«
»Wenn du nichts weiter willst als das, so kannst du wieder gehen. Was wir haben, das behalten wir.«
»Es gehört aber uns!«
»Euch?«
»Ja.«
»Sagtest du gestern nicht, daß es das Eigentum des Schah-in-Schah sei?«
»Das war auch richtig. Er hat es uns anvertraut. Wir haben ihm Rechenschaft darüber abzulegen.«
»Das ist nun nicht mehr nötig, weil ich ein Verzeichnis aufstellen werde. Was ihm gehört, wird er dann von mir bekommen. Ich betrüge ihn nicht.«
»Du – bist – sehr unvorsichtig, Pedehr!« knirschte der Rittmeister.
»Du hast mich Scheik zu nennen, nicht Pedehr. Merke dir das! Ein Vater von Dieben bin ich nicht!«
»Diebe? Wir sind Soldaten! Ich bin Offizier!«
»Wo sind eure Uniformen? Ah, du schweigst?«
Der Rittmeister hatte vor Zorn die Hände geballt, die rechte halb erhoben. Da sah ich an ihr einen Ring, der mir auffiel. Er war von weißem Metalle und hatte eine achteckige Platte. Ich schaute schärfer hin. Der Rittmeister war in seinem Zorne an den Pedehr herangetreten. Er stand mir noch näher, so nahe, daß ich die auf der Platte befindlichen Zeichen erkennen konnte. Es war ein sâ mit einem lâm verbunden und darüber ein Verdoppelungszeichen. Nun wußte ich, was ich von ihm zu denken hatte. Er war ein »Sill«, ein Mitglied jener geheimen Verbrüderung, mit der wir ja schon wiederholt in Reibungen geraten waren. Er trat bei der letzten Frage des Pedehr wieder von ihm zurück und antwortete:
»Wenn wir zu Beduinen kommandiert sind, können wir uns kleiden, wie wir wollen!«
»Wer hat euch zu den Kalhuran kommandiert?«
»Das ist meine Sache, nicht die deine!«
»Gut, so ist es auch nicht meine Sache, ob du Offizier bist oder nicht.«
»Ein Schurke ist er, weiter nichts!« sagte ich jetzt.
Der Pedehr sah mich erstaunt an.
»Weißt du das?« fragte er.
»Sogar ganz genau!«
»Kennst du ihn?«
»Ja.«
»Seinen Namen?«
»Nein.«
»Nur seine Person also?«
»Auch diese nicht. Ich habe ihn gestern abend zum ersten Male gesehen. Aber dennoch bleibe ich bei meiner Behauptung.«
»Beweise sie!« brüllte mich der Perser an.
»Schweig!« befahl ihm der Pedehr. »Dieser Effendi sagt kein Wort, was er nicht beweisen kann. Ich kenne seine Gründe nicht, werde sie aber wohl erfahren. Wenn er dich einen Schurken nennt, so bist du einer!«
»Wer ist der Mann, den du Effendi nennst? Ein Dschamiki ist er nicht; das sehe ich ihm an. Ein Perser auch nicht. Jedenfalls ein türkischer Sunnit, dem nur die Hölle offen steht. Ich lache über alles, was er sagt.
Ich frage dich noch einmal: Giebst du uns wieder, was uns gehört?«
»Nein.«
»So fürchte die Blutrache!«
»Die giebt es hier auf meinem Gebiete nicht.«
»Du kennst den Bluträcher nicht!«
»Wer wird es sein! Irgend ein Mensch! Ein Verwandter des Getöteten! Ein freier Beduine jedenfalls nicht!«
Der Pedehr sagte das in geringschätzendem Tone. Das brachte den Perser noch mehr auf.
»Nein, ein Beduine ist er freilich nicht. Er hat es nicht nötig, Brot zu genießen, welches auf Kamelmist gebacken worden ist! Weißt du, wie der Muhassil geheißen hat?«
Der Pedehr schnippte verächtlich mit dem Finger.
»Omar Iraki,« sagte er.
»Kennst du seine Familie?«
»Sie ist mir gleichgültig. Da er ein Iraki ist, stammt er da unten aus dem Sand heraus.«
»Spotte nicht! Sein Vater ist einer der mächtigsten Männer im Reiche des silbernen Löwen. Er hat die Gewalt, euch alle zu verderben. Es stehen ihm tausende von Soldaten zur Verfügung, die euer ganzes Gebiet zur Wüste machen werden!«
»Sie mögen kommen! Hoffentlich sind sie klüger und vorsichtiger, als ihr gewesen seid! Aber wie heißt denn dieser große Mann, der solche Macht besitzt? Willst du vielleicht die Gnade haben, mir seinen Namen mitzuteilen?«
»Er wird Ghulam el Multasim genannt.«
Als der Perser diesen Namen sagte, sah er uns mit einem triumphierenden Blicke an. Er schien zu erwarten, daß wir erschrecken würden. Das war aber keineswegs der Fall. Freilich kann ich nicht behaupten, daß der Name gar keinen Eindruck auf uns gemacht habe. Seine Wirkung auf den Pedehr und mich war eine verschiedene. Man wird sich wohl noch des unadressierten Briefes erinnern, den Halef von unserm Wirte in Basra bekommen hatte. Wir hatten zwar von dem letzteren erfahren, daß er an einen gewissen Ghulam el Multasim gerichtet sei, aber nicht, wo dieser Ghulam wohne. Die einzige Auskunft des schwerbetrunkenen Wirtes hierüber hatte gelautet:
»In – in – Straße nach – ah – ah!«
Ich hatte schon öfters an dieses Schreiben und seinen Adressaten gedacht. Das Wort »in« deutete an, daß er in einer Stadt wohne, aber in welcher? Das war die Frage! Sein Haus schien nicht im Innern, sondern in einem Außenteile dieser Stadt zu liegen. Das war aus den beiden Worten »Straße nach –« zu schließen. Aber war dieser Ghulam el Multasim derjenige, den der Rittmeister meinte? Ghulam heißt, wie bereits einmal gesagt, Läufer, Page, auch Courier. So hieß ja der »Paß des Couriers« auch Boghaz-y-Ghulam. Unter Ghulam versteht man auch die Leibgarde des Schah. Wenn ein Offizier dieser Leibgarde für besondere Dienste zu belohnen ist, so kommt es vor, daß er als Muhassil irgendwohin geschickt wird, um die Steuern einzutreiben. Vielleicht war der Mann, von welchem der Rittmeister sprach, Offizier der Leibgarde. Daß beide Ghulams, der meinige und der seinige, identisch seien, war ein Gedanke, dessen Richtigkeit durch den Ring bestätigt wurde. Der Adressat des Briefes war unbedingt ein Sill. Daß der Rittmeister auch einer war, bewies sein Ring. Ich freute mich herzlich darüber, dem unbekannten Adressaten hiermit auf die Spur gekommen zu sein, doch selbstverständlich fiel es mir nicht ein, durch irgend eine Frage mein besonderes Interesse für ihn zu verraten. Ich war also still.
Ganz anders der Pedehr. Kaum hatte er den Namen gehört, so hielt er den Rittmeister mit einem so erstaunten Blicke fest, daß dieser ganz verlegen wurde.
»Ghulam el Multasim!« sagte er. »Der Blutsauger! Der Verachtete! Und du hast, wie es den Anschein hat, geglaubt, daß ich erschrecken werde? Meinst du, daß dieser Feigling es wagt, mich offen anzugreifen? Ja, nun weiß ich, daß dieser Effendi Recht hat: du bist kein Offizier, sondern ein Schurke! Du hast dich als seine Kreatur entpuppt. Ich bin mit dir fertig. Fort, fort!«
Eine solche Wirkung des genannten Namens hatte der Perser nicht erwartet. Er fühlte sich entlarvt und sagte kein Wort dagegen, als die beiden Dschamikun, welche ihn gebracht hatten, ihn nun bei den Armen faßten, um ihn fortzuführen. Als er hinter dem mehrfach genannten, alten Thore verschwunden war, sagte der Pedehr zu mir:
»Nun ist es gewiß, daß diese Menschen keine wirklichen Soldaten sind. Dieser Multasim war nämlich früher Offizier der Leibgarde, ein nach obenhin kriechender, nach unten aber grausam rücksichtsloser Mensch. Er wußte sich durch solche Kriecherei bei dem damaligen Muajir el Memalek in der Weise einzuschmeicheln, daß es ihm gelang, einen langjährigen Pachtbrief für gewisse Staatseinnahmen ausgestellt zu erhalten, den auch der Sader aazam mit unterschrieb. Als er das erreicht hatte, nahm er seinen Abschied vom Militär, um nicht mehr gehorchen zu müssen, sondern nun fortan befehlen zu können und dabei ein reicher Mann zu werden. Er ist giftig wie eine Assaleh, feig wie eine alte, zahnlose Hyäne und gefühllos wie ein Stein. Wenn ein einziges Schaf genügt, die Steuer, welche schuldig geblieben ist, zu decken, so nimmt er eine ganze Herde. Wohin er kommt, da setzt er sich fest, um Land und Menschen auszusaugen, und wenn er endlich geht, ist er rund wie ein Maultier, welches von der fetten Weide kommt. Es giebt Menschen, welche den Raubtieren gleichen, und wieder andere, die wie das Ungeziefer sind. Wenn man sie und ihre Thaten kennen lernt, möchte man an Chodeh's Güte und Gerechtigkeit zweifeln, falls man nicht so genau wüßte, daß uns nur zu unserm Heile die Gründe dessen, was geschieht, verborgen bleiben –«
Er war, wie es schien, mit seinem Satze noch nicht zu Ende; aber er hielt jetzt inne, weil er sah, daß meine Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt wurde. Ich horchte. Es klangen Töne, die von oben herabkamen. Waren das Menschenstimmen? War es ein Lied, welches sie sangen? Ich konnte die Worte nicht vernehmen. Die Melodie lag nicht bloß in der obern Stimme, sondern auch in den unteren. Die Harmonisierung war eine sehr eigenartige, ganz gegen unsere Generalbaßregeln und aber doch nichts weniger als fehlerhaft. Mehr diese Seltsamkeit als der Gesang überhaupt war es, die mich frappierte. Der Pedehr lächelte.
»Ueberrascht dich der Gesang?« fragte er.
»Ja,« gestand ich ihm.
»Weil du ihn hier in einer so abgelegenen Gegend hörst? Bei Leuten, von denen ihr meint, daß sie gar nicht singen können?«
»Nicht bloß darum. Niemand weiß besser als ich, daß der Orient nicht unmusikalisch ist.«
»Aber ihr haltet seine Musik für häßlich?«
»Wenigstens nicht für schön.«
»Trifft dieses Urteil auch uns? Wir sind ja hier im Oriente. Also nicht schön!«
Ich sah, daß er dies scherzend meinte. Es schaute mich dabei der Schalk aus seinen lieben, schönen Augen an.
»Ich bitte dich! So war es nicht gemeint!« antwortete ich schnell. »Man hat aufgehört. Das Lied ist zu Ende. Schade! Kaum hatte es begonnen, so hörte es schon wieder auf. Wenn ein fremder Mann nur bloß sehr schnell an dir vorüber geht, kannst du nicht wissen, wer und was und wie er ist. So auch bei diesem Liede. Es ist eine mir ganz fremde Gestalt an meinem Ohre vorübergegangen. Sie trug ein orientalisches Kleid. Es war mir, als ob sie nicht zu den jetzt Lebenden gehöre, sondern im Grabe der Vergangenheit geschlummert habe und nun wieder auferstanden sei. Das ist der Eindruck, den dieses Lied auf mich gemacht hat.«
»Wie du das so in dieser Weise sagst! Das sollte unser Chodj-y-Dschuna hören!«
»Wie? Es giebt hier einen Lehrer, der besonderen Unterricht im Gesang erteilt?«
»Giebt es solche Leute denn nicht bei euch auch?«
»Allerdings. Aber unsere Verhältnisse sind ja doch ganz andere als die eurigen.«
»Ich kenne sie nicht. Und was unsern Gesang betrifft, so liebe ich ihn zwar sehr, kann dir aber keine gelehrte Auskunft über ihn erteilen. Du wirst den Chodj-y-Dschuna kennen lernen und von ihm alles erfahren,
was du wissen willst. Er ist eine Quelle der Töne, welche trotz seines hohen Alters hell und reichlich fließen.«
Jetzt sang man wieder. Es wurde öfters abgebrochen und wieder neu begonnen. Das war Unterricht.
»Man scheint zu üben?« fragte ich.
»Ja. Und weißt du, für wen?«
»Nein.«
»Für dich!«
»Für mich? Das klingt so freundlich überraschend!«
»Freundlich? Ja, weil wir wünschen, daß du es freundlich aufnehmen möchtest. Und überraschend? Was dich überrascht, ist bei uns ein lieber, alter Brauch. Das Grab war dir schon geöffnet, doch Chodeh's Hand hat dich ergriffen und wieder in das Leben zurückgeführt. Was dir geschieht, das geschieht auch uns, denn du bist unser Gast. Wir sind so froh, und für diese Freude soll heute der Tag des Dankes sein.«
Das klang so einfach, so selbstverständlich! Ein Tag des Dankes! Für mich! Ich gestehe, daß mich das verlegen machte. Diese Verlegenheit war der Grund, daß ich die ganz überflüssige Frage that:
»Warum grad heut?«
»Weil Sonntag ist, der erste Sonntag, nachdem du das Krankenlager verlassen hast. Ich möchte dir da eine Bitte sagen, oder vielmehr nicht bloß eine, sondern zwei, und hoffe, daß du sie mir gewähren wirst!«
»Wie gern, wenn ich kann!«
»Du kannst! Die erste ist, daß du uns überhaupt erlaubst, zu thun, was uns sowohl vom Herzen als auch von der Religion befohlen wird. Wir würden es zwar auch ohne deine Erlaubnis thun, denn zwischen Chodeh und seinen Menschenkindern darf kein fremder Wille stehen, der da meint, Befehle erteilen zu können. Das mag bei den Muhammedanern geschehen; bei uns aber ist es anders. Wir haben keinen Imam, welcher sich einbildet, als der Eischikkagazi-Baschi des Weltenherrn darüber entscheiden zu können, welchen Besuch Chodeh anzunehmen hat und welchen nicht. Aber wenn du es nicht gestattetest, so würdest du nicht dabei sein können, was für uns sehr betrübend wäre. Die zweite Bitte ist, daß du dich nicht belästigt fühlen mögest. Wir wünschen, daß du dich so frei von allem Zwange fühlest, als ob das, was wir thun, in gar keiner Beziehung zu dir stehe. Denke dir, wir hielten Dankestag für einen Menschen, der dir vollständig unbekannt ist. Willst du das, Effendi?«
Ich gab ihm, tief gerührt, die Hand und antwortete:
»Du hast nichts zu fragen, und ich habe nichts zu entscheiden. Wie könnte ich mich als Imam gebärden, nachdem ich von dir hörte, daß es für euch keinen giebt! Aber sage mir, in welcher Weise ihr diesen ›lieben, alten Brauch‹ auszuführen pflegt!«
»Du wirst das besser sehen, als jetzt hören. Man wird dich gegen Mittag in einer Sänfte hinüber nach dem Gotteshause tragen. Dort bleibst du bis zum Abend. Es wird für alles gesorgt sein, was du brauchst. Unser Tifl ist in deiner Nähe, um dich zu bedienen. Jeder Dschamiki, der im Duar oder in der Nähe wohnt und euch als seine Gäste betrachtet, weil ihr die Gäste seines Ustad seid, wird anwesend sein. Gezwungen wird niemand. Wer kommt, der folgt nur seinem eigenen Willen. Aber so viele es ihrer sein mögen, es wird dich keiner belästigen. Es wird so sein, als ob du gar nicht zugegen wärst, doch wenn du mit jemand zu sprechen wünschest,
so genügt ein Wort an Tifl, der ihn zu dir holt. Jetzt erlaube, daß ich gehe! Man braucht mich, wie es scheint, anderwärts.«
Schakara stand nämlich oben bei den Säulen und winkte ihm. Er ging.
Was waren das doch für Gedanken, welche sich nun in mir regten! Ich übergehe sie. Um aufrichtig zu sein, muß ich sagen, daß die Vorstellung, der Mittelpunkt einer Feier zu sein, eine unangenehme Empfindung in mir erregte. Es ist keineswegs ein beglückendes Gefühl, die Aufmerksamkeit Vieler auf sich gelenkt zu sehen. Man frage einen sogenannten »berühmten« Mann, und wenn er nicht bloß berühmt, sondern auch verständig ist, so wird man erfahren, wie teuer er diese Aufmerksamkeit zu bezahlen hat. Er ist durchaus nicht zu beneiden, sondern vielmehr zu beklagen. Die Oeffentlichkeit ist die Feindin jedes wahren Glückes. Wohl dem Manne, dem nicht das fürchterliche Los zuerteilt worden ist, die Aufmerksamkeit von Menschen zu erregen, welche so kurzsichtig und so übelwollend sind, ihn wegen einer »Berühmtheit« zu hassen und zu verfolgen, die schon an sich nicht leicht zu tragen ist!
Es war mir also gar nicht lieb, zu wissen, daß ich der Mittelpunkt dessen sei, was man sich vorgenommen hatte; aber ich konnte doch unmöglich so undankbar sein, das, was ich empfand, den Gefühlen dieser guten Leute voranzusetzen! Ich hatte mich zu fügen.
Einige Zeit, nachdem der Pedehr in das Haus gegangen war, sah ich einen Mann aus dem Garten kommen, dessen Aeußeres meine Augen sofort auf sich zog. Nicht seine Kleidung ist's, die ich besonders zu beschreiben habe. Sie zeigte nichts, was mir hätte auffallen können. Sie war so einfach wie die jedes anderen Dschamiki. Aber er selbst, der Mann war es, der gleich beim ersten Blicke mein ganzes Interesse erwecken mußte. Man denke sich Bismarck in orientalischem Anzuge und mit einem lang herabwallenden weißen Bart, aufrecht, stolz und aber doch nachdenklich daherschreitend, so hat man ein deutliches Bild von der Gestalt, die sich mir näherte. Auch das Gesicht von fast frappierender Aehnlichkeit, die starken, buschigen Brauen nicht ausgenommen. Er blieb kurz vor mir stehen, hob beide Hände bis zur Brust, verbeugte sich und fragte:
»Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?«
»Ja,« antwortete ich.
»Ich komme von unserm Pedehr. Er hat mir gesagt, daß du es mir nicht übelnehmen werdest, wenn ich dich begrüße. Ich bin der Chodj-y-Dschuna.«
»Du bist mir willkommen! Erlaube, daß ich dich bitte, hier bei mir Platz zu nehmen!«
Ich schob ihm eines meiner Kissen hin, und er setzte sich. Als er sprach, sah ich, wie liebenswürdig, ich möchte fast sagen harmonisch, seine vollen, trotz des Alters noch so frischen Lippen geschwungen waren. Ich hatte das Gefühl, als könne dieser Mund nur kluge, gütige, nie aber häßliche Worte sprechen. Er bemerkte wahrscheinlich, daß mein Auge nicht mit einem gewöhnlichen Blicke auf ihm ruhte, denn er begann das Gespräch mit der Erkundigung:
»Du schaust mich so eigen an. Bin ich dir vielleicht bereits bekannt?«
»Nein.«
»Nicht! Aber du lächelst! Ich vermutete fast, daß du mich schon einmal gesehen habest.«
»Das ist allerdings der Fall.«
»Ich weiß nichts davon. Wo?«
»Nicht hier, sondern in Dschermanistan.«
»Maschallah! Da bin ich nie gewesen!«
»Das glaube ich dir wohl. Du warst es auch nicht selbst, sondern nur dein Ebenbild.«
»Giebt es dort einen Mann, dem ich so ähnlich bin?«
»Sogar sehr ähnlich! Und er ist kein gewöhnlicher Mann, sondern die rechte Hand des Schah-in-Schah von Dschermanistan.«
Er sann einen Augenblick lang nach und fragte dann:
»Die rechte Hand? Ich weiß nicht, ob ich es erraten werde. Die Faust dieses weisen Herrschers wird Molaka genannt. Seine rechte Hand aber kann wohl nur Bismarak sein. Habe ich es richtig getroffen?«
»Ja.«
»Und du findest, daß ich Aehnlichkeit mit diesem auch bei uns bekannten und berühmten Manne besitze?«
»Sogar eine ganz auffällige! Deine Gestalt ist wie die seinige, und auch in Beziehung auf seine Gesichtszüge bist du eine sehr wohlgetroffene, lebendige Abbildung von ihm.«
»Also eine zufällige Gleichheit körperlicher Eigenschaften, auf welche man sich ebenso wenig einzubilden hat, wie man darüber in Trauer zu geraten braucht, daß man einem nicht beliebten Menschen ähnlich sieht. Nicht durch seine äußeren, sondern durch seine innern Eigenschaften wird der Wert eines Menschen bestimmt. Bismarak ist ein großer, in der ganzen Welt bekannter Mann. Ich bin ein kleiner Musikadschi, den man nur hier in dieser Gegend kennt. Und grad darum bin ich wahrscheinlich glücklicher als mein berühmtes Ebenbild. Ich habe keine Feinde! – Der Pedehr sagte mir, daß du auf unsern Gesang aufmerksam worden seiest. Was du vernommen hast, war nur eine Uebung, nach welcher du nicht urteilen darfst.«
»Das thue ich auch nicht. Dennoch hat das, was ich hörte, mich zum Nachdenken angeregt.«
»Zum Nachdenken? Also treibst du auch Musik? Denn bei wem dies nicht der Fall ist, für den pflegt sie nur vorhanden zu sein, um gehört, nicht aber begriffen zu werden.«
Ich sah ihn erstaunt an. Ein Kurde brachte die Musik mit dem menschlichen Begriffsvermögen in Verbindung! Er war also Musikphilosoph! Dieser Gedanke wollte mich zum Lächeln bringen; ich unterdrückte es aber glücklicherweise. Der Ort, an dem ich mich befand, hatte mich schon öfters überzeugt, daß europäischer Hochmut grad hier noch viel weniger als sonst irgendwo berechtigt sei. Auch sah dieser Mann gar nicht darnach aus, als ob er über einen hohen, ihm unbekannten Gegenstand in kindischer Ueberhebung schwatzen oder faseln könne. Da ihm meine Ueberraschung nicht entging, so erkundigte er sich:
»Du scheinst anderer Meinung zu sein. Habe ich etwas Unüberlegtes gesagt?«
»Nein. Ich schließe ganz im Gegenteile aus deinen Worten, daß du sehr wohl zu überlegen verstehst. Du hast über Musik sehr oft und gründlich nachgedacht?«
»Nicht nur sehr oft, sondern auch sehr gern, gründlich aber nicht. Kein Mensch darf sich rühmen, derartigen schweren Fragen bis auf den Grund zu dringen. Selbst dann, wenn einst unser Geschlecht auf Erden ausgestorben ist, wird das Reich der Töne unerforscht geblieben sein. Ich habe gehört, daß die größten Gelehrten sich mit dieser Forschung befaßt haben und auch noch heut befassen. Es ist vergeblich gewesen. Ich bin kein Gelehrter. Ich baue meinen Garten und mein Feld und hüte meine Schafe. Ich pflege dabei die Musik ganz aus demselben Grunde, aus welchem ich esse und trinke, atme, wache und schlafe; es ist der Befehl der Natur, dem ich gehorchen muß. Das eine beschäftigt meine Gedanken ganz ebenso wie das andere. Diese Gedanken können nicht gelehrt, nicht weise sein, denn ich habe keine Schule besucht, in der man lernt, wie man gelehrt zu denken hat. Sie strengen mich nicht an; ich gebe mir keine Mühe, sie zu finden; sie kommen mir wie die Luft, indem ich Atem hole; sie sind so leicht, so einfach, so selbstverständlich. Ich würde wohl mit keinem Gelehrten über Musik sprechen können, und doch ist es mir ganz so, als ob ich mich dessen, was ich von ihr denke, nicht zu schämen brauchte. Wenn jemand spricht, wenn er singt, wenn er musiziert, so hörst du Töne. Was aber ist der Ton? Ist er es selbst, den du hörst? Oder sind es nur die lustigen Falten seines Gewandes, welche an dein Ohr schlagen? Was für Töne giebt es wohl? Etwa viele? Oder giebt es nur einen einzigen, der sich aber nach der Verschiedenheit der Personen und der Werkzeuge auch verschieden offenbart? So giebt es auch nur eine einzige Liebe, die sich aber bei jedem Geschöpf und in jedem Augenblicke anders zeigt. Dieser Ton ist von Chodeh allen Menschen gegeben worden; sie wären ja nicht Menschen ohne ihn. Er ist ihnen so notwendig wie das Licht, ohne welches sie nicht leben könnten. Die Natur giebt täglich neue Strahlen und täglich neue Töne. Sie kommen von dem einen Lichte und von dem einen Tone. Der Mensch besitzt Organe, beide, die Strahlen und die Töne, in sich aufzunehmen. Und er hat oder macht sich Werkzeuge, beide hervorzubringen, weil dies für die Fortexistenz der Menschheit unentbehrlich ist. Werden die Töne in einfacher, natürlicher Weise hervorgebracht, so bilden sie die Sprache. Erweckt, gebraucht und vereinigt er sie nach künstlerischen Regeln, so hat er das hervorgebracht, was wir Musik zu nennen pflegen. Je mehr er sich mit dieser seiner Kunst von der Natur entfernt, desto schwerer zu begreifen wird ihre Sprache sein. Ja, es kann wahrscheinlich vorkommen, daß man sie gar nicht mehr zu verstehen vermag. Darum meine ich: Wer Musik für andere macht, um begriffen zu werden, der soll der Natur so nahe wie möglich bleiben. Der unmittelbare Nachbar der Natur ist der Gesang, den jedermann versteht, weil er nicht auf das Wort verzichtet hat. Wir lieben ihn und pflegen ihn. Er ist ein trauter Freund, der nicht in Rätseln, sondern offenbar mit uns spricht. Ja, dieser Freund ist sogar mit uns verwandt, ist hier geboren, ist unser eigenes Kind, denn was wir singen, machen wir uns selbst! Die Janitscharenmusik, welche in Teheran und Isfahan zu hören ist, bringt uns keinen einzigen Gedanken, den wir begreifen und liebgewinnen könnten. Ist das auch Musik, Effendi? Wenn die höchste Stufe der Kunst die ist, auf welcher sie mit der Natur nichts zu schaffen hat, so mußt du zugeben, daß ihr eigentlicher Zweck nur der sein kann, das Ohr mit unbegreiflichem und blödem Lärm zu füllen.«
Er hatte langsam und bedächtig gesprochen, aber doch fließend und in einer Weise, die mir deutlich sagte, daß er es mit einem Lieblingsthema zu thun habe. Es war ganz eigen, daß er, doch ziemlich ungefragt, mir die Resultate seines Nachdenkens in so selbstverständlicher Weise dargelegt hatte, als ob er nur aus diesem Grund zu mir gekommen sei. Ein einfacher, armer Dschamiki, und solche Gedanken! Ob richtig, ob falsch, es waren Gedanken, und zwar keine gewöhnlichen! Die Bewohner dieses weltentlegenen Thales mußten mir von Stunde zu Stunde immer interessanter werden! Als er mich jetzt, auf eine Aeußerung wartend, anschaute, fiel mir der Ausspruch eines neueren deutschen Philosophen ein, welcher die Musik als »tönende Weltidee« bezeichnet hat. Da neckte mich der Schalk, zu versuchen, wie weit der Chodj-y-Dschuna mit diesem Worte in Verlegenheit zu bringen sei. Ich sagte also:
»Diese Art der Musik ist allerdings keine tönende Weltidee; das gebe ich zu.«
Mir geschah ganz recht: Ich hatte mich sofort meiner Hinterlist zu schämen. Die starken Brauen zogen sich für einen Moment zusammen; ein kurzer, verweisender Blick zuckte aus den ernsten Augen zu mir herüber, doch unverändert und freundlich wie bisher klang seine Stimme, als er antwortete:
»Tönende Weltidee! Das klingt sehr gelehrt. Ist dieses Wort von dir?«
»Nein. Ich wohne nicht in so hohen Regionen. Es ist einer der größten Weltweisen in Dschermanistan, welcher der Musik diesen Namen gegeben hat.«
»Jeder Weltweise hat seine eigene Sprache. Ich weiß also nicht, was grad dieser unter ›Weltidee‹ versteht. Aber auch ich habe mir eine Idee von der Welt gemacht und ebenso eine von der Musik, und beide stehen in enger Beziehung zu einander. Sag, Effendi, giebt es nicht gelehrte Leute, welche behaupten, daß nichts in der Welt verloren gehe?«
»Ja; die giebt es allerdings.«
»Ich glaube dasselbe. Kein Mensch, kein Tier, keine Pflanze, kein Wassertropfen, kein Wort, kein Gedanke kann verloren gehen, kann sich so vollständig auflösen, daß nichts, gar nichts mehr von ihm vorhanden wäre. Alles Vorhandene ist dem Wandel unterworfen, kann aber nicht in Nichts zerfallen. Das Geistige kann körperlich, und das Körperliche kann geistig werden. So haben sich die Schöpfungsworte Gottes zu Welten verkörpert und zu allem, was sich auf diesen Welten befindet. Jedes dieser Worte hatte seinen eigenen Ton, und alle diese Töne sind auf die Verkörperungen der Worte übergegangen. Sie sind hörbar bei ihnen, oder sie ruhen in ihnen, bis sie hörbar werden. Gott sprach im Blitz das Wörtlein Donner aus; nun rollen Donner, so oft die Blitze zucken. Die Verkörperung des Wortes löst sich in demselben Ton auf, in welchem das Schöpfungswort erklungen ist. Da werden Töne der Freude und des Schmerzes frei, der Klage und des Trostes, des Zornes und der Vergebung; aber sie alle, alle vereinen sich zum Klange des einen großen Wortes, welches vom Munde Chodehs ausging und wieder zu ihm zurückkehrt. Das ist das Wort der Liebe. Und diese Liebe ist der Grundton und Urquell jeder wahren Kunst und jeder wahren Musik. Denn –«
Er konnte nicht weitersprechen, denn jetzt kam Hanneh die Stufen herab, zu uns her und sagte zu mir:
»Effendi, mein Halef ist erwacht und hat deinen Namen genannt. Er möchte mit dir sprechen.«
Ich entschuldigte mich bei dem Chodj-y-Dschuna und bat ihn, zu warten, bis ich wiederkäme. Er aber schien es für höflich zu halten, mich freizugeben, indem er meinte, daß wir das jetzt unterbrochene Gespräch ja zu jeder Zeit wieder aufnehmen und fortsetzen könnten. Ich ließ ihn nicht gern gehen. Mir war, als ob er die Hauptpunkte erst noch vorzubringen gehabt habe, und so mitteilsame Augenblicke, wie der jetzige gewesen war, pflegen bei Männern seiner Art nicht eben häufig zu sein.
Als er sich von uns gewendet hatte und ich mit Hanneh die Treppe hinaufstieg, was sie, um mich zu schonen, sehr langsam that, sagte sie:
»Ich habe euch gestört; aber du darfst mir nicht zürnen. Halef hatte so Angst um dich.«
»Angst? Warum?«
»Er sagte, du befändest dich in sehr großer Gefahr.«
»Ich? Ich saß ja so ruhig dort auf den Kissen! Hast du ihm das nicht mitgeteilt?«
»Das that ich wohl; aber er glaubte es nicht. Er verlangte dringend, dich sofort zu sehen.«
Jetzt waren wir oben und traten in die Halle. Halef hatte sein Gesicht dem Eingange zugekehrt. Sein Auge schaute ängstlich zu uns her. Als er mich sah, gab ihm die Freude einen sichtbaren Ruck; ein frohes Lächeln ging über sein hageres Angesicht, und er sagte, so laut er konnte:
»Sihdi, du bist da, wirklich da! Allah sei Dank! Nun ist alles, alles wieder gut!«
Ich ging zu ihm hin, setzte mich auf den Rand seiner Lagerstätte, nahm seine Hand in die meinige und antwortete:
»Ja, mein lieber Halef; ich bin da; ich bin bei dir. Ich befinde mich wohl. Du hast wohl einen schlimmen Traum gehabt, in welchem du mich sahst?«
»Es war kein Traum – Warte! – Ich bin vor Angst um dich so schwach geworden. – Ich muß erst ruhen; – muß Kräfte sammeln.«
Seine Stimme war hierbei leiser und immer leiser geworden. Dann schloß er die Augen. Hanneh hob den Zeigefinger bekräftigend in die Höhe, zog die Brauen hoch empor und flüsterte mir zu:
»Er schlief allerdings nicht; aber es war auch kein Wachen. Ich habe ihn früher niemals so gesehen. Er bewegte das Gesicht und die Lippen genau so, als ob er vor Entsetzen schreie; aber es war kein Laut zu hören. Der Schweiß trat ihm endlich auf die Stirn; den wischte ich weg, und bei dieser Berührung erwachte er.«
»Es war aber doch nur Traum!« sagte ich ebenso leise.
»Nein!« behauptete sie. »Ich habe einmal einen Arifi gesehen, der die Gabe hatte, halb wachend und halb träumend in die Zukunft zu schauen. Genau wie dieser Mann sah vorhin Halef aus. Warte, was er erzählen wird!«
Wir befanden uns allein in der Halle. Es war still. Da öffnete Halef die Augen, richtete einen langen Blick auf mich, als ob er sich überzeugen wolle, daß ich wirklich bei ihm sei, schloß sie wieder und begann dann, langsam und mit leiser, aber doch vernehmlicher Stimme zu sprechen:
»Es war bei dir, fern, sehr ferne von hier, in Dschermanistan. – Ich hörte daß du sterben müssest, und doch warst du nicht krank, sondern gesund und stark, rüstiger, viel rüstiger noch als jetzt. – Und doch lagst du im Sterben. – Aber du lagst nicht eigentlich, sondern du standest, aufrecht, ohne Furcht, lächelnd. – Und doch wußtest du es, und doch sagtest du es selbst, daß du jetzt sterben werdest. – Nicht schnell, nicht plötzlich, sondern langsam, sehr langsam. – Dein Tod werde nicht Stunden und Tage, nicht Wochen und Monde, sondern Jahre hindurch dauern! –«
Er machte eine Pause, und so fragte ich ihn:
»Sprach ich denn mit dir?«
»Nein. Du sahst mich ja gar nicht. Du sprachst überhaupt kein Wort! Alle, alle brüllten und schrieen auf dich ein; du jedoch bliebst ohne Worte, ganz als seist du stumm. – Aber alles, was du dachtest, das war genau so, als ob du mir es sagtest. Ich erfuhr jedes Wort, durch dich, obgleich du keine Silbe sprachst. –«
»So waren also Andere bei mir?«
»Viele, sehr viele. – An ihren Anzügen sah ich ja, daß ich mich bei dir im Abendlande befand. Sie waren nicht morgenländisch gekleidet. – Es waren ihrer viele, die um dich herumstanden, lauter Feinde, grimmige Feinde. Sie riefen; sie schrien; sie brüllten; sie höhnten; sie sagten, du seiest der schlechteste Mensch auf Allahs Erde. Links, weit in das Land hinaus, standen noch welche; die freuten sich und brüllten mit. – Rechts gab es eine große, große Menge von Leuten. Diese waren deine Freunde und forderten dich unaufhörlich auf, dich zu wehren. Das thatest du aber nicht. – Von deinen Feinden kam einer nach dem andern auf dich zu. Sobald er dich erreichte, verlor er seine menschliche Gestalt und verwandelte sich in eine häßliche Made, welche sich tief in dein Fleisch fraß. – Ich schrie, so oft ein Mensch zum Wurm, zur Made wurde und sich in deinen Körper bohrte. Du aber hörtest mich nicht, und ich konnte nicht hin, dich zu beschützen. – Deine Augen waren hell und die Züge deines Angesichts freundlich. Man sah dir an, du freutest dich; du fühltest keine Schmerzen. Du hattest Mitleid mit den Menschen, welche sich durch ihren Haß zu Würmern machten, um dich völlig aufzuzehren, wie ein Leichnam im Grabe von den Maden aufgefressen wird. – Aber es sah schrecklich aus! Die schmutzfarbigen Fresser nagten sich immer höher an dir hinauf; sie wurden immer dicker und fetter, und wenn sie zum Platzen waren, fielen sie herab und krümmten sich da unten vor Vergnügen. –«
»Ein sonderbarer Traum,« sagte ich kopfschüttelnd, als er jetzt wieder eine Pause der Erholung machte.
»Kein Traum! Und auch nicht sonderbar! Er war weit mehr; er war entsetzlich! – Einmal bemerkte ich, daß du plötzlich und zufällig an mich dachtest. Da wurde ich dir sichtbar. Du sahst mich stehen und vergeblich die Hände ringen. – Da riefst du mir zu: ›Sorge dich nicht um mich! Das alte Fleisch muß herunter! Das laß ich von den Maden mir besorgen! Weh thut es nicht! Du weißt es ja: der 'Hadschi' hat zu sterben; ich gebe ihn hier den Würmern, die seine Totengräber sind. Der 'Halef' aber bleibt. Dem können sie nichts thun, weil er nicht sterblich ist. So werde ich schon vor dem Tode frei vom Tode sein!‹ – So sagtest du, und die Feinde hörten es. Da wuchs ihr Grimm in das Maßlose. Sie veränderten nicht mehr einzeln oder zu zweien ihre menschliche Gestalt, sondern sie wurden jetzt plötzlich alle, alle fressende Maden und stürzten sich auf dich. – Ich schrie vor Angst, schrie wieder und immer wieder. Da – da berührte mich die erlösende Hand meiner Hanneh. Sie wischte mir den Schweiß von der kalten Stirn, und das war der Anlaß, daß ich erwachen durfte! –«
Er hatte zuletzt immer schneller und schneller gesprochen und das, was er sagte, mit hastigen Armbewegungen begleitet. Das war für seine geschwächte Kraft zu viel gewesen. Er kroch in sich zusammen und brachte keinen Laut mehr hervor. Das machte Hanneh Sorge, doch beruhigte ich sie in leisem Tone:
»Fürchte nichts. Hat er den Traum selbst überstanden, so wird ihm auch die Erzählung nichts schaden. Es ist keine Gefahr vorhanden, sondern nur gesteigerte Schwäche. Er wird einschlafen und dann gekräftigt wieder erwachen.«
So geschah es auch. Schon nach wenigen Minuten hatte ihn der Schlummer uns entzogen. Wir wechselten noch einige Bemerkungen über das eigentümliche Vorkommnis, und dann verließ ich die Halle, um mich wieder hinaus auf meinen Platz zu begeben. Als ich hinauskam, stand eine Sänfte dort, und bei ihr »unser Kind«, welches mir sagte, daß ich jetzt, wenn es mir recht sei, hinüber nach dem Gotteshause getragen werden solle. Ich war natürlich einverstanden. Tifl trug ein, wie es schien, ganz neues Feierkleid, und die Sänfte war reich mit Rosen und sonstigen Blumen geschmückt. Die »Festjungfrau« stand am Gartenthore, und ihr Nicken und Knixen sagte mir, wessen Hand diese freundliche Ausstattung besorgt hatte.
Vor meiner Ankunft drüben auf der jenseitigen Höhe hatte ich vor allen Dingen zwei Eindrücke zu überwinden, den des Gespräches mit dem Musiklehrer und den von Halefs Traum. Mit dem Traum war ich schnell fertig. Jeder Mensch trägt zwei Prinzipe in sich, ein gutes und ein böses. Wenn ich Feinde haben sollte, die es für ihre Aufgabe halten, das Böse in mir abzutöten und es sich zu ihrem eigenen Wohlbefinden einzuverleiben, so werde ich mich allerdings mit keinem einzigen Worte dagegen wehren. Ein Kampf zu dem Zwecke, fehlerhaft zu bleiben, würde die allergrößte Torheit sein, die ich mir einst vorzuwerfen hätte. Der menschliche Körper ist, wenn er begraben wird, allerdings für die Würmer bestimmt. Aber die Seele, der Geist? Giebt es vielleicht auch geistige Maden, welche in den ethischen Fäulnisstoffen prassen, ohne die wir Sterbliche nicht mehr Menschen sondern Götter wären? Arme, arme Made, wie bist du zu bedauern! Welcher Ordnung der Lebewesen mag dein Organismus angehören, da er dazu bestimmt zu sein scheint, sich an moralischen Leichen vollzumästen! Ich hoffe zu deinem eigenen Heile, daß du nicht in Wirklichkeit, sondern nur in Halefs Traume vorhanden bist!
Was den Chodj-y-Dschuna betrifft, so vermutete ich, in ihm eine Quelle gefunden zu haben, aus welcher mir neue, dem Abendlande fremde Ansichten über Musik fließen könnten. Er hatte nur so kurze Zeit gesprochen, und doch besaß schon das Wenige, was mir von ihm gegeben worden war, für mich eine Tiefe, in welche hinabzusteigen ein hoher und edler geistiger Genuß zu werden versprach. Dieser Mann hatte Gedanken und Anschauungen, die mir gewiß nur zur Bereicherung dienen konnten, und ich fühlte meine europäischen Wangen keineswegs bei dem Vorsatze schamrot werden, von diesem ungelehrten Kurden so viel wie möglich lernen zu wollen. Der Osten hat uns mehr, viel mehr geistige Schätze geliefert, als wir in unserm Stolze geneigt sind, zuzugeben. Es liegt für uns noch Manches dort verborgen, wovon wir keine Ahnung haben, und der Chodj-y-Dschuna kam mir wie ein abseits vom großen Wege liegen gebliebener Diamant vor, der es wohl wert war, daß ich ihm Beachtung schenkte. –
Diese Gedanken begleiteten mich, als ich den Berg hinabgetragen wurde – Schloßberg, hätte ich beinahe gesagt. Der Weg war breit und wohlgepflegt und von ausgewählten Bäumen, Ziersträuchern und schönblühenden Pflanzen besetzt. Ich habe daheim so manches Schloß gesehen, welches keinen von so verständiger Hand angelegten Aufgang hatte. Jede Krümmung war berechnet, einen neuen und immer wieder schönen Blick über das Thal zu bieten. Wenn der Ustad aus seinem »hohen Hause« trat, um diesen Weg nach dem Duar hinabzusteigen, wie mußte er sich da seines Werkes freuen! Und jeder, der zu ihm emporzugehen hatte, konnte das nur mit Dank und Liebe thun!
Daß dieses letztere der Fall sei, sah ich jedem an, der uns begegnete. Wie freundlich waren diese Leute und wie gern gaben alle ihre Grüße! Ich bemerkte keinen neugierigen, unbescheidenen Blick, und kein einziges güteloses Auge. Selbst die Kinder winkten mir mit ihren kleinen Händen zutraulich grüßend zu, und einige Male hört ich, daß ich von ihnen »Dust-y-Duar« genannt wurde. Dieses allgemeine und ungekünstelte Wohlwollen hätte in mir ganz dasselbe Gefühl erwecken müssen, wenn es nicht schon vorhanden gewesen wäre. Ich bin gern zu Vergleichen geneigt. Beim Anblicke der hoch aufstrebenden Berge und des sich zwischen ihnen hinziehenden Ortes zeigte mir die Erinnerung jene ebenso gelegenen Gebirgs- und Alpendörfer, in denen man nur von der Habsucht empfangen, von dem Eigennutz zu Tische geführt und von der Ausbeutung auf Schritt und Tritt belästigt zu werden pflegt. Du armes, armes Kurdistan, wie fern bist du doch davon, ein menschlich kultiviertes Land genannt zu werden!
Tifl ging voran. Man ahnt wohl kaum, was diese drei Worte sagen! Jede seiner Bewegungen verkündete:
Dieser Effendi hinter mir ist meinem Schutze für den ganzen Tag anvertraut worden! Ich bin zwar nichts, gar nichts weiter, als ihr alle seid, aber heut muß ich doch bitten, mich als Respektsperson zu betrachten! Er trug Sandalen und hatte seine Spinnenmütze durch ein buntes, malerisch um den Kopf geschlungenes Tuch ersetzt. Man grüßte ihn heut anders als wohl sonst. Warum auch nicht? Dünken nicht auch wir uns, ganz andere Menschen zu sein, sobald wir unsere Lenden durch den Frack entblößt und unsere gesellschaftliche Bedeutung in dunkelzylinderhafter Weise »behauptet« haben? Das Festkleid stimmt den Menschen feierlich, und in feierlicher Weise geschah alles, was »unser Kind« am heutigen Tage that.
Indem wir quer durch das Dorf kamen, sah ich die Bewohner desselben erwartungsvoll vor den Thüren stehen. Sie hatten ihre besten Sachen angelegt und trugen Blumen in der Hand oder auf der Brust. Jedermann hatte Gäste, die von auswärts angekommen waren. Die Männer waren unbeschäftigt; die Frauen und Mädchen aber hatten mit allerlei Vorbereitungen zu thun, welche darauf schließen ließen, daß man heut nicht hier unten sondern oben auf dem Berge speisen werde.
Der Weg, welcher jenseits hinaufführte, war ebenso in Serpentinen angelegt wie der, den wir von unserm Hause herabgekommen waren. Auch seine Einfassung zeugte von denselben sorgfältig pflegenden Händen. Aber ich achtete weniger auf ihn selbst, als vielmehr auf die Aussicht, welche er nach der Seite des »hohen Hauses« bot. Ich sah es heute zum ersten Male liegen. Seine ganze Fronte lag vor meinen Augen. Sie wuchs immer deutlicher aus dem jenseitigen Berge heraus, je höher ich auf den diesseitigen hinaufgetragen wurde. Was von da drüben zu mir herüberschaute, war mir ein Rätsel, ein großes, großes baustilistisches Rätsel. Es zog meine Blicke förmlich zu sich hinüber, und es kostete mich eine Art von Selbstüberwindung, sie schließlich davon abzuwenden, weil ich den Anblick nicht langsam, nach und nach entstehen, sondern plötzlich, auf einmal, in seiner ganzen Ungeteiltheit auf mich wirken lassen wollte. Und sonderbar: Kaum hatte ich diesen Entschluß gefaßt, so drehte der auch jetzt noch immer voranschreitende Tifl sich um und sagte:
»Ich bitte dich, Effendi, jetzt nicht zum »hohen Hause« hinüberzuschauen!«
»Warum« fragte ich.
»Unser guter Ustad gebot mir, dich darum zu bitten.«
»Hat er dir einen Grund mitgeteilt?«
»Er sagte etwas, was ich nicht verstehe. Er sprach von einer langen, langen Zeit.«
»Von welcher Zeit?«
»Von der, die noch vor der großen Flut gewesen ist, die einst über die ganze Erde ging. Seitdem sind viele tausend Jahre vergangen.«
»Was hat das aber mit deiner Bitte zu thun?«
»Das ist es ja, was ich nicht begreife. Du sollst diese vielen tausend Jahre nicht nach und nach mit deinen Augen durchleben, indem du unterwegs unausgesetzt hinüberschaust. Sondern du sollst warten, bis du oben angekommen bist und unter unsern Säulen sitzest. Dann wirst du staunend diese ganze, lange Zeit mit einem Male vor dir liegen sehen und sie vielleicht vom ersten bis zum letzten Augenblick begreifen.«
»Ich werde diesem deinem Rate folgen, mein lieber Tifl.«
»Ja, thue es! Und noch etwas habe ich dir zu sagen. Darf ich gleich jetzt, damit ich es nicht vergesse?«
»Gewiß!«
»Du sollst bemerken, daß der Berg der Vater dieses Hauses ist. Es tritt nur vorn aus ihm heraus. Die innere Seite liegt in ihm verborgen. Rechts und links am Berge siehst du die Brüche, aus denen die Steine zum Bau des Hauses stammen. Sie liegen so verschiedenartig übereinander wie die Stockwerke des Gebäudes. Unten dunkel, nach oben immer heller werdend. Nie ist ein fremder Stein zu diesem Bau verwendet worden. Nur die Menschen, welche die verschiedenen Stockwerke aufeinander gesetzt haben, sind aus fremden Ländern gekommen und nach ihrer Zeit wieder in der Fremde verschwunden. Unser Ustad sagte, das sei so Erdenbrauch.«
Wir waren jetzt an eine Biegung gekommen, welche wie ein Altan aus dem Berge hervortrat. Hier ließ Tifl halten, um mich die sich hier bietende, herrliche Aussicht genießen zu lassen. Er hob die Hand gegen das »hohe Haus« und sagte:
»Ich zeige zwar hinüber, doch schaue nicht hin. Hier, wo wir uns befinden, stand unser Ustad einst mit einem fremden Mann, welcher gekommen war, uns seine Religion zu bringen. Er behauptete, die unsere werde uns nicht in den Himmel, sondern in die Hölle führen. Als er aber einige Zeit bei uns gewohnt hatte, erkannten wir, daß sein Himmel, wenn alle Seligen darin ihm glichen, für uns eine Hölle sein würde. Er mußte wieder gehen. Am Tage, bevor er uns verließ, ging der Ustad mit ihm hier herauf. Sie blieben hier, wo wir uns jetzt befinden, stehen. Der Fremde schüttelte den Kopf über unser »hohes Haus«. Er meinte, daß es ein ganz gedankenloses, häßliches Gebäude sei. Sie hatten mich mitgenommen. Ich befand mich bei ihnen und hörte also, was ihm der Ustad antwortete.«
»Nun, was?«
»Das kann ich nicht so schnell sagen. Ich muß in die Erinnerung hinabsteigen, um es dir heraufzuholen.«
Er sann eine Weile nach; dann sprach er weiter:
»Ihr fremden Gäste seid doch sonderbare Leute! Ihr kommt hierher und tretet mit Forderungen und Aenderungen an uns heran, als ob dies Land nicht uns, sondern euch gehöre und wir eure Gäste seien. Ein Gast kommt heut, verweilt einige Zeit und geht dann wieder fort. Er wird Spuren seines kurzen Besuches zurücklassen; aber wenn er ein verständiger Mann ist, wird er darauf verzichten, unsere Berge umzustürzen und unsere Thäler auszufüllen. Die Erde ist diesem Thale gleich; der Mensch kommt als ihr Gast. Auch die Völker sind nur Gäste. Sie lassen Spuren davon zurück, daß sie dagewesen sind; aber die Berge in die Thäler stürzen und die ganze Erde in ein einziges großes Feld verwandeln, auf dem es nichts als allgemeine Gleichheit geben würde, das wird kein noch so großer Mann und kein noch so mächtiges Volk fertig bringen. Und das ist ein Glück. Durch diese Ausgleichung würde alles Leben auf der Erde bald vernichtet werden. – So lautete der eine Gedanke des Ustad.«
Er dachte wieder nach und fuhr dann fort:
»Du kommst zu uns, um uns diese Gleichheit aufzuzwingen. Du forderst die Vernichtung des Bestehenden. Du sprichst von einer anderen, höheren Kultur. Grad so wie du hat bisher noch jeder Mensch und jedes Volk von der seinigen gesprochen. Und die nach uns kommen, werden von der ihrigen ganz dasselbe sagen! Du hast das Bauwerk da drüben als häßlich, als sinnlos bezeichnet; ich aber sage dir, es hat nicht nur Sinn, und zwar einen tiefen, tiefen Sinn, sondern es ist eine ganze, ganze Predigt, eine so gewaltige Predigt, wie du mir wohl keine halten kannst! Wer hat diesen Bau errichtet? Etwa ein einziger Meister? Während kurzer Lebenszeit? Die Jahrtausende kamen und gingen; die Völker sind gekommen und gegangen; die Zeit war mit der Menschheit Gast auf Erden, und jeder Gast hat die Spur von dem zurückgelassen, was er hier in dieser seiner Fremde wollte. Die Menschen, welche hier erschienen und verschwanden, haben einst, da sie noch lebten, hörbare Worte gesprochen; ein höherer Wille aber trieb sie an, dem vergänglich Hörbaren steinerne Gestalt zu verleihen, um es bleibend sichtbar zu machen. Jeder von ihnen hat geglaubt, daß nur er allein der Weise, der Erleuchtete sei, daß nur er allein das Richtige getroffen habe. Aber nur einer von ihnen, der Erste, baute auf den eigentlichen Grund. Auf was aber setzten die anderen ihre Steine? Auf das, was sie verwarfen! Könntest du es anders machen, wenn du bei uns bleiben und da drüben bauen wolltest? Die Gedanken wären wohl vielleicht von einem anderen Orte; die Steine aber müßtest du von diesem unserm Berge nehmen, und die Arbeit müßte dir von uns geliefert werden. Nun frage ich dich, welchen Einfluß wohl dieses Material und diese unsere Arbeit auf deine Gedanken haben würden. Zeige mir in den Stockwerken da drüben einen reinen, einheitlichen Stil! Er fehlt, und darum hast du dieses Haus häßlich genannt. Giebt es überhaupt einen allein echten, einen allein wahren Stil? Bist du es, der ihn bringt? Wird in deiner Heimat ganz ausschließlich nur nach ihm gebaut? Du schweigst. Ich will dasselbe thun!«
Es ist ganz selbstverständlich, daß der gute Tifl nicht so sprach, wie ich seine Aeußerungen hier niederschreibe. Er gab sich alle Mühe, die Ausdrucksweise seines Herrn nachzuahmen, und es war wohl rührend, zu hören, daß ihm das Unmögliche so ganz und gar nicht gelingen wollte. Aber ich hatte da wieder einen hochinteressanten Beweis von dem Einflusse jenes wohlthätigen Geistes, der mit dem geheimnisvollen Herrn des »hohen Hauses« hier bei den Dschamikun eingezogen war. Ich mußte zwar vieles erraten und manches ergänzen, aber die Hauptsache war doch die, daß Tifl den Ustad verstanden hatte und mit mir nun hierüber sprechen konnte. Auf diesem bescheidenen Wege hatte wohl manches tiefe und schöne Wort des greisen, ehrwürdigen Denkers nicht nur im Duar, sondern auch noch weit über ihn hinaus die beabsichtigte Verbreitung gefunden. Der Mund des »Unmündigen« spricht oft wirkungsvoller als die Lippe der Gelehrsamkeit.
Als wir den Weg nun fortsetzten, führte er uns aus den Gärten heraus auf eine grüne Alm, die sich bis hinauf zu den Blumensäulen des Beit-y-Chodeh ausbreitete, hinter welchem dann der hohe, von zahlreichen Pfaden durchzogene Wald begann. Der Tempel selbst war, wie bereits längst gesagt, von einem umfangreichen Strauch- und Rosenpark umgeben, den des Schattens und der Winde wegen breitkronige Bäume flankierten. Als wir durch diese Anlage kamen, hätte ich am liebsten anhalten lassen, um aus der Sänfte zu steigen und bewundernd von Strauch zu Strauch, von Busch zu Busch zu gehen. Was für herrliche Rosen waren da zu sehen! Wie verschieden die Sorten, und wie schön jede einzelne in ihrer Art! Und zwar in dieser Höhe des Gebirges! Welche Mühe und Arbeit, welche Liebe und Geduld war nötig gewesen, um alle die duftenden Kinder des Tieflandes und der windesstillen Täler hier oben zu akklimatisieren! Mit welchem Verständnisse war der Park angelegt, und wieviel fleißige »Blumenhände« gehörten dazu, ihn so zu erhalten, wie er jetzt vor mir lag! Ich sah, daß man noch bis in die letzten Stunden mit dem Messer thätig gewesen war, um alles zu entfernen, was sich als unschön oder auch nur überflüssig zeigte.
Das Beit-y-Chodeh lag mitten in dieser Herrlichkeit auf einer breiten, weit hervorstehenden und festgegründeten Felsenplatte; die aus der kompakten Masse des Berges nur zu dem Zwecke hervorgesprungen zu sein schien, als Trägerin eines so weit in die Umgegend hinausleuchtenden Gotteshauses dienen zu sollen. Die abfallende Lage brachte es mit sich, daß die vordern Säulen auf hohem Felsen fußten, der auf breiten Stufen zu ersteigen war, während die hintere Seite sich auf der Berührungslinie des Steines mit dem Berge erhob.
Das Innere des Tempels war mit Platten ausgelegt und, wie schon einmal erwähnt, vollständig leer. Aber heut hatte man vorn, an der östlichen Säule, von welcher aus sich die beste Aussicht in die Weite und ein Ueberblick der ganzen Nähe bot, für mich einen Sitz hergerichtet, nach welchem ich direkt getragen wurde. Als ich ausgestiegen war, entfernten sich die Leute mit der Sänfte; Tifl aber sagte:
»Ich bin dein Diener für den ganzen Tag, Effendi. Ich werde stets dort an der hintersten Säule sein. Du brauchst mir nur zu winken, wenn ich zu dir kommen soll. Aber es ist der Wunsch des Ustad und auch des Pedehr, daß niemand dich belästige. Sie bitten dich, zu denken, du seiest zwar hier in unserer Mitte, aber ganz unsichtbar für Jeden, mit dem du nicht verkehren willst. Hast du jetzt etwas zu befehlen?«
»Bleib jetzt noch hier bei mir,« antwortete ich. »Ich bin doch fremd und werde dich wahrscheinlich zunächst um Auskunft zu bitten haben.«
Er erwartete wohl, daß ich mich setzen werde; aber dies zu thun war mir unmöglich. Der Blick, der sich mir von dieser Stelle aus bot, war so köstlich, so einzig, so unvergleichlich schön, daß er einen Sterbenden hätte zwingen können, die Augen wieder aufzuschlagen und nach diesem Erdenparadiese zurückzukehren.
Die Sonne stand jetzt fast im Scheitelpunkte; also lag das Innere des Tempels, durch welchen ein reger Lufthauch strich, in kühlem Schatten. Ich lehnte mich an die Außenseite der Säule und ließ mein Auge rundum wandern gehen.
Im Osten schlossen sich die Berge bis auf jene Lücke, welche den Weg nach dem Hasen- und Courierpaß offen ließ. Im Norden ragten himmelhoch die stillen, ernsten Gipfel, die durch Nadel- und dann Laubwald, immer wilder werdend, zu den Gärten und mit diesen bis mitten in den Duar hinabstiegen. Im Süden stand ich hier auf frommer Höhe, und im Westen trat das »hohe Haus«, den Blick gefangen nehmend, aus dem mächtigen Massiv der schweren Felsenwand hervor.
Tief unten lag der See. Da die Sonne fast senkrecht über ihm stand, so strahlte er in jenem köstlichen, adularen Blauweiß, welches den ceylonischen Mondsteinen eigen war, die mir in den Juwelenläden von Colombo zum Kaufe angeboten wurden. Auf dem Hauptwege des Duar herrschte reges Leben. Die Bewohner begannen, ihre Häuser und Zelte zu verlassen, um zum Beit-y-Chodeh emporzusteigen. Die Frauen und Mädchen trugen in malerischer Weise auf den Köpfen oder Schultern Thongefäße oder selbstgeflochtene Körbe mit Blumen und den Speisen, welche mitzunehmen waren. Die sich nicht, wie sonst im Oriente, absondernden Männer gingen ihnen würdevoll zur Seite. Die Kinder füllten, stets in lebhafter Bewegung, sämtliche Lücken aus. Das waren nicht die langsamen, schweren, melancholischen und nur selten eine Miene verziehenden Puppen, als welche im Morgenlande sich so oft die Kinder zeigen! Auch ein Teil der Tierwelt war mit in Bewegung, denn man hatte für frische Milch zu sorgen; die deshalb mitzunehmenden Kühe und Ziegen waren mit grünen Zweigen geschmückt, und manche von ihnen trugen bunte Sträuße auf den Hörnern. Waffen sah ich nicht. Es war ein Bild der Eintracht und des Friedens.
Das alles erfaßte ich mit einem kurzen Blicke. Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit dem »hohen Hause« zu. Was ich in Tifls Manier von dem Gespräche des Ustad mit dem Fremden über dieses Haus gehört hatte, das sah ich nun vor meinen Augen liegen. Es war einiges dabei gewesen, was ich nicht verstehen konnte; nun aber begriff ich es sofort. Ja; der Ustad hatte recht gehabt: ich sah eine in Stein laut tönende Predigt der Jahrtausende vor mir liegen. War sie häßlich, war sie schön? Das fragte ich mich nicht. Ich sah und hörte sie zu mir herüberklingen, in Tönen, die so gewaltig waren, daß für Stilfragen weder Zeit noch Raum in mir gefunden wurde. Die Wirkung war da; was kümmerte mich der Stil!
Was sind die altindischen Tempel? Die ägyptischen Pyramiden? Die mittelamerikanischen Teocalli? Gewaltige Menschenwerke, welche der Zerstörung bis heutigen Tages trotzten, ja. Doch reden sie zu uns von einer gewissen, ganz bestimmten Zeit in einem ebenso gewissen, ganz bestimmten Tone. Hier aber lag ein Bau vor mir, zu dem in unberechenbarer Vorzeit der Grund gelegt worden war; die später Gekommenen hatten ihn fortgesetzt, und heut sah ich, daß er noch fortzusetzen war. Also kein Ueberrest aus einer vergangenen, besonderen Epoche, sondern ein steinernes Kalenderwerk von Anbeginn bis auf die Gegenwart, mit Raum auch noch für die zukünftige Zeit!
Von Anbeginn?
Ja, von Anbeginn! Denn die lange, untere, massive, viele, viele Meter hohe und bis in das Innere des Berges reichende Mauer hatte kein anderer als nur der gegründet, der von Anfang war! Waren vielleicht die höheren Teile dann ihm geweiht gewesen? Wie hieß hierauf der Mensch, der mächtige, dem diese Riesenmauer noch zu niedrig gewesen war? Vielleicht Olor, der sagenhafte? Oder war es Hasisadra, von dem man sagt, daß er zur Zeit der Sündflut dort König gewesen sei? Hatte er das Nahen der Flut geahnt und baute höher, um sich vor ihr zu schützen? Oder ging der Geist des ersten Brudermordes, Kains Gespenst, im Lande um? Mußte der Mensch sich von den Menschen durch Mauern trennen, die selbst für Giganten unersteigbar waren? Denn die Riesenquader, welche ich auf Gottes Fundament an- und übereinandergefügt sah, hatten wenigstens dieselben Dimensionen, wie die weltberühmten Mauersteine, welche die Umfassungsmauer von Baalbeck bildeten. Ich selbst bin, um ihn auszuschreiten, dort auf einen Block gestiegen, den man Chadschar el Hubla nennt, und habe ihn über einundzwanzig Meter lang, mehr als vier Meter hoch und genau vier Meter breit gefunden. Und hier am »hohen Hause« zählte ich sechs Lagen solcher Steine. Sie waren nicht durch Mörtel, sondern durch ihre eigene Schwere miteinander verbunden und hatten so fein und genau geschliffene Seiten, daß von da aus, wo ich stand, selbst nach verflossenen Jahrtausenden die Fugen nicht überall deutlich zu erkennen waren. In gleicher Höhe mit ihnen lagen in den Seiten des Berges die Brüche, denen man diese Kolosse entnommen hatte. Sie waren dunkel, fast schwarz gefärbt. Welche Art von Gestein, das konnte ich natürlich von so weit aus nicht bestimmen.
Was für Innenräume waren durch diese Quader wohl nach außen abgeschlossen worden? Es gab in gewissen Zwischenräumen Oeffnungen, um Luft und Licht den Zutritt zu gestatten. Ich war sehr wißbegierig, zu erfahren, ob man noch heut von oben da hinuntersteigen könne. Da die Treppe eine spätere Erfindung ist, so hatte früher wohl ein steinerner Gangweg hinaufgeführt. War ein solcher doch sogar bis fast auf die Spitze des babylonischen Turmes, natürlich in Spiralen, angelegt gewesen! Jene Zeit verwendete kolossale Kräfte auf den Gebrauch kolossaler Mittel. Waren die Zwecke entsprechend groß? Wer will und kann die Antwort übernehmen?
Diese Riesenquadermauer erreichte nicht die volle Breite des Felsenfundamentes. Es war überhaupt jedes folgende Stockwerk schmäler als das vorhergehende gebaut, dafür aber mehr artikuliert. Je mehr der Geist den Stoff beherrscht, desto weniger ist von dem letzteren zu gleichem Zwecke nötig. Die obere Lage der Steine war etwas vorgerückt, vielleicht den sechsten Teil von ihrer Breite. Dadurch war der Abschluß erreicht worden, der zugleich als Brüstung für das jedenfalls glatte Dach gedient hatte.
Welchem Zwecke hatte dieser cyklopische Bau gedient? Der Verehrung des großen, einzig-einen El, dessen Name in so vielen Gottesnamen wiederklingt? Warum ihm, dem »Allanwesenden« und »Nieverschwindenden« diese unzerstörbaren Felsenblöcke auf unwandelbarer, von der Natur selbst hergestellter Unterlage?
Wie lange wohl hatte das obere Dach dieses Souterrain, wie ich es nennen will, das Sonnenlicht geschaut? Wer kann es sagen! Dann waren Andere gekommen und hatten weitergebaut. Die folgende Etage war, wie bereits erwähnt, schmäler; auch trat sie etwas zurück, um eine Vorhalle bilden zu können. Auch sie bestand aus schweren Werkstücken, welche teils dem schon angegebenen, teils den darüberliegenden Brüchen entnommen waren. Das Material der letzteren hatte hellere Farbe. Darum schaute die Etage nicht so sehr tiefernst, fast drohend wie das Erdgeschoß zu mir herüber. Sie war nicht hoch, zeigte dafür aber schon das Bestreben der Gliederung und des figurenbildenden Meißels. Die vordere Seite wurde nicht von einer kompakten Mauer gebildet, sondern von starken, breiten, ungemein tragfähigen Pfeilern, deren Zwischenräume dem Sonnenlicht direkten Zutritt gewährten. Der Abschluß über ihnen ließ schon den Versuch zur Bogenlinie sehen. Die beiden Pfeiler, welche den Haupteingang bildeten, fielen mir ganz besonders auf. Es traten aus ihnen zwei höchst eigenartige Hochreliefs hervor, welche sitzende Figuren bildeten, an denen die Zeit leider nicht schonend vorübergegangen war. Doch konnte man noch recht wohl erkennen, daß es sich um die Darstellung eines Wesens handelte, dessen Personifizierung vier Gesichter hatte. Durfte ich diese Figuren nur als Andeutung der Himmelsrichtung, der vier Winde betrachten? Ganz gewiß nicht. Wer wurde mit vier Gesichtern abgebildet? Brahma. Aber ihm direkt war doch nie ein Tempel geweiht! Und die Reste, welche von der einstigen Vorhalle noch übrig waren, deuteten auf das alte Persien, nicht aber nach Indien hin. Sie war von einem auf leichteren Pfeilern ruhenden Dach überdeckt gewesen. Wahrscheinlich hatte es den Himmel darstellen sollen. Es war längst eingefallen, und von den Pfeilern standen nur noch zwei, deren Knäufe menschlichen Köpfen mit Hals und Schultern glichen. Von den letzteren gingen nach den Seiten Flügel aus, um das Architrav zu bilden. Geflügelte Wesen! Sollte diese Meißelarbeit auf die Strahlenflügel schlagenden Amschaspands deuten, welche nach altiranischem Glauben den Himmel bevölkerten und im Sonnenlichte zur Erde niederschwebten, um die Wünsche der Menschen im Gebete zu Gott emporzutragen?
Man darf heutzutage kaum mehr von den Engeln reden, obgleich sogar in der Bibel zu wiederholten Malen und deutlich genug von ihnen erzählt und gesprochen wird. Warum? Der Eine versteht unter ihnen wirklich existierende Geschöpfe Gottes; der Andere läßt sie nur als Personifikationen gewisser Kräfte oder Eigenschaften gelten. Welcher von Beiden hat recht? Aber wer gab dem Anderen die Erlaubnis, über den beglückenden Kindesglauben des Einen zu zürnen? Und von wem wurde diesem Einen der Auftrag, dem Anderen zu verbieten, die Ursachen und Wirkungen im Bereiche der irdischen Natur zu poetischen Gestalten zu verklären? Die heilige Schrift bedient sich beider Anschauungsweisen. Sie erzählt von persönlich auftretenden Engeln, und sie spricht von Winden und Feuerflammen, die sie Engel nennt. Nur der Mensch allein ist es, der da ewig deutelt!
Abermals zurücktretend und wieder etwas schmäler folgte nun ein zweietagiges Geschoß. Es stellte sich, obgleich aus hellerem Material gebaut, nichts weniger als freundlich dar. Es hatte nur oben Fensteröffnungen, nicht aufrecht stehend, sondern wagrecht liegend, als solle jeder Blick von außen her abgewiesen werden. Wie schmal, wie niedrig sie doch waren! Und unten gab es nur eine ebenso schmale Thür, deren Oberschwelle von zwei steinernen Tafeln gebildet wurde. Sie hatten eine Schrift enthalten, welche man wahrscheinlich noch jetzt entziffern konnte, doch sah ich, daß sie durch einen quer darübergehenden Riß wie ausgestrichen worden war. Sie hatten nicht Festigkeit genug gehabt, den Druck von oben auszuhalten.
Dieser Bau sah ganz so aus, als müsse sein Bewohner jeden Augenblick aus der engen Thür treten, um in alle Welt hinauszurufen: »Daß sich mir niemand nahe! Ich bin der Auserwählte von Anfang an und werde es ewig bleiben!« Auf dem Vorhofe sah es wüst aus. Auf Haufen von Schutt und Scherben wucherte dichtes Unkraut. Besonders vor der Thür waren die Disteln und Stechranken so undurchdringlich geworden, daß der erwähnte imaginäre Bewohner am besten drinzubleiben und zu schweigen hatte. Ueppige Dornen wanden sich auch um den Ueberrest eines steinernen Gebildes, dessen Gestalt ich also nicht erkennen konnte. Es schien eine Säule zu sein, die sich in sieben Arme geteilt hatte. War es vielleicht ein Kandelaber gewesen? Aber die Arme hatten einander nicht gekreuzt gegenübergestanden, sondern ihre noch vorhandenen Stümpfe zeigten, daß sie nebeneinander, also in gleicher Fläche, emporgerichtet gewesen waren. Wo giebt oder gab es solche Leuchter? Wem war das siebenfache Licht verlöscht, als jener Riß dort an der Thür quer über die beiden Tafeln ging? Hatte der »allanwesende El« da unten im Erdgeschoß nicht Macht genug besessen, die Leuchter hier oben zu schützen? Oder hatte man sein vergessen gehabt, grad so, wie man das Vermächtnis dessen vergaß, der einst in Chaldäa sein wirklich Auserwählter gewesen war?
Jede der bisherigen Etagen hatte, wenn nicht einen besonderen Stil, so doch wenigstens Einheitlichkeit. Nun aber kam ein Geschoß, welches nur das Einheitliche besaß, daß die Gesamtfassade aus einem und demselben Material bestand. Dies war ein weißlichgrauer, dichter Kalkstein, vermengt mit den Ueberresten fossiler Organismen, Schnecken, Muscheln und Korallen. Das Bauwerk erhielt durch diese hellere Färbung, welche auch die in gleicher Höhe liegenden Brüche zeigten, ein freundliches, beinahe einladendes Aussehen; leider aber wurde dieser gute Eindruck fast vollständig dadurch aufgehoben, daß es sich in allen übrigen Beziehungen als ein architektonisches Quodlibet darstellte. Es gab Thore und Thüren in den verschiedensten Formen und Größen. Eine imposante Freitreppe führte zu einem so engen und niedrigen Thürchen, das man nicht aufrecht passieren konnte; man war gezwungen, zu kriechen. Und vor einem hohen, breiten, weitgeöffneten Thore lag eine alte, schmale, wackelige, hölzerne Treppenstiege, der eine ganze Anzahl von Stufen abhanden gekommen waren. Es gab Eingänge ganz zur ebenen Erde und aber auch solche, die man nur per Leiter erreichen konnte.
In so ganz verschiedener Höhe lagen auch die Fenster, bei denen die Ungleichheit noch viel größer als bei den Thüren war. Keines befand sich in gleicher Höhe mit dem anderen. Neben breiten, hohen Saal- oder Kirchenfenstern gab es kleine, arme Gucklöcher, in die kein Mensch den Kopf zu stecken vermochte. Hier war eines vollständig unbeschützt, dort ein anderes mit einem so starken Laden versehen, als ob man sich vor ganzen Räuberbanden zu fürchten habe. Man denke sich hierzu die ebenso unregelmäßig und verworren angebrachten, oft ganz schief gehenden Haupt-, Brüstungs-, Gurt-, Kämpfer- und Sockelgesimse, die Eckarmierungen und Lisenen, die »Säulen- und Pilasterstellungen«, zwischen denen es keine einzige verbindende Idee gab, so kann man sich wohl schwerlich darüber wundern, daß der Fremde, von welchem Tifl mir erzählte, dieses Bauwerk häßlich genannt hatte. Ein anderer hätte es wohl gar als lächerlich bezeichnet, was doch noch schlimmer als nur häßlich ist!
Und das Dach, oder vielmehr die Dächer? Denn ein einheitliches Dach, das gab es nicht. Ich sah zwei einander nahestehende, sehr hohe Abteilungen, welche noch gar nicht ausgebaut waren, von ihnen eingeengt aber, kaum einige Meter breit, ein winziges Parterregelaß, dessen nadeldünne Turmspitze zwischen den beiden anderen hoch empor und weit über sie hinausragte. Tief unten eine Zwiebelkuppel, hoch oben über ihr ein Schindeldach! Daneben ein mit Ziegeln gedeckter Balkenreiter! An dem einen Ende ein runder Quaderturm, stolz für die Ewigkeit gebaut, und doch schon fast in sich zusammengestürzt, weil auf die allerschwächste Stelle der Unterlage gesetzt. An dem anderen ein hagerer, schiefer Campanile, auch noch nicht fertig, weil er beim Weiterführen unbedingt eingestürzt wäre, denn man hatte ihn zwar absichtlich schief gebaut, aber den Schwerpunkt falsch berechnet.
Wer war der Architekt, der dieses Unikum ersann? Oder hat ein solches Quodlibet gar nicht in seiner Absicht gelegen? Hat er keinen Plan, keine Zeichnung hinterlassen? Hat er keine Weisungen gegeben? Kein einziges Wort über die Aufgaben gesagt, die er den Arbeitern zu stellen hatte? Sollte es nicht eine Wohnung für viele unter einem einzigen Dach werden? Wo sind die hin, welche anfingen, und dann die, welche aufhörten, hier zu bauen? Warum steht das ganze Gebäudekonglemerat jetzt leer? Warum haben nicht einmal die Dschamikun sich entschlossen, es zu bewohnen? Befürchten sie, daß es zusammenbrechen werde? Oder ist ihnen ihr auf Gottes ebenem Boden und am klaren Wasser liegender Duar lieber als die fremdartige, untrauliche Baute, die wie die Bergeszellen am Dschebel Qarantel bei JerichoSiehe S. 339. nur unfreiwilligen Anachoreten zur Wohnung dienen konnte? –
Abseits von diesen bergan kletternden Etagen und von ihnen durch die schon wiederholt erwähnte Pferdeweide getrennt, lag in südlicher Richtung ein anderes Bauwerk, welches nun jetzt mein Auge auf sich zog.
Der Grundfelsen stieg hier viel weiter als da drüben den Berg empor. Er trug ganz so wie dort, aber bedeutend höher, die Riesenmauer, von deren kolossalen Quadern der Garten des Ustad und der Vorplatz gehalten wurden, auf dem ich im Schatten der Dälbiplatanen gesessen hatte. Die Breite des Vorplatzes und Gartens freigebend, stand hier nun das gastliche Haus, dessen Bewohnern wir so viel, so viel zu verdanken hatten.
Es war mir möglich gewesen, schon einen Teil desselben zu sehen, vom Vorplatze aus. Aber der lag so nahe am Gebäude, daß ich wohl an ihm emporschauen, es aber nicht ganz überblicken konnte. Nun sah ich es vollständig vor mir liegen. Da bemerkte ich denn, daß es aus einem uralten und aus einem späteren Mauerwerk bestand.
Zu dem ersteren gehörte das Gewölbe, in welchem jetzt die gefangenen »Soldaten« steckten. Es stieg dann noch um zwei Stockwerke höher empor und schien ein altpersischer Wartturm gewesen zu sein, zum Aufenthalte für die Personen bestimmt, welche man in unserer Ritterzeit die Knappen nannte. Das einstige »Herrenhaus«, um zwei Geschosse höher gebaut, lag etwas davon entfernt. Sein glattes Dach hatte eine Mauerkrönung nach altassyrischer Weise. Haus und Wartturm waren später durch den jetzigen Versammlungssaal verbunden worden, in welchem Halefs und mein Lager sich befanden. Ich sah auf dem Dache dieses Saales Laubhütten stehen, in denen, wie ich später hörte, Hanneh und Kara schliefen.
Daß es in dem Kalkfelsen über dem Hause Höhlen gab, habe ich schon erwähnt. Auch daß in einer von ihnen die Glocken hingen, zu denen ein Weg und eine bequeme Treppe führte. Nun aber sah ich noch etwas bisher für mich vollständig Unbekanntes. Nämlich das eigentliche »hohe Haus«.
Ich hatte bei dieser Bezeichnung stets nur an die Wohnung des Ustad gedacht. Jetzt glaubte ich, den vorhin beschriebenen Etagenbau so nennen zu müssen. Ich fragte Tifl, und er sagte mir, daß das wirkliche »hohe Haus« dort auf der höchsten Höhe stehe, daß man aber nebenbei diese Bezeichnung auch den beiden anderen Bauwerken gebe, weil auch sie von den Bewohnern des Duar dem Ustad überlassen worden seien.
Auf der Spitze des Berges, hoch über der ganzen Umgegend, doch auf bequemen Pfaden zu erreichen, da, wo der klare Himmel sich für das Auge auf die grüne Alpe legte, stand in andächtiger Erdenstille ein nach vier Seiten offenes, weitgespanntes, weißes Leinwandzelt. So schien es mir beim ersten Blick. Aber die vermeintliche Leinwand empfing die Strahlen der über ihr stehenden Sonne nur, um sie in so wunderbarer Weise in das Thal herniederzubrechen, daß ich mein Auge mit der Hand beschirmte, um das flimmernde Licht von ihnen abzuhalten. Da sah ich freilich, daß es nicht Leinen, sondern, man denke, Alabaster war. Freilich aber ist da nicht der echte Gipsalabaster gemeint, den man z. B. in Derby und Volterra findet und zur Herstellung teurer Kunstwerke verwendet, sondern der mit dem Tropfsteine verwandte und häufig vorkommende Kalkalabaster, den die Kalkhöhlen ihres Berges den Dschamikun geliefert hatten. Tifl bestätigte mir dieses letztere. Er nannte den Alabaster »weißen Rucham« und sagte:
»Im Innern dieses Berges und auch anderer Berge der Umgegend giebt es sehr große Mengen dieses schönen Steines. Man erkennt sein Vorhandensein an dem Wasser, wenn es aus dem Gebirge zu Tage tritt. Es löst den Kalk wie Zucker auf und setzt ihn in den Felsenzwischenräumen als festen Rucham wieder an. Doch nimmt es noch so viel Kalk mit sich fort, daß man ihn leicht bemerkt.«
»Wer hat das Zelt da oben gebaut?«
»Wir.«
»Giebt es denn Leute bei euch, welche gelernt haben, diesen Stein zu brechen, zu bearbeiten und zu polieren?«
»Ja. Der Ustad hat sie es gelehrt. Als er noch jung war, hat er in den Städten, wo es große Plätze für die Toten giebt, überall gern den Kabristan besucht, um die Grabdenkmäler zu betrachten. Er verweilte sehr oft in den Werkstätten der Bildhauer, wo die Türban gehauen werden, um mit ihnen darüber zu sprechen, welche Gestalt und welchen Sinn man ihnen eigentlich geben sollte. Da hat er nicht bloß zugeschaut, sondern auch mit zugegriffen und also gelernt, wie Bildnissteine zu behandeln sind. Von dem Zelte da oben hat er eine Zeichnung gemacht und vorher alles genau berechnet, ehe er mit den Leuten, die er dazu aussuchte, an die Arbeit ging. Sie waren nicht geübt, und es ist also manches Stück von ihnen zerbrochen oder verdorben worden. Aber der Ustad hatte Geduld, und so wurde das Werk, wie du siehst, endlich doch so fertig, wie es von ihm vorgeschrieben war. Aber es hat viel Zeit gekostet, sehr viel Zeit, weil die Arbeiter alles erst zu lernen hatten!«
Das glaubte ich ihm gern. Einem höhern Gedanken zeitlich dauernde Gestalt zu geben, dabei hat ja die Zeit ganz vorzugsweise mit beteiligt zu sein. Wahre Kunstwerke werden nicht vom Augenblick vollendet, auch wenn ihm gewandte Hände und nicht ungeübte Dschamikun zur Verfügung stehen.
»Gefällt es dir, Effendi?« fuhr Tifl fragend fort.
»Gefallen? Das ist zu wenig gesagt. Ich möchte täglich hier stehen und zu ihm aufwärts schauen. Es wohnt ein Wort in diesem Zelte, ein großes, ernstes, und unendlich vertrauensvolles Wort. Es fällt mir jetzt nicht ein; ich muß es aber finden.«
»Vielleicht weiß ich es und kann es dir sagen.«
»Du?« fragte ich verwundert und ungläubig.
»Ja, ich! Freilich bin ich nicht klug genug, hierüber nachzudenken und das Wort zu finden. Aber wahrscheinlich ist es dasselbe Wort, welches der Ustad sagte, als das Zelt fertiggeworden war. Er bezeichnet es auch oft mit ihm.«
»Welches Wort ist es?«
»Amen! Wenn er von dem Zelte spricht, so nennt er es zuweilen ›unser Amen‹. Ich verstehe das nicht; aber du wirst es begreifen.«
Ja, ich begriff es. Amen! Das war das richtige Wort. Nun ich es hatte, zeigte mir mein Auge die Bestätigung. Ich hatte bisher nicht auf einen Umstand geachtet, den ich erst jetzt bemerkte. Die Stelle, an welcher das Zelt stand, lag nämlich gerade über dem Etagenbau. Indem ich nun den Linien desselben folgte und sie bis oben weiterführte, sah ich, daß der unten auf der breiten Felsenbasis ruhende und aufwärts immer schmäler werdende Bau bei einer gedachten Weiterführung ein gleichschenkeliges Dreieck bilden mußte, dessen Spitze ganz genau das Zelt berühren würde.
War dies Berechnung vom Ustad? Jedenfalls! Das Thema der vor mir in Stein erklingenden Predigt hatte mir der Felsengrund im tiefsten Tone heraufzurufen:
»Wo warst denn du, o Mensch, als ich die Berge gründete?
Wo stecktest du, als ich die Sonnen einst entzündete?
Wo sind sie alle hin, die hier zum Berge kamen?
Bau auf mein ew'ges Wort; steig auf zur Sonne. Amen!«
So sprach der Fels, der einst aus der Tiefe stieg, um alles, was da lebt, emporzuheben. Und nun der Menschenbau? Seine Lippe war längst erstarrt, hohl, leer und darum stumm sein Mund. Aber seine steinerne Leiche lag vor mir ausgestreckt in jener wortlosen und doch überwältigenden Beredsamkeit, die jedem von der Seele verlassenen Leibe eigen ist. Dann kam die leer gebliebene und also der Zukunft vorbehaltene Baustelle. Was sagte sie? Sie sprach nur Fragen aus. Wer ist es, der da kommen wird? Vielleicht einer, der niemals starb? Der, welcher mitten unter ihnen ist, wenn zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen? Aber wenn er es thäte, würde er in der bisherigen Weise weiterbauen? Sprach er nicht immer nur von seines Vaters Hause, in dem es viele Wohnungen gebe und daß er hingehe, sie für uns vorzubereiten? Warum also hier Stein auf Stein türmen, wenn wir gar nicht bleiben können? Warum Häuser neben und über Häuser bauen, während für unsere kurze Wanderung ja doch ein Zelt genügt?
Da stand es oben, dieses Zelt, hell leuchtend an der Scheidelinie zwischen Himmel und Erde! Jahrtausende haben da unten gebaut, stark und fest wie für endlose Zeiten, und doch und doch vergeblich für die Ewigkeit! Und da kommst du, o Ustad, du Unbekannter, du, der du dem Auserwählten von Chaldäa gleichst, der dort sein Zelt abbrach, um es im Haine Mamre wieder aufzuschlagen. So schlugst auch du dein Zelt da oben auf. Du nennst es das Amen der unter ihm erklingenden Berg- und Felsenpredigt. Ich habe dich verstanden. Möchten doch auch andere dich verstehen! –
Ich hätte jetzt noch gern verschiedene Fragen an Tifl gerichtet; aber da erklangen drüben, ganz unerwartet für mich, die Glocken, und ich sah die Dschamikun erscheinen. Sie bildeten einen Festzug, welcher mir hinter dem dichten Grün der Gärten verborgen geblieben war. Nun er die offene Matte erreichte, mußte ich ihn bemerken.
Voran schritt der Pedehr. Ihm folgte eine Anzahl meist graubärtiger Männer, welche zusammenzugehören schienen.
»Das ist die Dschemma,« sagte Tifl.
Nach ihnen kamen die Bewohner des Duar mit allen ihren Gästen, wohl geordnet, doch in beliebiger Reihenfolge, zunächst die männlichen und dann die weiblichen mit den Kindern und dem wirtschaftlichen Zubehör. Sie zogen heran, erst über die grünende Weide, dann durch den duftenden Park. Als der Zug den Tempel erreicht hatte, löste er sich auf. Die Tiere wurden nach dem Waldesrande geführt, wo eine reichlich fließende Quelle frisches Wasser gab. Jedermann ging, wohin es ihm beliebte. Der Pedehr aber kam mit der Dschemma die Stufen heraufgestiegen. Es waren feierliche Augenblicke. Ich fühlte mich ergriffen von dem Gefühle ernster und doch froher Erwartung.
Wo aber war der Ustad? Ich sah ihn nicht. Da bemerkte ich, daß die Männer der Dschemma ihre Blicke aufwärts nach dem Walde richteten. Ich drehte mich um. Er kam.
Sein Gewand war kein anderes als das bescheidene, härene, in welchem ich ihn schon gesehen hatte. Er trug keinen anderen Schmuck als nur eine halboffene Rosenknospe an der Brust und eine ebensolche in der Linken. Aber wie er so aus dem dunklen Walde trat und sinnend mild zu uns herniederstieg, mußte ich an das Wort Jesaias, des Sohnes Amos denken:
»Wie köstlich sind auf den Bergen die Füße der Boten, welche den Frieden predigen, das Gute lehren und das Heil verkündigen! Die da sagen zu Zion: dein Gott ist der Herrscher!«
An ihm war nichts, was glänzte und was gleißte. Doch alle, die ihn sahen, schauten ihm so aufrichtig liebend und ehrfurchtsvoll entgegen, daß ich von dem, was sie bewegte, auch ergriffen wurde. Als er den Tempel betrat, verneigten sie sich. Er dankte still und gütig lächelnd mit der Hand und kam dann her zu mir. Mir die Rose gebend und dabei mit der Rechten mein Haupt berührend, sprach er:
»Friede sei mit dir und mit uns allen! Die Glocken des Gebetes klingen. Dein Herz sei wie die Rose hier. Warum ich dieses sage, das wirst du später hören! Sei heut mit uns ein unbekannter Dschamiki! Wen nur der Himmel kennt, der hat die rauhe Hand der Erde nicht zu fürchten!«
Hierauf wendete er sich von mir ab und zu der Dschemma hin. Ich hörte, daß er sagte:
»Wir haben noch weitere Gäste zu empfangen. Ich war hoch über den Wald hinaufgestiegen und schaute in das weite Land hinaus. Da sah ich einen Trupp von Reitern, welche in großer Eile aus der Morgengegend kamen. Sie haben den Duar wohl schon erreicht.«
»Wahrscheinlich sind es Kalhuran, die sich erkundigen wollen, ob ihr Scheik wohl bald zurückkehren werde. Man wird ihnen sagen, daß wir oben sind. Doch was ist das? Warum hat man den Läutenden das Zeichen der Warnung gegeben? Sind nicht Freunde, sondern Feinde angekommen?« antwortete der Pedehr.
Das Glockenläuten hatte nämlich plötzlich aufgehört, doch ohne daß die Glocken schwiegen. Sie sprachen in einzelnen, auseinander gehaltenen Schlägen weiter, ungefähr so, wie bei uns im Abendlande, wenn von dem Turme Feuer gemeldet wird. Und jetzt sah man einen Reiter kommen, der sich in größter Eile auf das erste beste ungesattelte Pferd geworfen hatte. Er achtete der Krümmungen des Weges nicht, sondern trieb das Tier trotz der Steilheit der Matte in gerader Richtung auf den Tempel zu. Sobald er sich vernehmlich machen konnte, hörten wir ihn rufen, konnten aber die Worte nicht verstehen. Sie schienen aber nichts Gutes zu enthalten, denn die am untern Park befindlichen Dschamikun, die sie deutlich vernommen hatten, erhoben ihre Stimmen in zorniger Weise, um die Botschaft schnell weiter zu geben. Sie ging von Mund zu Mund, bis wir sie hörten:
»Ghulam el Multasim, der Bluträcher, ist im Duar!«
Eine so feindliche Kunde mitten in die Klänge des Friedens hinein! An jedem andern Orte hätte sie gewiß eine augenblickliche und große Verwirrung hervorgebracht. Hier nicht. Der Ustad trat vor die Säulen hinaus und hob die Hand empor. Da trat augenblicklich tiefste Stille ein. Hierauf ging er auf die Dschemma zu und sagte:
»Bleiben wir ruhig! Wer hat den Thürdrücker zum Gewölbe der Gefangenen?«
»Ich habe ihn hier,« antwortete der Pedehr.
»So kann der Rächer nicht zu ihnen. Wir haben Zeit. Warten wir, was der Bote sagt!«
Dieser war am Blumenpark vom Pferde gesprungen und zu Fuße herbeigeeilt. Er kam soeben die Stufen herauf und meldete:
»Ghulam el Multasim ist da! Einige große Herren sind bei ihm und auch noch bewaffnete Leute, zusammen zwölf Personen. Ich stand mit meinem Sohne am Eingange des Duar, als sie kamen. Sie fragten nach euch.«
»Sind sie nach dem hohen Hause?« erkundigte sich der Ustad.
»Nein. Ich wies sie hier herauf und gab ihnen meinen Sohn als Führer mit. Ich wollte sie vom hohen Hause abhalten, weil es jetzt dort nur wenige Männer giebt. Dann nahm ich das Pferd und ritt zu euch herauf, gleich quer den Berg heran, um ihnen zuvorzukommen. Aber die Gärten hinderten mich. Die Perser werden wohl sofort erscheinen!«
Ja, sie erschienen. Sie hatten soeben die Matte erreicht und hielten einen Augenblick an, um das Terrain zu beurteilen. Dann setzten sie sich wieder in Bewegung.
Sie hatten einen Entschluß gefaßt; welchen, das sollten wir sogleich sehen.
Der Park war ihnen im Wege. Sie wollten nicht absteigen, sondern ihre Befehle den Dschamikun vom Sattel herab erteilen. Darum ritten sie um ihn herum. An der hintern Seite angekommen, brachen sie durch die Rosen und kamen zwischen den Säulen zu uns herein, um ihre Pferde grad vor der Dschemma anzuhalten.
Ein Dutzend Personen! Niemand fürchtete sie, obgleich sie, wie man zu sagen pflegt, bis an die Zähne bewaffnet waren. Aber es war nicht nur die Störung des Festes, auf welches sich jedermann gefreut hatte, zu beklagen, sondern der so unerwartete Einbruch des Bluträchers konnte auch außerdem sehr leicht noch Folgen haben, die jetzt nicht vorauszusehen waren. Ghulam stand im Rufe der Grausamkeit, und als Grausamer war er feig. Die Feigheit greift sehr gern zur Hinterlist. Was führte er im Schilde? Von den zwölf Reitern hatten einige das Aussehen vornehmer Leute. Sie ritten teure Pferde. Wenn sie die Freunde des Multasim waren und sich seiner Sache annahmen, konnte ihr Einfluß bei Hofe dem Ustad und seinen Dschamikun wohl schädlich werden. Ich war außerordentlich gespannt darauf, zu sehen, wie er sich überhaupt verhalten und was er im Besondern zu der rohen und rücksichtslosen Entweihung seines Tempels sagen werde. Konnte irgend eine Gelegenheit geeignet sein, ihn mir so zu zeigen, wie ich ihn kennen lernen wollte, so war es die gegenwärtige hier.
Einer von den zwölfen ritt einen hochgebauten turkmenischen Fuchs von, wie es schien, hochedler Tiukihrasse. Er war ein schöner Mann von gegen sechzig Jahren, schwarzgrau bebartet, sehr wohlhabend gekleidet und außer mit ausgelegten Schießwaffen mit einem krummen Säbel versehen, dessen von Steinen blinkende Scheide für sich allein ein kleines Vermögen bedeutete. Ich habe überhaupt keine besonders große Vorliebe für sogenannte schöne Männer, und wenn sie sich selbst bei gewöhnlichen Gelegenheiten so herausputzen wie dieser hier, so lasse ich sie am liebsten ihrer Selbstbewunderung über. Die wahre, edle Schönheit bedarf des Putzes und des Tandes nicht.
Dieser Mann war Ghulam el Multasim, der sich einbildete, mit zwölf Pferden den ganzen Widerstand der Dschamikun niederreiten zu können. Er sah sich, sobald sein Turkmene still stand, im Kreise um, nahm den Ustad scharf in das Auge und fragte ihn in strengem Tone:
»Wer bist du?«
Der Gefragte that, als ob er ihn weder gehört noch gesehen habe, als ob er gar nicht vorhanden sei. Er sagte zum Pedehr:
»Reinige den Tempel! Sobald ich zurückkehre, wird die Feier dieses Freudentages beginnen.«
Hierauf ging er langsamen Schrittes hinaus zu seinen Rosen.
»Der ist taub!« lachte der Multasim. Und sich nun an den Pedehr wendend, fragte er diesen:
»Wer war dieser alte Mann, der weder Augen noch Ohren zu haben scheint?«
Auch der Scheik antwortete nicht, wenigstens nicht durch Worte. Er that einige Schritte bis vor die nächste Säule hinaus und wehte mit einer emporgehobenen Falte seines weißen Oberkleides zum hohen Hause hinüber. Das Zeichen wurde gesehen; die Glocken verstummten. Hierauf rief er den draußen in den Gängen des Parkes wartenden Dschamikun einige mir nicht geläufige kurdische Worte zu. Das war ein Kommando, dem sie augenblicklich gehorchten. Sie besetzten im Nu und auf allen vier Seiten das Innere des Tempels in der Weise, daß für keinen Unbewaffneten ein Entkommen möglich gewesen wäre. Dann wendete er sich wieder zurück, sah dem Perser groß in die Augen und sagte:
»Der ehrwürdige Mann, der jede Roheit flieht, ist der Schah-in-Schah der Dschamikun, die ihn ihren Ustad nennen. Ich bin der Scheik desselben Stammes. Wer bist du?«
»Man pflegt mich Ghulam el Multasim zu nennen. Du wirst mich kennen!«
»Wenn du dieser bist, so kenne ich dich besser, als dir lieb sein kann! Weißt du, wo du dich befindest?«
»Der Ort ist mir gleichgültig!«
»Aber uns nicht!«
»Dieses Haus ist keine Moschee und keine Kirche!«
»Aber auch kein Pferdestall! Schaut euch um! Hier stehen zweihundert Dschamikun; da draußen noch weit mehr. Was habt ihr hier zu schaffen!«
Ghulam wurde unsicher. Er begann einzusehen, daß sein Einfall einen andern Ausgang nehmen könne, als er gedacht hatte. Da aber zog einer der Reiter, der neben ihm hielt, seine Doppelpistole aus dem Gürtel, spannte beide Hähne und rief:
»Was sollen Worte! Wir sind Bluträcher. Namen zu nennen ist unnötig; aber ich bin Mirza, und hier sind noch zwei andere, die auch Mirza sind. Was aber seid denn ihr?«
Der Pedehr sah ihm ruhig lächelnd in das Gesicht und antwortete:
»Mirza nennt sich heut ein jeder, dessen Urahne verurteilt worden ist, der spätere Mann eines früheren Weibes in Teheran oder Isfahan zu sein. Die Dschamikun aber sind ohne Ausnahme alle Prinzen, echte, wirkliche, wahre Prinzen, nicht einer unrühmlichen Abstammung wegen, sondern zufolge der edlen Zwecke, für welche sie leben und für welche sie jetzt auch zu handeln wissen werden!«
Das waren beleidigende Worte. Die Pistole war gespannt, die andern elf besaßen wahrscheinlich mehr Mut als der Multasim. Es war für sie mit solchen Pferden und solchen Gewehren sehr wohl möglich, die sich ihnen entgegenstellenden Dschamikun niederzureiten. Und selbst wenn ihnen dieses nicht gelingen sollte, so mußte es, wenn es einmal zum Schießen kam, Tote und Verwundete geben. Da kam mir ein Gedanke. Ich näherte mich der Gruppe, um im befürchteten Augenblicke der Gefahr entgegentreten zu können.
»Welch eine Frechheit gegen uns!« rief der vorige Sprecher aus. »Wer hätte das zu dulden?«
»Ich nicht – ich nicht – ich nicht – auch ich nicht!«
So riefen die andern alle, indem sie die Flinten oder Pistolen schußfertig machten. In diesem Augenblicke geschah etwas, was uns später oft Veranlassung zur heitern Erinnerung gegeben hat. Es kam nämlich jemand sehr eilig die Stufen herauf, drängte sich zwischen den dort stehenden Dschamikun hindurch und blieb dann für einen Augenblick stehen, um die Situation mit einem Blicke zu überfliegen. Dieser Jemand war unser Kara Ben Halef. Er hatte sich vollständig bewaffnet und trug außerdem meinen Henrystutzen in der Hand. Sein Erscheinen warf eine kurze Pause in die Scene. Als er mich stehen sah, trat er schnell auf mich zu, reichte mir den Stutzen und sagte laut, so daß es alle hörten:
»Es kam die Meldung auf das hohe Haus, der Bluträcher sei gekommen und mit elf andern hierher geritten. Ich wußte, daß ihr ohne Waffen seid, nahm schnell die meinen und bestieg die ›Sahm‹, die am nächsten zuhanden war, um dir, Effendi, so schnell wie möglich dein Gewehr zu bringen. Sechs schieße ich auf der Stelle nieder. Die andern sechs nimmst du mit deinem Stutzen, aus welchem du endlos schießen kannst, ohne daß du zu laden brauchst. Sag nur ein Wort zu mir, so geht es los!«
Er spannte den Revolver seines Vaters, den ich diesem geschenkt hatte, und richtete ihn auf die Perser. Diese sahen die gefährliche Waffe. Sie sahen auch den Stutzen, dessen fremdartige Konstruktion sie zur Vorsicht mahnen mußte. Der Multasim gab den andern mit der Hand ein Zeichen, zu warten, und richtete an Kara die Frage:
»Du hast einen Revolver! Und ein so gänzlich unbekanntes Gewehr! Bist du ein Dschamiki?«
»Nein,« antwortete Kara, indem er ihm herausfordernd in das Gesicht sah.
»Wer denn?«
»Ich bin Kara Ben Hadschi Halef Omar, des Scheikes der Haddedihn vom Stamme der Schammar.«
Was war das mit dem Pferde des Multasim? Warum stieg es vorn in die Höhe? War das die Folge eines unwillkürlichen Schenkeldruckes seines Reiters? War er erstaunt? Oder gar erschrocken? Kannte er den genannten Namen? Sein Gesicht hatte den Ausdruck ungewöhnlicher Spannung angenommen, und fast hastig ließ er die Frage hören:
»Dieser Hadschi Halef Omar ist Scheik der Dschesireh-Haddedihn?«
»Ist er jetzt daheim bei seinem Stamme?«
»Nein.«
»War er kürzlich in Bagdad?«
»Ja.«
»Er ist im Kellek den Tigris hinab?«
»Ja.«
»War er auch am Birs Nimrud?«
»Ja.«
»Allein?«
»Nein.«
»Wer war bei ihm?«
Der kluge, vorsichtige Jüngling sah ein, daß er hier zu schweigen habe. Er sprach:
»Was fragst du mich? Du bist hier fremd, verwegen eingedrungen; ich aber bin der Gast der Dschamikun. Ich frage dich! Wenn du nicht Antwort giebst, so schieße ich dich auf der Stelle nieder! Was hast du hier zu suchen?«
Da hob der Pedehr die Hand abwehrend empor und sagte:
»Nicht schießen! Im Gebiete der Dschamikun wird niemand getötet, außer Chodeh tötet ihn! Und hier ist eine Stätte des Friedens, die von keiner That des Hasses je entweiht werden darf!«
Da ließ Kara den Revolver sinken, sah enttäuscht zu mir herüber und fragte mich:
»Was ist zu thun, Sihdi? Ich darf nicht, wie ich will!«
»Du kannst auch nicht,« antwortete ich lächelnd.
»Warum?«
»Schau den Revolver genauer an!«
Er that es. Da blitzte es lustig über sein Gesicht.
»Er ist ja gar nicht mehr geladen!« rief er. »Die Patronen sind alle heraus!«
»Sollten sie einrosten? Ich selbst habe sie herausgenommen, am Tage, an welchem ich mein Krankenlager zum erstenmal verließ.«
»Aber dein Stutzen ist geladen?«
»Auch nicht!«
»Maschallah! So lacht man uns ja aus!«
Die Perser erhoben allerdings ein höhnisches Gelächter. Das störte mich aber nicht. Ich stand dem Multasim jetzt nahe und sah einen Ring der Sillan an seiner Hand.
»Laß sie lachen!« sagte er. »Wir brauchen keine Gewehre. Thue den Revolver ruhig weg!«
»Wenn du es sagst, Effendi, hat es guten Grund!«
Er schob die Waffe in den Gürtel, und ich gab ihm auch den Henrystutzen wieder. Da ließ der Multasim seinen Turkmenen bis ganz nahe zu mir herangehen und sagte:
»Du wirst ›Sihdi‹ und ›Effendi‹ genannt. So nannte der Scheik der Haddedihn einen Fremden, der sich bei ihm befand. Bist du aus Dschermanistan?«
»Ja,« antwortete ich.
»Heißest du Kara Ben Nemsi?«
»Man nennt mich so.«
»Du warst mit dem Haddedihn am Birs Nimrud?«
»Ja.«
»So verdamme dich Allah tausendmal! Du wirst die Stelle, an der du stehst, nicht lebendig verlassen!«
Ich legte die Hand unter die Mähne seines Pferdes, befühlte die Muskeln und sagte höchst unbefangen:
»Zu weich! Dieser Fuchs würde keinen langen Galopp aushalten. Du mußt ihm weniger Gerste geben und ihn des Nachts in Decken hüllen, damit er sich das Fleisch härter schwitze!«
»Schweig, Hund!«
Früher hätte ich mir dieses Wort nicht gefallen lassen. Jetzt nahm ich es ruhig hin und fuhr fort:
»Die Rippen liegen gut; aber für einen echten Tiukih ist der Hals zu kurz und der Kopf zu klein. Auch die Hufe müßten größer sein. Ich glaube, der Vater war ein voller Turkmene, die Mutter aber eine Araberin nicht allerersten Ranges.«
»Bist du verrückt?« fuhr er auf. »Ich will mit dir wegen eurer Thaten am Birs Nimrud abrechnen, und du gebärdest dich, als ob ich als dein Reitknecht dir Rechenschaft über mein Pferd zu geben habe!«
»Was kannst du denn von unsern Thaten wissen!« lachte ich, um ihn zur Unvorsichtigkeit zu verleiten.
»Alles weiß ich, alles!« rühmte er.
»Was?«
»Daß ihr die Sill –«
Er hielt schnell und erschrocken inne.
»Sprich weiter!« forderte ich ihn auf. »Oder fürchtest du dich vielleicht vor mir?«
»Allah behüte mich, vor einem Christen Angst zu haben!«
»Bist du denn Muhammedaner?«
Ich sah den Augen seiner Gefährten sofort an, daß ich mit dieser Frage eine schwärende Stelle getroffen hatte. Darum fuhr ich fort:
»Hättest du nicht eine persische Lammfellmütze auf dem Kopfe, so dürftest du wohl keinen Turban tragen! Ihr Christen raucht mit Muhammed den Kaliun, so lange er euch den guten Tabak liefert, und zwar zu billigem Preise oder gar umsonst. Sobald ihr aber zahlen sollt, schüttet ihr ihm euer schmutziges Pfeifenwasser vor die Füße und kehrt zu Isa und seiner Mutter Marryam zurück!«
Er wollte mir eine zornige Antwort zuschleudern; aber ich fuhr schnell fort:
»Du hältst mich für deinen Feind und hast mich Hund genannt. Du solltest vorsichtiger sein! Du hättest wohl anders, ganz anders zu mir gesprochen, wenn dir bekannt gewesen wäre, daß ich dich grüßen soll!«
»Grüßen? Du? Mich?« fragte er erstaunt.
»Ja.«
»Von wem?«
»Wünschest du, daß ich hier den Namen sage?«
»Ja.«
»Ich thue es nicht.«
»Warum?«
»Weil ich dein Bestes will.«
»Mein Bestes? Glaubst du, etwas sagen zu können, was mir schadet?«
»Nicht bloß das! Aber es ist nicht nur dein Geheimnis, sondern auch das meinige. Ich rate dir, vorsichtig zu sein, denn es handelt sich nicht um dich und mich allein. Du täuschest dich in Personen, die du gar nicht kennst!«
»Ich verstehe dich nicht!« gestand er verlegen.
»Das glaube ich wohl! Ich will dich schonen und also vorsichtig sein. Du hast gefragt, von wem ich dich zu grüßen habe. Höre mich an, und sage mir, wenn ich innehalten soll, damit ich dir nicht schade! Sind dir die Ufer des Schatt el Arab bekannt?«
»Ja,« antwortete er zögernd.
»Wohnt an ihnen jemand, der mir einen Gruß an dich anvertraut haben könnte?«
»Nein.«
»Gut! Gehen wir also weiter aufwärts. Kennst du den Ort, der oberhalb der Stelle liegt, an welcher der Schatt el Arab aus dem Euphrat und Tigris entsteht?«
»Das ist Korna.«
»Giebt es dort einen Mann, der mir ebenso bekannt sein könnte, wie dir? Der mich vielleicht sogar lieber hätte, als dich?«
»Nein.«
Seine Verlegenheit wuchs. Ich fuhr fort:
»Ich meine nämlich einen Mann, der nur ein Auge hat!«
»Allah!« rief er da aus.
»Der infolgedessen Esara el Awar heißt und –«
»Schweig, schweig!« unterbrach er mich schnell. »Effendi, es ist möglich, daß ich dich verkannt habe; ja, es ist sogar sehr wahrscheinlich! Komm schnell zur Seite, damit ich mit dir sprechen kann!«
Er sprang vom Pferde und ergriff meinen Arm. Sein Verhältnis zu dem Einäugigen mußte für ihn eine außerordentliche Wichtigkeit besitzen. Ich kannte es nicht, weil ich den von dem Kaffeewirte in Basra bekommenen Brief ja nicht gelesen hatte. Ich besaß ihn aber noch. Der Multasim wollte mich mit sich fortziehen, während seine Gefährten nun auch von ihren Pferden stiegen; ich machte mich aber von ihm los und sagte:
»Höre mich an! Vor Allen, die hier bei uns stehen! Was ich sage, ist wie ein Schwur. Ich nehme nichts davon und thue nichts dazu!«
»Was? Sage es!«
In seinen Augen flimmerte ein ungewisses Licht. Er befand sich in großer Aufregung. Er konnte sie kaum beherrschen. Das benutzte ich, indem ich fortfuhr:
»Es giebt für dich drei mächtige Personen. Die eine bist du selbst; die andere bin ich, und die dritte ist unser Esara el Awar in Korna. Du mußt wünschen, daß keiner von diesen Dreien der Gegner eines der beiden andern sei. Nun stelle dich so zu mir, wie es dir gefällt! Ich bin Gast der Dschamikun. Ihr Feind ist mein Feind. Du kommst als Bluträcher, also als mein Feind! Du hast die Feindschaft sogar so weit getrieben, diesen Ort hier durch die Hufe eurer Pferde zu entweihen. Mache das schleunigst wieder gut! Die Blutrache liegt zwischen mir und dir. Fordre Blut, oder fordre den Preis. Wir werden uns nach dieser Forderung richten und dir ebenso Blut oder Preis entgegenhalten. Durch eine Kugel vergossenes Blut ist nicht so teuer wie das Blut, welches an der Peitsche deines Sohnes hängt. Rache gegen Rache und Gnade gegen Gnade! Die Dschemma der Dschamikun ist bereit, mit dir zu verhandeln, doch nicht heut. Es ist keine Zeit dazu. Aber in Beziehung auf mich kann ich dir schon jetzt, in diesem Augenblicke sagen: Ich werde mit dir kein Wort über Esara el Awar sprechen, als bis du mir beweisen kannst, daß diese gegenseitige Forderung in Frieden und für immer ausgeglichen ist. Jetzt bin ich fertig! Ich werde sehen, was du thust!«
Ich wendete mich ab und ging hinaus, die Stufen hinab und zwischen Rosen einen Weg entlang, der zu einem kleinen Rasenplatze führte. Dort setzte ich mich nieder. Das Stehen hatte mich müd gemacht.
Ueber mir hingen herrliche Paskaleh-Rosen, deren Duft süß wie die Liebe und erquickend wie die Freundschaft
ist, und zwischen ihnen große, dunkelrote Fritillarien-Glocken. Wie ist der Schöpfer dieser Blumenwelt so gütig und so lieb! Kann er derselbe sein, der auch die Menschenwelt erschuf? Oder ist die Blume nur deshalb ohne Sünde, weil es ihr, der nur sich Hingebenden, unmöglich ist, sich einen Unterschied zwischen Für und Gegen, zwischen Mein und Dein zu konstruieren? Könnte doch der Mensch so wie die Blume sein! Wie hatte vorhin der Ustad gesagt, indem er mir die Rose gab? War denn er so unendlich glücklich, in der Selbstüberwindung so weit gekommen zu sein, daß er kein eigenes Ich mehr kannte? Es stieg in mir das heiße Wünschen auf, doch einmal so sehr, so schwer, so bitter, so tief gekränkt zu werden, daß jeder, jeder Andere es nicht erdulden und nicht ertragen könnte. Ich aber möchte dann die Selbstlosigkeit und das unerschütterliche, beglückende Gottvertrauen besitzen, alles still und heiter über mich ergehen zu lassen, als ob der Menschenhaß nur der naturnotwendige Schatten der Liebe Gottes sei. Die Sillan, diese Schatten, ruhig in den Ruinen Babels nach alten Ziegeln und Schriften, nach modernden Beweisen menschlicher Schwächen wühlen lassen, indem ich hier vom lieben, rosenduftumwobenen Beit-y-Chodeh hinauf zum herrlichen Alabasterzelte schaue und von unten herauf die Felsenstimme ertönt: »Steig auf zur Sonne. Amen!«
Nach einiger Zeit stand ich wieder auf, um nach dem Tempel zurückzukehren. Ich ging nach der hintern Seite desselben und begegnete auf dem Wege dorthin vielen Frauen und Kindern, von denen einige mir sagten, daß ich von Tifl gesucht werde. Ich traf ihn schließlich selbst. Er war überall nach mir herumgelaufen, ohne mich zu finden.
»Effendi, du wirst gebraucht,« rief er mir zu, noch ehe er mich erreicht hatte.
»Von wem? Wozu?« erkundigte ich mich.
»Von dem Bluträcher. Er sagte, er habe mit dir zu sprechen.«
»Aber ich nicht mit ihm. Ich bin mit ihm fertig. Wo ist er?«
»Sie lagern oben am Waldesrande. Sie haben unseren Pedehr gebeten, dem Feste zuschauen zu dürfen.«
»Was? Wirklich? Das wäre ja ein Sieg für uns!«
»So sagte auch der Pedehr. Ein Sieg, den wir dir verdanken. Er läßt dich bitten, den Bluträcher ja nicht abzuweisen, denn es sei höchst wahrscheinlich wirklich wichtig, was er dir zu sagen habe.«
»So komm!«
Als wir den Tempelbau erreichten, bemerkte ich zunächst, daß er nicht mehr von den Männern besetzt war. Sie hatten sich wieder zu ihren Angehörigen in den Park zurückgezogen. Das war ein Zeichen, daß die Feindseligkeit, wenigstens für einstweilen, zu ruhen hatte. Wir traten hinten, da, wo die Pferde die Rosen niedergestampft hatten, hinaus auf die Matte. Da sah ich die Perser im Schatten der ersten Waldbäume sitzen. Der Multasim bemerkte mich, stand auf und kam herab; ich ging ihm langsam entgegen. Sein Gesicht war sehr ernst, doch nicht feindselig. In seinen Augen lag aber etwas Lauerndes. Wir standen nun vor einander.
»Ich schickte nach dir,« sagte er.
»Ich erfuhr es,« antwortete ich.
»Du hast uns in unserem Thun gestört. Ich habe nachgegeben. Nun möchte ich wissen, ob ich recht gethan habe. Ich kenne euch. Woher, das wirst du wissen; wenn nicht, so kannst du es ahnen. Deine Vorsicht geht oft über alle List. Aber eine Lüge machst du nie. Ist das so?«
»Ja.«
»Wirst du jetzt lügen?«
»Nein. Warum fragst du das?«
»Weil ich die Wahrheit von dir wissen will.«
»Wenn ich überhaupt spreche, so wirst du nichts anderes von mir hören als nur sie.«
»Auch wenn es dein größter Schade wäre? Wenn es dein Leben kosten könnte?«
»Auch dann!«
Es war ein ganz eigenartiger Blick, mit dem er mich nun musterte. Lachte er innerlich mich aus? Oder zitterte irgend eine gute Saite seiner Seele?
»Ich glaube es,« nickte er. Dann fuhr er fort: »Ich will wissen, ob du ein Freund oder ein Feind von mir bist. Sage es!«
»Ich bin keines Menschen Feind. Ich hasse keinen bösen Menschen; aber das Böse in ihm kann ich nicht lieben.«
»Das will ich nicht wissen. Warst du vorhin gegen mich wahr oder listig?«
»Beides, wahr und listig.«
»Hast du einen Gruß an mich?«
»Ja. Aber er wurde nicht mir, sondern einem anderen anvertraut. Ich erfuhr zufällig von ihm.«
Das war keine Lüge, denn ich hatte einen Brief, und ein Brief enthält doch wohl noch mehr als bloß einen Gruß.
»So hast du dich zwischen mich und Esara el Awar eingedrängt?«
»Ja.«
»Das verrate ich nicht. Er mag es dir selbst sagen.«
»Was weißt du alles von ihm und mir?«
»Hierüber schweige ich.«
»Bist du unser Verbündeter?«
»Nein.«
»Also unser Gegner? Ein Drittes giebt es nicht. Ich verlange die Wahrheit von dir!«
»Ich sage sie. Ich habe mit euch nichts zu schaffen. Aber handelt ihr gegen die Gesetze und berührt meine Person dabei, so bekommt ihr es mit mir zu thun. Ich rate euch also, mich und meine Freunde in Ruhe zu lassen!«
Bis jetzt hatte er an sich gehalten. Er beherrschte sich auch noch; aber seine Augen blitzten; sein Gesicht verzerrte sich vor Haß, und er ballte die Fäuste.
»Also – Feind!« knirschte er.
»Ja, wenn du es so nennst – Feind!« antwortete ich ruhig.
»Weißt du, was das für dich bedeutet?«
»Ich weiß nur, wie gefährlich es für dich ist. Ich habe nichts zu fürchten.«
»Bin ich etwa nichts? Heut muß ich dir weichen. Heut muß ich verzichten. Du würdest mich sonst verraten. Aber es kommt eine andere Zeit. Und ich werde dafür sorgen, daß sie sehr bald kommt. Dann rechne ich mit dir ab. Bestehst du noch auf dem, was du vorhin sagtest?«
»Ja.«
»Daß ich mich zu vergleichen habe?«
»Unbedingt!«
Da streckte er mir die Hand hin. Seine Stimme zitterte.
»Hier nimm meine Hand. Es ist die Hand des ärgsten Feindes, den es für dich giebt. Du zwingst mich, auf die Blutrache gegen die Kalhuran und Dschamikun zu verzichten. Aber ich entsage nicht; ich werfe sie auf dich. Nimmst du sie an?«
Er stand vor mir wie einer, der sich kaum mehr zu beherrschen vermag. Ich ergriff seine Hand und antwortete:
»Ja. Ich nehme sie an.«
»Du weißt also, daß ich der Bluträcher gegen dich bin?«
»Ja.«
»So sei von dieser Stunde an gesegnet von allen Teufeln, die in des obersten Scheitan tiefster Hölle wohnen. Du entgehst mir nicht!«
»Und du sei geleitet und geführt von den Engeln der Selbsterkenntnis und der göttlichen Barmherzigkeit. Der, welcher über allen Menschen steht, der steht auch über dir. Wehre dich, so viel du willst, ihm entgehst du nicht!«
»Hund!«
»Mensch!«
»Ich speie aus vor dir. Lecke es auf! Wenn nicht jetzt, so dann später. Ich werde dich dazu zwingen!«
Er spuckte vor mir nieder, warf mir die geballte Faust entgegen, drehte sich um und ging. Ich hatte Hafis Aram, den Scheik der Kalhuran, und sein Weib von der Blutrache erlöst. Dafür aber war ich ihr nun selbst verfallen. Diesen letzteren Umstand aber durften die Dschamikun nicht erfahren. Wer wahrhaft dankbar ist, wird nie vom Danke sprechen! –