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»Verzeih, Sihdi, daß ich dich wecke!« sagte er. »Ich glaube, das alte Weib will wieder kommen.«
»Spürst du ihr Nahen?« fragte ich.
»Nicht nur ihr Nahen. Sondern ich bemerke, daß sie schon ganz vor mir steht.«
»Halef, du sprichst mit Mühe! Deine Zähne klappern!«
»Nein; aber es hält mir den Mund halb offen, ganz so, wie einem Menschen, der sehr friert. Gieb mir von deiner Arznei!«
Ich folgte dieser Aufforderung. Als er die absichtlich vergrößerte Gabe genommen hatte, erkundigte er sich:
»Weißt du, was Zittern ist, Sihdi?«
»Ja, jedermann weiß das wohl.«
»Aber hast du selbst schon einmal gezittert?«
»Ich glaube, nein.«
»Ich auch nicht, weder aus Angst noch aus irgend einem anderen Grunde. Aber, denke dir, jetzt zittre ich! Oder vielmehr, nicht ich thue es, sondern das alte, zahnlose Fieberweib, welches nun doch in mich hineingekrochen ist, zittert in mir. Ich glaube, aus Furcht, schnell wieder heraus zu müssen. Und sodann ist es mir, als ob mir ein Gürtel um den Kopf gelegt und übermäßig fest zugeschnallt worden sei. Meine Beine sind mir abhanden gekommen. Ich weiß zwar ganz genau, daß ich sie noch habe, aber ihr Selbstbewußtsein ist ihnen verloren gegangen. Sie können sich nicht mehr auf sich selbst besinnen, und darum ist es gar nicht zu verwundern, daß sie auch mich ganz und gar vergessen haben, obgleich ihnen das verboten ist. Ich werde einmal versuchen, sie von ihrer Pflichtvergessenheit zurückzubringen.«
Er erhob sich langsam und unsicher, blieb aber nur kurze Zeit stehen, ließ sich dann wieder nieder und sagte:
»Das ist eine ganz eigentümliche Empfindung, die ich dir wohl nicht deutlich genug machen kann. Es scheint mir, als ob ich da unten keine Knochen, keine Sehnen und kein Fleisch mehr habe, sondern bloß noch die Haut, und diese ist so außerordentlich dünn, daß ich von innen heraus den Stoff der Hose sehen kann.«
Welch naive und doch bewundernswerte Deutlichkeit, mit welcher er diesen Schwächezustand seiner Glieder beschrieb! Er war in dieser Beziehung ja schon überhaupt unübertroffen! Er verstand es, selbst für das unerklärbar Scheinende Worte zu finden, welche trotz ihrer Sonderbarkeit fast stets das Richtige trafen.
Nun war ich fest überzeugt, daß er keinen Augenblick mehr werde schlafen können. Jeder Arzt hätte das mit der größten Bestimmtheit behauptet. Aber ich sollte sogleich vom Gegenteile überzeugt werden, denn er wickelte sich in seine Decke ein und sagte:
»Der Frost ist weg, ganz plötzlich weg, wohl weil ich aufgestanden bin. Ich werde wieder warm. Nun bin ich müd, so sehr müd. Ich werde wieder schlafen. Gute Nacht, mein Sihdi!«
»Gute Nacht, mein lieber Halef!«
»Lieber Halef? So sagst du zu mir? Hast du mir verziehen?«
»Von ganzem Herzen!«
»Ich danke dir! Wollen ja nicht vergessen, einander ohne alle Unterbrechung und ohne alles Aufhören recht, recht lieb zu haben! Du hast mir vergeben, aber ich selbst mir nicht. Ehe ich dich weckte, habe ich über heut nachgedacht. Ich war nicht gut zu dir, nicht höflich und bescheiden. Das ist zwar nicht dein guter Halef, sondern jener böse Hadschi gewesen, der immer, immer Fehler macht, aber da ich diese seine immerwährenden Dummheiten nicht zu dulden habe, muß ich mich ganz ebenso wie ihn selbst anklagen. Er hat dich beleidigt und gekränkt. Das war schlecht, nicht bloß von ihm, sondern auch von mir!«
Nun war er still, der liebe prächtige Kleine. Ich lauschte. Er bewegte sich nicht mehr, und als ich mich nach einiger Zeit zu ihm hinüberbog, bemerkte ich, daß er eingeschlafen war. Er wachte zu meiner großen Freude auch nicht eher auf, als bis die Dunarun aufstanden und er durch den nun entstandenen Lärm aufgeweckt wurde. Da stand er auf, aß und trank, war munter wie ein vollständig gesunder Mann und sagte, als er sah, daß ich ihn beobachtete:
»Sie ist längst wieder fort, die mich heute nacht besuchte. So alte Klage- und Jammerweiber halten es bei einem rüstigen Menschen niemals lange aus. Soeben steigt der Scheik auf das Pferd. Komm, Sihdi, laß uns dasselbe thun!«
Er schwang sich leicht und frei in den Sattel, so wie ich gewohnt war, es von ihm zu sehen. Ich wurde vollständig irr an dem Krankheitsbilde, welches mir in Beziehung auf ihn bisher drohend vorgeschwebt hatte, und fragte mich, ob es sich vielleicht doch nur um eine morbillöse Infektion handle. Aber dann hätte unbedingt ein Katarrh der Luftwege und der Augenbindehaut, begleitet von einem reichlichen Thränengusse, vorhanden sein müssen, und das war keineswegs der Fall. Mochte nun aber vorliegen, was da wollte, ich mußte die Entwickelung ruhig abwarten. Halef kämpfte jedenfalls mit größerer Anstrengung, als er mir eingestehen wollte, gegen dieses Uebel, und ich nahm mir vor, ihm diesen Kampf nicht thörichterweise zu erschweren, daß ich ihn die Größe meiner Besorgnis sehen ließ.
Unser Nachtrab hatte uns gegen Mitternacht eingeholt. Er blieb noch hier, um auszuruhen und uns dann zu folgen. Wir aber ritten weiter.
Es ist nicht mein Zweck, die Gegenden, durch die wir kamen, zu beschreiben. Topographische Ausführlichkeiten pflegen wohl für den Fachmann interessant, für andere aber langweilig zu sein. Es genügt vollständig, nur das zu erwähnen, was mit dem Zwecke unseres Rittes in Zusammenhang stand.
Es war noch am Vormittage, als wir über eine Tiefung kamen, auf welche zwei breitere Thäler und mehrere schmale Schluchten mündeten. Es schien, als ob es hier einst einen tiefen See mit zahlreichen Wasserzuflüssen gegeben habe. Der Boden bestand aus einem feinen, hellen, fast mehligen Sande, in welchem jede vorhandene Spur mit ungemeiner Deutlichkeit zu sehen war. Man konnte sogar den Weg, den eine Maus oder ein kleiner, hüpfender Vogel genommen hatte, ganz genau erkennen.
Die Stelle war rundum von Höhen umgeben, welche die Winde abhielten; es gab also hier keine Luftbewegungen, durch welche die Spuren ausgewischt und verweht wurden.
Daher auch die große Deutlichkeit einer Fährte, welche aus einer rechts von uns liegenden Schlucht herauskam, um links in einer andern zu verschwinden. Sie führte also quer über unsern Weg. Nafar Ben Schuri, welcher, wie bisher stets, unserm Zuge voranritt, sah sie zuerst. Er hielt an, um sie zu betrachten. Seine Leute gruppierten sich sogleich in der Weise um ihn, daß die Fährte unter den Hufen ihrer Pferde verschwand. Als wir nun hinkamen, hörten wir die Worte des Scheikes:
»In dieser einsamen Gegend sollte man keine Spur vermuten. Ich weiß genau, daß es weder nach rechts noch nach links hin Menschen giebt. Wer mag das wohl gewesen sein, der hier vorüber gekommen ist?«
»Du fragst und scheinst es doch aber gar nicht wissen zu wollen,« antwortete Halef.
»Wieso?« fragte Nafar verwundert.
»Wenn ich dir einen Brief schreibe, den ich auf einen schwarzen Schiefer geschrieben habe, was thust du da?«
»Ich lese ihn.«
»Nein! Ich sehe ja, daß du das nicht thust! Du löschst ihn aus und fragst dich dann verwundert, was auf dem Schiefer wohl gestanden habe.«
»Traust du mir wirklich keine größere Klugheit zu?«
»Wie kannst du mir eine Frage vorlegen, durch deren Beantwortung ich dich beleidigen würde! Schau diesen Sand! Er ist die Schiefertafel. Der, welcher hier geritten ist, hat eine Schrift geschrieben, welche zu lesen ist, nämlich seine Spur. Anstatt sie aber zu lesen, laßt ihr eure Pferde so über die Fährte trampeln, daß sie nun fast nicht mehr zu sehen ist. Nun sei so gut und beantworte dir deine Frage selbst!«
Halef hatte vollständig recht. Wir beide ritten zur Seite, stiegen da, wo die Spur noch nicht ausgetreten war, von den Pferden und folgten ihr, um die Eindrücke zu betrachten, so weit, bis ich genug gesehen zu haben glaubte. Der Scheik war uns langsam gefolgt. Als ich mich jetzt wieder umwandte, fragte er:
»Nun, was habt ihr gesehen? Der Scheik der Haddedihn wird uns jetzt zeigen, wie gut er lesen kann!«
Das klang beinahe ironisch. Halef war sofort mit der richtigen Antwort da:
»Wir haben nichts, gar nichts gefunden, o Scheik der Dinarun. Darum bitten wir dich, dein Pferd zu verlassen, um zu versuchen, ob du diese Schriftzeile besser lesen kannst als wir!«
»Was liegt daran, zu wissen, wer hier war?« entgegnete Nafar ausweichend.
»Sehr viel liegt daran! Wir befinden uns auf einem Kriegszuge. Es darf uns nicht gleichgültig sein, wer in derselben Gegend mit uns ist. Es kann uns Verrat und Gefahr von jeder Seite drohen. Ich hoffe, daß dir dies nicht unbegreiflich ist!«
Er gab seiner Stimme einen strengen Klang. Da stieg der Dinari vom Pferde und betrachtete die Fährte. Hierauf schüttelte er den Kopf und sagte:
»Man sieht, daß zwei Reiter hier vorübergekommen sind, weiter nichts.«
»Wirklich weiter nichts?«
»Nein.«
Wahrscheinlich bemerkte Halef das Lächeln, welches ich um meine Lippen fühlte. Er hatte mehr gesehen als Nafar und nahm wohl an, daß die Schrift für mich trotzdem noch verständlicher gewesen sei, als für ihn selbst. Darum fuhr er fort:
»Du sprichst von zwei Reitern, von weiter nichts. Was ritten sie für Tiere?«
»Pferde natürlich!«
»Was für Pferde waren es?«
»Wer kann das wissen? Niemand!«
»So! Dieser ›Niemand‹ bin ich. Das eine Pferd war ein junger Hengst, das andere aber eine Stute, welche wenigstens schon fünf- oder sechsmal geboren hat.«
Da machte der Dinari die Augen weit auf und fragte:
»Woran siehst du das?«
»Das ist auch eines unserer Geheimnisse, welche nicht verraten werden. Es würde dir auch nichts nützen, wenn ich es dir sagte, denn es gehört viel Erfahrung und eine lange Uebung dazu, die Zahl der Geburten, also das ungefähre Alter einer Stute aus ihren Spuren zu erkennen. Wäre der Sand nicht so fein, so würde selbst ich vergeblich forschen. Glaubst du nun, daß der Scheik der Haddedihn eine Fährte lesen kann? Und da steht Kara Ben Nemsi, der mein Lehrer in dieser Kunst gewesen ist. Ich sehe es ihm an, daß diese Spur ihm noch mehr gesagt hat als mir. Sprich, Sihdi, was hast du gesehen?«
»Die Stute ist allerreinsten Blutes«, antwortete ich.
»Ja; das weiß ich auch.«
»Sie ist einmal infolge eines Fehltrittes lange Zeit fußkrank und unbrauchbar gewesen.«
»Maschallah!« rief da der Scheik der Dinarun. »Weißt du, an welchem Fuße?«
»Links vorn. Es war eine Flechsendehnung, welche nur langsam und durch die größte Ruhe zu heilen ist.«
»Bist du allwissend?«
»Nein. Ich habe meine Augen geübt. Das ist es, weiter nichts. Du scheinst verwundert zu sein. Kennst du ein solches Pferd?«
»Ja. Es ist eine braune Stute. Ihre Haut bekommt in der Sonne dunklen Kupferglanz; sie hat die drei berühmten Haarwirbel der Pferde des Propheten; sie trinkt das Wasser mit der Zunge, wie ein Hund; ihr Ohr ist schärfer als das Auge des Geiers, und wenn sie dich anschaut, glaubst du, dem sanften Blick einer Huri zu begegnen.«
Der Beduine wird stets poetisch, wenn er von einem edlen Pferde spricht. So auch hier.
»Wem gehört dieses Pferd?« erkundigte ich mich.
»Diese wunderbar schnelle Stute heißt Sahm und gehört – dem – Ustad.«
Er zögerte so eigentümlich, dieses letzte Wort auszusprechen. Das hatte jedenfalls einen besonderen Grund, der nicht allein in ihm vorhanden war, denn als er diesen Namen aussprach, drängten sich die bei uns haltenden Dinarun sofort noch näher zu uns heran.
»Wer ist das, der Ustad?« fragte ich.
»Ein Dschamiki,« antwortete er so kurz, daß ich annahm, er gebe nicht gerne Auskunft über diesen Mann.
»Vielleicht der Scheik einer Unterabteilung der Dschamikun?«
»Nein.«
»Also ein gewöhnlicher, wenn auch reicher Mann?«
»Auch nicht!«
»Weder Scheik noch einfacher Nomade? Was aber denn?«
»Warum willst du das so durchaus wissen?« sprach er ungeduldig. »Dieser Mann geht mich und auch dich nichts an!«
»Dich vielleicht nicht, aber mich! Ich habe keinen Grund, mich vor irgend einem Menschen oder gar nur vor dem Namen eines Menschen zu scheuen. Wir verfolgen die Dschamikun; zwei von ihnen sind hier an dieser Stelle gewesen. Das eine der Pferde ist die Stute des Ustad. Ich muß also unbedingt wissen, wer dieser Ustad ist und was es mit ihm für eine Bewandtnis hat.«
»Ich spreche nicht von ihm!« erklärte er in einem Tone, als sei dies nun sein letztes Wort. Es klang fast wie ein Befehl für mich, still zu sein. Da regte sich das Mißtrauen von neuem in mir. Sein Verhalten war für mich ein Rätsel, dessen Lösung ich mir unbedingt verschaffen mußte.
»Komm, Halef!«
Indem ich diese Aufforderung an meinen Hadschi richtete, wendete ich mich von Nafar Ben Schuri und stieg wieder in den Sattel. Halef that ebenso. Der Blick, den er mir zuwarf, sagte mir, daß er mich verstanden hatte und mir recht gab.
»Wohin?« fragte er.
»Dorthin!«
Ich zeigte nach der Schlucht links, nach welcher die Spur führte, und setzte mein Pferd anstatt in Schritt in schnellen Trab. Da rief der Scheik der Dinarun hinter uns her:
»Was fällt euch ein? Warum reitet ihr dorthin? Wollt ihr uns verlassen?«
Wir antworteten nicht, sahen uns auch nicht um und erreichten schnell die Schlucht, hinter deren Eingangsfelsen wir für die Dinarun verschwanden. Hier lag derselbe leichte Sand wie draußen. Die Fährte war ebenso deutlich wie dort. Halef hielt sich neben mir. Er konnte es nicht über das Herz bringen, zu schweigen!
»Sihdi, was hast du vor?« fragte er. »Willst du unsere Freunde verlassen?«
»Nein.«
»Aber warum entfernst du dich von ihnen?«
»Erstens um sie zu zwingen, mir Auskunft über diesen Ustad zu geben, und zweitens um sie darüber zu belehren, daß wir Männer sind, denen man Antwort zu geben hat, wenn sie fragen!«
»Das sind wir allerdings! Doch meine ich, daß wir unsere Freunde –«
»Freunde?« unterbrach ich ihn. »Sei vorsichtig mit diesem Worte! Es fällt mir schwer, das rechte Vertrauen zu dieser Freundschaft zu haben.«
»Ich aber traue ihnen, Sihdi!«
»Das weiß ich gar wohl; es wäre aber besser, wenn du zu mir mehr Vertrauen hättest, als zu ihnen. Es liegt irgend etwas zwischen ihnen und uns. Ich weiß es, kann es aber nicht finden. Wir werden es aber erfahren und ich hoffe, daß wir uns nicht zu der Sorte von Menschen zu zählen haben, welche nur durch Schaden klug werden können! – Schau! Was ist hier?«
»Da sind die Reiter abgestiegen, um auszuruhen,« antwortete er.
So war es allerdings. Sie hatten an der rechten Seite der Schlucht Halt gemacht und sich in den weichen Sand gesetzt. Daneben standen niedrige Akaziensträuche, deren Spitzen und Blätter von den Pferden abgefressen worden waren. Die Eindrücke in dem Sande waren da, wo sie gesessen hatten, so scharf, daß man sogar sah, welche Stellung dabei von ihren Extremitäten eingenommen worden waren. Kaum hatte ich einen Blick dorthin geworfen, so entriß mir die Ueberraschung den Ausruf:
»Welche Entdeckung! Oder täusche ich mich?«
»Was ist's, Sihdi?« fragte Halef.
»Später! Die Dinarun kommen!«
Sie waren es nicht alle, sondern nur der Scheik mit einigen von ihnen. Ich war wieder abgestiegen, um die Eindrücke in dem Sande zu untersuchen. Er blieb, um die Spuren nicht wieder zu verwischen, in einiger Entfernung von uns halten und rief uns, halb ärgerlich, halb bittend zu:
»Ist denn plötzlich irgendein Scheitan in euch gefahren? Warum verlaßt ihr uns? Wollt ihr etwa hier weiterreiten?«
»Ja,« antwortete ich.
»Warum?«
»Wenn ich einen so gefährlichen Weg unternommen habe, wie der unsere ist, lasse ich nie eine unbeantwortete Frage auf ihm liegen. Ich muß unbedingt wissen, wen oder was ich vor mir habe.«
»Du meinst den Ustad?« Er wußte also wohl, warum wir uns entfernt hatten. »Ist dir dieser Mann denn so sehr wichtig?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil du ihn durch dein Schweigen für mich wichtig gemacht hast. Hättest du mir nicht die Auskunft verweigert, so wäre er für uns wohl weiter nichts als jeder andere Mensch.«
»Und was soll euch diese Fährte nützen?«
»Sie soll mich zu der Kenntnis führen, welche du uns nicht geben willst. Wir reiten als eure Freunde mit euch. Es handelt sich hierbei vielleicht um Blut und Leben. Darum ist die größte Vorsicht geboten. Ich sehe, daß sich noch andere Personen in unserer Nähe befunden haben, vielleicht noch befinden. Ich will wissen, wer sie sind. Ich entdecke, welches Pferd geritten wird. Ich will Auskunft über den Besitzer desselben. Du kannst sie geben, giebst sie aber nicht. Das ist gegen die Offenheit, welche ich von dir zu fordern habe! Du hast Geheimnisse vor uns, die wir mit dir in den Kampf gehen sollen. Das trennt uns von euch. Wir reiten dieser Fährte nach, bis ich weiß, wer die Männer sind, die unsere Wege kreuzen!«
»Du hast einen harten Kopf!« warf er ein.
»Nicht das, sondern nur einen festen Willen!«
»Weißt du, was kommen wird, wenn ihr euch von uns trennt?«
»Was?«
»Ihr werdet in unbekannter Gegend hilflos sein! Der Hunger wird an euch nagen, und der Durst wird euch verzehren!«
Kein Mensch hätte mir jetzt einen größeren Gefallen erweisen können, als dieser Mann es mit diesen Worten that. Halef traute den Dinarun, ich aber nicht. Das brachte mich in einen zunächst zwar nur innern Zwiespalt mit ihm, der uns aber äußerlich gefährlich werden konnte. Hatte doch Halef mir schon da oben im Lager Widerstand geleistet! Ich mußte wünschen, daß sein Vertrauen zu diesen Leuten ihn nicht wieder zu einem solchen Fehler verleite. Wirklich erschüttert aber mußte es nicht von mir, sondern von ihnen selbst werden. Da kam Nafar Ben Schuri mit seinem Worte »hilflos« mir zur rechten Zeit zur rechten »Hilfe«. Dieses Wort wirkte auf meinen kleinen Hadschi wie ein feindlicher Pistolenschuß. Er ritt zu dem Scheik hin, blieb hart vor ihm halten und fuhr ihn zornig an:
»Wer wird hilflos sein? Wer wird hungern? Und wer wird dürsten? Warum besteht ihr darauf, daß wir mit euch reiten, wenn ihr uns für junge Schakals haltet, die sich den eigenen Schwanz abfressen, wenn nicht die Mutter ihren Hunger stillt? Hast du jemals gehört, daß Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn, sich nicht zu helfen gewußt habe? Hältst du uns für kleine Buben, denen du auf ihre Fragen mit der Beleidigung des Schweigens antworten darfst? Meinst du, daß wir nur dir zuliebe unsere Gewehre mühsam nach dem ›Thale des Sackes‹ schleppen, um von dir dann einen Wasserschluck und eine Dattel zu erhalten, damit wir nicht vor Durst und Hunger uns in die Brühe faulender Gurken verwandeln? Denkst du, wir lesen dir die schwere Sprache der Fährten zu dem Zwecke vor, von dir zu erfahren, daß sie unnütz sei? Ob dieses Land uns bekannt oder unbekannt ist, das ist uns völlig gleich. Jeder Schuß aus unsern Gewehren wird uns Nahrung bringen, und jeder Busch oder Strauch hat uns zu sagen, wo wir Wasser finden werden! Du hast uns ›hilflos‹ genannt. Schau dich an! Weißt du, als was ich dich jetzt vor mir krumm im Sattel sitzen sehe? Als den niedergeschmetterten Scheik der Dinarun, dem jetzt, in diesem Augenblicke, um nichts als nur um unsere Hilfe bange ist! Ich habe gesprochen!«
Er wendete sein Pferd um und kam wieder her zu mir. Der Scheik antwortete nicht sogleich. Daß er zornig sei, war ihm wohl anzusehen, doch gebot ihm die Klugheit, sich zu beherrschen. Seine Leute sprachen leise auf ihn ein.
»Hast du jemals so etwas gehört, Sihdi?« fragte Halef mit unterdrückter Stimme. »Hilflose Menschen sollen wir sein! Mit solchen Freunden hat man freilich nur mit der nötigen Vorsicht umzugehen! Wenn mich ein Freund beleidigt, so ist das schlimmer, als wenn ein Feind es thut! Ich werde mich in Zukunft nicht nach meinem Herzen, sondern nach deinem Verstande richten!«
Da kam Nafar näher und wendete sich an mich:
»Sihdi, ich konnte nicht ahnen, daß euch mein Schweigen beleidigen werde. Ich bin Moslem und rede also nicht gern von dem, der ein Feind des Propheten ist. Ich habe nicht daran gedacht, daß du ein Christ bist. Willst du mir verzeihen?«
Ich nickte nur. Da fuhr er fort:
»Hast du noch den Wunsch, etwas über den Mann zu hören, den sie den Ustad nennen?«
»Natürlich!«
»Er ist ein Dschamiki, wurde aber nicht bei den Dschamikun geboren. Sie waren arme Teufel, doch treue Anhänger des Propheten, als er aus einer fernen Gegend zu ihnen kam. Er unterrichtete sie in der Weisheit und Fertigkeit der Abgefallenen. Sie wurden durch ihn wohlhabend, viele sogar reich, haben sich aber aus freien Nomaden in unfreie Sklaven der Arbeit verwandelt. Sie züchten Vieh; sie bebauen Aecker, und sie besitzen Gärten, in welche sie Bäume pflanzen. Pfui!«
»Und dennoch sind sie Räuber, die euch eure Herden gestohlen und die Wächter ermordet haben?« warf ich ein.
»Ja, das sind sie freilich auch! Der Abfall vom Propheten treibt stets zu Raub und Mord!«
»Meinst du?«
»Ja. Das darf dich nicht beleidigen, denn du bist ja nie ein Moslem gewesen und also kein Abgefallener.«
»Sind die Dschamikun Christen?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie von Muhammed abgewichen sind.«
»Wie nennen sie sich?«
»Nur Dschamikun. Ihrer Religion geben sie keinen Namen. Der Ustad ist ein alter, alter Mann, aber mit tiefschwarzen Haaren. Man sagt, er sei mehrere hundert Jahre alt. Ja, einige meinen sogar, daß er nie geboren worden sei und niemals sterben werde. Das ist gewiß nur Aberglaube. Aber Eins, was man über ihn sagt, ist richtig. Nämlich, daß man sich hüten muß, bös von ihm zu reden. Wer das thut, dem folgt die Rache wie ein böser Geist, der nicht eher ruht, als bis er ihn vernichtet hat. Darum wollte ich deine Frage nicht beantworten. Bist du nun versöhnt?«
»Ich will es sein, warne dich aber vor ähnlichen Beleidigungen. Weißt du vielleicht, ob Sallab, der Fakir, mit den Dschamikun bekannt ist?«
»Er geht überall hin, wahrscheinlich auch zu ihnen.«
»Ist er ihnen mehr Freund als euch?«
»Wer kann das sagen!«
»Er ist hier gewesen.«
»Hier? An diesem Orte?« fragte er erstaunt.
»Ja.«
»Unmöglich!«
»Er hat auf der braunen Stute des Ustad gesessen.«
»Das ist ebenso unmöglich!«
»Schau her! Hier an dieser Stelle sind die beiden Reiter von den Pferden gestiegen. Der, welcher den Hengst ritt, hat die Spuren von ledernen Sohlen hinterlassen. Der andere, welcher von der Stute sprang, ist barfuß gewesen. Nun komm hierher, wo sie gesessen haben! Hier der barfüßige, und hier der andere. Hast du vielleicht schon einmal einen Menschen so auffällig sitzen sehen, daß er nur das eine Bein unterschlägt und auf das Knie desselben die Kniekehle des andern Beines legt, dessen Ferse also jenseits den Boden berühren muß!«
»Maschallah! So sitzt nur einer! Auch du hast ihn gesehen!«
»Wer ist's?«
»Der Fakir!«
»Richtig! Diese seine Art zu sitzen oder vielmehr zu hocken ist mir sofort aufgefallen, als er in eurem Lager sich bei uns niederließ. Der barfüßige Mann hier hat ganz genau in derselben Weise gesessen.«
»Kann es nicht einen zweiten geben, welcher auch diese Gewohnheit hat?«
»Gut, nehmen wir diese Möglichkeit an! Aber hast du dir genau betrachtet, wie der Fakir gekleidet war?«
»In Fetzen!«
»Wodurch wurden diese Fetzen zusammengehalten?«
»Durch eine Schnur. Die Enden des Knotens hingen hinten herab.«
»Hast du an diesen beiden Enden etwas bemerkt?«
»Zwei Cypressenzapfen an jedem.«
»So sieh hierher! Diese Zapfen haben, als er saß, den Sand hinter ihm berührt. Er hat sich bewegt und mit sich diese Zapfen. Siehst du diese Striche? Und da, wo sie stillgelegen haben, die runden Eindrücke in dem Mehle des feinen Sandes?«
Er richtete die Augen auf diese Zeichen und dann, groß und weit geöffnet, auf mich.
»Sihdi,« sagte er, »das ist nun freilich Spurenlesen! Es ist bewiesen, daß es wirklich der Fakir war, der hier gesessen hat. Aber an das Pferd des Ustad glaube ich noch nicht!«
»Ich habe nur gesagt, was für ein Pferd es war. Mehr kann ich nicht wissen. Den Ustad hast du selbst genannt. Ist er denn reich genug, der Besitzer eines solchen Pferdes zu sein?«
»Ja, man sagt, daß er die Macht über den ganzen Reichtum der Erde besitze.«
»Man sagt so manches, was man eben bloß sagt. Heut hat für mich nur das Geltung, was ich hier sehe. Wann denkst du, daß wir das Daraeh-y-Dschib erreichen werden?«
»Wir werden schon heut abend in seiner Nähe sein, obgleich wir einen Umweg eingeschlagen haben, um nicht auf etwaige Nachzügler der Dschamikun zu treffen.«
»So treffen wir aber doch vielleicht auf eure Späher nicht!«
»O doch! Wir haben heut den Weg der Feinde zu kreuzen, um ihnen dann zuvorzukommen. An dieser Kreuzungsstelle haben meine Kundschafter auf uns zu warten.«
»So kennen sie die Stelle, an welcher diese Kreuzung stattfindet?«
»Ja. Ich hoffe, daß euer Vertrauen zu uns nun wieder vollständig zurückgekehrt ist!«
Er sah mich an, erwartungsvoll, was für eine Antwort ich nun geben werde. Da wurde mir so offen, daß er es hörte, von Halef die Frage zugeworfen:
»Was wirst du ihm sagen, Sihdi? Das Vertrauen ist nicht wie eine Dattel, die man in der Minute zehnmal hin und her geben kann. Es geht schneller fort, als es wiederkehrt.«
»Ich werde ihn nach einer Lücke fragen, die es zwischen ihm und uns giebt, lieber Halef,« antwortete ich.
»Eine Lücke? Ich kenne keine.«
»Und doch ist sie da. Wir haben sie mitgenommen, als wir das Lager der Dinarun verließen. Sie wurde um Mitternacht, als uns der Nachtrab erreichte, größer als sie vorher war, und nun bin ich neugierig, ob es ihm gelingt, sie auszufüllen. Ich habe darüber geschwiegen, weil du an die Dinarun glaubtest und ich dir deine Unbefangenheit gönnte.«
»Ich verstehe dich nicht!«
»Du wirst es gleich hören!«
Und zu dem Scheik gewendet, fuhr ich fort:
»Ist euer Lager jetzt vollständig verlassen?«
»Ja,« nickte er.
»Es befindet sich niemand mehr dort?«
»Kein Mensch mehr!«
»Es ist also alles mit uns unterwegs? Mit uns hier und dem Nachtrab?«
»Alles!«
»Und unsere Gefangenen? Die Dschamikun? Mit denen wir Gericht halten wollten?«
Er war schneller mit der Antwort da, als ich erwartet hatte:
»Ich habe sie nach dem großen Lager unseres Stammes geschickt. Dort werden sie bis zu unserer Rückkehr für euch aufbewahrt.«
»Warum sagtest du uns das nicht?«
»Habt ihr mich gefragt?«
»Du hattest es uns auch ohne Frage mitzuteilen. Die Gefangenen gehörten zunächst uns und dann später dir. Ich sagte nichts über sie, weil ich es für ganz selbstverständlich hielt, daß sie sich beim Nachtrab befinden würden. Ich sage dir ganz aufrichtig folgendes: Daß diese wenigen Dschamikun so nahe bei euch waren, obwohl ihr von ihren Stammesgenossen beraubt worden waret, das erschien mir unbegreiflich. Daß ihr ihnen begegnet seid, ohne sie als Dschamikun anzuhalten, hielt ich für höchst sonderbar. Daß sie nun verschwunden sind, ohne daß du es für nötig gehalten hast, uns ein Wort darüber zu sagen, das kommt mir sogar bedenklich vor. Darum will ich dir deine Frage nach unserm Vertrauen jetzt noch nicht beantworten. Du wirst schon ganz von selbst bemerken, ob es wiederkehrt oder verschwunden bleibt. Jetzt wollen wir den unterbrochenen Weg fortsetzen.«
Er sagte nichts, lenkte um und ritt mit seinen Begleitern wieder aus der Schlucht hinaus. Erst nach einiger Zeit blickte er sich einmal um, damit er sehe, ob wir ihm folgten. Natürlich thaten wir das. Draußen stießen wir zu dem Trupp, der auf uns gewartet hatte, und ritten dann mit diesem weiter, indem wir die beiden letzten des Zuges waren.
»Sonderbar, das mit den Gefangenen!« sagte Halef nach einiger Zeit, während welcher er still an sich niedergesonnen hatte. »Glaubst du, Sihdi, daß ich seit unserm Aufbruche gar nicht an diese Leute gedacht habe?«
»Ich bemerkte das.«
»Und aber du?«
»Ich sah erst heut früh, daß sie fehlten.«
»Und hast gegen mich geschwiegen!«
»Du warst so heiter wie in den letzten Tagen selten. Ich wollte dich nicht ohne Not bedenklich stimmen.«
»Weil du mich wegen meiner Krankheit schonen willst; ich weiß es! Glaubst du noch an sie?«
»Ja.«
»So gieb mir jetzt wieder die Arznei!«
»Halef!« rief ich. »Fühlst du dich wieder unwohl?«
»Nein. Aber die Alte ist wieder da. Sie hat sich heimlich herangeschlichen. Sie sitzt hinter mir auf dem Pferde und streicht mir mit eiskalter Hand am Rücken auf und ab. Sie muß wieder fort. Gieb mir das Mittel!«
Ich hatte während der letzten Stunden in Beziehung auf das Fieber nicht auf ihn geachtet. Jetzt sah ich seine Augen glänzen. Sie hatten einen unstäten, ängstlichen Blick. Ich nahm das Chinin aus der Satteltasche und gab ihm davon. Er nahm es ein, und dann wurde es für längere Zeit still zwischen uns.
Dieses Schweigen hatte seinen Grund zunächst in der Besorgnis, welche ich in Beziehung auf Halef von neuem hegte. Sodann aber war mir auch in Betreff meiner selbst ein Gedanke gekommen, welcher sehr geeignet war, mich zu beunruhigen.
Wir hatten in jüngster Zeit ganz bedeutende Fehler begangen, Fehler, welche eigentlich für uns hätten unmöglich sein sollen. Hierzu kamen, wenn ich nachdachte, eine ganze Menge kleinere Sonderbarkeiten, die uns eigentlich gar nicht geläufig waren. Vor allen Dingen fragte ich mich, wie es möglich gewesen war, daß wir hatten von dem Lager der Dinarun aufbrechen können, ohne vorher über unsere Gefangenen zu bestimmen. Hierauf fiel mir ein, daß es doch eigentlich geraten gewesen wäre, uns die Leichen oder die Gräber der beim Ueberfalle der Herden ermordeten Wächter zeigen zu lassen. Auch das hatten wir nicht gethan. Wie war es für uns alte, erfahrene, doch sonst so scharfsinnige Leute möglich gewesen, uns solcher Unterlassungssünden schuldig zu machen? Bei Halef war die Krankheit schuld. Was aber bei mir? War ich plötzlich vergeßlich geworden?
Hatte ich die Schärfe meiner Denkkraft eingebüßt? Woher kam auch bei mir die sonderbare Müdigkeit, die ich gar nicht beachtet hatte, obgleich sie von Halef schon einige Male erwähnt worden war? Ich befinde mich in dem Besitze einer Konstitution, wie nur selten ein Mensch sie hat. Meine Gesundheit macht für mich den Gedanken, krank zu sein, fast zur Unmöglichkeit. Und wenn ich ja vielleicht einmal unwohl sein sollte, so glaube ich es nicht. Ein Zustand, über welchen andere klagen und sehr besorgt sein würden, ist für mich eine kleine, gar nicht beachtenswerte Unpäßlichkeit, über die ich kein Wort verliere. Nun aber jetzt, da mir der erwähnte Gedanke gekommen war, that ich das, was ich bisher versäumt hatte: Ich nahm nicht Halef, sondern einmal auch mich selbst her, um mich auf mein Wohlbefinden hin zu untersuchen, und da – man lache nicht! – geschah das Unerwartete, daß das »alte, zahnlose Weib« mir in die Ohren raunte, daß sie auch bei mir zu Gaste sei.
Der Gedanke an die Möglichkeit brachte die Erkenntnis der Wirklichkeit. Was ich bisher nicht beachtet, ja fast kaum empfunden hatte, das trat mir jetzt im Handumwenden deutlich ins Gefühl: Mein Kopf war eingenommen, meine Stimmung unlustig, mein Geist ermüdet und mein Körper nicht mehr von der gewohnten Beweglichkeit. Diese Entdeckung machte ich, und kaum hatte ich sie gemacht, so – so – war es mir, als ob in diesem Augenblicke mein Stirnbein doppelt dick geworden sei und mir das Gehirn zusammendränge. Unsinn! Ich, und Kopfschmerzen haben! Geradezu lächerlich! Die reine Einbildung! Aber ich fühle ihn ja! Ist es erlaubt, an Autosuggestion zu glauben?
Ich nahm mich zusammen und gab meinem Pferde ganz absichtslos die Sporen, daß es einen weiten Satz vorwärts that.
»Was ist's?« fragte der Hadschi, indem er mir in das Gesicht sah. »Was haben deine Wangen für eine Farbe? Warum sind sie plötzlich eingefallen? Bist du krank?«
»Fällt mir nicht ein!« lachte ich, ohne aber dabei wirklich heiter zu sein.
»Du, verbirg mir nichts! Meine alte Frau hat dich gegrüßt! Das wäre grad das, was uns noch fehlt! Mir ist so heiß, so heiß und so innerlich angst. Ich habe Sehnsucht nach der allergrößten Kälte, die es giebt. Vor meinen Augen drehen sich feurige Räder. Sihdi, wir müssen den Scheik fragen, ob es nicht vielleicht hier in der Nähe Wasser giebt.«
Er trieb sein Pferd an und ritt nach vorn. Ich folgte ihm. Noch ehe wir den Scheik erreicht hatten, rief er ihm zu:
»Nafar Ben Schuri, sag, ob es in dieser Gegend irgendwo Wasser giebt!«
»Zum Trinken?«
»Ja, auch! Aber noch viel mehr! So viel, daß man hineinspringen und sich baden kann.«
Da zeigte ich mit dem ausgestreckten Arm rechter Hand nach vorn und sagte:
»Dort ragt ein Berg, ganz dunkel blaugrün. Da giebt es Wald, wahrscheinlich sogar Laub-, nicht Nadelwald. Kennst du ihn?«
»Ja« antwortete der Scheik. »Seine Kuppe trägt Nadelbäume. Weiter unten aber folgen Mürwaran und Dischbudakan. Wir kommen an seinem Fuße vorbei.«
»Wo Mürwaran stehen, giebt es unbedingt fließendes Wasser!«
»Das giebt es allerdings dort. Es fließt in einen stehenden Weiher. Ich kenne ihn. Wir haben dort gefischt. In etwas über zwei Stunden werden wir ihn erreichen.«
»So spät?« fragte Halef.
»Ja. Die Richtung durch die Luft ist nicht halb so weit; aber wir müssen zweimal tief in Thäler hinab und jenseits wieder hinauf. Der Teich liegt an der westlichen Seite des Berges.«
»Zwei Stunden warte ich nicht. Kommt uns nach! Wir reiten voraus. Du machst doch mit, Sihdi?«
Er berührte, ohne meine Antwort abzuwarten, die Flanken seines Rappen mit den Sporen. Da schoß das edle Tier mit ihm davon, als ob es von einem Bogen abgeschnellt worden sei. Mein Assil Ben Rih folgte augenblicklich, ohne einen Antrieb von mir abzuwarten. Er wußte, daß er mit Barkh zusammengehörte.
Es ging zunächst über ebenes Terrain, und da war es eine Wonne, so über dasselbe hinzufliegen, als ob die Hufe den Boden gar nicht berührten. Halef jauchzte auf. Ich ließ ihn voran. Das sollte seinen Ehrgeiz anspornen und seine Energie beleben. Vielleicht hielt er dann aus! Mit abgespanntem Geiste einen Weg von über zwei Stunden zurückzulegen, das hätte ihn vielleicht bis zur Niederlage ermattet. Darum rief ich ihm zu:
»Zähle nach, Hadschi, in wieviel Minuten ich dich einhole!«
Da warf er den Arm in die Luft und rief lachend:
»Nie, nie! Ich zähle nicht. Es wäre eine Ewigkeit!«
Er legte sich nach vorn. Der Luftzug riß ihm auf der Brust den Burnus auf und schwellte ihn zum Ballon. Da zog er den Saum unter dem Sitz hervor, um ihn fliegen zu lassen. Es sah aus, als ob Roß und Reiter beschwingt seien. Der Boden der Erde schwand förmlich hinter uns. Ich schaute mich um. Die Dinarun hatten ihre Pferde angehalten, um uns erstaunt nachzublicken. Einen solchen Ritt hatten sie wohl noch nicht gesehen.
Schon nach kurzer Zeit war die Ebene zu Ende. Nun ging es im Galopp einen sanft ansteigenden Hang hinunter, quer über die Tiefe des Thales und drüben wieder hinauf. Es war eine wahre Wonne, Halef in dieser Weise so leicht, wie von aller Schwere befreit, dahinfliegen zu sehen. Bei so einem echten Beduinenritt haben beide, der Reiter und das Pferd, nur einen einzigen Willen und eine einzige Ehre!
Der jenseitige Abfall der Höhe war steiler. Es lagen da Felsenbrocken wie ausgesät, und zwischen ihnen standen vereinzelte Koniferen. Halef mußte da den Rappen zügeln; ich den meinen auch. Mein Assil war ein besserer Kletterer als Barkh. Das edle Tier wollte nicht zurückbleiben, sondern das andere unbedingt einholen; aber sooft wir fast herangekommen waren, ging Halef mir wieder davon. Unten angekommen, griffen die Pferde ganz von selbst wieder in der früheren Weise aus. Mein Assil ließ jenen tiefen, gutturalen Ton hören, welcher ein Zeichen der Ungeduld war. Er ärgerte sich, daß ich ihn zurückhielt. Da gab ich ihm die Zügel frei, richtete mich in den Bügeln auf, um mein Gewicht zu erleichtern, und rief das Wörtchen jallah aus, welches soviel wie »vorwärts« bedeutet. Das herrliche Geschöpf warf, vor Freude laut wiehernd, den Kopf in die Höhe, ließ ihn wieder sinken, und nun, aber nun war zu sehen, was so ein echtes Vollblut zu leisten vermag, aus freiem Willen, ohne von dem Reiter angetrieben zu werden, und nur aus reinem Ehrgefühl. Es mag Leute geben, für welche dieses Wort zu hoch gegriffen ist. Sie mögen sich ein anderes suchen. Der wahre Tierfreund aber weiß, woran er ist!
Die Folge dieses plötzlichen Anlaufes war, daß ich Halef überholte. Da ließ er jenen lauten, scharfen Ton erschallen, welcher sich aus dem »a« und dem »ch« zusammensetzt. Der Reiter treibt mit ihm sein Tier zur Eile an, und nur eine arabische Kehle ist im stande, ihn richtig hervorzubringen. Da legte sich Barkh nun wieder in das Zeug, um Assil einzuholen. Ich hatte gar nicht die Absicht, voranzubleiben, sondern ich wollte, daß Halef den Weiher vor mir erreichen sollte. Aber damit war mein Pferd nicht einverstanden. Als ich die Zügel straffer nahm, begann es, zornig zu schnauben. Ich konnte mich durch eine falsche Behandlung um sein Vertrauen, um seine Hingebung bringen; darum hielt ich es für besser, ihm seinen Willen zu lassen.
Als wir auf der zweiten Höhe ankamen, hatte der Hadschi mich wieder eingeholt. Sein Gesicht strahlte. Körper, Geist und Seele waren bei ihm in gleicher Spannung. Das war es ja, was ich gewollt hatte!
»Sihdi, gieb jetzt zu, daß ich dich besiege!« rief er mir zu.
»Nein!« antwortete ich.
»So paß auf!«
»Du willst doch nicht etwa das ›Geheimnis‹ anwenden?«
»Nein. Das thun wir ja nur in größter Not. Aber paß auf, ich siege doch!«
Er bog sich so weit wie möglich nach vorn nieder, um in aneiferndem Tone auf das Pferd einzusprechen:
»Rascher, rascher, mein Freund! Zeige nun deine Eilfertigkeit, du Edler! Erweise mir die Liebe, schneller zu sein, du liebster aller Lieblinge! Ich bin stolz auf dich! Dein Wert ist unvergleichlich, du größter meiner Schätze! Willst du zugeben, daß ich mich vor dem Sihdi da neben uns zu schämen habe? Du weißt, daß mein Ruhm auch dein Ruhm und deine Schande auch meine Schande ist. Erhöre mich! Meine Liebe wird dir deinen Eifer lohnen. Lauf, o, lauf! Flieg, o, flieg, du meine Freude, meine Wonne, meine Lust! Ich gebe dir eine ganze Handvoll Datteln; die besten, die aller-, allerbesten, die ich habe, die suche ich dir aus! Denke doch, denke doch: Datteln, Datteln, Datteln!«
Das Pferd verstand natürlich nicht den Sinn der Worte, aber die Bedeutung derselben. Das Wort Tamr, Datteln, aber war ihm wohlbekannt. Es senkte den Kopf tiefer und griff noch schärfer aus als bisher. Die Folge war, daß wir genau nebeneinander blieben.
Unser Ritt war ein so schneller, daß der Berg, der unser Ziel war, in hoch emporstrebender Bewegung zu sein schien. Auch seine Breite gewann mit jedem Augenblick. Bald trennte uns nur noch eine muldenähnliche, grasige Bodensenkung von ihm. Es ging ventre-à-terre über dieses Gras. Da, rechts, floß Wasser von der Höhe. Saftiges Gebüsch bezeichnete seinen Lauf, bis, zwischen den Stämmen hoher Erlen und Eschen hervor, der Spiegel des Weihers uns entgegenglänzte.
»Wasser, Wasser, Wasser! Endlich, endlich!« rief Halef aus.
Er gab seinem Rappen heimlich den Sporn der von mir abgelegenen Seite. Ich merkte das gar wohl an der Bewegung seines Pferdes, sagte aber nichts. Dieser kleine, etwas unehrliche Kniff mochte ihm immerhin gelingen. Barkh schoß infolge desselben mit einemmal vor, und ohne daß mein Assil diesen schnell entstandenen Vorsprung einzuholen vermochte, waren wir am Ziele angelangt. Halef natürlich zuerst. Er wendete sein Pferd herum und fragte:
»Nun, Sihdi, wer ist Sieger?«
»Du!« antwortete ich.
»Aber du lächelst ja!«
»Ist die Schande, von dir besiegt worden zu sein, so groß, daß ich weinen soll?«
»Du, Sihdi, verbirg dich nicht! Ich verstehe dieses Lächeln. Ich habe Barkh angetrieben; du aber hast Assil zurückgehalten. Gestehe es! Sei aufrichtig! Thatest du es?«
»Ja,« antwortete ich. Ich konnte es ehrlich sagen, weil ich meinen Zweck, Halef in Spannung zu halten, doch erreicht hatte.
»Also, ich wäre unterlegen, wenn du gewollt hättest?«
»Ja. Ich sage dir das so offen, weil es eine Ehre, ein großes Lob für dich ist.«
»Wieso?«
»Barkh stammt nicht von einem eurer Pferde. Assil ist ihm über, weil er bei euch geboren und von dir erzogen worden ist. Er ist unvergleichlich, weil Rih, sein Vater, unvergleichlich war.«
»Das ist richtig. Deine Worte machen mich stolz, Sihdi. Ich war nicht ehrlich gegen dich. Du sprachst kein Wort zu deinem Hengste; ich aber habe dem meinen zuletzt den Sporn gegeben. Verzeihe mir!«
Wir waren, während wir diese Worte wechselten, abgestiegen. Wie standen unsere Pferde da! Still, als hätten sie sich schon stundenlang hier befunden. Ihr Atem ging ruhig. Es gab keine einzige Flocke Schaum und keine einzige schweißesnasse Stelle ihrer Haut. Wir liebkosten sie. Da faßte Barkh mit den Zähnen Halefs Aermel und ließ ihn nicht wieder los.
»Weißt du, was er will?« lachte der Hadschi.
»Die versprochenen Datteln.«
»Ja. Der Mensch hat auch seinen Tieren Wort zu halten.«
Er öffnete den Futtersack und that genau das, was er versprochen hatte: Er suchte eine Handvoll der besten Datteln aus und gab sie dem gedächtnisstarken Mahner. Hierauf sattelten wir die Pferde ab, worauf sie ohne unser Zuthun augenblicklich in das Wasser gingen, bei in der Wüste geborenen Pferden eine Seltenheit!
Die An- oder Aufregung war mit dem Ritte vorüber. Die Spannkraft ließ bei Halef schnell und sichtlich nach. Als er nach dem Einflusse des Baches ging, um von dem dort noch klaren und lebendigen Wasser zu trinken, sah ich, daß seine Schritte unsicher waren. Mich selbst überkam ein eigentümliches Gefühl. Es war mir, als ob ich von ebenso unsichtbaren wie unfühlbaren Händen langsam emporgehoben und dann in das Gras gelegt würde. Ich mußte mich setzen. Da begannen die Erlen um mich herum zu tanzen. Mein Kopf kam mir wie eine hohle Kugel vor, die immer größer und leerer wurde. Ich schloß die Augen. Sonderbar: Ich hörte mit den von ihm doch so entfernten beiden Ohren ganz deutlich das Klopfen meines Herzens. Jemand ergriff meine Hand.
»Sihdi, Sihdi, was ist mit dir? Die Haut deines Gesichtes sieht wie Erde aus! Warum hast du die Augen zu?«
Es kostete Mühe, sie zu öffnen. Halef stand gebückt vor mir. Aus seinem Blicke sprach die Angst, die auch in seiner Stimme klang. Das half. Ich sprang auf und antwortete:
»Es war ein Tanz der Bäume um mich her, den ich vorüberlassen wollte.«
»Ganz wie jetzt oft bei mir! Die Gegend, durch welche wir kamen, drehte sich im Kreise; der Kopf schmerzte, und alle Eingeweide meines Innern wollten sich empören. Es hat mich alle meine Kraft gekostet, dir das zu verbergen und mich aufrecht zu halten. Allah verderbe dieses alte Weib! Kann sie sich nicht mit mir zufrieden geben? Bin ich ihr nicht genug, ich, der berühmte Scheik der Haddedihn, dem Tausende von tapferen Kriegern gehorchen? Muß sie ihre unbeschnittenen Fingernägel auch nach dir ausstrecken? Sie allein ist schuld, daß alles um uns tanzt! Wenn ich sie doch sehen und fassen könnte! Es sollte ihr vergehen, mit solchen Männern sich derartige Scherze zu erlauben. Komm und trink Wasser! Das kühlt das Blut und ärgert dieses Weib!«
Er behielt meine Hand zärtlich in der seinen und führte mich dorthin, wo er getrunken hatte. Er, der Kranke, leitete mich! Was sollte daraus werden! Es galt, mich zusammenzunehmen! Ich trank, trank und trank in langen Zügen. Ich fühlte förmlich die kühle Woge, die dabei langsam und kräftigend durch meinen Körper und meine Glieder ging. Als ich mich dann aufrichtete, war mein Auge wieder klar.
»Und nun komm, wir müssen baden,« forderte mich Halef auf. »Aber ja nicht entfernt voneinander. Wir haben beisammen zu bleiben, damit wir einander helfen können, falls auch das Wasser um uns tanzen sollte.«
Eine hierzu geeignete Stelle war bald gefunden. Ich stieg zuerst in die für uns jedenfalls außerordentlich wohlthätige Flut. Sie war am Rande seicht, wurde aber bald sehr tief. Ich schwamm hinaus. Das war nach dem kaum vorübergegangenen Schwindelanfalle vielleicht eine Unvorsichtigkeit, aber ich nahm an, daß diese Bewegung mir nützlich sein werde. Jedoch nicht lange, so kehrte ich um. Ein Luftzug kräuselte die Oberfläche des Wassers, und dieses Kribbeln und Krabbeln und Flimmern und Funkeln ging mir durch das Auge ins Gehirn. Ich fühlte mich unsicher.
Als ich wieder Grund gewann, mußte ich nach Halef suchen. War er denn noch nicht im Wasser? Da wurde ich durch eine Bewegung aufmerksam gemacht. Ich näherte mich der betreffenden Stelle. Da lag er, lang ausgestreckt, den Kopf hintenüber gebeugt, so daß nur Mund und Nase außerhalb des Wassers waren. Diese Situation war eine spaßhafte; aber das Lachen verging mir, als ich vollends herankam und den Körper sah. Der ganze Leib war voller Flecken, die eine livid-dunkle Färbung hatten.
Typhus! Wirklich und wahrhaftig Typhus!
War es denn eine Menschenmöglichkeit, daß sich jemand bis zu diesem vorgeschrittenen Stadium der Krankheit aufrecht halten und zuletzt sogar noch einen solchen Parforceritt mitmachen konnte?! Ein Kind der sogenannten »Zivilisation« hätte das gewiß nicht fertig gebracht! Nur der durch und durch kerngesunde, abgehärtete Körper des enthaltsamen Nomaden, der die Laster und entnervenden Genüsse der »höher stehenden« Intelligenz nicht kennt, kann eine solche Gegenkraft und Widerstandsfähigkeit zeigen. Neben diesen körperlichen Eigenschaften hatten auch die seelischen des kleinen Hadschi das Ihrige dazu beigetragen, daß er nicht schon längst zusammengebrochen war. Vielleicht hatten auch rein geopraphische Faktoren mitgewirkt. Aber mochte das sein, wie es wollte, die Thatsache war jetzt da. Sie lag vor meinen Augen da im Wasser, bedeckt mit Petechien, deren vorher scharfe Ränder schon begannen, ineinander überzugehen. Als ich das sah, that mein Kopf mir plötzlich weh, und es ging, mich schüttelnd, ein Frost durch meine Glieder. Da kam Halefs Kopf schnell ganz nach oben.
»Du frierst, Sihdi? Ich sehe es!« sagte er. »Geh du ans Land! Ich werde noch liegen bleiben.«
»Das ist schon vorüber,« antwortete ich. »Aber, Freund, wie siehst du aus?«
»Gefleckt wie ein Leopard! Nicht wahr? Aber, aber – was sehe ich da?«
Er erhob sich ganz, zeigte auf meine Brust und fuhr fort:
»Da ist es auch bei dir! Genau so hat es bei mir angefangen!«
Ich schaute an mir hernieder. Was ich vorher noch nicht bemerkt hatte, das sah ich jetzt: auch ich hatte Flecken, allerdings noch klein. Sie lagen unterhalb der Schlüsselbeine.
»Bist du erschrocken?« fragte der Hadschi. »Warum schweigst du? Warum sagst du nichts? Ist es eine Krankheit? Eine schwere oder eine leichte? Kennst du sie?«
»Ich kenne sie, Halef,« antwortete ich. »Und damit du keine Fehler machst, muß ich aufrichtig mit dir sein. Sie ist fast ebenso gefährlich und langwierig wie die Pest, welche uns damals dem Tode nahe brachte. Von zehn Kranken sterben zwei –«
»Aber warum sollen grad wir diese beiden sein?« unterbrach er mich. »Es mögen nur erst noch die acht anderen kommen! Eher mitzurechnen, fällt mir gar nicht ein!«
»Auch ich hoffe, daß wir dem Schlimmsten entgehen.
Wir sind beide in Beziehung auf unsere Gesundheit keine Durchschnittsmenschen; also können die von mir erwähnten Ziffern nicht für uns gelten. Glücklicherweise bin ich im Besitze der besten Gegenmittel, Kampher und Chinin. Kalte Bäder müssen wir haben. Wenn es mir in den Sinn kommt, bleiben wir gleich hier. Unser Leben muß uns ebenso teuer sein, wie die Pflicht der Gastlichkeit. Aber wo nehmen wir die Pflege her, die uns so nötig ist?«
»Daher, von wo sie uns damals gekommen ist, vom Himmel Allahs, der uns nie vergessen hat und nie vergessen wird. Mein guter, mein lieber Sihdi, denke doch daran, daß wir auch damals keinen Menschen hatten, der sich unser annehmen konnte. Wir lagen in der größten Einsamkeit, unter uns die pesthauchende Erde, doch über uns das große, lichte Zelt, von welchem alle Engel auf uns niederschauten. Sie kamen mir im Traume, und auch im Wachen dachte ich an sie. Sind wir nicht gesund geworden ohne alle andere als allein nur ihre Hilfe?«
»Ja, du Wackerer, du Treuer! Sie haben uns gepflegt, erst dich durch meine und dann mich durch deine Hand, obgleich diese unsere Hände so schwach, so hager, so elend waren.«
»So werden sie es jetzt auch wieder thun! Oder glaubst du das nicht?«
»Ich glaube es. Aber damals wurde ich erst dann von der Pest ergriffen, als du bereits wieder am Gesunden warst. Jetzt jedoch werden wir wahrscheinlich zu gleicher Zeit –«
»Zu gleicher Zeit?« unterbrach er mich. »Fällt uns gar nicht ein! Wenn dieses alte Weib etwa denkt, daß alles genau so zu gehen hat, wie sie es will, da irrt sie sich! Wir haben doch auch unsern Willen! Und den setzen wir durch! Es kommt mir gar nicht in den Sinn, daß wir miteinander krank werden! Wenn wir es nicht nacheinander werden können, so werden wir es lieber gar nicht! So lange der eine krank ist und der Pflege bedarf, hat der andere gesund zu bleiben! Der Anfang hierzu ist ja schon ganz richtig eingetreten! Diese Flecken haben sich bei mir eher eingestellt als bei dir. Die Höhe der Krankheit wird also nicht zu gleicher Zeit eintreten. Vor dieser Höhe aber lege ich mich nicht nieder! Ehe es mich nicht mit tausend Armen packt, habe ich den Dinarun Wort zu halten.«
»Halef –!«
»Sihdi –! Ich weiß, was du sagen willst. Morgen aber werden wir im ›Thale des Sackes‹ sein, und wir sind nicht derart krank, daß wir hier liegen bleiben müssen. Uebermorgen ist der Kampf vorbei, und dann werde ich ohne Widerstreben thun, was du bestimmst. Bleiben wir hier zurück, so ziehen die Dinarun nicht als unsere Freunde, sondern als unsere Feinde weiter und kommen, sobald wir hilflos sind, zurück, um sich zu rächen. Hilflos! Das war ja das Wort des Scheiks. Lassen wir es nicht zur Wahrheit werden, Sihdi!«
Dieser Beweis hatte Hand und Fuß. Wie freute ich mich darüber, daß seine Denkkraft sich noch so scharf erwies! War das dem Einflusse des kalten Bades zuzuschreiben? Ich legte mich zu ihm, denn auch ich empfand, daß das Wasser wohlthätig auf mich wirkte. Unsere Pferde weideten draußen im saftigen Grase, ein lange entbehrter Genuß für sie. Die Schatten der hohen Eschen deckten uns so, daß uns der heiße Strahl der Sonne nicht belästigen konnte. Wir fragten nicht danach, ob ein zu langes Verweilen im Wasser uns schaden könne, und verließen es erst dann, als wir anzunehmen hatten, daß die Dinarun nun bald eintreffen würden. Als sie sich hierauf einstellten, standen wir schon zur Fortsetzung des Weges bereit.
Natürlich aber hielten nun auch sie erst Rast, auf welche jedoch nur eine halbe Stunde verwendet wurde. Dann ging es weiter, wobei wir uns, wie vorher, am Ende des Zuges hielten.
Es war während dieses Aufenthaltes der Dinarun am Teiche zwischen uns und dem Scheik kein Wort gesprochen worden. Für seine Leute hatten wir freundliche Augen und höfliches Benehmen, aber auch keine Reden gehabt. Das höchst fatale Wort »Mißtrauen« verschloß ihm und uns den Mund.
Wir bemerkten mit Genugthuung, daß wir uns jetzt in einer wasser- und darum wald- und weidereicheren Höhenzone befanden. Das war ein Umstand, der uns Beruhigung gewährte. Uebrigens schien die Wirkung des Bades auf uns eine ganz verschiedene zu sein. Ich fühlte mich gekräftigt, während Halef mir mitteilte, daß er sehr ermüdet sei. Er war kalte Bäder nicht gewohnt, und das heutige hatte wohl eine zu lange Dauer für ihn gehabt.
Später sah ich, daß er sich schüttelte. Die Sonne schien noch warm auf uns nieder, und darum nahm ich an, daß diese seine Bewegung eine rein zufällige sei. Als sie sich aber wiederholte, gestand er mir auf meine Frage, daß er von einem inneren Frost geschüttelt werde, und bat mich wieder um Chinin. Ich hielt es für geraten, ihm dieses Mittel jetzt vorzuenthalten und schlug ihm eine Wiederholung unseres Wettrennens vor. Sofort richtete er sich munter im Sattel auf und sagte:
»Ich bin mit Freuden einverstanden, Sihdi. Aber ich mache eine Bedingung.«
»Daß wir die Pferde wechseln!«
Welch ein kleiner Schlaumüller! Ich erklärte mich selbstverständlich bereit dazu und gab ihm meinen Assil, während ich seinen Barkh bekam. Am liebsten hätten wir auf diesem Ritte den Weg eingeschlagen, den wir überhaupt zu nehmen hatten, wären da aber zu Fragen an den Scheik gezwungen gewesen, der mit uns schmollte. Wir beschlossen also, eine andere Richtung zu nehmen, und zwar rund um einen Berg, welcher zur Linken vor uns lag. Wir mußten, wenn wir ihn umritten hatten, wieder auf die Dinarun, und wenn nicht auf sie selbst, so doch auf ihre Spuren stoßen. Wir riefen also Nafar Ben Schuri zu, was wir beabsichtigten, und wollten schon die Pferde antreiben, da antwortete er:
»Bleibt doch hier! Dort, jenseits des von euch erwähnten Berges, liegt ja der Kreuzungspunkt, auf welchem meine Krieger auf uns warten.«
»Das ist für uns kein Grund, uns in eure Langsamkeit zu fügen. Ihr kennt ja nun die Schnelligkeit unserer Pferde. Wahrscheinlich sind wir eher dort als ihr.«
»Aber ihr kommt gewiß?«
»Ja.«
»Schwöre es mir!«
»Was fällt dir ein! Einen Schwur giebt es selbst für viel wichtigere Dinge bei uns nicht. Du hast mein Wort, und das muß dir genügen!«
Nun ritten wir fort, aber zunächst langsam, denn Halef hatte eine Mitteilung auf seinem Herzen:
»Er ist mißtrauisch, Sihdi.«
»Und beleidigend,« fügte ich hinzu.
»Ja, es war eine Beleidigung, einen Schwur zu verlangen. Wir müssen ihm von großem Werte sein.«
»Das scheint freilich so!«
»Hast du eine Ahnung, warum?«
»Ja.«
»Welche?«
»Es ist eben nur eine Ahnung, das heißt, etwas Unklares. Von Wert sind wir ihm als Helfer gegen die Dschamikun. Er weiß, daß er sich auf unsere Erfahrung und auf unsere Fertigkeit im Schießen mehr verlassen kann, als auf sich selbst und alle seine Leute. Das hat er uns ja schon gesagt, ohne es eigentlich sagen zu wollen. Aber diese Betrachtung genügt mir nicht, verschiedenes zu erklären, was mir aufgefallen ist.«
»Was?«
»Er trachtet so auffallend und eifrig darnach, die Geheimnisse unserer Waffen und unserer Pferde kennen zu lernen. Warum? Diese Geheimnisse haben doch nur für den Besitzer Wert. Hat er etwa die Absicht, unser Eigentum an sich zu reißen?«
»Sihdi!« rief Halef überrascht.
»Ist er etwa unser Feind, der nach den Pferden und Gewehren trachtet, die ihm aber ohne vorherige Aufklärung unnütz sind? Und giebt er nur deshalb vor, unser Freund zu sein, weil er auf diesem Wege die Geheimnisse zu erfahren hofft? Wird er dann, sobald er sie kennt, uns sein richtiges Gesicht zeigen – das Gesicht eines Räubers und Mörders?«
»Sihdi! Kann ein Mensch von so bodenloser Schlechtigkeit sein?«
»Das fragst du und hast doch schon solche Menschen kennen gelernt!«
»Wie thöricht wäre ich gewesen, wenn du recht hättest!«
»Tröste dich! Auch ich habe keineswegs klug gehandelt. Wir haben die größte Vorsicht zu beobachten. Das ist um so schlimmer für uns, als wir von der Krankheit jeden Augenblick niedergeworfen werden können.«
»Du, Sihdi, die Krankheit ist nun bei mir Nebensache! Seit du deine Befürchtung ausgesprochen hast, giebt es für mich nicht eher Zeit, krank zu sein, als bis wir wissen, woran wir mit diesem Nafar Ben Schuri sind. Ist jetzt noch etwas zu besprechen?«
»Nein.«
»So wollen wir beginnen. Zu gleicher Zeit. Paß auf! Eins – zwei – drei!«
Bei »drei« begann die Jagd nach der Ehre, welche, wie ich wollte, dem Scheik der Haddedihn zufallen sollte. Leider sollte sie ihm nicht vergönnt sein, aber auch mir nicht. Es wurde eine ganz andere Jagd daraus.
Wir hatten uns von den Dinarun auf einem Plateau getrennt, von welchem wir hinunterritten, um an den Fuß des Berges zu gelangen, den wir halb umkreisen mußten. Unten angekommen, sahen wir, daß sich das Terrain zunächst so sehr verengte, daß wir gezwungen waren, langsam zu reiten. Wir hatten uns vorsichtig durch ein fast unzugängliches Felsengewirr zu winden, wo es aber doch Spuren davon gab, daß zuweilen Menschen hier vorüberzukommen pflegten. Diese Enge trat dann mit einem Male weit auseinander, um sich in das Thal zu öffnen, dem wir rund um den Berg zu folgen hatten. Grad als wir aus ihr hervor wollten, tauchten kaum zwanzig Schritte entfernt zwei Reiter vor uns auf, welche da hineintrachteten, wo wir herauskamen. Und wer waren sie?
Sallab, der Fakir! Er ritt eine braune Stute, die sichtlich ein Pferd allererster Rasse war, jedenfalls »Sahm«, dem Ustad angehörig. Sein Begleiter, ein jüngerer Mann, sichtlich auch ein Fakir und ebenso unbewaffnet wie Sallab, saß auf einem dunkeln, halbedlen Hengste. Beide erschraken, als sie uns erblickten.
»Die Dschamikun!« rief Sallab aus.
»Nein, nur wir!« antwortete ich.
»Ihr beide allein?«
»Ja.«
»Das glaube euch der Scheitan! Komm! Zurück, zurück!«
Er wendete sein Pferd und jagte fort. Der andere folgte ihm.
»Sihdi, was ist –« rief Halef.
»Still! Kein unnützes Wort!« unterbrach ich ihn. »Diese beiden Fukara sind die Schlüssel zum Rätsel, welches zu lösen ist. Wir müssen sie unbedingt haben!«
»Auch mit Gewalt?«
»Ja, wenn sie sich wehren! Nimm du den andern; ich fasse Sallab. Aber seine Stute ist pfeilschnell. Gieb mir meinen Assil! Jeder sein Pferd, welches er kennt. Rasch, rasch!«
Wir sprangen ab und wechselten die Tiere. Dann ging es vorwärts, hinter den Fliehenden her.
»Nimm dich in acht!« rief ich Halef noch zu. »Sie könnten doch verborgene Waffen bei sich führen!«
»Keine Sorge, Sihdi! Hamdulillah! Endlich, endlich einmal eine Hetze, eine wirkliche, wahrhafte Hetze! Wohlan! Jallah, jallah, jallah!«
Das Umtauschen unserer Pferde hatte keine Minute in Anspruch genommen, dennoch waren die Fukara schon weit von uns entfernt; Sallab ritt voran. Wie die Sache lag, durfte ich mich auf keine lange Jagd einlassen. Da der Kreuzungspunkt jenseits des Berges lag, konnten die Dschamikun in der Nähe sein. Wir mußten die Flüchtlinge also so bald wie möglich fassen.
»Assil – Assil! Ramchchchchch, ramchchchchch!«
Das war die Aufforderung zum schnellsten Galopp. Ich streichelte ihm den Hals. Er flog. Die Vorderhufe berührten noch den Boden, so griffen die hinteren schon vor. Es war eine Lust, dieses Gefühl, als ob man nur den freischwebenden Sattel und gar kein sich bewegendes Tier unter sich habe! Ich kam den beiden Fukara schnell näher. Da sah Sallab sich um. Ich hörte, daß er einen Schrei ausstieß. Er trieb sein Pferd an; es vergrößerte die bisherige Schnelligkeit. Der andere schlug auf das seine ein, blieb aber zurück. Nach kurzer Zeit hatte ich ihn erreicht. Indem ich an ihm vorüberflog, that ich das so nahe, daß ich ihn erreichen konnte. Er saß halb nach vorn gebeugt. Ich stieß ihm die Faust in die Seite. Die Kraft meines Stoßes wurde durch Assils ungemeine Schnelligkeit verdoppelt. Der Fakir flog aus dem Sattel, und hinter mir erscholl die Stimme Halefs:
»Ich ergreife ihn! Ich halte ihn! Ich bringe ihn. Schau nur noch nach dem andern, Sihdi!«
Ich sah gar nicht nach dem Hadschi zurück, denn ich wußte ja, daß er thun werde, was ich erwartete. Aber Sallab schaute sich wieder um, und da er mich in solcher Nähe hinter sich sah, mußte er erkennen, daß ich ihn in einer Minute eingeholt haben werde. Ich behielt ihn scharf im Auge und sah, daß er dreimal mit beiden Händen auf beide Halsseiten seines Pferdes schlug und dabei ein Wort ausrief, welches ich nicht verstehen konnte.
Sollte dies das Geheimnis der Stute sein? War dieser Fakir ein solcher Freund und Vertrauter des Ustad, daß dieser es ihm mitgeteilt hatte? Meine Frage wurde sofort beantwortet: Die Stute lief nicht mehr, sondern sie raste! Es war das Geheimnis gewesen. Kaum hatte er es gegeben, so war seine Entfernung von mir schon verdoppelt. Ich mußte also auch das meinige anwenden. Indem ich mich weit vorbog, legte ich Assil die Hand zwischen die Ohren und sagte dreimal seinen Namen. Dieses Zeichen war gewählt worden, weil es sehr schwer auszuführen ist. Nur ein Reiter, welcher eines arabischen Renners würdig ist, wird es fertig bringen, im schärfsten Galoppe die Ohren seines Pferdes mit der Hand zu erreichen.
Die Wirkung war eine großartige. Zunächst schien es für einen Moment, als ob Assil haltenbleiben wolle. Es ging wie ein Zittern durch seinen ganzen Körper. Dann ließ er ein tiefes, schnaubendes Stöhnen hören, ein Stöhnen dankbarer Willensfreudigkeit. Und aber nun – nun kam es mir vor, als ob die Beine nicht mehr zu sehen seien, so unglaublich schnell bewegten sie sich. Die Büsche und Bäume flogen förmlich an mir vorüber. Der Boden des Thales kam wie auf einer sich drehenden Walze auf mich zugeflossen, um hinter mir zu verschwinden. Die stehende Luft des Thales wurde in blasenden Wind verwandelt. Meine Bewegung glich nicht mehr einem Ritte, sondern einem horizontalen Fallen. Ich konnte nicht anders: ich jauchzte auf, worauf Assil schnaubend frohe Antwort gab.
Das war ein ganz anderes Wettreiten, als ich mit Halef beabsichtigt hatte! Die berühmte, pfeilschnelle Stute des Ustad und das beste Blut der Haddedihn im Kampfe gegen einander! Nicht im Scherz, sondern im Ernste! Beide mit geöffneten Geheimnissen und sich anstrengend, ihr Bestes, ihr Alles herzugeben! Wer wird siegen?
Diese Frage blieb mir höchstens eine Viertelminute lang eine Frage. Sie verwandelte sich in die Antwort, als ich sah, daß das Geheimnis die Stute aufgeregt hatte. Das Spiel ihrer Glieder war von wunderbarer Leichtigkeit, aber nicht regelmäßig. Sie zeigte bald die rechte, bald die linke Flanke. Bald sah ich ihren Kopf auf dieser, bald auf jener Seite. Schon nach kurzer Zeit kam es mir vor, als ob sie sich nicht immer gleich, sondern in bemerkbaren Pulsen vorwärts bewege. Wahrscheinlich hatte man sie seit langem nicht mehr geübt, im Geheimnisse zu rennen, und darum wurde ihr nun jetzt die Lunge kurz und schwer. Dazu kam, daß der Reiter kein Mann für ein Pferd dieser Gattung war. Ob man überhaupt gewohnt ist, einen Fakir reiten zu sehen, mag hier Nebensache sein. Mit Sallab mußte es in dieser Beziehung eine ganz besondere Bewandtnis haben. Aber er saß jetzt während des Geheimnisses nicht anders als bei einem ganz gewöhnlichen Galopp im Sattel. Ich vermutete, daß er seine eigne Lunge nicht zu regulieren und dem Pferde überhaupt keine Erleichterung zu geben wisse. Eine innere Fühlung zwischen ihm und dem Tiere gab es nicht, denn ich sah, daß er, um Steinen und anderen Hindernissen auszuweichen, die Zügel zu Hilfe nahm. Das thut man doch nicht, wenn die Energie des Reiters mit der seines Pferdes in guter, innerlicher Verbindung steht!
Wie wunderbar glatt und gleich ließ dagegen Assil seine Kräfte spielen. Das war es ja: es glich einem Spiele, keiner Anstrengung. Es war, als ob er nicht mehr Körper, sondern nur noch Willen sei. Er ging über Löcher und Steine hinweg, oder er vermied sie, ohne daß seine Rückenlinie sich dabei zu heben oder zu senken schien. Der Schlag seiner Hufe wettete an Regelmäßigkeit mit dem Ticken einer Uhr. Die Mitte seiner Stirn wich keinen Augenblick lang und keinen Zoll breit von der Gesamtrichtung seines Körpers ab. Von seinem Atem war kein Hauch zu spüren. Die Schnelligkeit, von der ich vorhin sprach, war nicht mehr da; an ihre Stelle war die Unbegreiflichkeit getreten.
So kam ich dem Fakir näher und immer näher. Er drehte sich immer öfter um und begann, das Pferd zu schlagen. Ich war kaum zehn Längen hinter ihm, als er die Unvorsichtigkeit beging, es auch noch mit den Füßen zu bearbeiten.
»Halt ein!« rief ich ihm zu. »Im Geheimnisse schlägt und stößt man nie ein Pferd!«
Kaum hatte ich dies gesagt, so bewahrheitete es sich. Die Stute gab ihre Windeseile auf, fiel in Galopp, that einen Seitensprung, einen zweiten wieder zurück, und – der Fakir flog aus dem Sattel! Ich schoß sofort weit über ihn hinaus, gab aber schnell das Zeichen und nahm mit dem Zurufe »Andak!« das Geheimnis wieder zurück. Fast noch im Fluge ging Assil einen Bogen, fiel dabei durch Galopp und Trab in Schritt und blieb da stehen, wo der Fakir von der Erde aufstand und sich prüfte, ob und wo er vielleicht Schaden genommen habe.
»Warum bist du vor uns geflohen?« fragte ich ihn, indem ich abstieg.
»Sihdi, dein Pferd ist kein Pferd, sondern ein Dschinni!« antwortete er.
»Ich habe dich nicht nach meinem Pferde gefragt! Bist du verletzt?«
»Nein. Allah sei Dank!«
»So hole Sahm herbei!«
»Sahm?« fragte er erstaunt. »Du kennst den Namen dieser Stute?«
»Ich weiß noch mehr, mehr als du denkst. Aber eins weiß ich nicht und kann es nicht begreifen: Warum bist du vor uns erschrocken und hast die Flucht ergriffen?«
»Weil – weil –«
Er sprach nicht weiter, sah mir forschend ins Gesicht und senkte dann den Kopf.
Da trat ich nahe zu ihm hin und sagte:
»Du scheinst früher von dem Scheik der Haddedihn und mir gehört zu haben?«
»Ja.«
»Gutes oder Böses?«
»Nur Gutes.«
»Und hältst uns doch für schlimme Menschen?«
»Nein.«
»Doch! Denn gute Menschen flieht man nicht!«
»So lange sie gut sind, ja!«
»Sind wir es etwa nicht mehr?«
»Ist der Mensch noch gut, wenn er sich in den Dienst der Bösen stellt?«
»Meinst du die Dinarun?«
»Ja.«
»Wir stehen nicht in ihrem Dienste!«
»Aber in ihrer Freundschaft. Und die Freundschaft solcher Leute macht den besten Ruhm zunichte.«
»Deine Worte klingen mir unverständlich; aber sie haben große Aehnlichkeit mit der Warnung, die mir meine Ahnung gab. Vor allen Dingen muß ich dir sagen, daß wir nie beabsichtigt haben, die Freunde böser Menschen zu sein –«
Ich wurde unterbrochen, weil Halef kam. Er ritt neben dem andern Fakir. Beide unterhielten sich, als ob sie sich im herzlichsten Einverständnisse miteinander befänden. Sobald er mich erblickte, rief er mir zu:
»Assil hat gesiegt?«
»Ja,« antwortete ich.
»Ich wußte es! Warte, was ich dir zu sagen habe, Sihdi! Es ist von größter Wichtigkeit.«
Er trieb seinen Barkh an, sprang, als er uns erreicht hatte, ab und fuhr eifrig fort:
»Hier werden wir uns niedersetzen, um Beratung zu halten. Weißt du, Sihdi, wer und was unsere Dinarun sind?«
»Nun?«
»Wir sind dumm gewesen, ganz unendlich dumm! Sie sind gar keine Dinarun, sondern Ausgestoßene, Ausgestoßene aus allen Stämmen, die es in dieser Gegend giebt. Jeder Mensch, der ein Verbrechen, eine schlechte That begangen und sich mit Schande beladen hat, geht zu ihnen, um sich ihnen anzuschließen. Sie leben nur von Diebstahl, von Raub und ähnlichen Unternehmungen. O, Sihdi, wir haben diesen Leuten ein Vertrauen geschenkt, welches sie gar nicht verdienen. Du bist zwar ein ganz klein wenig klüger gewesen als ich, aber sehr viel trägt das auch nicht aus. Ich möchte dir eine Ohrfeige geben, mir selbst aber zehn oder zwanzig oder auch fünfzig. Aber weil ich dich viel zu sehr achte und liebe, als daß ich sie dir wirklich geben könnte, so muß ich natürlich auch auf meine fünfzig verzichten!«
Sein Aerger war sehr echt, denn ohne diese Echtheit wäre es ihm, der so viel auf seine persönliche Ehre hielt, gar nicht eingefallen, in Gegenwart der beiden Fukara so despektierlich von sich selbst zu sprechen. Was mich betrifft, so war es mir willkommen, endlich Klarheit zu erlangen; aber ich wollte vermeiden, eine begangene Unvorsichtigkeit durch eine zweite, vielleicht noch größere wieder gutmachen zu wollen. Darum fragte ich ihn:
»Weißt du gewiß, daß unsere bisherigen sogenannten Freunde keine Dinarun sind?«
»Ja.«
»Wer hat es dir gesagt?«
»Dieser Fakir.«
Er deutete auf ihn.
»Und du glaubst ihm?«
»Natürlich! Unter Fukara darf keine Lüge sein!«
»Das ist erstens nicht ganz richtig, und zweitens muß ich dich fragen: Könntest du darauf schwören, daß diese beiden Fukara wirkliche Fukara sind?«
»Maschallah! Welche Frage! Richte sie doch nicht an mich, sondern an sie selbst!«
Da wandte ich mich an Sallab:
»Sei aufrichtig! Meine Frage soll der Prüfstein deiner Ehrlichkeit sein. Bist du ein Fakir?«
Da antwortete er:
»Du bist Kara Ben Nemsi, der Mann aus Dschermanistan, und wir wissen, daß aus Dschermanistan nie ein böser Mensch zu uns gekommen ist. Darum will ich ehrlich sein. Ich bin kein Fakir und dieser mein Begleiter ist auch keiner!«
»So heißest du gar nicht Sallab?«
»Nein.«
»Wie denn?«
»Ich legte mir aus guten Gründen den Namen des bekannten Fakirs bei. Aber wer ich eigentlich bin, das darf ich dir so lange nicht sagen, als du dich für verbunden hältst, diesen Räubern Unterstützung zu erweisen.«
»Haben sie uns belogen, so ist das, was wir ihnen versprochen haben, so gut wie nicht gesprochen!«
»Nun, sie haben euch belogen!«
»Kannst du das beweisen?«
»Beweisen? Was verlangst du für Beweise?«
Ich muß gestehen, daß er mich mit dieser Frage in Verlegenheit brachte. Ich antwortete ihm:
»Sie haben sich als Dinarun bezeichnet, und du behauptest, daß sie keine seien. Du selbst aber gestehst ein, daß du als Fakir Sallab eine Lüge seist. Von dir ist die Unwahrheit erwiesen, von ihnen aber nicht.«
Wir hatten uns niedergesetzt, alle vier. Der Alte senkte den Kopf, sah einige Zeit sinnend vor sich nieder, hob ihn dann wieder und fragte:
»Ihr seid mit denen, die sich Dinarun nennen, gegen die Dschamikun ausgezogen. Wir sind Dschamikun. Ihr habt uns gefangen. Was werdet ihr mit uns thun?«
»Wir lassen euch frei. Ihr könnt reiten, wohin ihr wollt.«
»Gleich jetzt?«
»Ja.«
»Reiten?«
»Natürlich!«
»So wollt ihr nicht wenigstens unsere Pferde als Beute behalten?«
»Nein.«
»Aber bedenke, was für ein Pferd die Stute ist!«
»Kein Mann aus Dschermanistan wird jemals in euer Land kommen, um Beute zu machen!«
»So segne dich Allah, und so segne er auch alle, welche in deiner Heimat dieses menschenfreundlichen Gedankens sind! Du hast dich soeben als ein Mann erwiesen, der das, was er zu sein vorgiebt, auch wirklich ist, nämlich ein Christ. Die Nächstenliebe und Selbstlosigkeit, welche Isa Ben Marryam von allen fordert, die sich nach seinem Namen nennen, ist bei dir nicht bloß ein leerer Schall, sondern sie leitet dein Leben, dein Reden und dein Thun. Ich aber kann dir leider jetzt, in diesem Augenblicke, nicht den von dir geforderten Beweis erbringen, daß das, was ich sage, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Erst die Thatsachen des morgenden Tages werden dir zeigen, daß du mir heute Vertrauen schenken konntest. Wäre dieser Nafar Ben Schuri im gegenwärtigen Augenblick hier bei uns, so würde er eingestehen müssen, daß ich die Wahrheit über ihn gesprochen habe. Du sollst von mir erfahren, was diese Wahrheit sagt.«
Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort:
»Nafar hat als Oberster der Ausgestoßenen unten in Bagdad und Bassora Späher, von denen er alles für ihn Wichtige erfährt, was dort geschieht. Von ihnen kam die Kunde von euren herrlichen Pferden, von den unvergleichlichen Gewehren, welche euch beiden die Stärke eines ganzen Stammes verleihen. Man teilte ihm mit, daß ihr kommen würdet, und er nahm sich vor, euch diese Schätze abzunehmen. Er ließ euch unterwegs beobachten, ohne daß ihr es bemerktet. So erfuhr er, wann und wo ihr kamt. Euch offen zu überfallen, das wagte er nicht, weil er eure Waffen fürchtete. Darum entschloß er sich zur List. Ihr solltet seine Gäste sein und einen Schurb en Nom von ihm bekommen.«
»Bei ihm? Von ihm?« unterbrach ihn Halef. »Das war doch nicht bei ihm!«
»Höre mich nur weiter!« antwortete der Alte. »Man hatte am Wasser auf euch gewartet, weil anzunehmen war, daß ihr dort bleiben würdet. Ihr kamt. Man stellte sich bescheiden; man hütete sich, euch durch Aufdringlichkeit mißtrauisch zu machen. Darum war man in Verlegenheit, wie man euch den Schurb en Nom werde beibringen können. Da aber batet ihr selbst um Kaffee. Man that den schon bereitgehaltenen Afiun hinein und gab euch das Getränk, welches ihr trotz seiner Bitterkeit bis auf den letzten Tropfen zu euch nahmt. Dann schlieft ihr ein. Man wollte euch nur berauben, nicht ermorden. Aber selbst als ausgeraubte Männer hatte man euch zu fürchten, eurer Erfahrung, eurer Klugheit, eurer Kühnheit wegen. Darum mußtet ihr über die, welche euch den Trank der Schläfrigkeit reichten, im Irrtum sein; also ließ sich Nafar Ben Schuri gar nicht bei euch sehen, und darum lauerte er nicht mit allen seinen Leuten auf euch, sondern er schickte nur wenige Männer an das Wasser, welche dann nach vollbrachter That leicht verschwinden konnten. – Diese That gelang, und der darauffolgende Regen deckte sogar ihre Spuren zu. Aber als man eben begonnen hatte, des vollbrachten Raubes froh zu werden, mußte man die Vergeblichkeit desselben erkennen. Eure Gewehre gingen von Hand zu Hand, doch niemand konnte entdecken, auf welche Weise man mit ihnen zu schießen habe. Sie waren für die Unwissenheit wertlos. Und eure Pferde ließen keinen Reiter aufsitzen. Man wollte sie zwingen, doch war die Folge, daß dabei zwei Männer verletzt wurden. Es galt also, die Geheimnisse der Pferde und der Waffen zu erfahren, und das konnte nur durch euch erreicht werden.«
»Allah, wallah, tallah!« rief Halef zornig aus. »Wir werden diesen Schurken unsere Heimlichkeit derart offenbaren, daß ihnen vollständig unheimlich dabei werden soll! Sprich weiter!«
»Nafar Ben Schuri faßte den klugen Plan, als euer Retter aufzutreten. Er war überzeugt, daß die Dankbarkeit euch verleiten werde, eure Geheimnisse gegen ihn nicht als Geheimnisse zu betrachten. Man mußte euch da zwar alles wiedergeben, aber doch nur für kurze Zeit. Er schickte also die Thäter nach einer bestimmten Stelle, wo sie sich ruhig überfallen lassen sollten, und ritt euch dann entgegen, denn er nahm ganz richtig an, daß ihr nicht umkehren, sondern weitergehen würdet, um nach den Uebelthätern zu suchen. Auf welche Weise er diesen seinen Plan ausgeführt hat, das wißt ihr besser, als ich es weiß. Ihr habt ihm ja dabei geholfen!«
»Ja, das haben wir allerdings!« gestand Halef ein. »Wir haben diesem Manne geglaubt und ihm vertraut. Wir haben ihm die Gefangenen überlassen und nicht einmal nach den Leichen und Gräbern derer gefragt, die ihr ihm getötet habt!«
»Wir? Ihm? Ja, ich weiß gar wohl, welche Fabel euch erzählt worden ist; aber wo es keine Leichen giebt, kann es auch keine Gräber geben. Es ist ihm kein einziger Mann getötet oder auch nur verletzt worden.«
»Was? Wie? So ist auch das eine Lüge?«
»Ja. Wir töten nicht! Unser Glaube verbietet uns den Angriff gegen das Leben derer, die selbst dann unsere Brüder sind, wenn sie die Thorheit begehen, sich als unsere Feinde zu betrachten.«
»Allah! Welch ein Glaube! Welche Friedfertigkeit! So seid ihr also Christen?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht! Erst dann, wenn ich Christen kennen gelernt habe, kann ich dir sagen, ob wir welche sind. Nicht wir haben Blut vergossen, sondern Nafar Ben Schuri hat es gethan. Seine That hat mir, grad mir das Herz so schwer, so tief verwundet. Und dieses Herz, es will laut auf um Rache schreien, weil ich ein Mensch mit menschlichen Gefühlen bin. Aber da oben, wo der Himmel in stillen Stunden für mich offen ist, da steht ein lichtes, großes Wort geschrieben, welches das irdische Gesetz der Rache überstrahlt. ›Ed dem b'ed dem!‹ schreit das Menschenherz zum Himmel auf, wenn der Rauch vergossenen Blutes aufwärts steigt; von droben aber rufen tausend Engel ihr ›es Samah!‹ nieder, und bei diesem heiligen Gebot muß jede Wunde schweigen!«
Er war aufgestanden und ging, innerlich erregt, eine kleine Weile hin und her. Ich sah jetzt nicht den Schmutz, der sein Gesicht entstellte, und nicht die Lumpen, die ihn häßlich machten. Aber ich sah den tiefen Schmerz, der seine Augen füllte, und ich sagte mir, daß wir diesem Mann wohl vertrauen dürften. Als er sich beruhigt und wieder niedergesetzt hatte, sprach er weiter:
»Ich will annehmen, daß ihr euern Bund mit Nafar Ben Schuri für zerrissen halten werdet, und betrachte es darum als keinen Fehler, euch schon jetzt zu sagen, was ihr eigentlich erst später erfahren solltet. Nämlich der Tir unseres Stammes, zu welchem ich gehöre, hat sich von den andern Dschamikun abgesondert, weil wir Muhammed zwar für einen Propheten, seine Lehre aber nicht für seligmachend halten. Wir sind nicht mehr Nomaden, sondern wohnen in Häusern, welche wir nur im Sommer mit Zelten vertauschen. Wir haben Gärten und Felder, welche wir bebauen, und Herden, deren Ertrag wir auf den Markt von Isfahan liefern. Unsere Ernten sind reich an Galläpfeln, Mastix, Mannah, Sesam und Tabak. Mit dem letzteren versorgen wir fast ganz Chusistan. In Beziehung auf den Ruf, in dem wir stehen, füge ich hinzu, daß sich unausgesetzt hundert unserer jungen Leute bei der Leibgarde des Schah-in-Schah befinden, obgleich der Beherrscher sehr wohl weiß, daß sie ihre Waffen niemals verwenden würden, unschuldiges Blut zu vergießen. Ich bin der Scheik und werde nicht bei meinem Namen, sondern Peder genannt. Hoch über mir und allen andern aber steht der Ustad, vor dessen Ehrwürdigkeit wir uns in Liebe und Gehorsam beugen. Ihr werdet ihn sehen; das hoffe ich.«
»Ist er in eurem Stamm geboren?« erkundigte ich mich, indem ich an die Angabe Nafars dachte.
»Nein. Wenn du Auskunft über ihn haben willst, so wende dich an ihn selbst. Er ist für uns ein Bote des Himmels, für den wir keine solchen Fragen haben. Wir leben in steter Eintracht unter uns und halten Frieden mit allen andern Menschen. Als wir uns um unseres Glaubens willen von den andern Dschamikun trennten, wurden wir eine Zeitlang von ihnen heftig angefochten und sehr hart bedrängt. Nun aber haben sie eingesehen, daß dieser Glaube auch für sie nur Güte und nur Vorteil hat. Sie sind uns wieder Freund geworden. Zu hüten haben wir uns nur noch vor den Ausgestoßenen, welche euch gesagt haben, daß sie Dinarun seien. Sie leben nur vom Raube, wobei sie selbst den Mord nicht scheuen. Wir aber nennen sie nur Massaban, weil unser Chodeh nicht will, daß wir diejenigen, welche uns leid thun, mit einem bösen Wort bezeichnen. Diese Massaban, deren oberster Anführer Nafar ben Schuri ist, schwärmen in einzelnen Trupps überall herum, in der Absicht, zu ernten, wo sie nicht gesäet haben. Aber wenn es einen größeren Streich gilt, finden sie sich schnell zusammen. Ein solcher war es, der uns betroffen hat. Unsere Männer waren fast alle auf einem Fest der Leng-i-Karun abwesend –«
»Ich denke, Nafar Ben Schuri war auf einem solchen Feste?« fiel Halef ein.
»Das ist nicht wahr. Er überfiel uns während der Nacht, raubte alles, was er zusammenraffen konnte, und führte auch einen Teil unserer Herden mit sich fort. Hierbei wurden von den wenigen Männern, welche daheim geblieben waren, sechs ermordet. Unter den Toten befand sich mein einziger Nachkomme, mein Enkelsohn, die Freude meiner Augen, die geliebte Abendröte meiner letzten Lebenstage. Als wir am andern Tage heimkehrten, sah ich ihn vor mir liegen, blutbefleckt und mit weit aufgerissenen Augen und im Todesschmerz geballten Händen. In meinem Innern erklangen zwei Stimmen. Die eine rief mir ›Ed dem b'ed dem!‹ zu; die andere aber ließ ihr ›Samah, samah!‹ tönen. Es war ein kurzer, aber schwerer Kampf. Das ›Samah‹ unseres gnadenreichen Chodeh siegte. Ich ließ alle meine Männer zusammenkommen, um zu beraten. Der Ustad stieg von seinem hohen Hause nieder und wohnte der Versammlung bei. Wir sprachen lange hin und her; da gab er seinen Plan und mit demselben unserm Willen Festigkeit. Es wurde beschlossen, der Plage des Landes, welche die Massaban bilden, mit einem einzigen kräftigen Streiche ein Ende zu machen. Wir wollten sie fangen ohne alles Blutvergießen; keiner sollte entgehen. Dann sollten sie dem Sipahsalar geschickt werden, welcher grad jetzt nach Soldaten für Farsistan sucht und keine findet, weil kein Angeworbener hinab nach der ungesunden Grenze gegen Indien will. Wir sandten also einen Boten nach Isfahan, um diese Nachricht hinzubringen, und machten uns zur Verfolgung der Massaban auf. Als sie von uns erreicht wurden, bemerkten sie unsere große Ueberzahl und verloren den Mut, sich zu verteidigen. Sie ließen ihren Raub stehen und liegen und ergriffen die Flucht. Hierauf verwandelte ich mich und meinen Begleiter hier in Fukara und ritt ihnen mit der Stute des Ustad nach, weil für meinen Zweck unter Umständen das schnellste unserer Pferde nötig war. Als sie sich gelagert hatten, ließ ich den Begleiter an einem verborgenen Orte mit den Tieren zurück und ging zu ihnen. Ich gab mich für Sallab aus, dessen Namen sie kannten. Ein Fakir darf nicht fortgewiesen werden. Man duldete mich. Auch ist er ein Mann, der sich nur um religiöse Dinge zu bekümmern pflegt. Man war also in meiner Gegenwart nicht so vorsichtig, wie man es gegen einen andern gewesen wäre. Ich hörte verschiedenes. Es waren Bruchstücke. Aber wenn ich sie zusammensetzte, bekam ich ein fast ganz vollständiges Bild. Das veranlaßte mich, abends, als es dunkel war, mich scheinbar zu entfernen. Aber ich kehrte zurück und belauschte Nafar Ben Schuri, als er mit einigen seiner Leute zusammensaß. Ich hörte, was man gegen euch vorhatte. Gern hätte ich euch gewarnt, aber ich kannte ja die Oertlichkeiten nicht, und ihr mußtet auch schon dort angekommen sein, wo ihr den Schlaftrunk bekommen solltet. Als ich dann wiederkam und bei ihnen saß, hörte ich, daß man eure Waffen gegen uns brauchen wollte. Wir sollten verfolgt werden, denn die Massaban wollten uns ihre verlorene Beute wieder abnehmen. Das war mein Augenblick, den ich sogleich benutzte. Ich that, als ob ich gar nicht aufgepaßt und darum auch gar nichts verstanden hätte, und begann, von dem ›Thale des Sackes‹ zu sprechen. Dahin wollten wir sie nämlich locken, weil dies der einzig passende Ort war, sie so einzuschließen, daß sie sich gar nicht wehren konnten. Nafar Ben Schuri griff meine Worte sofort auf. Er ahnte meine Absicht nicht im geringsten. Sein Gehirn begann, an der Falle zu bauen, deren Entwurf ich ihm hingeschoben hatte, um ihn selbst zu fangen. Um ihn sicher zu machen, stellte ich mich ganz unwissend und erzählte, daß ich auf meinem Wege eine Schar von Dschamikun gesehen habe, welche sehr eilig nordwärts geritten sei.
›Hatten sie Herden?‹ fragte er.
›Nein.‹
›Wie viele waren es?‹
›Wohl einige Hundert.‹
Er glaubte es und dachte nun, wir hätten uns getrennt, und es seien bei den Herden, denen er folgen wollte, nur wenige unserer Leute geblieben. Sein Vorhaben erschien ihm also als sehr leicht ausführbar, und als ich mich dann zum Schlafen niederlegte, konnte ich es mit dem Bewußtsein thun, daß mein Anschlag eine gute Statt gefunden habe. Am andern Morgen erfuhr ich dann auch wirklich, daß beschlossen worden sei, die Dschamikun zu verfolgen und in dem ›Thale des Sackes‹ einzuschließen. Ich hätte nun gehen können, denn meine Absicht war erreicht; aber der Gedanke an euch hielt mich noch fest. Eure Namen sind bekannt. Ich wollte wissen, ob der gegen euch gerichtete Anschlag gelungen sei. Ich wünschte, euch nützen zu können. Da kamen die Massaban, welche euch beraubt hatten. Sie brachten alles mit, was euch abgenommen worden war. Man jubelte. Da aber stellte es sich heraus, daß eure Pferde störrisch und eure Gewehre unbrauchbar seien. Es wurde schnell Rat gehalten und man nahm sich vor, sich euer scheinbar anzunehmen, bis man die Geheimnisse eurer Tiere und Waffen erfahren habe. Wie man das ausführte, wißt ihr ja. Ich bekam dadurch Zeit, meine Dschamikun zu unterrichten. Ich ritt zu ihnen, um ihnen meine Anweisungen zu erteilen, und als ich am anderen Tage zurückkehrte, setzte ich mich zu euch. Ich erfuhr, daß ihr die Massaban wirklich für Dinarun hieltet und ihnen gegen uns helfen wolltet. Nun wußte ich genug und ging. Von der nächsten Anhöhe aus sah ich Kara Ben Nemsi auf dem Berge stehen und winkte ihm warnend zu. Das war für so erfahrene Männer, wie ihr seid, hinreichend, zur Vorsicht zu mahnen. Ich wollte euch helfen. Ich gedachte nicht, euch als unsere Feinde zu betrachten. Ihr solltet zwar mit gefangen genommen, dann aber sofort wieder freigelassen werden. Ich hatte gesehen, daß der Scheik der Haddedihn krank sei. Ich kenne diese Krankheit genau. Sie wird sehr häufig vom Euphrat und vom Tigris zu uns heraufgeschleppt, und wir kennen ein Mittel, welches ganz unfehlbar wirkt. Ich machte darum den Hadschi aufmerksam, wo er das Leben gegen den Tod finden werde, weiß aber nicht, ob ihr mich verstanden habt. Ich wußte alles, auch daß uns Kundschafter nachgeschickt worden waren. Als ich wieder zu meinen Dschamikun kam, beeilten wir uns, die Falle so zu stellen, daß die Massaban ganz gewiß glauben werden, wir seien es, hinter denen sie sich zuzuschließen habe. Auch wir haben Kundschafter. Sie haben euch scharf beobachtet. Als ich den Ort eures letzten Nachtlagers erfuhr, setzte ich mich mit diesem meinem Begleiter zu Pferde, um euch mit eigenen Augen zu beobachten. Wir dachten nicht an die Möglichkeit, daß es jemandem von euch einfalle, von euerm Wege abzuweichen. Da trafen wir auf euch.«
»Und wendetet sogleich die Pferde, um die Flucht zu ergreifen! Warum thatet ihr das?« fiel hier Halef ein.
»Durften wir euch trauen?« fragte der alte Scheik lächelnd.
»Nein. Du hast recht. Aber wie steht es nun jetzt? Wie denkt ihr nun von uns?«
Da stand Peder wieder von seinem Platze auf, stellte sich in feierlicher Haltung vor uns hin und antwortete:
»Ihr habt uns gefangen, aber wieder freigegeben. Das war eine That des Vertrauens und der Ehrlichkeit. Ich will nicht minder ehrlich sein als ihr. Ja, ich bin es schon gewesen! Ich habe euch gesagt, daß wir den Massaban eine Falle gestellt haben, in welche sie gehen sollen. Wenn ihr ihnen das mitteilt, falls ihr ihnen mehr glaubt als uns, so ist diese unsere Mühe vergeblich gewesen. Ich spreche keine Bitte aus. Dieses mein Schweigen mag euch sagen, was ich von euch denke.«
Nun sprang auch Halef auf. Ich sah ihm an, daß er seinem schnellen Temperamente folgen wollte. Er besann sich aber, wendete sich zu mir und fragte:
»Hörst du es, Sihdi? Der Scheik der Dschamikun giebt sich wehrlos in die Hände unserer Rechtschaffenheit! Ich wollte ihm sagen, was wir thun werden; aber sag du es ihm!«
Ich folgte dieser Aufforderung, indem ich mich erhob und dem Alten die Hand reichte:
»Wir glauben dir! Deine Falle wird sich ganz gewiß bewähren, denn wenn die Massaban zögern sollten, hineinzugehen, werden wir sie hineinführen. Am liebsten ritte ich jetzt mit dir zu deinen Leuten; aber wir betrachten uns von diesem Augenblicke an als deine Freunde und Verbündete und wollen nicht der unverdienten Ruhe pflegen, sondern das unsere dazu beitragen, daß euer Vorhaben gelinge und diese Landplage unschädlich gemacht werde.«
»Das, das wollt ihr wirklich thun?« fragte Peder im Tone der Freude.
»Ja. Darum bitten wir dich, uns das Nötige über die Lage des ›Daraeh-y-Dschib‹ mitzuteilen, damit wir keine Fehler machen. Aber thue das schnell und kurz, denn wir müssen nun zu den Massaban zurückkehren, wenn sie nicht wegen unseres zu langen Ausbleibens mißtrauisch werden sollen.«
Ich kann diese seine Instruktionen hier übergehen, weil sich ihr Inhalt aus dem Nachfolgenden ergeben wird. Peder beschrieb die Oertlichkeiten so genau, daß ich eine hinreichende innere Anschauung von ihnen bekam. Auch über die Falle, in welche die Massaban geführt werden sollten, sprach er sich in der Weise aus, daß wir nicht im Zweifel darüber waren, wie wir uns zu verhalten hatten. Dann trennten wir uns von ihm und seinem Begleiter, und zwar in ganz anderer Weise, als wir vorhin mit ihnen zusammengetroffen waren. Sprachlich will ich hier noch bemerken, daß das persische Wort Peder (Vater) nicht etwa wie der deutsche Name Peter, sondern mit dem Tone auf der letzten Silbe, also Pedehr, ausgesprochen wird.
Als wir hierauf nun Seite an Seite um den nördlichen Fuß des Berges herumritten, sagte Halef zu mir:
»Jetzt wissen wir nun endlich genau, woran wir mit diesen Lügnern und Betrügern sind. Wie schwer wird es mir fallen, nun auch Betrüger zu sein!«
»Betrüger? Wieso?«
»Weil wir ihnen doch nicht merken lassen dürfen, daß wir alles wissen. Wir müssen uns verstellen, müssen uns als Freunde gebärden, und das, das fällt mir ganz entsetzlich schwer, Sihdi! Wenn ich nicht sagen darf, was ich denke, so sage ich lieber nichts!«
»Ganz richtig! Ich bitte dich, genau nach diesem Worte zu handeln, doch nicht nur in Beziehung auf das Sprechen. Auch alles, was du thust, muß verschwiegen sein. Du darfst durch keine Bewegung, durch keine Miene verraten, daß du mehr weißt, als du wissen sollst.«
»Das ist es ja eben, was mir schwer fällt!«
»Es ist leichter, als du denkst. Man muß sich nur hüten, gesprächig oder gar geschwätzig zu sein. Wir brauchen uns nur genau so zu verhalten, wie wir es gethan haben, seit wir auf die Spuren getroffen sind. Dann wird es einer großen Verstellungskunst gar nicht bedürfen. Auch ich gebe mich nicht gern anders, als ich bin; aber wenn in diesem gegenwärtigen Falle Klugheit gegen Arglist und Schweigsamkeit gegen Verstellung gehalten wird, so kann das ganz unmöglich eine Sünde sein. – Hat dich unser Eilritt angegriffen, Halef?«
Ich fragte so, weil ich sah, daß er jetzt nicht mehr stramm im Sattel saß. Da nahm er sich sofort zusammen, richtete sich auf und antwortete:
»Angegriffen? Mich? Wie kann mich ein Ritt angreifen, der die größte Wonne ist, die ich mir zu Pferde vorstellen kann? Sei doch so gut, jetzt ja nicht an die Krankheit zu denken! Du siehst doch jedenfalls ein, daß der Hauptteil unseres Erlebnisses mit den Massaban erst jetzt beginnen soll. Meinst du, daß ich da dem alten Weibe erlauben werde, mich von den Thaten, welche geschehen sollen, auszuschließen? Wir werden es kurz machen. Wahrscheinlich sind wir schon morgen mit diesen Leuten fertig. Und so sage ich dir: So lange wir sie nicht in der Falle haben, so lange würde selbst der Tod nichts über mich vermögen. Und wenn er mich niederwürfe, ich würde doch wieder aufstehen, um ihnen zu beweisen, daß sie sich in uns verrechnet haben. Laß uns machen, daß wir schnell zu ihnen kommen!«
Nicht lange hierauf hatten wir den Berg umkreist und stießen auf die Fährte der Massaban, welcher wir folgten, bis wir den Reiterzug an einer Stelle einholten, wo von dieser und der nächsten Höhe aus sich ein ebenes Tafelland nach Osten zog. In diese Ebene ritten wir nun hinaus, ohne daß uns jemand nach dem Verlauf unserer Reitpartie gefragt hätte. Man verhielt sich still gegen uns, und das war uns nur lieb.
Nach einiger Zeit sahen wir auf der Fläche vor uns mehrere Reiter erscheinen, welche, als sie uns erblickten, schnell auf uns zukamen. Nafar Ben Schuri ritt ihnen entgegen und sprach längere Zeit mit ihnen. Dann gab er das Zeichen zum Weiterreiten. Diese neu zu uns gestoßenen Massaban machten nun die Führer.
»Ob das wohl die erwarteten Kundschafter sind?« fragte Halef.
»Jedenfalls,« antwortete ich.
»Warum meldet er uns nicht, was sie ihm berichtet haben?!«
»Laß ihn! Es ist die Laune des bösen Gewissens. Er spielt den Gekränkten, freilich ohne zu wissen, daß dieses sein Schmollen uns sehr willkommen ist.«
»Aber, haben wir es uns gefallen zu lassen? Wir sind nicht seine Untergebenen, sondern stehen über ihm. Er ist doch der Meinung, daß wir ihm helfen sollen, und da hat er uns doch unbedingt zu berichten, welche Meldung ihm gebracht worden ist!«
»Hätten wir uns noch als seine Helfer zu betrachten, so würde ich mir diese Zurücksetzung freilich verbitten. Nun aber, da sich die Sache so ganz anders gestaltet hat, kommt mir sein Schweigen sehr gelegen. Dein Selbstgefühl kann sich beruhigen, lieber Halef. Du weißt ja doch, daß die Strafe nicht auf sich warten lassen wird.«
»Das läßt mich allerdings den Verweis, den ich ihm geben möchte, in den Abgrund meines Zornes fallen lassen. Dort mag er bis zur Stunde der Vergeltung liegen bleiben!«
Das gekränkte Ehrgefühl meines kleinen Hadschi brauchte nicht länger als ein kleines Viertelstündchen zu warten, um zu Worte kommen zu können. Schon nach dieser kurzen Zeit stießen wir auf eine von Süden herüberstreichende breite Fährte, welche diejenige der Dschamikun mit ihren Herden war. Gleich der erste Blick belehrte uns, daß diese Pferde- und Wiederkäuerspuren über einen Tag alt waren, ein außerordentlich wichtiger Umstand, den aber weder die Kundschafter, noch Nafar Ben Schuri beachteten. Jetzt hielt er es nun für an der Zeit, einige Worte an uns zu richten:
»Das ist der Kreuzungspunkt, von dem ich zu euch sprach. Ihr seht, daß wir die Dschamikun glücklich eingeholt haben.«
Eingeholt! Wie er sich irrte! Sie waren ja schon gestern hier vorübergekommen und hatten also mehr als genug Zeit gehabt, ihre Falle zu stellen. Seine Kundschafter taugten nichts. Natürlich hüteten wir uns, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß seine Ansicht eine durchaus falsche sei. Er fuhr fort:
»Diese Räuber und Mörder machen hier, indem sie weit nach Osten hinaus abbiegen, den Umweg, der sie in unsere Hände bringen wird. Indem wir ihnen nicht folgen, sondern geradeaus nach Norden reiten, kommen wir ihnen zuvor und gewinnen mehr als genug Zeit, das Daraeh-y-Dschib zu besetzen.«
»Wie weit ist es von hier bis dorthin?« erkundigte ich mich.
»Wir sind schneller gewesen, als wir vorher dachten. Wenn wir uns sputen, können wir es noch vor dem Eintritt der Dunkelheit erreichen.«
»Meinst du, daß die Dschamikun dann morgen kommen?«
»Eher keinesfalls.«
»Und unser Nachtrab? Wo bleibt der?«
Diese Frage schien ihm ganz unerwartet zu kommen. Er machte eine verlegene Miene. Ich hatte sie ausgesprochen, weil mir daran lag, die Massaban alle zusammen in das Netz zu bekommen. Auch die, welche sich noch hinter uns befanden, sollten mit dabei sein.
»An den Nachtrab habe ich gar nicht gedacht, weil es nicht nötig ist,« erklärte er.
»Nicht nötig? Willst du haben, daß deine Absicht durch ihn verraten und die Ausführung desselben dadurch verhindert werde?«
»Wieso verhindert?«
»Sonderbare Frage! Wann wird der Nachtrab am ›Thale des Sackes‹ ankommen?«
»Morgen.«
»Und die Dschamikun kommen auch morgen? Sie werden ihn sehen und sofort über ihn herfallen!«
»Maschallah! Das ist richtig! Das muß verhütet werden! Sihdi, gieb uns deinen Rat! Was meinst du, daß wir thun?«
»Es ist nur eines möglich: Deine Dinarun haben uns zu folgen und sich noch während der Nacht bei uns im Thale einzustellen.«
»Im Thale?«
»Ja.«
»Nicht an oder bei dem Thale?«
»Nein. Wenn du fähig wärest, einen so unverzeihlichen Fehler zu begehen, würde ich mit dem Scheik der Haddedihn sofort umkehren und euch keinesfalls weiter begleiten, weil wir überzeugt sein würden, daß dein so schön angelegter Plan dann für uns unheilvoll werden müßte. Wir haben diese Nacht natürlich in dem Thale, keineswegs aber bei demselben zuzubringen.«
»Warum?«
Ich gab mir den Schein der Ungeduld, indem ich antwortete:«
»Denkt ihr denn gar nicht nach? Wenn wir eine ganze Nacht lang in der Nähe des Thales lagern, so giebt das Spuren, welche noch wochenlang zu sehen sind. Die Dschamikun müßten doch blind sein, wenn sie diesen unverzeihlichen Selbstverrat nicht bemerkten! Und nach einer so handgreiflichen Warnung wäre es nur Wahnsinnigen zuzumuten, in die Falle zu gehen. Der Felsengrund des Thales aber nimmt keine Spuren an, die zur vorzeitigen Entdeckung führen können. Außerdem bieten uns die hohen Steinwände Schutz gegen jede Unbill der Nacht. Und drittens befinden wir uns, wenn die Entscheidung naht, gleich frühmorgens an Ort und Stelle und können so wunderbar schön versteckt bleiben, daß bis zum letzten Augenblicke kein Dschamiki ahnen kann, wie nahe sein Verderben ist.«
Ich sah ihm an, daß ich ihn überzeugt hatte. Auch auf den Gesichtern seiner Leute, welche meine Worte gehört hatten, war nichts als Zustimmung zu lesen. Da sagte er:
»Ich höre, daß du dir die Sache gut überlegt hast. Auch ich hatte schon so ähnliche Gedanken. Wir sind bereit, deinen Vorschlag auszuführen. Die Kundschafter mögen hier bleiben, um den Nachtrab, sobald er ankommt, hinunter nach dem Daraeh-y-Dschib zu geleiten. Nun aber müssen wir uns beeilen, weil es im Thale eher finster wird als außerhalb desselben.«
Die Späher stiegen von den Pferden und setzten sich nieder. Der Zug ritt weiter, ich mit Halef hinterdrein. Der letztere sprach, als uns niemand hörte:
»Sihdi, das hast du pfiffig gemacht! Jede Lüge vermieden und doch unseren Zweck erreicht! Leider haben diese Menschen keine Ahnung von der Lehre, die du ihnen jetzt gegeben hast.«
»Welche Lehre, Halef?«
»Das fragst du mich? Du selbst, der sie erteilte?«
»Sprich sie nur aus, damit sie hörbar werde!«
»Beide können klug sein, der Böse sowohl als auch der Gute. Aber wenn es zum Schlusse kommt, so stellt sich unbedingt heraus, daß nur der Gute wirklich und wahrhaftig klug gewesen ist.«
»Was folgt hieraus?«
»Nichts, als was ich gesagt habe. Das ist doch wohl genug!«
»Drehe es einmal herum!«
»O, Sihdi, was mutest du mir zu! Du weißt ja, daß ich nicht gern Rätsel löse! Und wenn man etwas herumdreht, so wird es verkehrt, und ich werde mich wohl hüten, etwas Verkehrtes zu sagen! Drehe du doch selbst es um, damit ich höre, wie es aus deinem Munde klingt!«
»Jedenfalls nicht verkehrt. Aus deinen Worten geht hervor, daß es die wahre Klugheit ist, nur gut, nie aber bös zu handeln. Nafar Ben Schuri ist stolz auf seinen Plan, den er für ungeheuer schlau hält. Von wem aber hat er ihn bekommen? Von dem Peder!«
»Ganz recht! Hast du dir die Augen dieses Mannes betrachtet?«
»Ja.«
»Ich auch. Droben im Lager der Massaban, als er noch als Fakir galt, habe ich ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt aber möchte ich mich fragen, ob ich wohl schon einmal etwas so Schönes wie diese Augen gesehen habe. Es ist mir da ein Gedanke gekommen, und ich kann mir nicht helfen, ich muß ihn dir sagen.«
»Sprich!«
»Wirst du mich auslachen?«
»Nein!«
»Im Herzen des Menschen wohnt entweder der Himmel oder die Hölle, und das Auge ist das Fenster, durch welches entweder Allah oder der Scheitan seinen Blick nach außen richtet. Dieser Peder trägt den Himmel in sich. So oft er seinen Blick auf mich lenkte, war es mir, als ob Allah mich anschaue. Ich könnte diesem Manne niemals etwas thun, was ihn betrüben müßte. – Gieb mir die Medizin!«
Diese letzte Aufforderung kam so unerwartet, daß ich ihn betroffen ansah.
»Habe ich dich erschreckt?« fragte er. »Es ist nichts, wirklich gar nichts! Du brauchst keine Sorge zu haben. Aber ich fühle plötzlich den Hals nicht mehr. Es ist mir, als ob der Kopf frei in der Luft schwebe. Und doch wird er mir ganz plötzlich so schwer, daß ich das Gefühl habe, er werde mir herunterfallen.«
Das war ein schlimmes Zeichen. Nach der bisherigen Aufregung begann das Gegenteil nun einzutreten. Auch ich fühlte eine bedenkliche Eingenommenheit des Kopfes, gab aber doch nur Halef von dem Mittel, obgleich ich es wohl auch hätte nehmen sollen.
Unsere bisherige gute Stimmung war plötzlich eine ganz andere geworden. Die Sonne schien nicht mehr, und nun sie hinter den Bergen verschwunden war, breitete sich die Dämmerung mit der jenen Gegenden eigenen Schnelligkeit über das Land. Dieser äußere Vorgang wollte sich auch in unserm Innern fortsetzen. Kein Mensch, und sei er ein noch so ausgeprägter, kräftiger Charakter, bringt es fertig, sich den Einflüssen der Natur ganz zu entziehen. Er hat an den Leiden und Freuden der Schöpfung teilzunehmen, welche auf ihn, so lange er lebt, niemals verzichten wird.
Halef saß jetzt zusammengedrückt im Sattel, er ließ den Kopf hängen. Was mich betrifft, so fühlte ich mich nicht nur ermüdet, sondern matt. Diese Mattigkeit lag nicht in meiner Natur; sie war mir fremd, war – Krankheit. Wie kam es doch, daß ich grad jetzt an das Hammelfleisch denken mußte, welches wir im Lager der sogenannten Dinarun gegessen hatten? Ich fühlte, daß es mir unmöglich sein würde, gegenwärtig auch nur einen einzigen Bissen davon zu genießen. Schon bloß der Gedanke daran schüttelte mich! War das ein Wink von innen heraus? Wer vermag die dort wohnenden Geheimnisse zu ergründen!
Unser Weg war jetzt ein unausgesetzt abwärts gehender. Der voranreitende Nafar Ben Schuri hatte sichtlich Eile. Es ging in schnellem Tempo teils an Berghängen, teils auch über freie Bodensenkungen hin, bis uns ein kurzes, schmales Thal aufnahm, dessen Mündung uns an den Rand eines »Warr« brachte, welches mich an gewisse Gegenden der inneren Sahara erinnerte.
Unter Warr hat man einen Ort zu verstehen, dessen Boden mit wirr liegenden Felsentrümmern bedeckt ist. Ein solches Warr im wahrsten Sinne sahen wir hier vor uns liegen. Als ob vor Jahrtausenden da ein riesiger feuerspeiender Krater vorhanden gewesen sei, so gerade und steil stieg ringsum das schwarze Gestein zum Himmel auf. Wo lebten die Giganten, welche die Spitzen der rundum ragenden Berge abgebrochen und in solche Tiefen geschleudert hatten, daß sie in tausend Trümmer zerschmettert worden waren? Es sah ganz so aus, als ob von unheilvollen Urkräften hier einst irgend eine erschreckliche Teufelei ausgeführt worden sei. Die Zwischenräume der gewaltigen Steinbrocken waren mit Farnen, Dornen und allerlei Gestrüpp so dicht ausgefüllt, daß es gewiß unmöglich gewesen wäre, hindurchzukommen, wenn es nicht ein jetzt leeres Wasserbett gegeben hätte, welches in zwar zahlreichen, aber doch gangbaren Windungen nach der anderen Seite hinüberführte.
Wir folgten diesem Wege. Drüben angekommen, trafen wir auf ein zweites, noch breiteres Wasserbett, welches sich mit dem unserigen vereinigte. Nafar Ben Schuri deutete in die Richtung desselben zurück und rief uns zu:
»Das ist der Weg, auf dem die Dschamikun kommen werden. Und da, gerade vor uns, seht ihr das Thor, durch welches man in das Daraeh-y-Dschib gelangt.«
Zwei früher senkrecht stehende Felsenwände hatten sich einander zugeneigt, bis sie hoch oben aufeinander getroffen waren. Sobald uns dieses finstere, aus gewaltigen Massen bestehende und doch einsturzdrohende Thor aufgenommen hatte, war es so dunkel um uns her, daß es einiger Zeit bedurfte, bis wir die Augen hieran gewöhnt hatten und die nächste Umgebung zu unterscheiden vermochten. Da habe ich mich freilich wohl falsch ausgedrückt, denn es gab nur eine »nächste« und gar keine weitere Umgebung. Das Thal bestand hier aus dem Wasserbette und einem nicht viel breiteren Ufer rechter Hand, welches unsere Pferde zu erklettern hatten. Links gab es keinen solchen Rand, weil das Wasser – nämlich wenn es welches gab – direkt von der Felsenwand begrenzt wurde. Indem wir nun langsam und vorsichtig auf diesem einen und auch einzigen Ufer hinritten, begleitete uns hoch oben ein Himmelsstreifen, welcher nicht breiter als eine Hand zu sein schien.
Die Schritte unserer Pferde erregten hier einen wahren Höllenlärm, von den zurückgeworfenen Schallwellen verzehnfacht, dumpf, hohl, ohne Höhe oder Tiefe, unbegrenzt, vollständig klang- und wesenlos. Es war ein Spektakel schattenhafter Geräusche, denen mit dem Inhalte auch das Leben fehlte.
Später senkte sich das Wasserbett tiefer, und das Ufer wurde breiter. Wir bekamen mehr Platz. Es gab sogar Büsche solcher Arten, die keiner direkten Sonnenstrahlen bedürfen. Wir atmeten eine dicke, stehende, feuchtmodrige Luft, welche die Lungen beschwerte. Das wurde erst besser, als die Felsen oben weiter auseinander traten und uns vom Ausgange des Thales oder vielmehr der Schlucht her ein frischer Odem entgegenwehte. Dann gab es plötzlich Raum genug für uns alle und auch für unsere Pferde. Der »Sack« war zu Ende.
Eigentlich war der Name »Dschib« nicht zutreffend gewählt für die vorhandene Oertlichkeit. Sie glich weniger einem Sacke, als vielmehr einer lang- und dünnhalsigen weitbauchigen Phiole oder einer jener Flaschen, in welche der Steinwein abgezogen wird. Der lange, schmale Gang verbreiterte sich mit einem Male zu einem großen, halbkreisähnlichen Platze, auf dem wir ganz bequem lagern konnten. Und doch hatte der Ausdruck Sack, wenigstens im vergleichenden Sinne, auch seine Richtigkeit, weil der Weg von hier nicht weiter ging. Die Bodenlinie der Flasche wurde nämlich von einem tiefen Felsenrisse gebildet, dessen Ende wir nicht ersehen konnten. In diesen Riß mündete unser Wasserlauf. Es mußte bei gefülltem Bette Grauen erregen, die Wassermasse spurlos da unten in der Tiefe verschwinden zu sehen! Der jenseits des Risses liegende Teil des Berges war nicht steil gerichtet; er bildete vielmehr eine moosig grüne Böschung, auf welcher einzelne uralte Eichen und andere Laubhölzer standen. Das lockte hinüber; aber leider konnten wir nicht, weil der Felsenspalt uns von ihm trennte!
Es hatte eine Brücke hinübergeführt, deren Reste wir noch sahen: zwei Urwaldstämme, darüber Querstämme und dann Steine darauf. Die Steine waren verschwunden. Von den Querstämmen reichte nur noch einer von oben bis in den Felsenriß hernieder, wo er sich eingestemmt hatte, um zu verraten, daß die Brücke nicht von der Natur, sondern durch Menschenhand zerstört worden sei. Die Dschamikun hatten Stämme und Steine in die Tiefe gestürzt, damit den Massaban die Flucht von hier aus abgeschnitten sei. Als der Anführer der letzteren die Vernichtung sah, war er nicht etwa enttäuscht, sondern er rief ganz im Gegenteil sehr erfreut aus:
»Die Brücke ist eingestürzt! Welch ein Glück für uns! Wenn die Dschamikun morgen kommen, können sie nicht hinüber und sind gezwungen, sich uns zu ergeben! Wir haben nun gar nicht nötig, die Brücke zu besetzen, und können uns also alle daran beteiligen, die Feinde hier hereinzutreiben!«
Das gab eine allgemeine Freude, an welcher wir beide uns freilich nicht beteiligten. Halef war nämlich mehr vom Pferd herabgefallen, als herabgestiegen. Ich nahm ihn in den Arm und führte ihn zu einer Stelle, welche ich zum Lagern für die beste am ganzen Platze hielt. Dort legte ich ihn nieder, holte seinen Sattel zum Kopfkissen und wickelte ihn in seine und in meine Decke ein, denn ich sah, daß der Frost ihn förmlich schüttelte. Die Zähne schlugen ihm zusammen. Er schien am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein. Noch hatte ich ihn nicht ganz eingehüllt, so riß er die Decken wieder weg, richtete sich in sitzende Stellung auf und sagte, indem er mich mit weit aufgerissenen Augen angstvoll anstarrte:
»Sihdi, müssen wir hier bleiben?«
»Ja,« nickte ich.
»Die ganze, ganze Nacht?«
»Ja.«
»Da sterbe ich! Ich fühle, daß ich es hier nicht aushalte, daß ich fort muß, daß es mein Leben kostet, wenn ich bleibe!«
»Zurück können wir unmöglich!«
»Aber vorwärts?«
»Die Brücke ist weg!«
»Wir haben die Pferde! Der Spalt ist schmal. Wir springen hinüber!«
»Halef!« rief ich erschrocken. »Das würde Wahnsinn sein!«
Da preßte er die Lippen zusammen und ballte die Fäuste, als ob er alle seine Kräfte herbeizwinge. Es gelang ihm, die Schwäche noch einmal zu besiegen. Er stand ganz auf, ging hin an den Spalt, wo die Brücke gelegen hatte, und maß die Entfernung der gegenüberliegenden Kante mit scheinbar ruhigem Auge. Dann drehte er sich zu mir um und sprach:
»Sihdi, erhöre mich! Es ist vielleicht die letzte, die allerletzte Bitte, die ich in diesem Leben zu dir sage. Ich habe dich belogen, denn ich wollte dich nicht beängstigen. Meine Krankheit ist schlimmer, als du denkst. Ich habe mit allen Kräften gegen sie gekämpft, ohne es dir einzugestehen. Diese Kräfte sind alle; sie reichen nur noch zu dem letzten Sprunge dort hinüber. Dann breche ich zusammen, und du sollst mich pflegen. Willst du diesen Sprung mit mir wagen?«
»Halef, mein lieber, lieber Halef!« antwortete ich kopfschüttelnd, nicht aus Angst vor dem Wagnis, sondern aus Herzenssorge um ihn.
»Laß mich nicht viele Worte machen, denn sie rauben mir die Kraft, die ich nötiger brauche. Durch den Gang können wir nicht zurück. Das erfordert zu viel Zeit, und die Massaban würden uns auch nicht lassen. Bleiben wir aber hier, so weiß ich, daß ich verloren bin. Allein aber kann ich unmöglich fort. Sihdi, mein Sihdi, hast du mich noch lieb?«
»So lieb, wie noch nie, mein Halef!«
»So denk an den fürchterlichen Sprung damals, den du auf deinem herrlichen Rih über die ›Spalte des Verräters‹Siehe Karl May, »Der Schut«, pag. 499 thatest. Assil leistet im Springen ganz dasselbe wie sein Vater Rih, und dieser Riß hier ist ganz gewiß nicht so breit, wie jene Spalte war!«
Ich legte ihm beide Hände an die Wangen, küßte ihn auf den Mund und sah ihm dann in das Gesicht. Es hatte noch nie einen so liebevollen, aber auch noch niemals einen so entschlossenen Ausdruck gehabt. Es war wirklich sein Leben, um welches es sich handelte. Es mußte gerettet werden!
»Wirst du denn fest im Sattel sitzen?« fragte ich. »Nur noch zwei Minuten fest?«
»Ich schwöre es dir bei Allah zu, Sihdi!«
»Gut, dann sei es gewagt! Bleib du ruhig stehen. Ich werde die Vorbereitungen treffen.«
Die Massaban hatten damit zu thun, ihre Pferde zu versorgen und es sich dann möglichst bequem zu machen. Sie achteten infolgedessen nicht besonders auf uns. Ich legte Barkh den Sattel wieder auf, schnallte die Decken an Ort und Stelle und untersuchte mit ganz besonderer Vorsicht die Lage und die Festigkeit der Bauchgurte. Während ich das that, sagte Halef:
»Sihdi, die Pferde können keinen weiten Anlauf nehmen. Sage ihnen also, um was es sich handelt! Sie werden dich verstehen.«
Ich führte die Rappen also ganz hart an die Spalte, so daß sie mit den Köpfen gegen dieselbe standen.
»Natt, natt – springen, springen!« sagte ich, indem ich sie streichelte.
Da hoben sie die Schwänze; ihre Ohren legten sich vor und ihre Nüstern weiteten sich, tief Atem holend. Sie wußten gar wohl, was das Wörtchen »natt« zu bedeuten und was hierauf zu erfolgen hatte.
»Wer zuerst?« fragte Halef.
»Du. Doch beachte, daß auf der Kante drüben der Felsen unter einer Schicht von Erde und faulem Holze liegt. Barkh wird abrutschen, wenn er nur mit den Vorderhufen faßt. Nimm die Peitsche in die Hand, um unglücklichen Falles nachzuhelfen, und schaue dich ja nicht erschrocken um, wenn ich es für nötig halte, den rettenden Schwung durch einen Schuß zu unterstützen!«
»Es wird das alles gar nicht bedürfen. Du kommst gleich hinter mir?«
»Sobald ich sehe, daß du drüben bist und mir Platz gemacht hast. Eher nicht.«
»Kann es losgehen? Jetzt?«
»Ja.«
»So sei Allah unsere Hilfe! Ich denke an Hanneh, der ich mein Herz gegeben habe, und an Kara Ben Halef, meinen Sohn, welcher der Stolz und die Hoffnung meines irdischen Lebens ist. Sihdi, wir bleiben beisammen, jenseits dieser Felsenspalte, lebend, lebend hier oder lebend dort. Du warst und bist mein Freund; ich danke dir! Schaff Platz! Nun soll's beginnen!«
Im Hintergrunde unseres Lagerplatzes war es vollständig Nacht. Vorn gab es noch einen letzten, langsam ersterbenden Dämmerungshauch. Ueber dem Felsenriffe aber stand der offene Himmel, und da reichte die Helle grad noch zu, den jenseitigen Bord des Abgrundes deutlich zu erkennen, aus welchem uns das »Sterben« entgegen gähnte, denn »Tod« giebt es ja doch nicht! Sollte uns da unten in der schauerlichen Spalte vielleicht Halefs Frage: »Sihdi, wie denkst du über das Sterben?« beantwortet werden?
Er griff nach seinem Gewehre, um es sich am Riemen über den Rücken zu hängen; da aber nahm ich es ihm weg und sagte:
»Halt, du sollst nicht beengt sein. Ich werde es mit zu den meinigen nehmen.«
»Aber du hast ja schon zwei!« warf er ein.
»Thut nichts. Ich bin nicht so krank wie du, und mein Assil Ben Rih springt besser als dein Barkh. Ich habe dich also zu entlasten.«
Er wollte es trotzdem nicht zugeben; ich schnitt aber alle weiteren Einwendungen dadurch ab, daß ich unsere beiden Pferde an den Zügeln nahm und sie um des Anlaufs willen so weit wie möglich in die Schlucht zurückführte. Als dies Nafar Ben Schuri sah, fragte er:
»Warum verlaßt ihr eure gute Stelle? Wollt ihr da hinten schlafen, wo die Luft so schlecht und so schwer zu atmen ist?«
»Nein,« antwortete ich; »sondern wir wollen euch zeigen, wie ihr es machen müßt, wenn ihr morgen die Dschamikun fangen wollt.«
»Uns das zeigen? In welcher Weise?«
»Wir reiten über die Spalte.«
»Unmöglich! So einen Sprung bringt kein Pferd fertig. Wer ihn wagte, der wäre unbedingt wahnsinnig. Er würde nicht nur Allah versuchen, sondern in den sicheren Tod stürzen!«
»Wir verlassen uns allerdings auf Allahs Schutz; aber wahnsinnig sind wir nicht. Was euch mit euren Pferden verderblich sein würde, das dürfen wir den unseren wohl zutrauen. Macht Platz, und keiner stelle sich etwa in den Weg oder mache sonst eine Bewegung, uns zu hindern. Wir würden ihn niederreiten!«
»Aber, Sihdi, ich sage dir, daß ihr unbedingt da hinunter in den Riß –«
»Schweig!« unterbrach ich ihn hart. »Du hast uns gar nichts zu sagen!«
Ich hatte die Absicht, ihn durch diesen meinen strengen Ton derart zu verblüffen, daß er jeden Schritt und jeden Griff nach uns unterließ. Und das gelang. Hatten wir einmal zum Sprunge angesetzt, so konnte jede Störung uns das Leben kosten. Als kluger Mann hätte er sich nach dem eigentlichen Grunde dieses unseres Wagnisses fragen müssen, und da wäre er gewiß auf die einzige richtige Antwort gekommen, daß wir uns von ihm und seinen Leuten trennen wollten; aber dieses Vorhaben erschien ihm so ungeheuerlich, daß der Schreck darüber ihn zu gar keiner Ueberlegung kommen ließ.
»Denkt euch, ihr Männer,« schrie er seinen Massaban zu, »unsere Gäste wollen über den Spalt springen! Das nenne ich eine Verwegenheit, die ganz unglaublich ist!«
Sie antworteten in ihrer wirren, lärmenden Weise. Wir achteten nicht darauf. Halef hatte Barkh bestiegen. Die Peitsche in der Hand, sah er mich mit zuversichtlichem Lächeln an und sagte:
»Ich bin bereit. Mein Rappe muß es verzeihen, wenn er in diesem seltenen Falle einmal einen Schlag von mir bekommt. Es kann dadurch ihm und mir das Leben gerettet werden. Soll ich jetzt?«
»Ich will erst vollständig freie Bahn machen und bitte dich noch einmal, ja nicht zu erschrecken oder dich umzusehen, wenn ich etwa schieße!«
Der ganze Vorgang spielte sich natürlich viel schneller ab, als ich ihn erzählen kann. Ich warf nochmals einen forschenden Blick auf Halef. Seine Haltung war fest und gut, und sein Gesicht hatte den Ausdruck eines solchen Selbstvertrauens, als ob an ein Mißlingen des Sprunges gar nicht zu denken sei. Nun warf ich mir zwei Gewehre über den Rücken, machte das dritte schußfertig, schwang mich in den Sattel und ließ Assil derart nach der Spalte courbettieren, daß die wenigen Massaban, welche noch im Wege standen, zurückweichen mußten.
»Ileri – vorwärts!« rief ich nun Halef zu.
»Bi aun illah – mit Gottes Hilfe! Jatib, jatib, ia Barkh – spring, spring, o Barkh!«
Indem er diese Worte ausrief, trieb er sein Pferd an, welches nun wohl wußte, um was es sich handelte. Es flog, nein, es schoß in der Weise vorwärts, daß mein Ohr die einzelnen Hufschläge nicht voneinander unterscheiden konnte. Es gab in mir ein Gefühl, welches ich noch nie empfunden hatte und das mich wahrscheinlich auch jetzt nicht ergriffen hätte, wenn der Hadschi nicht so krank und matt gewesen wäre. Mein ganzes Wesen schien ein einziger, großer, lauter Hilferuf zu sein.
Da setzte Barkh hüben an – jede seiner Muskeln war federnde Energie – jetzt schwebte er über dem Abgrunde – nun faßte er drüben Boden – mit allen vieren – schon war es mir, als müsse ich vor Freude jauchzen – da gab die jenseitige Kante unter seinen Hinterhufen nach – sie rutschten ab – Halef erkannte die fürchterliche Gefahr – er hieb mit der Peitsche hinter sich nach der Weiche des Hengstes – dieser wollte empor, brachte es aber nur zu einem vergeblichen Kratzen des nun von der trügerischen Humusschicht befreiten, glatten Felsenrandes – sie mußten, mußten, mußten abstürzen, beide, Reiter und Pferd, wenn nicht mein Schuß noch Rettung gab! – Ich drückte ab. Der Krach wurde mit verzehntfachter Stärke von den Felsen zurückgeworfen und schien von hundert Echos wiederholt zu werden – es war, als ob dieser gewaltige Knall die mechanische Kraft besitze, die Hinterhand des Pferdes emporzuheben – oder war es die bewundernswerte Geistesgegenwart Halefs? – Er zog die Beine empor, legte beide Hände auf die Schulter des Rappen und schleuderte sich seitwärts am Kopfe desselben vorüber nach vorn, wodurch er glücklich den festen Boden erreichte – das dadurch entlastete und durch den Schuß zur Anspannung aller Nerven getriebene Tier gewann die felsige Kante, that einige krampfhafte Sätze vorwärts und blieb dann, am ganzen Leibe zitternd, zwischen den Bäumen stehen. Halef folgte ihm wankend – drehte sich um – erhob den Arm, um mir zu winken – brach dann aber in einer Weise zusammen, als ob ein Schlag ihn zu Boden geworfen habe.
Ich glaube nicht, daß ich jemals im Leben so tief, so unendlich tief und erleichtert aufgeatmet habe, wie in jenem Augenblicke! Die Massaban hatten, wie vom Schreck gelähmt, vollständig still und unbeweglich gestanden; nun aber machten sie ihren Gefühlen durch ein Geschrei Luft, welches infolge des Echos gar nicht aus menschlichen Kehlen zu kommen schien. Sie sprangen hin und her, schlugen mit den Armen in die Luft und gebärdeten sich so, als ob sie toll geworden seien.
»Ruhe! Macht Platz!« brüllte ich sie an, denn nur durch diese allerstärkste Art des Tones konnte ich mich ihnen hörbar machen.
»Bleib doch, bleib!« schrie Nafar Ben Schuri. »Hast du denn nicht den sichersten, schauerlichsten Tod vor deinen Augen gesehen?!«
»Hast du denn nicht gesehen, daß dieser Tod gar nicht so sicher ist, wie du sagst?« antwortete ich. »Gebt Raum! Nehmt euch in acht!«
Indem ich mein Pferd mitten unter sie hineintrieb, zwang ich die Horde, die Bahn wieder frei zu geben. Dann streichelte ich den schönen, warmen Hals des Rappen und bat ihn in ruhigem Tone:
»Jatib, ia Assili, jatib – spring, o mein Assil, spring!«
Er wußte seinen Freund Barkh drüben, und er verstand diese meine Worte. Da bedurfte er gar keines Antriebes. Ich hörte, daß er die Brust voll Atem nahm, und hob mich in den Bügeln. Das gab ihm freie Spannung. Er that die wenigen Sammelsprünge in wunderbarer und nervenruhiger Sicherheit, kam ganz genau am Rande des Abgrundes zum Ansatze und ging leicht wie ein Gedanke über die Spalte hinüber. Noch vier, fünf Schritte, dann blieb er drüben, ohne daß ich ihn anzuhalten brauchte, genau neben Barkh stehen.
Dies war mit so verblüffender Leichtigkeit vor sich gegangen, daß die Massaban da hinten dieses Mal ganz still blieben. Ich sprang ab, warf die Gewehre weg und zog mit beiden Händen den Kopf des herrlichen Tieres an meine Brust. Assil hatte es verdient, daß ich vor allen Dingen erst ihm einige dankbare Schmeichelworte sagte; dann aber mußte ich nach Halef sehen.
Er lag am Boden und regte sich nicht. Tot war er natürlich nicht, sondern nur besinnungslos und zwar nicht etwa vor Schreck oder Angst, sondern infolge der Ueberanstrengung aller seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Der längst von mir befürchtete Augenblick des endlichen Zusammenbrechens hatte sich nun eingestellt!
Was war zu thun? Da – horch! War das nicht eine halblaute Stimme, welche mich rief?
»Sihdi – Sihdi!«
Das klang hinter einem der starkstämmigen Bäume hervor.
»Wer ruft?« fragte ich.
»Ich! Der Scheik der Dschamikun.«
»Peder?«
»Ja. Ich darf nicht hinter dem Baume hervor, weil mich die Massaban da drüben trotz der Dämmerung doch vielleicht sehen würden. Komm her zu mir!«
Ich ging hin. Ja, da stand er, noch als Fakir, wie wir ihn vorher gesehen hatten.
»Wirklich du!« sagte ich. »Wie ist es möglich, daß du schon hier sein kannst. Wir sind so schnell geritten, und zwar, wie es scheint, den allerkürzesten Weg!«
»Wir aber noch schneller, und zwar auf einem Wege, welcher auch nicht länger als der eure ist. Ich wollte vor euch hier sein, um wo möglich noch heut abend die Falle schließen zu können. Ich habe sowohl hier, als auch am Eingange des Daraeh-y-Dschib meine Wachen stehen, welche mir alles melden, was geschieht. Sie sahen euch kommen und haben hinter euch das Thal so gut besetzt, daß die Massaban nur dann wieder heraus können, wenn wir es ihnen erlauben.«
»So muß ich dir vor allen Dingen sagen, daß noch während dieser Nacht auch noch der Nachtrab ankommen wird.«
»Das ist mir wichtig. Ich danke dir und werde meine Vorkehrungen darauf treffen. Ich postierte mich hierher, um die Enttäuschung der Massaban zu beobachten, sobald sie sähen, daß die Brücke nicht mehr vorhanden sei. Ich hatte vergessen, dir zu sagen, daß wir sie zerstört haben. Es war anzunehmen, daß du mit dem Scheik der Haddedihn bis morgen früh bei ihnen hier im Thale bleiben und dich dann in unauffälliger Weise von ihnen trennen würdest, um zu kommen. Ihr habt das aber schon heut und zwar derart gethan, daß meiner Bewunderung die Worte fehlen. Sihdi, habt ihr denn nicht an den Tod gedacht?«
»O doch! Grad weil wir das thaten, wurde der Sprung unternommen. Es galt, Halef zu retten. Er konnte es unmöglich da drüben bis morgen früh aushalten. Das Wagnis mußte unternommen werden.«
»Es war mehr, viel mehr als bloß das, was man Wagnis nennt! Ich fühlte mich bis jetzt so sehr beschämt, daß ich mit der berühmten Stute des Ustad von dir auf deinem Rappen eingeholt worden bin; nun ich aber hier gesehen habe, was ihr euch und euren Pferden zuzumuten versteht, sehe ich ein, daß es keine Schande ist, von euch übertroffen worden zu sein. Es war auch für mich ein schrecklicher Augenblick, Hadschi Halef an der Kante über dem Abgrund hängen zu sehen. Sein kühner Schwung und dein Schuß haben ihn gerettet. Als ich dann sah, daß du bereit warst, ihm zu folgen, bebte mir das Herz. Der Araber war auf dem Araber nicht glatt angelangt; so gab es also für den Europäer noch weniger Hoffnung, auf einem nichtfränkischen Pferde diesen entsetzlichen Sprung mit Glück zu thun. Wie gern hätte ich dir zugerufen, dies zu unterlassen; aber es war mir ja verboten, meine Gegenwart zu verraten! Da kamst du angesaust, so leicht, so glatt, so unbeschreiblich sicher! Du saßest nicht; du standest hoch im Bügel. Noch nie war das von mir gesehen worden! Das war so ungewohnt, so fremd, so über mir, und doch kam augenblicklich die Gewißheit über mich, daß für dich nichts zu fürchten sei. Dein Rappen ging in kühnem, festem Bogen in die Luft. Es war nur ein Moment, aber doch so hell, so deutlich, was ich sah: du warst es zwar, doch war's auch ein Gesicht, ein Blick ins ferne Land, das wir die Zukunft nennen: du warst das Abendland, auf fehlerfreiem, morgenländischem Pferde! Der Abgrund zwischen hier und dort, er schwand; dein Assil trug das Christentum mir zu. Die finstere Schlucht dort ist verschwundenes Land. Ich heiße dich, den Westen, hoch willkommen! Krank liegt der Osten hier zu unsern Füßen, in tiefer Ohnmacht, ganz wie Halefs Körper. Doch du und ich, wir werden ihn erwecken, und unsere Liebe soll ihm Rettung sein!«
Er zog mich an sich und küßte mich. Ich erwiderte diesen Kuß so gern, so gern, obwohl er noch als Fakir gekleidet und darum in diesem Augenblicke nicht etwa ein Ideal körperlicher Sauberkeit war. Dann fuhr er fort:
»Das war das Gesicht, welches über mich kam, für einen einzigen, noch weniger als kurzen Augenblick; aber dieses Schauen in die Ferne der zukünftigen Zeit wird von seiner Deutlichkeit nichts verlieren, denn was die Seele unserm Auge zeigt, das darf von dem Geiste nicht vergessen werden! – Nun erlaube mir, für Hadschi Halef zu sorgen. Ich gehe fort, um Befehle zu erteilen, werde aber schnell zurückkehren.«
Er entfernte sich. Welch ein sonderbarer Empfang von seiten dieses Mannes! Es war ein ganz eigentümlicher Eindruck, den er mit seinen Worten auf mich machte. Dazu die nun hereingebrochene Nacht. Ueber mir die hochragenden Bäume, durch welche ein schweres, ernstes Rauschen ging. Vor mir ein vollständig unbekanntes Terrain, mit Menschen, die mir fremd und dennoch Freunde waren. Hinter mir die durch unsere Entschlossenheit besiegte Tiefe, über welche die rufenden Stimmen der Massaban herüberklangen. Sie wollten Antwort von mir haben; ich gab sie ihnen nicht. Mit diesen Leuten wollte ich nichts mehr zu thun haben. Ich war entschlossen, wenn möglich, keinen von ihnen jemals wiederzusehen. Ich nahm an, daß wir uns mit ihnen gar nicht mehr zu beschäftigen brauchten; die Dschamikun hatten jedenfalls Leute genug, mit ihnen fertig zu werden.
Halef lag noch genau so da, wie er niedergefallen war. Dem Atem fehlte die Stärke, die Brust zu bewegen, und den Puls konnte ich kaum fühlen. Ich rief seinen Namen, sogar ganz nahe bei dem Ohre; es machte keinen Eindruck auf ihn. Seine Hände, seine Arme, seine Glieder waren vollständig schlapp. Es lag vor mir ein Körper, der weder Kraft noch Willen und kaum noch Leben hatte. Das war der hochenergische, strotzende und sprühende Hadschi Halef, der sich so gern »den größten Helden des Morgenlandes« nannte. Als ich ihn so vor mir liegen sah oder vielmehr ihn unter meinen Händen fühlte, vergaß ich natürlich ganz, auch an mich selbst zu denken. Dennoch bemerkte ich, daß mir, wenn ich mich bückte, der Kopf schwer nach vorn fallen wollte. Es war, als ob in meinem Gehirn eine reibende und darum schmerzende Bewegung vorhanden sei. Die Augenlider wollten nicht geöffnet bleiben. Es ging durch mich, wohl ebenso geistig wie auch leiblich, eine Empfindung, welche nur durch die Worte ausgedrückt werden kann: du hast dich gesträubt, so lange du mußtest; jetzt aber sind alle Gefahren vorbei; nun bist du mein!
Da kam Peder wieder. Er hatte mehrere seiner Leute bei sich. Ich hatte mich neben Halef niedergesetzt und stand auf. Das wurde mir schwer, so schwer, daß ich mich mit den Händen stützen mußte. Einige von den Dschamikun nahmen den Hadschi auf und trugen ihn fort. Andere ergriffen die Zügel unserer Pferde, um sie zu führen. Der Scheik faßte meine Hand und sagte:
»Der Ustad läßt euch bitten, bei ihm zu wohnen. Ich habe ihm einen Boten gesandt; er weiß, daß ihr kommt.«
»Ist es weit?« fragte ich.
Fiel ihm nur diese meine Frage oder auch der matte Ton auf, in dem ich sie ausgesprochen hatte? Er erkundigte sich:
»Bist du etwa auch krank?«
»Ganz plötzlich müd, sehr müd!«
»Hast du Flecken am Körper?«
»Ja, auf der Brust.«
»Allah jesellimak – Gott erhalte dich! In diesem Zustande habt ihr einen solchen Todessprung gewagt! Ganz unbegreiflich, ja eigentlich eine Menschenunmöglichkeit!«
Ich versuchte, zu scherzen:
»Du hast vorhin in mir das Abendland gesehen. Verzeihe mir, daß es so krank zu euch gekommen ist!«
Da drückte er mir die Hand, an welcher er mich führte, fester und antwortete:
»Ich kenne euer Leiden. Es geht so gern auf die gesunden Andern über. Doch tragt ihr es uns ja nicht heimlich zu und gebt die Schwäche nicht für Stärke aus. Wer uns nicht täuscht, der täuscht sich nicht in uns. Komm, lieber Mann, ich will dir Bruder sein!«
Es war unter den Bäumen so dunkel, daß ich die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Der Peder hielt mich fest. Er kannte das Terrain genau und machte auf jede Eigentümlichkeit desselben aufmerksam. Dennoch wurde mir das Gehen schwerer, als die Umstände es eigentlich begründeten. Ich stolperte und schwankte oft. Da schlang er, um mich zu stützen, stets und schnell den Arm um mich. Am liebsten wäre ich in diesem starken, liebevoll besorgten Arme liegen geblieben, um mich von ihm weitertragen zu lassen!
Wie lange wir so, oft auf-, oft abwärts gingen, weiß ich nicht. Das Gefühl für die Bestimmung der Zeit war mir vollständig abhanden gekommen. Dann war der Wald zu Ende. Die Sterne standen über uns, und unsere Füße schritten über ebenen Boden und auf weichem Grase. Wir hatten bei der Entfernung von der Felsenspalte den Schluß gemacht, waren also die letzten und beide allein. Von dem Hadschi und den Pferden sah ich nichts. Als ich nach ihnen fragte, bekam ich die Antwort:
»Habe keine Sorge! Du wirst deinen Freund beim Ustad finden, eure Pferde auch und ebenso die Gewehre.«
Die Gewehre! Da kam noch nachträglich der Schreck über mich. Ich hatte sie vergessen, vollständig vergessen, gar nicht an sie gedacht, als ich vom Peder fortgeführt worden war. Erst jetzt fiel mir ein, daß ich sie, als ich nach dem Sprunge aus dem Sattel stieg, neben mich hingeworfen hatte. Diese im andern Falle ganz unmögliche Vergeßlichkeit brachte mich zu der Ueberzeugung, daß die Krankheit auch bei mir viel weiter vorgeschritten sei, als ich gedacht hatte.
Kaum hatte ich diesem Gedanken Raum gegeben, so begann er, mich zu beherrschen. Ich mußte stehen bleiben. Meine Beine zitterten, die Füße versagten mir den Dienst.
»Was ist mit dir?« fragte der Peder, »fällt dir das Gehen schwer?«
»Nicht schwer, nicht leicht; es giebt eben kein Gehen mehr. Erlaube, daß ich mich für einen Augenblick setze!«
Er umfaßte mich, um mich langsam niederzulassen. Ja, sitzen! Das war nicht möglich; ich mußte sofort liegen; es fehlte mir die Kraft, den Oberkörper aufrecht zu halten. Da sanken auch die Lider herab und waren nicht wieder in die Höhe zu bringen. Was nun mit mir geschah, das weiß ich nicht. Ich war wie ganz im festen Schlafe, zuweilen auch wie nur im Traume. Ich hörte zuweilen die gütige, besorgte Stimme des Peder. Er sprach zu mir; er sprach auch zu Andern, doch klang es wie aus weiter, weiter Ferne. Ich fühlte mich gehoben und getragen. Ich war so leicht; ich hatte keinen Körper. Ich bestand aus nichts als nur aus froher Zuversicht und glücklichem Vertrauen, und diese gänzliche Hingebung lag wie auf Engelsflügeln ausgebreitet.
Dann war es mir, als schwebe ich durch tausend, tausend selige Ewigkeiten, unendlich lang und doch so kurz, so kurz! Was für Töne erklangen da? Waren das die Harfen verklärter Geister? Oder war es der Psalter des alttestamentlichen Sängers, der da spricht:
»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt!«
Und da legte sich eine Hand auf meine Stirn. Es war, als ob von ihr aus eine gütig reine, immaterielle Kraft durch mein ganzes Wesen gehe. Und eine tiefe, wohllautende Stimme sprach die letzten Worte ganz desselben Psalms:
»Der Herr behüte deinen Eingang und deinen Ausgang von nun an bis in Ewigkeit. Amen!«
Die Stimme schwieg. Leise Schritte entfernten sich. Tiefe, fromme Stille herrschte in mir und auch rund umher. Aber ich hatte die Empfindung, daß ich nicht allein und verlassen sei. Es umwehte mich ein feiner, gottesdienstlicher Duft, wie von Weihrauch und Myrrhen. Da erklangen hoch über mir zwei Glöcklein. Sonderbar, daß ihr schönes Harmonieverhältnis mir sofort in die Ohren trat! Die eine, tiefe, war in die untere Dursexte der oberen gestimmt. Es war gewiß ganz eigentümlich, daß mir trotz meines Zustandes die Frage kam, warum in diesem Grundakkorde doch die Quinte fehle! Nun wieder tiefe Stille. Dann hörte ich in kurdischer Sprache ein vierstimmiges, feierliches Lied erklingen, dessen erste Strophe deutsch zu lauten hätte:
»Herr, ich trete
Im Gebete
Vor dein heilig Angesicht.
Laß dir sagen
Meine Klagen;
Höre, was mein Flehen spricht!«
Es waren nicht Orgel-, sondern Harfentöne, welche dieses Lied begleiteten. Gab es hier eine Kirche? War ich überhaupt auf der Erde? Träumte oder wachte ich? Ich hatte keine Macht über meine Augen. Besaß ich überhaupt jetzt welche? War ich jetzt vielleicht nur Geist, nur Seele? Wo war mein Körper geblieben? Ich fühlte ihn nicht!
Da gab es neben mir ein leises, leises Rauschen wie von einem feinen, sich bewegenden Gewande. Zwei warme, weiche Frauenhände ergriffen meine Hand, und eine innig sprechende Altstimme betete:
»Herr, es treten,
Um zu beten
Zu dir Alle, die du liebst.
Laß den Glauben
Uns nicht rauben,
Daß du nichts als Leben giebst!«
Meine Hand wurde lange festgehalten. Das merkte ich, obgleich ich den Sinn für Zeit und Raum kaum noch zu besitzen schien. Dann gab es eine Berührung, als ob zwei Lippen sich auf diese meine Hand legten. Ich wollte sie zurückziehen, ohne daß ich diese Bewegung ausführen konnte. Wer war es, der, vor mir knieend, um mein Leben gebetet hatte? Ich wünschte so dringend, dies zu erfahren, doch gelang es mir nicht, ein Wort der Frage auszusprechen. Aber ich fühlte, daß meine Augen sich öffneten; das war so eigenartig, so ganz als ob es nicht meine leiblichen, sondern die seelischen seien. Da sah ich in ein liebes, ernstes, reines Frauengesicht. Es war von einer so frommen, edlen Schönheit, wie man Heilige abzubilden pflegt. Die Augen waren dunkel und trotzdem doch so hell, so licht, so klar. Es ging von ihnen eine Wärme aus, welche auf mich überfloß. Mir war, als ob ich dieses Antlitz schon einmal gesehen habe, nicht gleichgültig und vorübergehend, sondern sorgsam und mit derselben Herzenswärme, welche ich jetzt zurückempfand. Nun breitete sich ein frohes Lächeln über die so kinderholden und doch so frauenhaft sinnigen Züge, und die Lippen, welche vorhin meine Hand berührt hatten, fragten mich:
»Erkennst du mich, Sihdi? Ich bin Schakara, welche du vom Tode errettet hast.«
Ich wollte antworten, konnte aber nicht. Ich hörte nichts, als ein unverständliches Flüstern, welches aus meinem Munde kam. Da fuhr sie fort:
»Ich bin das Mädchen, welches damals in Amadijah die Oelim kires gegessen hatte. Deine Hand brachte mir das schon fast entflohene Leben zurückSiehe Karl May »Durchs wilde Kurdistan« pag. 205 ff. Kannst du dich erinnern?«
Ich bewegte meine Augenlider, um ihr anzudeuten, daß ich sie verstanden habe. Zu sprechen war mir nicht möglich. Da legte sie ihre Rechte auf meine Stirn und sagte:
»Die Krankheit hat dir das Reden verboten. Aber sei getrost! Chodeh ist die Barmherzigkeit. Er wird uns nicht das schreckliche Leid anthun, dich bei uns sterben zu lassen. Der Ustad hat für euch gebetet, und die Güte des Himmels wird ihn ganz gewiß erhören. Schau, da kommt er. Siehst du ihn?«
Sie fragte mich so, weil mir jetzt die Augen zugefallen waren; ich konnte sie nicht wieder öffnen. Doch hörte ich Schritte, welche sich näherten.
»Kam er noch nicht zu sich?« wurde Schakara gefragt.
Das war dieselbe tiefe, wohllautende Männerstimme, welche ich schon gehört hatte.
»Er öffnete die Augen und sah mich an,« antwortete sie. »Sprechen konnte er nicht.«
»Hat er dich erkannt?«
»Ich glaube es.«
»So liegt er nun wieder in der vorigen Bewußtlosigkeit. Ihn werden wir wohl retten. Von seinem Gefährten dort aber kann ich das leider nicht sagen. Er steht bereits sehr nahe dem Tode.«
Da hörte ich Halefs Stimme laut und zornig erklingen:
»Am Tode? Sein Gefährte? Also ich? Ihr glaubtet wohl, ich schlafe? Ich bin soeben aufgewacht und habe euch gehört. Ich stehe nicht am Tode! Nein, nein, nein! Ich bin Hadschi Halef Omar, der Haddedihn vom Stamme der Schammar. Mich kennt man überall; einen Tod aber giebt es nicht! Darum ist das, was ihr sagt, ganz unmöglich. Ich befinde mich nicht am Tode – am Tode – nicht, nicht – am – Tode!« – – – – –
Ich hörte diese Worte meines Hadschi, wußte aber nicht, wo er lag. Es war, als ob irgend eine Frage nach ihm sich in mir emporringen wolle; sie trat aber weder in das Bewußtsein noch in den Willen, denn ich hatte die Empfindung, als ob ich jetzt emporgehoben und weit, weit fortgetragen werde, und wie in unendlicher Ferne hörte ich die Worte verklingen: »Am Tode – am Tode –!« –
Wie lange ich fern von mir gewesen war, oder, durch die gewöhnliche Redensart ausgedrückt, wie lange ich nun wieder ohne Bewußtsein dagelegen hatte, das weiß ich nicht. Hierauf schien es, als ob mir Harfenklänge nahten. Es war aber umgekehrt: ich kam zu ihnen; die Besinnung kehrte mir zurück. Es bedurfte jetzt keiner Anstrengung für mich, die Augen zu öffnen, doch fühlte ich eine mir unbekannte Schwere in den Lidern. Ich war außerordentlich matt. Als ich versuchte, den Kopf zu bewegen, dauerte es eine ganze Weile, bis es mir gelungen war, das Gesicht auf die von der Wand abgewendete Seite zu legen. Ich hatte den Mund offen, und sonderbarerweise war es mir, als ob dies so sein müsse; es fiel mir gar nicht ein, ihn zu schließen. Und doch war ich mir zu derselben Zeit vollständig darüber klar, daß dies zu den Krankheitserscheinungen des exanthematischen Fiebers gehöre.
Nun sah ich, wo ich mich befand. Es war ein hoher, lichter, weiß getünchter Raum, dessen Wände augenscheinlich aus starken Mauersteinen bestanden. Die beiden Seiten waren nicht durchbrochen. In der Hinterwand gab es eine breite Doppelthür, für die Gegend, in welcher wir uns befanden, eine große Seltenheit. An der Vorderseite standen zwei Säulen, die mit den Mauerwerken drei offene Bogen bildeten, durch welche Luft und Licht mehr als genugsam Zugang fanden. In der einen Ecke lag ich, in der andern Halef, mit den Füßen nach der Thür gekehrt, damit die vorn hereinbrechenden Sonnenstrahlen nicht direkt in unsere Augen fallen möchten. Längs der ganzen Hinterwand waren blühende Pflanzen aufgestellt, zur Augenweide für uns, wie ich später hörte. Rechts, wo ich lag, stand in einer breiten Nische ein thronähnlicher Sessel. Vor ihm lag ein Teppich ausgebreitet, mit persischen Sitzkissen nach rechts und links. Ich schloß daraus, daß ich mich nicht in einem Wohnraume befand. In der Folge erfuhr ich, daß der Ustad hier die Aeltesten des Stammes zu empfangen und mit ihnen zu beraten pflege. Es war ein kaum genug zu schätzender Vorzug für uns, daß er grad dieses Gelaß für uns bestimmt hatte. Ich sah an den Wänden Sprüche stehen; aber ich las sie nicht. Selbstdenken konnte ich; aber geschriebene Zeichen in Gedanken zu verwandeln, das brachte ich nicht fertig.
Bettstellen gab es natürlich nicht, doch waren unsere Lager von der größten, hier zu Lande ganz ungewohnten Reinlichkeit. Man hatte weiche Kissen hoch aufeinander gerichtet, so breit, daß mehrere Personen hätten nebeneinander liegen können, und die hellen, saubern Kamelhaardecken waren so fein und leicht, als ob sie aus Seide gewebt worden seien. Halef lag still, ganz bewegungslos. Sein Gesicht war außerordentlich eingefallen; es glich dem einer Leiche. Seltsamerweise machte mich das nicht im geringsten bange. War das Vertrauen? Oder war es die Gleichgültigkeit, welche man bei Kranken oft zu beobachten pflegt?
Unweit der Thür saß Schakara mitten im Pflanzengrün. Weiß war ihr Gewand. Sie hatte den Schleier nach hinten geschlagen. Ihr dunkles Haar hing in langen, schweren Flechten herab. Die schlanken Finger glitten über die Saiten der Sandurah. Darf man ein menschliches Wesen mit einem Gedicht vergleichen? Man sagt ja, daß der Mensch das herrlichste Gedicht der ganzen Schöpfung sei. Wenn nicht das herrlichste, aber gewiß eines der frömmsten sah ich hier!
Hätte wohl ein europäischer Arzt erlaubt, in der Nähe so schwerkranker Personen Musik zu machen? Wahrscheinlich nicht! Es kommt ja wohl auch auf die Art des Instrumentes an. Der Harfenton ist der am wenigsten künstliche. Er bietet Klänge der Natur, wohllautend für das Menschenohr gestimmt. Dieser Wohllaut ist auch für kranke Nerven angenehm. Man darf einer Kurdin nicht zumuten, Künstlerin zu sein. Schakara griff nur die vorgestimmten Akkorde; sie wußte nichts von einer chromatischen Veränderung der Töne; aber grad durch diese diatonische Einfachheit war jede Mitthätigkeit des Ohres ausgeschlossen; es empfing die Töne ebenso leicht und selbstverständlich, wie die Brust die Luftwellen, von denen sie herbeigetragen wurden, atmete. Daher kam es, daß diese Klänge die Seele unmittelbar berührten; sie schienen zur Atmosphäre dieses Hauses zu gehören und einen die Lebenskräfte hebenden, wohlthuenden Einfluß auszuüben. Ich fühlte diesen Einfluß. Es war, als ob es in mir etwas gebe, was den Harfentönen verwandt sei, was lange, lange geschwiegen habe und nun endlich, endlich einmal mit erklingen dürfe. Darum berührte es mich fast wie eine Entsagung, wie ein Verlust, als Schakara aufhörte und die Harfe auf die Seite lehnte.
»Bitte, spiel weiter!« bat ich sie.
Ich hatte diese Worte ganz unwillkürlich, fast ohne Willen ausgesprochen. Nun überkam mich eine Art von Verwunderung darüber, daß ich wieder sprechen konnte. Die Kurdin kam schnell zu mir herüber, ließ sich an meiner Seite nieder und sagte:
»Suhker Chodeh! Ich höre deine Stimme! Siehst du mich, und verstehst du, was ich sage?«
»Ja,« antwortete ich.
»Du befindest dich im hohen Hause des Ustad. Er wünscht, daß ich euch pflege. Erlaubst du es mir?«
»Ja.«
»Hast du einen Befehl für mich?«
»Nein, nie!«
»Warum nicht?«
»Für dich nur Bitte, nie Befehl.«
Da ergriff sie meine Hand, sah mir mit einem langen, frohen Blick ins Angesicht und sagte dann:
»Du bist noch ganz so voller Güte, wie du damals warst. Sag, Effendi, welcher Wohlgeruch ist dir der liebste?«
»Benefsesch.«
Da küßte sie mir die Hand, stand auf und eilte aus der Stube. Warum hatte sie mich nach meinem Lieblingsdufte gefragt? Der Grund sollte mir leider nur zu bald zur Erkenntnis kommen. Er war mir nicht fremd, aber meine Gedanken waren jetzt zu schwach, ihn augenblicklich zu erraten. Da drüben bei Halef hatte man eine Menge in Erdkästen gepflanzte Rosen aufgestellt; bei mir hier gab es keine Blumen, doch fragte ich mich nicht, woher das kommen möge.
Mich fror ganz plötzlich, durch und durch und so intensiv, als ob ich ganz in Schnee und Eis begraben sei. Es war ein von starkem Fieber begleiteter Schüttelfrost, der mich an die Petechien erinnerte, welche ich unterwegs auf meiner Brust bemerkt hatte. Ich sah nach, die Flecke hatten sich jetzt über den ganzen Oberleib verbreitet; auch auf den Armen bemerkte ich sie. Diese Entdeckung ließ mir den Kopf heiß erglühen, während der Körper vor Kälte bebte.
Da sah ich den Peder hereintreten und leisen Schrittes zunächst hin zu Halef gehen. Er trug natürlich die Fakirlumpen nicht mehr, sondern war ganz weiß in weite, kurdische Hosen und ein bis auf die Kniee reichendes Obergewand gekleidet, welches an der Taille von einer blauen Schärpe zusammengehalten wurde. Da steckten anstatt der Messer und Pistolen einige schön erblühte, purpurglühende Schirasrosen. Sein langes, seidengrau glänzendes Haar war von vorn nach hinten zurückgekämmt und hing bis über die Schultern herab. Sein heut vom gestrigen Schmutze freies, Ehrfurcht erweckendes Angesicht wurde von jenem Hauche innerer Jugend verschönt, welche aus der Seele auf den Körper überstrahlt und selbst im höchsten Lebensalter nicht vergeht. Man sah ihm an, daß er mit vollem Rechte Pedehr genannt wurde, ein Vater, der den Seinen nichts als Liebe giebt, Liebe mit verständiger Einsicht gepaart, und von ihnen dafür wieder Liebe erntet.
Er betrachtete Halef aufmerksam, kniete dann bei ihm nieder und sprach zu ihm, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Hierauf strich er ihm wiederholt über das Gesicht und ergriff seine Hände, um sie zu bewegen. Auch das war ohne Erfolg; der kleine, liebe Hadschi gab kein Zeichen, daß er lebe. Da kam der Pedehr zu mir. Er sah, daß ich die Augen offen hatte, ließ sich bei mir nieder und fragte:
»Siehst du mich, Sihdi?«
»Ja,« antwortete ich.
Nun richtete er seine großen, klaren Augen auf die meinigen. Es war, als ob er mit diesem seinem langen Blicke in die Tiefen meines Innern hinabsteige, um es zu erforschen. Dann fuhr er fort:
»Schmerzt es deinen Kopf, wenn ich zu dir spreche?«
»Wenig, aber doch.«
»So wollen wir nur das sagen, was unbedingt nötig ist. Ich kenne diese Krankheit und weiß, daß du nicht an ihr sterben wirst, es trete denn eine unvorhergesehene Ursache zur Verschlimmerung ein. Ihr habt in der verflossenen Nacht unser Heilmittel wiederholt getrunken, wovon du aber nichts weißt, weil ihr beide ohne Bewußtsein waret. Es wird gewiß seine Wirkung thun.«
»Auch bei meinem Halef?«
Er zögerte mit der Antwort. Da bat ich ihn:
»Sag die Wahrheit! Ich bin ein Mann und muß, muß, muß sie wissen!«
Er neigte zustimmend den Kopf und sprach:
»Ja! Von einem andern würde ich denken, daß ich ihn schonen müsse; dir aber bin ich die Wahrheit schuldig. Du wirst in einen langen, tiefen, schweren Schlaf verfallen, und wenn du aus ihm erwachst, wird das, was an deinem Freunde unsterblich ist, von ihm geschieden sein. Das ist es, was menschliches Ermessen zu dir aus meinem Munde sagt. Er wird vielleicht noch einigemal für kurze Augenblicke zu sich kommen, dann aber einschlummern und erst im Verscheiden wieder erwachen. So denke ich. Aber ich hoffe, daß Chodeh, welcher die allmächtige Liebe ist, es anders und viel besser weiß. Nun sag auch mir die Wahrheit! Bist du erschrocken?«
»Nein. Ich danke dir! Deine Aufrichtigkeit hat mich geehrt. Sie beweist mir, daß du mich nicht für einen Schwächling hältst. Halef darf nicht sterben. Chodeh wird helfen.«
»Ja, wenn wir glauben, wird er uns wohl den Melek esch Schefa senden!«
»Ich bin überzeugt davon. Aber wir dürfen uns nicht unthätig auf diesen Engel verlassen, sondern müssen seiner Hilfe entgegenkommen. Laßt mich nachdenken!«
Ich war doch schwächer, als ich gedacht hatte. Nicht nur das Sprechen, sondern auch das aufmerksame Zuhören, um zu verstehen, griff mich an. Ich schloß die Augen, um nachzudenken; aber es kamen mir keine Gedanken. Ich fieberte, und dieses Fieber brachte mir allerlei verworrene, unklare Bilder vor das innere Angesicht. Es war, als ob sich ein nur halb durchsichtiger, sich unausgesetzt bewegender Vorhang vor mir befinde, hinter welchem sich Ereignisse abspielten, die ich nicht deutlich zu erkennen vermochte. Da geschah etwas ganz Sonderbares: der Vorhang stand plötzlich still; er teilte sich nach rechts und links, und ich sah eine liebe, liebe Gestalt vor mir erscheinen. Ihr Anblick wurde mir nur für einen ganz kurzen Moment gewährt, aber das Bild hatte so scharfe Umrisse und so lebendige Züge und Farben, daß ein Irrtum darüber, wer es sei, ganz ausgeschlossen war. Es kam ein Reiter, erst in der Ferne klein, doch immer größer werdend, in schlankem Galoppe auf mich zugeritten; gerade vor mir parierte er sein Pferd, senkte die Hand zum Gruße und war dann verschwunden. Der Vorhang schloß sich und begann, sich wieder zu bewegen wir vorher. Wer war es gewesen? Unser Kara Ben Halef, meines kranken Freundes Sohn. Sogar das Pferd hatte ich erkannt. Es war der dunkelbraune, noch nicht vier Jahre alte »Ghalib«, den die Haddedihn als Leihgebühr für die Pferdezucht des Stammes der Abu Hammed-Beduinen gewonnen hatten. Dieser Braune berechtigte zu den schönsten Hoffnungen und war unsern beiden Schwarzen ebenbürtig. Ich überlegte nicht lange, sondern fragte, die Augen wieder öffnend, den Pedehr:
»Willst du den Hadschi retten? Du kannst es!«
»Wie gern!« versicherte er.
»Habt ihr einige sehr schnelle, ausdauernde Pferde?«
»Ja.«
»Und jemand, der die Gegend am Tigris jenseits von Qalat el Aschig, gegenüber von Samara, kennt?«
»Ich habe einen sehr zuverlässigen Mann, der ein guter Reiter und schon einigemale am Dschebel Sindschar gewesen ist. Er kennt die Gegend, von welcher du sprichst.«
»Sende ihn, und gieb ihm einige Begleiter mit. Im Westen Von Qalat el Aschig wird er auf die Haddedihn treffen. Er soll um keinen Preis verraten, daß Halef krank ist; aber er soll unbedingt den Sohn des Hadschi bringen, welcher Kara Ben Halef heißt und den Ritt hierher auf dem dunkelbraunen Pferde ›Ghalib‹ zu machen hat! Das Denken und das Sprechen fällt mir schwer. Gieb die Befehle so, wie du sie für nötig hältst!«
Da erhob er sich, faßte meine Hand und sprach:
»Ich verstehe dich, Effendi. Wenn Halef erwacht, um zu sterben, soll er seinen Sohn vor sich sehen. Dadurch wird seine Seele vielleicht festgehalten werden. In nicht mehr als einer Stunde werden drei vertrauenswerte Männer unser Urd verlassen, um deinen Wunsch so schnell wie möglich auszuführen!«
Hierauf entfernte er sich. Ich aber fühlte mich in hohem Grade ermattet und versank in einen lethargischen Zustand, der aber nicht Bewußtlosigkeit und auch nicht Schlaf zu nennen war, denn meine inneren und äußeren Sinne blieben in, wenn auch nur geringer, Thätigkeit. Ich hörte das leise Rauschen von Schakaras Gewand wieder, und ich bemerkte, daß ein süßer Veilchenduft in meine Atmosphäre trat. Und dann – ob gleich hierauf oder später, das weiß ich nicht – war es mir, als ob ich im Gelobten Lande sei, und zwar in El Chalil. Ich ritt auf dem alten Pflasterweg nach dem Haine Mamre hinaus und ließ mir im russischen Hospize dort den Schlüssel zum Aussichtsturme geben. Ich sah die unterhalb desselben stehende »Eiche Abrahams« so deutlich, wie sie in Wirklichkeit absterbend dort zu sehen ist, und ritt dann zwischen Weinbergsmauern weiter, die Jerusalemstraße hinaus und rechts hinüber nach dem Brunnen Abrahams. Er liegt in der unteren, rechten Ecke des Mauerfeldes, und die strenggläubigen Bewohner von El Chalil sehen es nicht gern, wenn ein Christ von seinem Wasser trinkt. Ich schöpfte aber doch und trank und trank. Hierauf sammelte ich, wie ich schon früher gethan, den Samen der dort massenhaft wachsenden Kompositenblumen, um ihn daheim in meinem Garten anzusäen. Da erklang eine Stimme hinter mir: »Friede sei mit dir!« Ich richtete mich auf und wandte mich um. Wer war die hohe, patriarchalische Gestalt, welche leuchtenden und doch so gütigen Auges vor mir stand? War es der erste der Erzväter, zu dem zu dritt die Engel kamen, um bei ihm einzukehren? War es Abraham, Tharahs Sohn, der aus Ur, im Lande der Chaldäer, stammt? Ja, gewiß, er war es; er mußte es sein; aber nicht so alt wie im Haine Mamre und auch nicht so jung wie in Mesopotamien, und doch beides, alt und jung zugleich! Ich schaute in ehrerbietigem Staunen zu ihm auf.
Ja, ich schaute! Ich hatte die Augen wieder geöffnet. Ich war nicht mehr geistig dort in El Chalil, sondern wirklich hier im kurdisch-persischen Gebirge. Ich befand mich auf meinem Krankenlager. Es war ringsum mit duftenden Veilchen geschmückt. Zu meinen Füßen saß Schakara, die Spenderin derselben, und zur Seite stand – Abraham, der Erzvater? Vielleicht hat dieser ein ganz genau solches einfaches, kamelhaarenes Gewand getragen wie der hochgestaltete, ehrwürdige Greis, den ich jetzt vor mir sah. Greis? Ja, denn der schneeweiße Bart, welcher ihm bis herab zur Gürtelschnur reichte, konnte nur eine Gabe des höchsten Menschenalters sein; aber das Ehrfurcht gebietende Angesicht war hochbetagt und jugendlich zugleich, und die voll und schwer vom Kopfe herniederhängenden Haarflechten zeigten eine nicht etwa stumpfe und künstliche, sondern so echte und lebenswahre Schwärze, wie sie nur den Jünglings- und den kräftigsten Mannesjahren eigen ist. Ich sah wie vorhin mit geschlossenen, nun mit offenen Augen staunend zu ihm auf. Da lächelte er mild zu mir hernieder, breitete die Hand wie segnend über mich und sprach:
»Friede sei mit dir!«
Das war dieselbe tiefe, klangvolle Stimme, welche ich vorhin am Brunnen Abrahams gehört hatte. Es ging ein geheimnisvolles, köstliches Imponderabil von diesem Manne aus. Es kam zu mir, durchflutete mich, zog mich zu ihm hin. Ich konnte gar nicht anders, ich durfte ihm nur die eine Antwort geben:
»Du bringst ihn mir. Mein Dank und Segen sei dein Eigentum!«
»Die Jugend ist beim Alter, der Sohn beim Vater eingekehrt,« fuhr er fort. »Die Liebe soll dich hier mit mir vereinen. Vertraue uns, so wirst du bald gesunden. Ich lege dir die Hand auf das kranke, müde Haupt. Aale ïk essallam u rahhmet Chodeh – der Friede und die Barmherzigkeit Gottes sei mir dir!«
Er ließ seine Hand fast eine Minute lang auf meiner Stirn liegen. Sie war so warm und doch so eigen frisch. Ich griff nach ihr und führte sie an meine Lippen. Er ließ das geschehen, hob aber dann den Finger und sprach, indem sein Mund fast schalkhaft lächelte:
»Verschweige dies daheim! Wie darf das Abendland die Hand des Morgenlandes küssen! Man würde dich wohl kaum begreifen können!«
Hierauf wendete er sich von mir und ging zu Halef hinüber. Das also war der »Ustad«, der »Meister«! Ich folgte ihm mit meinen Augen, weil es mir unmöglich war, sie vom ihm abzuwenden. Fieberte ich etwa schon wieder? Es kam mir der sonderbare Gedanke: »Soeben hast du in das Angesicht des Orients geschaut.« So eine Idee kann doch nur bei einem Kranken möglich sein!
Er stand einige Zeit am Lager des Hadschi, ohne etwas anderes zu thun, als ihn zu betrachten; dann legte er auch ihm die Hand auf das Haupt, worauf er sich sehr ernsten Angesichts entfernte.
»Das war er!« sagte Schakara. »Dein Herz wird ihm gewiß bald angehören. Willst du nun die Harfe hören?«
Ich nickte. Sie ging nach der Stelle, wo die Sandurah lag, hatte sie aber noch nicht erreicht, so blieb sie stehen. Der Hadschi hatte sich bewegt.
»Sihdi – Sihdi – Sihdi!« rief er laut.
»Hier bin ich, Halef,« antwortete ich.
»Ich war ganz nahe, ganz nahe!« fuhr er fort, ohne daß er die Augen öffnete.
»Wo?«
»Am Sterben, am Sterben! Ich habe sie gesehen, beide, beide, ihn und ihn!«
»Wen?«
»Den Hadschi und den Halef! Der Hadschi war ein anderer; der Halef aber, der war ich! Der Halef lenkte seine Schritte hinauf nach dem Paradiese; der Hadschi aber hielt ihn fest, um ihn hinab zur Dschehenna zu zerren. Es war ein schwerer Kampf. Der Halef war nicht stark genug, und der Hadschi wollte eben siegen; da fühlte ich eine Hand auf meiner Stirn und war gerettet. Hamdulillah!«
Seine Stimme hatte einen eigentümlichen, angstvollen, erschütternden Klang.
»Warum antwortest du mir nicht?« rief er. »Ich will noch leben; ich darf noch nicht sterben. Der Halef in mir ist noch nicht geschickt dazu; der Hadschi würde ihn zur Tiefe reißen. Die Hand, die Hand, sie soll so oft wie möglich wiederkommen! Sie soll dem Halef helfen – helfen – hel – hel –!«
Er sprach immer langsamer, langsamer und leiser, bis bei der letzten Silbe die Bewußtlosigkeit wieder über ihn kam. Schakara griff zur Harfe, deren Akkorde ich erst deutlich hörte; dann schien es, als ob sie sich entfernten, bis sie endlich ganz verklangen – ich war eingeschlafen.
Eingeschlafen? Es war mehr als bloß nur Schlaf. Ich erfuhr später, daß ich fast zwei Tage lang gelegen hatte, ohne mich ein einziges Mal zu bewegen. Ein ganz entsetzlicher Frost war die Veranlassung, daß ich erwachte. Drüben in der andern Ecke waren mehrere Männer beschäftigt, Halef mit kaltem Wasser und Tüchern zu frottieren. Die Luft kam mir verschlechtert vor. Es roch trotz der frischen Veilchen, welche ich sah, so dumpf, so moderig, fast wie nach Leiche. Ah! Da kam die Erkenntnis: Ich selbst war es, von dem dieser Geruch ausging, der ein Symptom des Petechialtyphus ist! Nun wußte ich, daß eine wochenlange Betäubung sich meiner bemächtigen werde. Also darum die Veilchen! Diese Blumen hatten bei mir denselben Zweck wie dort bei Halef die Rosen. Es wurde mir himmelangst, mehr um ihn als um mich. Ich wollte die Männer fragen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Doch dauerte dieser Zustand nicht lange, da mir das Bewußtsein sehr bald wieder schwand.
Später erinnerte ich mich, zuweilen kaltes Wasser an meinem Körper gefühlt und scharfen Salmiak gerochen zu haben. Auch war es mir, als ob Halef mich gerufen und vom Sterben gesprochen habe. Dann, als ich zwei volle Wochen so gelegen hatte, stellte sich die erste, deutliche Empfindung bei mir ein: Ich fühlte die Hand des Ustad auf meiner Stirn.
»Er lächelt!« sagte er. »Wie todesmatt! Vielleicht schlägt er die Augen auf!«
Ich versuchte, es zu thun, doch gelang es mir nur halb. Da beugte sich der Ustad zu mir nieder und sagte:
»Ich sehe, daß du mich verstehst. Sei getrost; du bist gerettet! Auch Halef lebt noch. Er ist noch nicht erwacht. Wenn er es thut, ist es vielleicht zum Leben!«
Hierauf schlief ich sogleich wieder ein. Die späteren Erinnerungen erzählten mir, daß Schakara sehr oft bei mir kniete und mir wie einem Kinde mit einem Löffel dünne Speise gab. Ich war so schwach, daß ich kaum schlucken konnte. Hierbei freute ich mich unendlich über die Entdeckung, daß der schlimme Geruch verschwunden war. Fast noch größere Freude bereitete mir der Anblick einer vor meinem Lager errichteten Pyramide, an welcher meine Waffen, meine Kleidungsstücke und Assils Zaum- und Sattelzeug hingen. Das war ein Zeichen liebevollster Aufmerksamkeit.
»Assil!« entfuhr es meinen Lippen. »Ich sehne mich nach ihm.«
»Willst du ihn sehen?« fragte die Kurdin.
»Ja.«
Sie ging nicht, ihn bringen zu lassen, sondern sie trat nur unter den Eingangsbogen hin und rief den Namen des Rappen. Er war also da draußen in der Nähe. Ich hörte seine nahenden Schritte und sein mir so liebes, zutrauliches Schnauben. Es gab vom Vorplatze aus ein Dutzend Stufen zu ersteigen. Einige Schmeichelworte von ihr veranlaßten den Rappen, heraufzukommen. Daraus erkannte ich, daß sie sich viel mit ihm beschäftigt hatte. Ich sah neben der Säule, an der sie stand, seinen charaktervollen, schön gezeichneten Kopf erscheinen, den sie liebkosend an sich drückte. Er legte seine Lippen an ihre Wange. Das war der Kuß, mit dem er außer mir nur noch Halef auszuzeichnen pflegte. Er hatte sich also mit Schakara ganz ungewöhnlich zusammengefreundet.
»Assil!« rief ich ihn. Meine schwache Stimme klang allerdings gar nicht laut dabei. Er stutzte. »Assiil, lihene – hierher!« Da kam er mit einem schnellen, kurzen Satze vollends herein und schaute sich um. Ich streckte ihm die Hand entgegen. Er näherte sich, blieb bei mir stehen und sah mich lange zweifelnd an.
»Er kann dich nicht erkennen, denn du siehst dir nicht mehr ähnlich,« sagte Schakara.
»Assil, mein Lieber, mein Braver, mein Treuer, mein Liebling!«
Da kam er ganz zu mir heran, um mich in nächster Nähe zu beriechen. Er berührte meine Hände, mein Gesicht. Und nun warf er plötzlich den Kopf hoch empor und stieß ein drei-, viermal wiederholtes und so eigenartiges Wiehern aus, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte. Hierauf ließ er Schwanz und Ohren spielen und ging unter allerlei drolligen, aber unendlich rührenden Kapriolen bald vorn, bald hinten in die Luft. Diese seine Bewegungen glichen den freudigen Sprüngen eines Hundes, der seinen lange entbehrten Herrn wieder vor sich sieht. Schakara ging hinaus, um einige Handvoll grüner Kischr herein zu holen, welche sie ihm auf meine Decke streute. Sie hatte also entdeckt, daß dies seine Lieblingsspeise sei. Aber er fraß sie nicht; er nahm nicht eine einzige davon, sondern er scharrte, wie dies vor dem Schlafen seine Weise war, mit den Vorderhufen den aus Steinfliesen bestehenden Boden und legte sich dann lang und eng an meinem Bette nieder, so daß ich seinen Kopf mit der linken Hand erreichen und dankbar streicheln konnte. Jede Kreatur will Liebe haben und giebt sie doppelt wieder, wenn sie sie empfängt!
Von jetzt an hatte ich nicht mehr mit der Krankheit, sondern nur noch mit der allerdings außerordentlichen Schwäche zu kämpfen, welche ihre Folge war. Ich bekam kräftige, aber leicht verdauliche Nahrung. Der Ustad und der Pedehr kamen täglich wiederholt, um nach mir zu sehen, doch thaten sie das nur, wenn sie wußten, daß ich schlief. Sie wollten vermeiden, mich durch das Sprechen mit ihnen anzustrengen, aber tausend Beweise stiller, liebevoller Aufmerksamkeit sagten mir, daß sie mit ihren Gedanken immer bei mir und Halef seien. Schakara war Tag und Nacht unausgesetzt im Raume. Sie verließ ihn nur dann, wenn kräftige Männerhilfe für uns nötig war.
Und aber Halef? Der lag nun schon drei Wochen lang in tiefster Betäubung. Er atmete nur leise; der Schlag seines Herzens war kaum noch zu spüren. Ich ließ mich einmal zu ihm hintragen, um ihn anzusehen. Welch ein Anblick bot sich mir! Ich konnte die Thränen, welche aus meinen Augen brachen, nicht hinunterkämpfen. Man ist als Genesender ja überhaupt weicher als sonst gestimmt. Ich hatte ein Skelett vor mir, dessen Anblick durch die dunkle Petechialhautfarbe doppelt schmerzlich wirkte. Die Augenlider lagen konkav in ihren Höhlen; die Wangen hatten sich in Vertiefungen verwandelt, und weil der Hadschi sehr gesunde Zähne besaß, trat die untere Partie des Gesichtes wie bei einem Totenkopfe hervor. Genau so wie ihn hatte ich im Gizehmuseum bei Kairo die Mumien von Ramses II, Thutmosis und anderer altägyptischer Herrscher vor mir liegen sehen. Dort die toten Zeugen einstigen Strebens, den Körper ewig zu erhalten, und hier der kaum noch atmende Beweis, daß der Leib, sobald die Seele sich von ihm zu lösen beginnt, der unerbittlichen Zersetzung anheimzufallen hat!
Der Anblick that mir wehe; ich ließ mich nach meinem Lager zurücktragen. Dort kam mir der Gedanke, nach einem Spiegel zu fragen. Ja, es gab einen. Man brachte ihn mir, und ich schaute hinein. Du lieber Himmel, ich sah nicht viel besser als Halef aus. Es war gar kein Wunder, daß Assil mich nicht erkannt hatte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß ich es sei, so wäre ich wohl kaum auf den Gedanken gekommen, in diesem dunkeln, hippokratischen Schemen mein eigenes Bild vor mir zu haben!
Aber das besserte sich nun von Tag zu Tag. Ich genoß viel Milch, mein Lieblingsgetränk, und erhielt sehr reichlich ausgepreßten Saft von Hühnerfleisch. Bald konnte ich aufrecht sitzen, ohne gleich wieder umzufallen. Das Sprechen strengte mich nicht mehr an, und ich machte an mir die bei Genesenden sehr häufige Beobachtung, daß geistig ganz wertlos scheinende Kleinigkeiten mir ein ungewöhnliches, wenn auch fast kindliches Interesse abgewannen.
Es war an einem dieser Tage. Die Sonne stieg dem Untergange zu. Da trug man Kissen hinaus ins Freie, und Schakara fragte mich, ob ich nicht einmal draußen sitzen möge. Der erste Ausflug, zwanzig Schritte weit bis vor die Säulen hin! Ich stimmte freudig ein. Zwei Männer hoben mich auf und brachten mich hinaus. Das war keine schwere Arbeit, denn ich war sehr leicht geworden. Nun sah ich zum erstenmal die Gegend, in welcher wir uns befanden. Sie mußte auch jedem, der nicht Rekonvaleszent war, als ein Paradies erscheinen.
Von da, wo ich mich befand, führten zwölf Stufen auf eine weite, grasige Terrasse hinab, auf welcher Assil und Barkh spazieren gingen oder vielmehr spazieren sprangen. Sie war von Blumenbeeten und blühenden Rosenbäumchen eingefaßt. Mehrere hoch- und breitkronige Dilbiplatanen breiteten schützend ihre Wipfel über diesen freien Platz, von welchem ein gut unterhaltener Zickzackweg hinab zur Sohle des Thales führte. Das Haus des Ustad stand hoch auf stolzer Höhe. Es war auf gewaltigen, altpersischen Mauerresten errichtet und glich mehr einer Burg als einem Wohngebäude, doch konnte ich das jetzt noch nicht sehen. Das vor mir liegende Thal hatte eine elliptische Form, an deren westlicher, schmaler Seite ich hier saß. Es war wohl eine Wegesstunde lang und halb so breit. In der Mitte flimmerten die vom Windeshauche bewegten Wellen eines Sees, welcher rundum von saftig grünem Weideland umgeben war. Ich sah da Pferde, Maultiere, Kamele, Rinder und eine Menge Kleinvieh grasen. Hieran schlossen sich wohlbebaute Felder, welche bis an die rings emporragenden Berge reichten, an denen sich Wein-, Maulbeer-, Frucht- und Blumengärten bis da hinaufzogen, wo der Wald sich seiner Herrschaft nicht berauben ließ. Ich sah lebhafte Wasser von den Höhen fließen, um ihren Weg zum See zu suchen, auf dem – ein Wunder hier in Persien! – ein kleines Boot sein helles Segel blähte. Ueberall standen Häuser, meist mit platten Dächern, aus festen Steinen aufgeführt und freundlich weiß getüncht. Sie wurden im Winter bewohnt. Für die jetzige Jahreszeit hatte man luftige Zelte errichtet oder auf den Dächern aus Laub und Stangen Hütten gebaut, in denen man des Nachts zu schlafen pflegte. Diese Hütten sind auch in andern Gegenden des Orients gebräuchlich. Man sieht sie z. B. besonders auf den alten, dumpfigen Gebäuden von Beled esch Schech und El Jadschur, welche an der Straße von Ha ïfa nach Nazareth liegen. Die Berge erreichten hier eine solche Höhe, daß ihnen der Wald nicht ganz hinauf zu folgen vermochte. Die Kuppen bildeten alpine Weiden, auf denen die dort grasenden Ziegen dem Auge als ganz winzige Tüpfelchen erschienen.
Die Mehrzahl der Häuser und der Zelte lag im Vordergrunde, von welchem aus ein breiter, straßenähnlicher Weg hinauf nach einem Felsenvorsprunge führte, wo ich ein Bauwerk liegen sah, dessen Stil meine Verwunderung erregte. Es war ein nach allen Seiten offener Tempelbau, dessen Dach nur von Säulen, nicht von geschlossenen Wänden getragen wurde. Es gab kein einziges Zeichen, welches verriet, welcher Art von Verehrung es zu dienen habe. Ich sah nur die Säulen und das Dach, sonst weiter nichts. Es gab keinen Altar, keinen einzigen Sitz, keinen Rednerstuhl. Aber an allen Säulen rankten sich blühende Kletterrosen und andere Schlingpflanzen empor, und der ganze Platz rund um den Tempel bildete einen sichtlich mit großer Liebe gepflegten Blumengarten, durch welchen zahlreiche, mit reinlichem Sand bestreute Wandelgänge führten.
Noch hing mein bewundernder Blick an dieser Herrlichkeit da drüben, da kam jemand durch den Raum gegangen und blieb hinter mir am Pfeiler stehen. Ich sah ihn nicht, aber ich fühlte ganz deutlich, daß es der Ustad war. Es verging einige Zeit, ohne daß er sich bewegte oder sprach. Auch ich war still. Ich sah hinauf zu den Bergen. Das Licht hatte begonnen, sich aus dem Thale zurückzuziehen. Die leise schreitende Dämmerung stieg empor. Als sie den Fuß des Waldes erreicht hatte, erschienen die freien Höhen wie in flüssiges, leuchtendes Gold getaucht. Die scheidende Sonne gab ihnen den letzten, glühenden Abschiedskuß. Das Gold ging in tiefere Orange- und Purpurtöne über, denen ein kurzer, violetter Schatten folgte; dann schwang sich das Abendrot von den Bergen himmelwärts, um sich dort für eine andere Welt ins Morgenglühen zu verwandeln. »Gute Nacht!« klang es mir durch die Seele.
Ich hatte das bloß gedacht, und doch ertönte sogleich neben mir die tiefe Stimme des Ustad:
»Gute Nacht für uns; für andere aber bedeutet es den Morgen! Erlaubst du mir, Effendi, eine kurze Zeit bei dir zu sein?«
»Du bist mir, wie kein anderer, hochwillkommen!« antwortete ich ihm.
Da trat er zu mir heran, legte mir die Rechte auf das Haupt und sprach:
»Seit du bei mir in meinem Hause bist, ist's heut zum erstenmal, daß deine Krankheit nicht zwischen meinen Worten und dem Verständnisse derselben steht. Sie ist gewichen; du kannst nun, ungehindert von ihr, das, was ich sage, empfangen und begreifen. Ich heiße dich zum zweitenmal willkommen und bitte dich, bei mir zu bleiben, so lange es dir und deinem höhern Ich, welches ihr Seele zu nennen pflegt, bei mir und meiner Seele gefällt. Ich habe auf dich gewartet.«
»Du? Auf mich?« fragte ich erstaunt.
»Ja. Schon seit langer, langer Zeit. O, ihr wißt gar nicht, wie lange wir schon auf euch warten, auf euch, auf euch, auf euch!«
Er hielt einen Augenblick inne, wie um mir Zeit zu gewähren, über seine Worte nachzudenken; dann fuhr er weiter fort:
»Und nun du endlich, endlich gekommen bist, und zwar in einer Weise, wie ich kaum hoffen konnte, so segne ich dich mit dem besten Segen, den ein Mensch vom Himmel zu empfangen und einem andern Menschen zu geben vermag. Nimm ihn hin von mir, diesen Segen, und glaube nicht, daß er in leeren Worten bestehe! Er kommt nicht von mir sondern von dem, der die einzige Quelle alles Segens ist!«
Als er das gesagt hatte, trat er von mir weg und setzte sich zu meinen Füßen auf die erste der hinabführenden Stufen nieder. Das war so bescheiden und anspruchslos; das war so klein, und doch war es so groß!
Nun herrschte eine Weile zwischen uns Schweigen. Die schnelle Dämmerung verwandelte sich in Nacht. Die Häuser waren verschwunden, aber freundliche Lichter tauchten auf, um uns die Stellen zu bezeichnen, an denen Menschen wohnten. Am Himmel wurden die Sterne immer sichtbarer. Ihr Schein reichte hin, uns die erhabenen Gestalten der Berge sichtbar zu machen, um deren baumlose Häupter lichtere Töne webten, welche mein Auge unausgesetzt auf sich zogen. Da deutete der Ustad empor und sagte:
»Ich sehe, daß du hinauf zu unsern Bergen schaust. Wollte das Abendland doch stets dasselbe thun! Aber es scheint nur unsere Thäler kennen zu wollen! Wenn es von uns redet, so spricht es nur von unsern Tiefen, nicht von unsern Höhen! Von unserm Alter, nicht von unserer Jugend! Von unserer Vergangenheit, nicht von unserer Zukunft! Von unserem Tode, nicht von unserm Leben! Von unserer Ohnmacht, nicht von unserer Stärke! Von unserm Verfall, doch nicht von unsern Hoffnungen! Ich weiß nur einen einzigen Europäer, der anders und besser von uns denkt, und dieser Mann bist du, Effendi.«
»Ich habe noch nicht mit dir hierüber gesprochen. Solltest du mich trotzdem kennen?« fragte ich.
»Ja. Wir haben nicht die Mittel des Verkehrs, die ihr besitzt; aber der Ilahn ist ein schneller Reiter.
Er eilt von Duar zu Duar, um zu verkünden was er sah und was er hörte. Er hat schon längst, schon längst von dir erzählt. Du warst wiederholt ein Gast der Haddedihn, und von ihnen bis herauf zu uns ist gar nicht weit. Du warst schon einigemal in den Bergen Kurdistans. Was da geschah, das haben wir erfahren. Ich habe geahnt, daß deine Seele dich auch zu uns führen werde, und darum sagte ich soeben, daß du von uns erwartet worden seist. Aber es giebt noch eine andere, bessere und zuverlässigere Quelle, aus deren reinem, klarem Wasser mir dein geistiges Angesicht entgegenblickte. Ahnest du vielleicht, wer diese Quelle ist?«
»Nein.«
»Ihr Name ist Marah Durimeh.«
»Sie? Meine liebe, liebe Freundin und Beschützerin?« fragte ich da schnell. »Kennst du sie?«
»Wahrscheinlich kennt sie keiner so gut, wie ich sie kenne. Doch, schweigen wir jetzt von ihr! Es giebt noch eine andere Person, an die ich jetzt zu denken habe. Als ich am Morgen, nachdem man euch zu mir gebracht hatte, eure Waffen sah, fiel mir ein Chandschar auf, der bei dir gefunden worden war.«
»Kennst du ihn?« fiel ich rasch ein.
»Ja. Es kennen ihn sehr viele. Ist er ein Geschenk?«
»Ja.«
»Wo hast du ihn bekommen?«
»In Amerika.«
»Von wem? Verzeih, daß ich dich frage! Es ist nicht müßige Neugierde, die mich zu dieser Erkundigung veranlaßt.«
»Von einem Perser, Namens Dschafar.«
»Mirza Dschafar, der Sohn von Mirza Masuk?«
»Ja, von ihm.«
»Er gab dir die Waffe mit der Versicherung, daß derjenige, der ihm diesen Chandschar vorzeige, sei er, was er sei, darauf rechnen könne, daß er alles für ihn thun werde?«
»So ist es. Also auch diese Worte sind dir bekannt!«
»Nicht nur sie und nicht nur alles, was Mirza Dschafar mit dir erlebte, sondern auch alles, was er mit dir gesprochen hat. Du siehst also, daß ich dich besser kenne, als du wohl ahnen konntest. Darum weiß ich ganz genau, wie du über das Morgenland und sein Verhältnis zum Abendlande denkst. Ich begreife, daß du näheres über Mirza Dschafar erfahren möchtest, bitte dich aber, mich jetzt nicht zu fragen. Du gehst ja noch nicht fort von mir, und wir haben also Zeit genug, über diesen mir so wichtigen Mann zu sprechen. Es liegt ein Geheimnis über ihm, und ich weiß jetzt noch nicht, ob ich es dir so weit, wie ich es kenne, enthüllen darf.«
Er schwieg. Auch ich war still. Wie wunderbar die Fäden des menschlichen Lebens gesponnen werden! So fern die Maschen voneinander liegen, es kommt ganz unerwartet ein Faden, der sie eng vereinigt. Wer sind die Arbeiter, die an unsern Webstühlen sitzen? Wir selbst? Wer liefert uns das Garn? Wer bringt es auf die Spule? Wer legt die Kette um den drehenden Rahmen? Wer legt die Muster auf? Wer lenkt das unermüdliche Schiffchen Tag für Tag, Stunde für Stunde, vom ersten bis zum letzten Augenblicke unserer Erdenzeit? Immer und immer nur wir selbst? Wir armen, armen, kurzsichtigen Thoren!
Es lag in diesem Gedankengange, daß mein Blick hinüber nach dem Blumentempel geführt wurde. Ich fragte den Ustad, was das für ein Gebäude sei.
»Es ist unser Beit-y-Chodeh, antwortete er. »Du kannst es auch Beit Allah nennen. Chodeh und Allah ist ja gleich. Ihr nennt ihn Gott!«
Da aber wendete er, der mir bisher die Seite zugekehrt hatte, sich plötzlich ganz zu mir herum und sagte:
»Gott – Allah – Chodeh – welche eine Todsünde, zu behaupten, daß diese drei Worte nicht Verschiedenes bedeuten! Ich sah einen englischen Missionar, welcher seinen Schülern befahl, den Schöpfer und Erhalter aller Dinge nur englisch ›God‹ zu nennen; Allah und Chodi seien ganz andere Götter! Als ob der Ewig-Ewig-Eine von irgend einem sich überhebenden Menschenkinde gezwungen werden könne, für jede andere Sprache und für jede andere Art, in der die Sterblichen zu ihm lallen, auch ein anderes Wesen anzunehmen! So ein Thor stellt sich hoch über Gott, indem er es in seiner Verblendung wagt, zu bestimmen, welches Wort der einzig richtige Name des Weltenlenkers sei! Hast du als Christ den Mut, Gott Allah oder Chodeh zu nennen, Effendi?«
»Wenn ich überhaupt schon den Mut besitze, von Gott oder gar im Gebete mit Gott zu sprechen, so ist der Mut, den du meinst, wohl selbstverständlich. Ich besitze nicht die Macht, Gott vorzuschreiben, wie er sich in den verschiedenen Ländern der Erde nennen zu lassen habe. Und ich bin auch nicht so wahnsinnig, zu behaupten, daß Gott ein Wesen sei, dessen Namen nur aus Buchstaben des deutschen Alphabetes zusammengesetzt werden könne.«
»So denke ich auch. Man giebt ihm in jeder Sprache und in jeder Anbetungsweise so viele und so verschiedene Namen; aber er ist und bleibt stets derselbe. Welches Menschenwort könnte ihn umfassen? Von welchem irdischen Gebäude dürfte man sagen, daß er hier ausschließlich wohne? Darum haben wir zwar die Säulenhalle da drüben errichtet, aber wir nennen sie nicht ›sein‹ Haus, sondern ›unser‹ Gotteshaus. Dieses haben wir für uns gebaut, nicht aber zur Wohnung dessen, der allgegenwärtig ist und sich nicht etwa von einem andern Orte und von andern Menschen entfernen kann, um, uns zum Vorzuge, bei uns einzuziehen. Wer einen besondern Ort für Gott bestimmt, der begeht die Sünde, dem allumfassenden Geiste die Fesseln von Raum und Zeit anlegen zu wollen. – Warum ist es zu allererst Chodeh, von dem ich zu dir spreche? Warum habe ich nicht mit etwas anderem begonnen? Du solltest vor allen Dingen und zunächst wissen, wem dieses Haus und dieses kleine Reich gehört, dessen Lichter du da unten glänzen siehst. Ich wollte dir damit sagen, daß du dich bei Leuten befindest, welche wissen, wem sie angehören. Und wir sagen nicht bloß, daß wir ihm dienen, sondern wir sind jederzeit bereit, dieses Wort in Thaten zu verwandeln. Horch! Da hast du gleich Gelegenheit, so eine That zu hören.«
Die beiden Glocken begannen, über uns zu klingen.
»Warum läutet man?« fragte ich.
»Um zum Gebete aufzufordern. Irgend ein Bewohner unsers Thales sendet in diesem Augenblicke seine Seele zu Chodeh empor; er hat das hier gemeldet; die Glocken klingen, und so weit ihre Stimmen zu hören sind, faltet jedermann die Hände, und tausende von Herzen beten mit. Ich thue es auch!«
Es war, als ob diese meine zwei Worte mit Willen begabte Wesen seien, welche meine Hände faßten, um sie ineinander zu legen. Muß man wissen, um was jemand bittet, um mit ihm beten zu können? Nein! Der Glaube trägt die Nächstenliebe himmelan; der Gegenstand des Wunsches braucht nicht genannt zu werden. »Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, noch ehe ihr darum bittet.«
Giebt es vielleicht ein Dogma oder irgend ein Glaubensbekenntnis, gegen welches ich gesündigt hätte, indem ich hier als Mensch mit andern guten Menschen meiner brüderlichen Pflicht gedachte? Ich hoffe: keines! Es sei denn, daß eine Religion existiere, welche die Verknöcherung des Herzens zur unbedingten Folge hat! Es war eine ganz eigenartige Atmosphäre, aus welcher ich hier an diesem Orte und in dieser Stunde körperlich und geistig Odem sog. Da unten in Basra hatten wir die pest- und fieberschwangern Dünste einer nicht bloß orographischen Tiefe eingeatmet; hier oben aber umwehte mich, auch nicht bloß äußerlich, eine Lebensluft, die frei von Keimen zum Erkranken war. Ich hätte behaupten mögen, daß nie ein Glockengeläut so rein erklungen sei wie dieses hier. Vielleicht waren die aufsteigenden Fürbitten von eben derselben Lauterkeit, weil niemand wußte, um wen und um was es sich handelte. Dieser von jeder Aeußerlichkeit erlöste Gottesdienst wirkte so unmittelbar und siegreich auf das Gemüt, daß eine Frage nach Knigges »Umgang mit Andersgläubigen« gar nicht aufkommen konnte. Nur einem vollständig herz- und gemütslosen Menschen wäre es zuzutrauen gewesen, hier ohne sowohl innere als auch äußere Teilnahme zu bleiben.
Als der letzte Ton der Glocken zwischen den Bergen verklungen war, verharrte der Ustad noch einige Zeit im Schweigen; dann wendete er sich mir wieder zu und sagte:
»So wie jetzt wurden die Glocken geläutet, mitten in der Nacht, als man dich und den Scheik der Haddedihn hier bei mir eingebettet hatte. Es gab keinen einzigen Dschamiki, der sich nicht dem Schlafe entriß, um für euch zu beten. Und alle, alle, sind auch dann noch mit dieser Fürbitte einverstanden gewesen, als sie erfuhren, daß ihr unsern Chode ›Gott‹ und ›Allah‹ nennet. Wäret ihr beide bei uns gestorben, so hätten wir euch nicht etwa abseits eingescharrt, sondern ihr wäret unter Glockenklang und Liedersang auf den Berg getragen worden, wo alle unsere Brüder und Schwestern liegen, die sich verwandelt haben. Wir hätten euch gesegnet, wie wir sie gesegnet haben, und euch die schönsten und duftendsten unserer Rosen auf die Gräber gepflanzt. Denn wir verheimlichen nicht, was wir wissen und was wir glauben und was kein guter unbefangener Mensch bezweifeln kann, nämlich daß nicht wir die Richter sind, welche über die Seligkeit oder Verdammnis der Sterblichen zu bestimmen haben. Sag, würde man auch bei euch Christen einem Andersgläubigen die Glocken läuten und den Segen geben? Ich frage dich nicht, um eine Antwort zu erhalten, denn ich weiß, daß du sie mir nicht geben darfst.«
Als er jetzt schwieg, blieb ich still. Warum? Bloß wegen meiner körperlichen Schwäche als Genesender? Oder aus Klugheit, um ein Wortgefecht zu vermeiden? Warum soll man, wenn man von Achilles redet, grad von der Ferse sprechen! Mein Auge war hinunter auf das Thal gerichtet. Ich sah Lichter, welche sich hin und her bewegten. Waren das Fackeln? Vereinzelte Stimmen drangen herauf; sie klangen wie Kommandorufe. Da fragte mich der Ustad:
»Bemerkst du, daß sich da unten das Dorf belebt?«
»Ja,« antwortete ich.
»Fühlst du dich schwach oder wohl?«
»Wohl. Warum willst du das wissen?«
»Weil ich eine Mitteilung für dich habe, welche dich wahrscheinlich sehr bewegen wird.«
»Sprich sie aus! Ich fürchte nichts für mich.«
»Sie ist eine doppelte. Das eine klingt nicht froh. Das will ich dir zuerst sagen, damit das andere dich wieder beruhigen möge. Mein Pedehr vermutet, daß Hadschi Halef Omar in dieser Nacht erwachen werde.«
»Zum letzten Male?«
»Das weiß allein Chodeh. Ich bin überzeugt, daß die Erwartung des Pedehr sich erfüllen werde, denn er kennt diese Krankheit so genau, wie kein zweiter sie kennt.«
»Wo werden die Boten sein, die wir nach den Weideplätzen der Haddedihn gesandt haben!«
»Das ist das zweite, was ich dir mitzuteilen habe. Der Gedanke, Kara Ben Halef holen zu lassen, wurde zwar von dir ausgesprochen, aber er kam nicht von dir. Daß er dir gegeben wurde, läßt mich für unsern dem Tode so nahen Freund noch Hoffnung hegen. Unser Können ist erschöpft; es giebt nur noch die Möglichkeit, daß der unerwartete Anblick seines Sohnes ihn rettet.«
»Aber der ist nicht hier!«
»Er kommt.«
»Wirklich! Gewiß! Noch heut?« fragte ich in freudiger Ueberraschung.
»Ja; noch heut, noch diesen Abend, noch vor Mitternacht.«
Ich lehnte mich zurück und holte tief, tief Atem.
Es war, als ob der Odem mir bisher gefehlt und sich nun wieder eingestellt habe. Ich schloß die Augen. Mein Blick richtete sich nach innen. Da sah ich nun so recht, wie schwer die Sorge um meinen Halef auf mir gelastet hatte. Jetzt teilte sich die unheilschwangere Wolke, und ein lichter Strahl gab mir die Hoffnung wieder!
»Sind die Boten denn schon zurück?« erkundigte ich mich.
»O nein! Sie sind mit dem jungen Scheik der Haddedihn nur bis zu einem Duar gekommen, welcher fast drei Tagesritte von hier liegt. Da müssen sie bleiben, um sich zu erholen. Auch ihre Pferde konnten nicht weiter! Der Sohn, welcher kommt, um seinen Vater wo möglich noch lebend anzutreffen, hat weder sich noch sie geschont. Nur die Rücksicht auf sein abgetriebenes, edles Pferd hat ihn vermocht, eine volle Nacht in jenem Duar zu bleiben, damit es einmal länger ruhen könne. Aber er hat sogleich nach seiner Ankunft dort zwei Boten vorausgesandt, von denen ich erfuhr, daß er heut abend sicher kommen werde.«
»Warum sagst du mir das erst jetzt?«
»Weil ich es selbst nicht früher wußte. Der Vorsprung, den sie vor ihm hatten, wird durch die Eile, mit welcher er ihnen folgt, derart ausgeglichen, daß er nur ganz kurze Zeit nach ihnen hier einzutreffen gedenkt. Nun siehst du die Lichter, welche sich da unten im Thale bewegen. Es versammelt sich da eine Schar meiner Dschamikun, um den beiden entgegenzureiten.«
»Den – beiden? Sind es zwei?«
»Ja.«
»Wer noch, außer ihm?«
»Ein Haddedihn, welcher nicht zu Pferde mit ihm kommt, sondern sich zweier Eilkamele bedient, um mit ihnen wechseln zu können.«
»Das weiß ich nicht. Die Boten waren über seine Hedschan der Bewunderung voll; sie versicherten, noch nie im Leben so herrliche Tiere gesehen zu haben.«
»Tragen diese Kamele etwa einen Tachtirwahn?«
»Nein. Meinst du, daß der junge Haddedihn eine Frau mitbringe? Es giebt kein Weib, welches, selbst in der Sänfte, eine solche Anstrengung auszuhalten vermöchte. Die Boten sagten, der Begleiter Kara Ben Halefs scheine ein vornehmer Christ zu sein, der zwar wenig, aber sehr gebieterisch spreche. Er trage eine blaue Brille und darunter noch einen blauen Schleier, um seine Augen zu schützen. Wahrscheinlich sei er einer der gelehrten Abendländer, welche nach der Dschesireh kommen, um in den dortigen Ruinen alte Ziegel auszugraben. – Nun sag, hat dich diese Nachricht aufgeregt?«
»Nein. Um aufgeregt sein zu können, bin ich wohl noch zu schwach. Wir stehen vor einer Entscheidung. Fällt sie ungünstig aus, so trifft sie mich nicht unvorbereitet, und ich weiß, daß das Leben des Menschen nicht mit dem Tode aufhört. Selbst wenn Hadschi Halef stürbe, würde er mir unverloren bleiben. Die Nachricht von der Ankunft seines Sohnes erfüllt mich mit herzlicher Freude. Das Wiedersehen wird nicht schädlich auf mich wirken.«
»So bin ich beruhigt. Ich kam, dich vorzubereiten. Ich weiß, daß du wohl viele Fragen hast, deren Beantwortung du dir wünschest. Mein Pedehr wird das gern thun. Ich sorge für die Seelen unserer Dschamikun; alles andere ist in seine Hand gegeben.«
Er erhob sich, strich mir mit der Hand wie liebkosend über das Haar und kehrte dann nach dem Innern des Gebäudes zurück. Bei dieser Berührung meines Hauptes hatte ich wieder das Gefühl, als ob dabei eine gütig reine, nicht materielle Kraft durch mein ganzes Wesen gehe. Kann man den von einem wohlwollenden Menschen ausgehenden Segen in dieser Weise fühlen? Oder giebt es ein uns noch unbekanntes Fluidum, welches in dieser Weise von dem einen auf den andern übertragen werden kann?
Nun war ich allein und dachte an Halefs Sohn. Endlich, endlich! Ich hatte eine Zuversicht in mir, welche an die Gewißheit grenzte, daß er seinen Vater retten werde. Wer aber war der Fremde, den er mitbrachte? Einen Augenblick lang hatte ich an seine Mutter gedacht, an Hanneh, die »lieblichste und schönste unter allen Blumen des Morgenlandes«. Ich war durch die Sänfte zu diesem Gedanken geführt worden. Aber ich hatte doch angeordnet, daß Hanneh nichts von Halefs Krankheit erfahren solle, und mußte mit der Ansicht des Ustad einverstanden sein, daß ein weibliches Wesen einen solchen Parforceritt unmöglich aushalten könne. Zwar war sie eine außerordentlich resolute Frau; sie verstand, jedes Pferd nach Männerart zu reiten, und sie hing mit so inniger Liebe an Halef, daß ihr der Entschluß, jetzt mitzukommen, sehr wohl zugetraut werden konnte; aber anzunehmen, daß sie diesen Gedanken in Wirklichkeit ausgeführt habe, das schien mir doch viel zu gewagt zu sein.
Ein europäischer Gelehrter! Man hielt ihn wohl nur seiner blauen Brille wegen für einen solchen; er brauchte es ja trotzdem nicht zu sein. Auch ich hatte solche Brillen bei mir gehabt, um sie aufzusetzen, wenn die Sonnenstrahlen allzu blendend von den hellen Sand- oder Felsenflächen zurückgeworfen wurden. Ich war von dem damals noch kleinen Kara gebeten worden, sie ihm zu schenken, und hatte es gethan. Also, die Brille macht noch nicht den Gelehrten; ich habe nie im Leben die Absicht gehabt, »gelehrt« zu sein, denn es ist mir nie gelungen, mir dieses Wort sympathisch werden zu lassen. Wer aber war dieser Mann? Unser David Lindsay jedenfalls nicht. Nur allein diesem, der sich aber unterwegs nach Schiras befand, konnte die kühne Schrulle beikommen, sich Hals über Kopf einer solchen Hetzpartie nur aus dem Grunde anzuschließen, weil es etwas Ungewöhnliches war. Ich sann hin und her, konnte mir aber außer ihm niemand denken, und hielt es darum für das beste, jetzt einmal dem Beispiele Halefs zu folgen, der, wenn es etwas zu erraten gab, sich stets mit der Bemerkung aus der Schlinge zu ziehen pflegte, daß er sich mit der Lösung von Rätseln nicht abzugeben habe.
Unten im Thale gab es wieder Ruhe; die Schar der Dschamikun, von welcher der Ustad gesprochen hatte, war fortgeritten. Auf dem freien Platze zu meinen Füßen, wo sich unsere Pferde befanden, wurdeh an den dazu vorhandenen Einfassungsstützen Fackeln aufgesteckt, welche später angebrannt werden sollten. Dann kam der Pedehr mit einigen Bedienten in den Raum, an dessen Säule ich sitzend lehnte. Er gab leise Befehle. Dann kam er heraus, setzte sich bei mir nieder und fragte:
»Der Ustad hat dir gesagt, wer heut noch kommt?«
»Ja.«
»Ich weiß, daß du dich auf das Wiedersehen mit dem Sohne freust, und ich hoffe, daß der Himmel den Vater dir erhält. Denkst du, stark genug für diesen vielleicht schweren Abend zu sein?«
»Wenn ich will, wird der Körper gehorchen.«
»Ich habe Befehl erteilt, die Kerzen der Beratung hereinzubringen. Sie werden nur dann angebrannt, wenn die Aeltesten des Stammes sich bei dem Ustad befinden, um mit ihm wichtige Angelegenheiten zu beraten. Doch soll auch an dem heutigen Abend der Raum so tageshell erleuchtet sein, wie er es bei diesen Gelegenheiten ist. Ich habe über das Leben des Kranken zu wachen und brauche Licht, um die Schrift seines Angesichts lesen zu können. Was ich verbiete, darf nicht geschehen. Bist du damit einverstanden, Effendi?«
»Sehr gern!«
»Wenn er erwacht und aber nicht spricht, so wird er sterben. Findet jedoch seine Seele den Weg zu seinem Munde noch frei, so kann er uns erhalten bleiben. Unser Freund kann sich nur durch sich selbst, durch seinen eigenen Willen retten. Besitzt er diesen noch, so hoffe ich für ihn. Wenn er einen Wunsch äußert, so haben wir ihn zu erfüllen, falls dies möglich ist, denn dieser Wunsch ist die Stütze, an welcher das niedergesunkene Leben sich aufzurichten hat.«
»Ich bitte dich, mich hineinschaffen zu lassen. Ich möchte, wenn er erwacht, an seiner Seite oder doch wenigstens in seiner Nähe sein.«
»Dies wird geschehen, doch warum schon jetzt? Macht dich der Aufenthalt im Freien schwach?«
»Nein. Warten wir also bis später! Jetzt möchte ich gern wissen, was aus den Massaban geworden ist. Ich habe noch nichts wieder über sie gehört.«
»Ich werde dir das morgen oder übermorgen ausführlich erzählen. Heut aber wird dein Inneres so sehr beschäftigt werden, daß ich dir nur das eine sagen will: Es ist uns keiner entgangen. Genügt dir das?«
»Wenn du willst, ja. Horch! War das nicht ein Schuß? Noch einer! Und noch einer!«
»Drei Schüsse. Sie kommen. Viel eher, als ich dachte!«
»Ja. Bist du innerlich gerüstet, Effendi?«
»Gewiß!«
»Prüfe dich! Es wird ein Sturm sein, welcher an deiner Seele, an deinem Leben rüttelt!«
»Diese Seele ist stark; ich kenne sie.«
»So sei es denn! Wir wagen viel, sehr viel, doch meine Hoffnung blickt zu Chodeh auf, der nur allein es ist, dem wir vertrauen müssen. Ich will nach Halef schauen und dann am Thor die Gäste begrüßen; hierauf kehre ich mit ihnen hierher zurück zu dir.«
Er ging hinein, und ich hörte, daß er befahl, die Kerzen anzubrennen. Gleich hierauf drang eine Fülle des Lichtes durch die offenen Bogen heraus auf den Vorplatz. Ich sah deutlich unsere zwei Pferde liegen und mehrere Dschamikun damit beschäftigt, die aufgesteckten Fackeln schnell anzuzünden. Auch die andern Räume des »hohen Hauses« schienen hell erleuchtet worden zu sein, denn die Strahlen vereinten sich zu einem glänzenden Lichtstrome, welcher weit hinaus bis an den See und tief hinunter bis auf die Sohle des Thales flutete. Von dort klangen laute Stimmen herauf. Ich hörte Pferde wiehern. Eine Fantasia oder gar ein lärmendes Pulverspiel gab es nicht. Die Nähe des Todes verbietet solche Dinge.
Bald hörte ich fernleisen Hufschlag, welcher lauter wurde. Er kam den Berg herauf. Nun ertönte das langgezogene, ungeduldige »Chchchchchuuuuh« eines Kameles. Ich kannte diesen Ton. So klagt das Hedschihn der ebenen Wüste, wenn es gezwungen wird, auf ungewohnten Bergwegen zu schreiten. Von rechts unten her erklang die laute Stimme des Pedehr. Ich verstand die Worte nicht, doch waren sie das Willkommen, welches er den Gästen sagte. Hierauf erschienen einige Dschamikunreiter auf dem Vorplatze. Sie waren die Führer. Hinter ihnen kam, von den Fackeln genügend beleuchtet, Kara Ben Halef, auf seinem »Ghalib« sitzend. Ihm folgten zwei aus der edelsten Bischarizucht stammende Eilkamele. Das eine war ledig; auf dem anderen saß der verschleierte Fremde. Seine Waffen hingen am Sattelknopfe. Er sprach mit dem Pedehr. Er war ebenso wie Kara in den gewöhnlichen Wüstenanzug gekleidet.
Kara Ben Halef sprang vom Pferde und trat zu dem Kamele hin, um dessen Reiter beim Absteigen zu unterstützen. Dieser aber glitt ohne die beabsichtigte Hilfe schnell aus dem Sattel herab und fragte so laut und pressant, daß ich die Worte verstehen konnte:
»Nun sag, wo liegt der Scheik der Haddedihn?!«
Welch eine Stimme! Die kannte ich ja! Täuschte mich mein Ohr, oder war es Wirklichkeit?
»Hier oben in der Halle,« antwortete der Pedehr.
»So komm!«
Mit diesen Worten ergriff der Fremde Karas Hand, um mit ihm die Stufen emporzueilen.
»Ich ersuche euch, nicht so schnell zu gehen,« bat der Pedehr. »Es ist notwendig, daß ich vorher –«
Dem Verschleierten aber fiel es gar nicht ein, auf diese Worte zu achten. Er zog Kara von Stufe zu Stufe in größter Ungeduld hinter sich her, bis er die oberste erreicht hatte. Da fiel sein Blick auf mich. Er blieb stehen, um mich zu betrachten. Seine Gestalt schien plötzlich alle Möglichkeit, sich zu bewegen, verloren zu haben. Er stand starr, wortlos, eine ganze, ganze Zeit. Dann hob er langsam die Arme und schlug die Hände laut zusammen.
»Sihdi?« rief er aus.
Da that er die drei Schritte zu mir her, warf sich vor mir nieder, zog meine beiden Hände unter seinen Schleier und drückte sein Gesicht hinein. Es waren glatte, bartlose Wangen, die ich fühlte. Sein Körper bewegte sich konvulsivisch. Er wollte den Ausbruch des Schmerzes, das Schluchzen unterdrücken und konnte es doch nicht. Aus seinen Augen floß eine Flut von Thränen über meine Hände. Kara stand still auf der vorletzten Stufe. Auch er erkannte mich, ließ aber dem Andern das Vorrecht, zuerst mit mir zu reden.
Da hob dieser andere den Kopf empor, sah mir noch einmal forschend ins Gesicht und sagte schluchzend:
»Das, das ist mein Sihdi! Der einzige Freund meines irdischen Lebens! Der kluge Berater meines Herzens! Der treue Leiter meiner irrenden Seele! Der unerschütterliche Fels in jeder Not! Kennst du mich?«
»Hanneh!«
Ich konnte dieses kleine Wort kaum über die Lippen bringen, so tief erschüttert war ich. Meine Augen standen voller Thränen, und meine Stimme bebte. Da warf sie den Turban vom Kopfe, riß den Schleier herab und rief jammernd aus:
»Ja, ich bin es! Aber bist du der noch, der du warst?«
»Ich werde es wieder sein!«
»Ja, du mußt, du mußt, du mußt es wieder sein! Ich mache dich gesund, ich, ich, ich! Und ich beginne damit gleich, gleich jetzt, in diesem Augenblick! Kennst du das Märchen von Chakika, welche vom Himmel kam und dem Tode begegnete? Sie küßte ihn; da wurde aus ihm das Leben.«
»Ich kenne es. Diese lichte, himmlische Chakika ist die herrlichste Wahrheit, die es giebt.«
»So laß mich dieses Märchen sein, und zürne mir wegen meiner Kühnheit nicht!«
Sie rutschte auf den Knieen ganz zu mir heran, zog meinen Kopf an sich und küßte mich auf beide Wangen und dann noch auf die Stirn. Dann fuhr sie unter Thränen fort:
»Wer war es, der dich jetzt mit den Lippen berührte? Nicht Hanneh, das Weib von Hadschi Halef Omar, des Scheikes der Haddedihn! Der Kuß dieser Frau könnte dir nichts nützen trotz aller Liebe und Dankbarkeit, die sie in ihrem Herzen für dich pflegt. Oh, mein Sihdi! Oh, mein Effendi! Ich wußte, daß du uns allen teuer bist, aber wie, wie, wie teuer, das wußte ich noch nicht! Das habe ich erst jetzt begriffen, wo du, von Todes Hand noch festgehalten, mit einem Lächeln auf mich niederblickst, so schwach, so matt und doch so lieb und gut, daß es mir das Herz zerreißen will! Kara Ben Halef, mein Sohn, tritt herbei, und leg deine Hände auf das Haupt dieses Mannes, der zu uns kam, um uns allen nichts als nur Liebe, Liebe, Liebe zu erweisen!«
Er biß die Zähne zusammen, um nicht lautauf zu weinen; aber seine Lippen zitterten und seine Augen standen voll Wasser. Er legte mir nicht nur die Hände sondern auch die Wange auf den Kopf; er hatte mich lieb, so recht von ganzer Seele lieb. Da faltete seine Mutter ihre Hände und sprach weiter:
»Sihdi, ich segne dich! Ich segne dich nicht so, wie andere segnen. Ich gebe dir mehr, als was nur ich dir geben könnte. Ich segne dich durch die Hände meines Kindes, auf dem der Segen seines Vaters und seiner Mutter liegt. Dreifach also ist der Segen, der auf dir ruhen soll in alle Ewigkeit!«
Da erklang die tiefe, klare Stimme des Ustad, der, von uns unbemerkt, hinter uns an der Säule gestanden hatte:
»Nicht nur dreifach soll er sein, und nicht nur gesegnet sollst du haben, sondern auch gesegnet werden!«
Er trat aus der Halle heraus, breitete seine Hände über sie und fuhr fort:
»Ich sehe dich heut zum erstenmal, und doch ist es mir, als seist du mir schon längst bekannt. Ich höre, daß du Hanneh bist, unsers Hadschi Halef Weib; aber für mich und uns bist du in diesem Augenblicke mehr. Du bist die Seele des weiblichen Geschlechtes, die aus der Höhe niederstieg, um Geist in Seele zu verwandeln. Wie hast du mich gerührt! Wie ward mein Herz bewegt von deinem Herzen! Es wallt in mir ein großes Wünschen auf, für welches ich das rechte Wort nicht finde. Du, eines Moslem Weib, verurteilt zu des Harems Einsamkeit, hast einem Nasarah gegenüber dies Gesetz gebrochen, um dem höheren des Herzens zu gehorchen. Wie wert muß doch sein Christentum deines dreifachen Segens sein! Und so gern, wie es noch nie geschah, will ich für dich zu Chodeh beten, an dir zur Wahrheit zu machen, daß, wer da segnet, selbst gesegnet wird!«
Sie schaute zu ihm auf, aus weitgeöffneten Augen, mit einem langen, langen Blicke.
»Bist du der Ustad?« fragte sie.
»Man nennt mich so,« antwortete er.
»Du sagtest, es sei dir so, als habest du mich schon längst gekannt. Habe nicht auch ich dich schon gesehen? Doch wo und wann? Ich kann mich nicht besinnen. In diesen Bergen ist es nicht gewesen. Du hast den Gebieter meines Stammes und meines Zeltes bei dir aufgenommen. Ich danke dir! Erlaubst du mir, daß ich jetzt zu ihm gehe?«
»Ich führe dich,« antwortete er. »Der Pedehr ist bei ihm. Doch, meine Tochter, bist du stark genug, den Hadschi so zu sehen, wie man nur Leichen sieht?«
Da richtete sie sich auf. Ihre Augen blitzten. Sie war ganz Entschlossenheit.
»Kennst du das Weib, Ustad?« fragte sie.
»Ich kenne es,« lächelte er, »und ich sehe, daß du es bist!«
»Vielleicht erschrecke ich, doch eine Klage wirst du nicht aus meinem Munde hören. Auch mein Sohn ist stark. Komm, Kara, laß uns zum Vater gehen!«
Welch eine Frau! Der Ustad ergriff ihre Hand, um sie zu leiten. Sie gab die andere Kara; so gingen sie hinein. Ich horchte. Sie schritten langsam nach der Ecke, in welcher Halef lag; dann war es still, kein Wort, kein Laut zu hören. Wie war sie über mein leidendes Aussehen erschrocken! Halefs Anblick aber war noch schlimmer. Und doch diese Ruhe hinter mir! Ich wiederhole: Welch eine Frau!
Ich schaute den Dschamikun zu, welche Karas Dunkelbraunen und die beiden Kamele abgeschirrt hatten und ihnen nun Wasser und Futter gaben. Aber meine Gedanken waren natürlich weniger dort als in der Halle am Lager des Freundes. Erst nach langer Zeit hörte ich wieder Schritte. Der Pedehr kam zu mir.
»Sie ist eine Heldin und ihr Sohn ein Held,« flüsterte er mir zu. »Sie sind bei ihm. Auch der Ustad wird bleiben, denn wir vermuten, daß Halef bald erwachen werde. Ich sah, daß sich die Falten seiner Stirn bewegten.«
»Und ich? Darf ich hinein?« fragte ich.
»Ich bitte dich darum. Er darf dich nicht vermissen.«
Er holte einige Leute, welche mich samt den Kissen hineinbrachten. Hanneh und Kara saßen zur Seite Halefs, der Ustad zu seinen Füßen. Ich bekam einen Platz in der Nähe. Der Pedehr hatte sich auf der Ecke des Lagers niedergelassen. Er beobachtete den Kranken unausgesetzt. Schakara war auch da, und an der Thür standen zwei Männer, um etwaige Befehle sofort auszuführen.
Ich konnte das Gesicht Halefs deutlich sehen. Die Halle war von Wachskerzen hell erleuchtet. Die Bienenzucht der Dschamikun lieferte dieses außerhalb ihres Gebietes seltene Material. Ich wiederhole, daß das Gesicht des Hadschi ganz dem einer Mumie glich. Hanneh bewegte sich nicht. Ihre Züge waren wie aus Stein geformt. Kara saß so, daß ich die seinigen nicht beobachten konnte. Was mich betrifft, so gab es in mir eine zwar erwartungsvolle, sonst aber ruhige Stille. Es war, als ob jedes Wünschen und Wollen verschwunden sei; aber das bedeutete nicht etwa eine Ergebung in das Unvermeidliche, sondern es war eine Zuversicht, die ich vor der Ankunft Hannehs und Karas keineswegs empfunden hatte.
»Sihdi!«
Was war das? Hatte mich wer gerufen? Ich schaute die Andern fragend an. Sie blickten ebenso fragend zu mir herüber. Keiner hatte dieses Wort gesprochen, aber alle hatten es gehört.
»War es Halef?« erkundigte ich mich.
Niemand wußte es. Seine uns bekannte Stimme war es nicht gewesen. Auch hatte man keine Bewegung seiner Lippen gesehen. Nun hingen wir mit unsern Augen an seinem Munde, welcher ein wenig offen stand.
»Sihdi – Sihdi –!«
Jetzt hörten wir genau, daß Halef es war, obwohl die Stellung seiner Lippen sich nicht im geringsten verändert hatte. Das war eine ganz eigentümliche Stimme, nicht laut, nicht leise, ganz ohne allen Ton und Klang und doch so gut verständlich. Wenn es Schatten oder Schemen gäbe, welche sprechen könnten, so würden sie es ganz gewiß in dieser Weise thun.
»Halef, mein lieber Halef!« antwortete ich.
»Der bin ich nicht!« erwiderte er.
»Nicht mein Hadschi?«
»Der bin ich auch nicht!«
»Also mein Hadschi Halef?«
»Ich bin es nicht!«
»Wer bist du denn?«
»Ich weiß es nicht!«
»Sag mir deinen Namen!«
»Ich habe keinen!«
»Aber du kennst dich doch?«
»Ich bin ich!«
»Wo bist du?«
»Hier!«
»Wo ist das?«
»Bei dir, bei meinem Sihdi! Jetzt bei den Haddedihn! Wo ist Hanneh? Sie ist nicht da! Wo ist Kara, mein Sohn? Er ist auch nicht da. Ich suche sie!«
»Wo gehst du hin, sie zu finden?«
Er antwortete nicht. Darum schwieg auch ich.
Er hatte alle diese kurzen Antworten gegeben, ohne die Lippen zu bewegen. Darum waren die Labiallaute nicht zu hören gewesen. Das hatte aber nicht verhindert, ihn zu verstehen.
»Sihdi – Sihdi –!« erklang es nach einer längeren Pause wieder.
»Ja,« sagte ich.
»Ich bin bei dir.«
»Wieder?«
»Ja. Ich habe deine Augen.«
»Wirklich?«
»Wirklich! Und was du siehst, das sehe ich auch! Nun habe ich sie gefunden. Ich sehe sie! Kara und Hanneh, die ich liebe. Ich sehe noch mehr. Ich sehe – wer – wer ist das? Das ist der – Pe – der Pe – Pedehr und – und – ich muß fort – fort von dir! – Wer – wer – wer bin – bin – wer bin ich und wer –«
Da stand der Ustad mit einer unerwartet schnellen Bewegung auf und rief ganz auffallend laut und deutlich:
»Du bist Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn! Hörst du? Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar!«
»Had – Hadschi Hal – Halef – –«
Er brachte nur diese Silben zusammen; dann verhauchte seine Stimme und wurde nicht mehr gehört. Nun ließ sich der Ustad wieder nieder, bog sich zu mir herüber und fragte mich, leise flüsternd:
»Begreifst du, was ich that?«
»Nein.«
»So denke nach! Ich habe ihn zu sich zurückgeführt.«
»Ist es denn möglich, eine Seele, welche bereits im Begriffe steht, ihre Verbindung mit dem Körper zu lösen, durch Worte festzuhalten?«
»Ja, das hast du jetzt erfahren und wirst den Beweis bald kommen sehen. Für euch Abendländer ist das freilich ein Rätsel. Eure Seelenlehre ist noch nicht einmal so weit gekommen, daß sie sagen kann, was und wo die Seele ist. Wer die sonderbare Ansicht hegt, daß der Offizier im Körper des Soldaten stecke, der wird alle Bewegungen dieses Soldaten als Regungen des Offiziers erklären; über die Seele aber Auskunft zu geben, das wird ihm ganz unmöglich sein!«
Das klang so alt und doch so neu, in jedem Falle aber wahr!
Nun wieder störte kein Laut die Stille um uns her. Wir konnten nichts thun, als warten. Es verging wohl über eine halbe Stunde; da sahen wir, daß die bisherige Starre im Gesicht des Hadschi weichen wollte. Die Mumienähnlichkeit begann, sich zu verlieren, obgleich von einer eigentlichen Wiederbelebung der Züge noch nicht gesprochen werden konnte. Jetzt bewegte er die Lippen, doch wir hörten nichts. Es war zu bemerken, daß seine Augäpfel sich unter den geschlossenen Lidern regten. Es gab ihm eine Anstrengung, welche vergeblich nach dem Erfolge rang. Hierauf zuckten seine Arme und Beine unter der Decke; es ging ein Leben durch seinen ganzen Körper, und fast schreiend erklangen die Worte:
»Sihdi – Sihdi – bist du bei mir?«
Ich sage, »fast schreiend«, aber es war doch kein eigentliches Schreien, nicht einmal ein Rufen, auch nicht das, was man »laut« zu nennen pflegt. Und doch klang es so deutlich, so heftig, so todesängstlich! Man hörte dieser Stimme die außerordentliche Schwäche an, und trotzdem war sie im fernsten Winkel der Halle zu vernehmen.
»Ich bin hier,« antwortete ich.
»Sag, wie heiße ich?«
»Du bist mein Freund Halef Omar.«
»Der Scheik der Haddedihn?«
»Ja.«
»Ich liege bei den Dschamikun?«
»Ja.«
»Bin ich noch krank?«
»Jetzt noch; bald aber wirst du gesunden.«
»Du bist Kara Ben Nemsi?«
»Ja.«
»So staune! Ich weiß, was sterben heißt!«
»Sag es mir!«
»Nicht jetzt. Das Sprechen fällt mir schwer. Sihdi, hast du nicht Glocken hier gehört?«
»Ja, die Glocken des Gebetes.«
»Laßt sie läuten; laßt beten, daß ich leben bleibe. – Ich will zurück zu Hanneh, meiner Seele. Sie ist –«
Er hielt inne. Sein Gesicht bekam zum erstenmal wieder einen Ausdruck, nämlich den der Spannung. Er suchte in sich nach. Dann fuhr er fort, so langsam, als ob er die Worte mühsam aus der Ferne herbeiholen müsse:
»Wie ist mir denn? – habe ich nicht – meine Hanneh – hier gesehen? – Saß nicht auch – Kara, mein Sohn – bei mir – an diesem Lager? – Ich hatte nicht – meine Augen – sondern andere. – Mit diesen Augen – sah ich meine --- meine eigene Leiche. – Bei ihr saß Hanneh – wie ein Mann gekleidet – hier, hier – zu meiner rechten Hand – Ich kann den Kopf nicht wenden – die Augen nicht öffnen – sie nicht sehen – und doch, und doch – Hanneh, Hanneh – mein Glück und meine Retterin – ich weiß – du bist bei mir!«
Da war es für einen Augenblick um ihre ganze Selbstbeherrschung geschehen. Sie stieß einen fast überlauten Schrei aus, sprang empor und rief:
»Allah, ich danke dir! Fast wäre ich erstickt vor lauter Qual und Herzeleid! Nun aber kann ich wieder atmen, denn ich weiß, daß mein Geliebter nicht sterben, sondern leben wird. Du, Allbarmherziger, hast ihn mir zurückgegeben!«
Wir hatten während dieser ihrer Worte nur auf sie geschaut und nicht auf Halef gesehen. Nun aber staunten wir über die Wirkung, welche der Klang ihrer Stimme auf ihn hervorgebracht hatte. Er bewegte den Kopf; seine Züge hatten Leben bekommen; seine Augen waren geöffnet und mit dem Ausdrucke des Entzückens auf Hanneh gerichtet. Kara war auch aufgestanden; er trat an die Seite seiner Mutter. Halef sah ihn neben ihr. Da konnte er plötzlich auch die Hände bewegen. Er faltete sie und sprach:
»Auch du bist hier, mein Liebling? Ich bin nicht gestorben und habe doch die Seligkeit, den ganzen, ganzen Himmel hier bei mir!«
Hierauf schloß er die Augen. Mutter und Sohn knieten bei ihm nieder. Sie nahmen seine Hände und sprachen ihre überquellende Liebe in zärtlichen Worten aus. Er antwortete nicht. Da erklangen über uns die Glocken, denn einer der an der Thür stehenden Dschamikun war, sobald Halef diesen Wunsch ausgesprochen hatte, fortgegangen, um ihn zu erfüllen. Der Kranke hörte es und lächelte. Jetzt beteten Tausende für ihn. Wir hier in der Halle auch. Er schlief indessen ein. Mit ihm auch noch ein anderer, nämlich ich.
Das war nach den Anforderungen, welche dieser Abend an mich gestellt hatte, gar nicht verwunderlich. Ich wurde so plötzlich von einer ganz unwiderstehlichen Müdigkeit befallen, daß mein aufrecht sitzender Oberkörper den Halt verlor. Ich fiel um. Man trug mich nach meiner duftenden Veilchenecke, in welcher ich einen so langen und tiefen Schlaf that, daß, als ich am nächsten Tag von ihm erwachte, die Sonne sich fast schon wieder zum Untergange neigte. Ich fühlte sogleich, daß diese lange Ruhe mich außerordentlich gekräftigt hatte.
Wer saß bei mir, als ich die Augen öffnete? Hanneh! Sie hatte einen mitgebrachten Frauenanzug angelegt. Als sie sah, daß meine Augen offen und auf sie gerichtet waren, reichte sie mir die Hand und sagte:
»Ich grüße dich aus vollem Herzen und mit meiner ganzen Seele, mein Effendi. Ich wartete auf dein Erwachen. Inzwischen sitzt mein Kara dort bei Halef, um mir sofort zu melden, wenn ich nötig bin. Jetzt mußt du sogleich essen. Ich werde es Schakara sagen, daß sie dir die Speise bringe.«
»Weißt du, wo sie ist?«
»Ja. Sie ist schnell meine Freundin geworden, denn sie besitzt ein siegreiches Herz, dem niemand widerstehen kann.«
Hanneh stand auf und eilte hinaus, um bald darauf mit der Kurdin zurückzukehren. Während die letztere mir beim Essen behilflich war, ging die erstere zu Kara und Halef, welcher, wie Schakara mir sagte, seit gestern abend in einem immerwährenden, tiefen und wahrscheinlich wohlthätigen Schlafe gelegen hatte. Hanneh beugte sich über ihn und berührte seine Stirn mit ihren Lippen. Sie schien ihn dadurch aufgeweckt zu haben, denn er begann, sich zu regen. Schakara verließ sofort die Halle, um den Pedehr zu holen, welcher das Verlangen geäußert hatte, bei dem Erwachen des Scheikes gegenwärtig zu sein.
Ich hörte, daß Halef leise vor sich hin sprach. Zu verstehen war aber nichts. Auch hatte er die Augen nicht geöffnet. Da kam der Pedehr. Er beobachtete den Kranken kurze Zeit und winkte dann Hanneh, mit ihm zu reden. Sie that es, indem sie laut einige Worte sprach, die seine Kosenamen waren. Da ging ein Lächeln über sein Angesicht. Er lauschte. Sie wiederholte die Worte und knüpfte an sie die Frage, wie er sich befinde. Da hörte ich seine außerordentlich matte und doch so deutliche Stimme erklingen:
»Hamdulillah – es war – kein Traum –! Mein Leben – ist zu mir – gekommen! Hanneh – Hanneh – und – und – und –«
Er schwieg, um nachzusinnen. Da fuhr Kara an seiner Stelle in dem angefangenen Satze fort:
»Und ich ebenso, mein Vater! Kara Ben Halef, dein Sohn; ich bin auch bei dir!«
»Kara – mein – mein Sohn – der junge Held – der Haddedihn –?«
Er bewegte den Kopf; er kehrte das Gesicht dem Sohne zu, doch ohne die Augen aufzuschlagen. Dann sprach er weiter:
»Auch hier –? Zu mir – gekommen? --- Ich sah ihn schon –! Geritten –?«
»Ja, mein Vater.«
»Auf – auf welchem Pferde?«
»Auf Ghalib, den du mir schenktest, damit er mich lieben und meinen Willen verstehen lerne.«
Da ging ein schneller, energischer Ruck durch Halefs Körper.
»Steig auf!« sagte er.
»Auf Ghalib?« fragte Kara.
»Ja.«
»Jetzt? Hier?«
»Ja –! Der Stamm der Haddedihn – bist du –! Ich will – die Tapfern sehen!«
Dieser Befehl erklang in mattestem Tone und trotzdem so willenskräftig. Kara sah den Pedehr fragend an.
Dieser nahm ihn bei der Hand, um ihn von dem Lager weg und hinaus auf den Vorplatz zu führen. Dabei hörte ich, daß er ihm die Unterweisung gab:
»Der Braune muß so schnell wie möglich gesattelt werden. Du legst alle deine Waffen an und kommst so, wie man sich in den Kampf begiebt, herein und bis zu deinem Vater hingeritten. Das muß so sein! Dein Anblick giebt ihm neue Lebenskraft. Beeile dich, mein Sohn!«
Halef war jetzt still; aber er wartete. Seine zwar nur leisen, aber ungeduldigen Bewegungen verrieten das. Nach einigen Minuten – es waren wohl kaum mehr als fünf – erklang seine Stimme wieder:
»Kara – schnell – schnell –! Ich habe – habe – keine Zeit –!«
Der Ton war so ängstlich, daß Hanneh rasch aufstand und an die nächste Säule trat, um nachzuschauen. Da kam der Pedehr auch schon herein.
»Es eilt!« sagte sie zu ihm.
»Er kommt sofort,« antwortete er. »Sei mutig, und sei still! Dieser Augenblick wird viel entscheiden. Knie hin zu ihm; du wirst ihm nötig sein!«
Sie folgte dieser Aufforderung soeben, als Halef die nur noch mit Mühe hervorgebrachten Worte hören ließ:
»Er – er kommt nicht –! Ich muß – muß gehen!«
Da aber gab es draußen lauten Schlag der Hufe. Treppenstufen zu ersteigen, das war dem edlen Ghalib ungewohnt; er schien sich zu weigern.
»Jallah, kawahm, kawahm – vorwärts, schnell, schnell!« erscholl Kara's aufmunternde Stimme.
Da nahm der Braune mehrere Stufen auf einmal und kam von der letzten aus in einem weiten, ärgerlichen Sprung hereingeflogen, um hart an Halefs Lager angehalten zu werden und dort, wie aus Erz gegossen, still zu stehen. Der junge Haddedihn hatte das Messer und die Pistolen in den Gürtel gesteckt, die kunstvoll ausgelegte Beduinenflinte quer über dem Rücken und die lange, doppelschneidige Lanze in der Hand. Das kraftvoll schöne Bild eines Beduinenkriegers, so sah er blitzenden Auges auf den kranken Vater nieder.
Dieser öffnete die Augen und richtete den Blick zu seinem Sohn empor. Er schien es gar nicht zu bemerken, daß Hanneh ihm die Arme unter Kopf und Schultern schob, um ihn ein wenig aufzurichten.
»Ghalib – der Unbesiegliche –!« sagte er. »Er trägt – die Zukunft – meiner Haddedihn –! Doch die – Vergangenheit --- stirbt nicht – stirbt nicht –! Die bin – bin ich – mit ihm die – Gegenwart –! Ich bleib bei euch – bei euch –! Ich will – ich will –! Kara – Hanneh – mein Leben – kehrt zurück!«
Er hielt den frohen Blick noch einige Zeit auf Kara gerichtet; dann schloß er die Augen. Hanneh bettete ihn wieder bequem in die Kissen. Mir kam es vor, als ob sein Gesicht jetzt einen ganz, ganz andern Ausdruck habe, nicht mehr den leichenhaften wie vorher. Kara stieg vom Pferd und führte es so leise wie möglich hinaus. Hanneh sah den Pedehr ängstlich fragend an. Er nahm sie bei der Hand, zog sie empor und sagte:
»Die Hoffnung ist erwacht! Komm mit! Wir wollen ihm einen stärkenden Trank bereiten. Wenn er ihn zu sich nimmt, so wird er gerettet sein!«
Als sie miteinander fortgegangen waren, kam Kara wieder herein, erst für einige Augenblicke zu mir; dann setzte er sich zu seinem Vater, welcher zwar nicht ganz wach zu sein aber auch nicht zu schlafen schien. Er bewegte bald dieses und bald jenes Glied in einer Weise, welche darauf schließen ließ, daß es nicht unwillkürlich sondern absichtlich geschehe.
Dann kehrte der Pedehr mit Hanneh zurück. Ich vermutete, daß in dem Gefäße, welches sie trug, von demselben ausgepreßten Fleischsaft sei, der auch mich so gestärkt hatte. Er wurde Halef mit Hilfe des Löffels gegeben; er weigerte sich nicht, ihn anzunehmen, und fiel dann sogleich in einen ruhigen Schlaf, von dem der Pedehr sagte, daß er wenigstens bis zum nächsten Morgen dauern werde.
Hanneh und Kara waren unbeschreiblich glücklich hierüber und stellten, als ich mich jetzt wieder wie gestern hinaus in das Freie schaffen lassen wollte, die Bitte an mich, ihnen da draußen zu erzählen, was ich seit unsererTrennung von den Haddedihn mit Halef erlebt hatte. Dagegen aber erhob der Pedehr ganz entschieden Einspruch. Er wies sie auf die Anstrengungen ihres eigenen Rittes hin und machte sie allen Ernstes darauf aufmerksam, daß sie sich jetzt unbedingt ganz gründlich auszuruhen hätten. Halef bedürfe ihrer heut nicht mehr, da sowohl er als auch Schakara in bester Weise für ihn sorgen würden. Sie mußten gehorchen, und so kam es, daß ich dann später ganz allein draußen vor der Halle saß, um dasselbe Schauspiel des Sonnenuntergangs zu genießen, welches mich gestern schon so erhoben hatte.
Wie viele Menschen habe ich schon sagen hören, daß man die Schönheiten der Natur niemals allein sondern stets in Gesellschaft genießen müsse. Ich bin da ganz anderer Meinung. Schon das Wort »genießen« scheint mir da falsch gebraucht zu sein. Ich könnte mit ganz demselben Rechte sagen, daß ich eine Predigt, ein Oratorium, ein Kirchenlied »genießen« wolle. Auf mich wirkt die Natur erhebend, und zugleich veranlaßt sie mich zur Einkehr in mich selbst. Ich bin ein Teil von ihr und kann sie nicht schauen, ohne mit ihr auch mich zu betrachten. Gesellschaft anderer Leute würde mir da nur hinderlich sein. Durch den Wald will ich allein spazieren, außer ich bin gesellschaftlich gezwungen, noch jemand mitzunehmen. Plauderei entheiligt mir die That. Denn ein solcher Gang zum predigenden Walde ist für mich eine That, und zwar nicht bloß eine körperliche, sondern mehr noch eine seelische. Werde ich begleitet, so bringe ich fast nichts mit heim, als nur die Erinnerung an das, was gesprochen worden ist.
Ganz ebenso ist es mit dem Sonnenauf- und mit dem Sonnenuntergang. Jede Bemerkung, jede Interjektion, sei sie auch noch so begeistert, muß, falls ich sie anzuhören habe, die Erhabenheit und Heiligkeit des Augenblickes mindern. Ich habe menschliche Gesellschaft gern, wie ich überhaupt die ganze Menschheit herzlich liebe; aber die Natur will ich in ungestörter Einsamkeit auf mich wirken lassen, und meine schönsten und gewiß auch besten Lebensstunden sind die, in denen ich in stiller Nacht und ohne einen Plauderer neben mir dem ewig frommen und ewig treuen Sternenhimmel in seine leuchtend hellen Augen sehe.
So auch heut, wo ich allein und von höflicher Rücksicht frei vor der Halle des »hohen Hauses« saß. Ich kenne ein Bild, »Die Genesende« unterzeichnet. Eine weibliche Gestalt sitzt bleichen Angesichtes in hochgelegener, offener Laube, von welcher aus einer der herrlichsten Punkte des Rheintales zu überschauen ist. Soeben dem Tode entronnen, hat sie das Krankenzimmer mit dieser freien, vom Blumendufte umwehten Stelle vertauscht, um neues, sonniges Leben einzuatmen. Sie nimmt es mit einem stillen, milden, unendlich dankbaren Lächeln entgegen; aber die großen, ernsten Augen sind nicht hinunter auf die glitzernden Fluten des Stromes oder die grünenden Rebenhänge, sondern weit, weit hinaus in die grenzenlose Ferne gerichtet, die selbst den Horizont unter sich nur als trügerische Vorspiegelung des Menschenauges kennt. Es ist, als ob diese Augen, welche nur Unbegrenztes schauen, noch immer nach der unsichtbaren Pforte jener Geheimnisse suchten, deren Schlüssel in der verschwiegenen Erde des Friedhofes vergraben liegt. Die Seele, welche sich von dem Körper trennen wollte, hat die Verbindung mit ihm noch nicht vollständig wieder hergestellt. Sie zieht den Blick hinaus, dorthin, wohin sie heimwärts gehen wollte, dem Taucher gleich, der nach vollbrachtem Tagewerke sich von der schweren, unbehilflichen Rüstung trennt und sie am Strande liegen läßt, um, wonnig atmend, wieder frei zu sein. –
An dieses Bild dachte ich am heutigen Abend, was leicht erklärlich war. Auch ich stand im Genesen und fühlte jenen weichen, tief empfänglichen Ernst in mir, dem es ein Bedürfnis ist, über den Horizont der Endlichkeit hinauszuschreiten. Dort, jenseits dieser Grenze, giebt es dann ebenen Weg; die Zeit der Schlagbäume ist überstanden, und kein niederes Interesse kann den Blick von jenen Höhen lenken, in denen nicht einmal die Sterne mehr die Namen tragen, die ihnen von den Menschen gegeben worden sind. Sie wandeln groß und erhaben über uns, und wer ihnen mit dem Herzen, nicht mit dem Rohre folgt, dem offenbaren sie viel mehr, viel mehr, als man durch dieses Rohr über sie erfahren kann. Keine noch so kunstvoll gearbeitete teleskopische Linse wird jemals an Schärfe das Auge der Seele erreichen!
Während ich mich bis fast Mitternacht im Freien befand, saß Schakara bei Halef. Der Pedehr war bei dem Ustad, in dessen Wohnung heut eine wichtige Beratung stattfand, welche nicht in der Halle abgehalten werden konnte, weil diese ja uns überlassen worden war. Der Scheik der Dschamikun kam grad, als ich mich wieder hinein nach meinem Lager bringen ließ. Er teilte mir mit, worüber verhandelt worden war.
»Wir haben über das beabsichtigte ›Fest der fünfzig Jahre‹ gesprochen,« sagte er.
Ein persisches Fest dieses Namens war mir nicht bekannt. Darum sah ich ihn fragend an.
»Hat dir noch niemand etwas hiervon gesagt? erkundigte er sich.
»Nein.«
»Auch Schakara nicht?«
»Nein.«
»Sie hätte gewiß sehr gern davon gesprochen, denn dieses Fest beschäftigt uns alle schon seit längerer Zeit; wahrscheinlich aber ist ihre Meinung gewesen, auch in diesem Punkte gehorsam sein zu müssen. Der Ustad hat nämlich befohlen, euch nicht mit fremden, also auch nicht mit unsern Angelegenheiten zu behelligen. Ihr mußtet unberührt von jeder innern Störung bleiben. Deine Genesung aber, Effendi, ist so weit vorgeschritten, daß ich nun unbedenklich zu dir von diesem Feste sprechen kann. Es gab einen Kampf zwischen dem Ustad und uns, der ein Kampf der Liebe war. Unser Herr wünschte nicht, daß dieses Fest gefeiert werde. Heut abend aber haben wir ihm die Erlaubnis durch unsere vereinten Bitten abgerungen. In zwei Wochen nämlich werden es fünfzig Jahre, daß er zum erstenmal in ein Zelt unseres Stammes trat, und die Dankbarkeit gebietet uns, diesen Tag feierlich zu begehen. Er hat sich bisher ablehnend verhalten; heut aber ließ er sich überzeugen, daß es ein Herzensbedürfnis für uns sei, und hat uns die Genehmigung erteilt – nicht seinet-, sondern unsertwegen, sagte er. Ihr seid zu dieser Zeit noch hier bei uns, ein Umstand, über den wir uns alle freuen –«
»Wird euch diese Freude nicht vielleicht von Hadschi Halef getrübt werden?« fiel ich ein.
»Diese Frage war natürlich von dir zu erwarten. Ich möchte dir gern sagen, was ich denke, befürchte aber, daß du über mich lächeln wirst.«
»Dann bin ich beruhigt! Wenn es nichts Schlimmeres als nur ein Lächeln ist, was du von mir erwartest, mußt du in Beziehung auf ihn wohl gute Hoffnung hegen!«
»Ja, die habe ich. Mein Ausdruck ›Lächeln‹ aber war anders gemeint. Ich bezog ihn nicht auf Halefs Genesung, sondern auf deine Gedanken. Ich habe als sein Arzt Ansichten, welche vielleicht sehr fern von den deinen liegen, das ist es, was ich meinte.«
»Du bist der Hekim; ich aber bin der Laie. Wie könnte es mir beikommen, über dich zu lächeln!«
»Und doch! Denn was ich dir sage, wird nicht die Ansicht allein des Hekim sein. Ich habe es mit einem schwerkranken Menschen zu thun. Wer und was ist das Wesen dieses Menschen? In welcher Beziehung stehen seine Teile zueinander? Das muß ich wissen, wenn ich ihn richtig behandeln soll. Ich vermute aber, daß du über diese Fragen ganz anderer Meinung bist als ich.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Keinesfalls aber werde ich für deine Gedanken nichts anderes als ein Lächeln haben. Ich bitte dich, sie auszusprechen!«
»So höre!«
Er sprach zwar diese beiden Worte, doch ließ er mich zunächst nichts weiter als nur sie hören. Er hatte sich an meinem Lager niedergesetzt, das Gesicht mir voll zugewendet. Jetzt hob er den Kopf und schaute in das stille, bescheidene Licht der Kerzen, welche in der Nische brannten. Es war, als ob er durch dieses Emporblicken ein ganz anderes Gesicht bekommen habe. Wie rein, wie edel erschienen mir die Linien desselben, die bei unserm ersten Zusammentreffen von häßlichem Schmutz bedeckt gewesen waren! Die Kerzen sandten ihm ihre Flämmchen als winzig kleine und doch fast strahlend helle Punkte in die schönen Augen. Das lange, graue Haar gab einen ganz eigenartigen, lebendig wallenden Rahmen zu diesem Bilde. Da kam eine Erinnerung über mich. Ich sah mich im Atelier eines Freundes. Er arbeitete an einer Darstellung aus der Offenbarung Johannis. Ich sah die Studienblätter durch. Eines von ihnen fesselte mich ganz besonders. Unter einem eingefallenen, nach oben offenen Mauerbogen saß der Seher und schaute himmelan, nach einer Oeffnung in den dunklen Wolken, aus welcher eine Fülle jenseitigen Lichtes auf ihn niederstrahlte. Darunter war zu lesen: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, und das Meer ist nicht mehr.« Das mit diesen Worten wunderbar harmonierende Gesicht des Inspirierten hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht; es war mir lange, lange geistig gegenwärtig geblieben, bis neue Regungen es in Vergessenheit hatten geraten lassen. Und nun sah ich es plötzlich wieder, in mir und auch außer mir. Denn die Züge des Pedehr glichen in diesem Augenblicke fast ganz genau denen jener Studie, und es war gewiß nicht zu verwundern, daß sie auch dieselbe Wirkung auf mich hatten. Es ging etwas durch mein Inneres, was mich begreifen ließ, daß man unter den Trümmern des Veralteten sitzen könne, um den Blick empor zum Neuen, wirklich Wahren zu erheben.
Grad so, als ob dieser mein Gedanke für ihn laut und vernehmlich geworden sei, wendete sich jetzt der Pedehr mir wieder zu und sagte:
»Es ist für dich wohl ein Neues, was ich dir mitteilen werde. Ich bitte dich, mir meine Frage zu beantworten: Weißt du, was Geist ist?«
»Nein.«
»Weißt du, was Seele ist?«
»Meinst du, daß beides das gleiche sei?«
»Nein.«
»Weißt du, was Körper ist?«
»Auch nicht.«
Da ging ein so liebes, kluges Lächeln des Einverständnisses über sein Gesicht, und er sprach:
»Ich würde dir das Lob deiner Bescheidenheit nicht versagen, aber du hast es nicht verdient. Du erwartest, von mir zu hören, was du mir nicht sagen willst. Und weil dir die Wahrheit dessen, was du mir sagen könntest, als nicht ganz zweifellos erscheint, so ziehest du vor, diese Zweifel nicht an deine, sondern lieber an meine Worte legen zu können. Du sollst deinen Willen haben. Wer Schonung bietet, der darf wohl selbst auch auf sie rechnen.«
Wie das so klang! Saß da wirklich nur ein ungebildeter Dschamiki vor mir? Zwar der Scheik des Stammes, aber doch ein Mann, der in Beziehung auf seinen äußern und auch innern Werdegang allen andern Dschamikun gleichzurechnen war? Wenn seine geistige Persönlichkeit bedeutend höher stand, als man nach seiner Lebensstellung schließen durfte, so konnte das nur eine Folge seines langjährigen Verkehres mit dem Ustad sein. Hatte ich aber dieses angenommen, so trat sogleich die weitere Frage an mich heran, in welcher Weise und auf welchem Wege wohl dieser letztere zu einer so hohen Entwickelung seiner Individualität gelangt sein könne. Dieser mein Gedankengang wurde durch den Pedehr unterbrochen, welcher weiter sprach:
»Hast du Geist, Sihdi?«
»Ich hoffe es,« antwortete ich.
»Nein, hoffe es nicht! Du hast zwar dieses Phantom, aber eigentlich hat es dich: du bist sein Sklave! Hast du Seele?«
»Meinst du eine Seele oder Seele überhaupt?«
»Sei nicht der spitzfindige, gelehrte Europäer, sondern antworte mir. Hast du Seele?«
»Ja.«
»Nein, sondern auch sie hat dich; aber sie ist kein Phantom, sondern eine erhabene, göttliche Wahrheit, der wir unser Anrecht auf die Seligkeit verdanken. Das sagt ein halbwilder Asiat dem von der Weisheit dieser Welt erzogenen Abendländer. Ob letzterer es glauben wird, das ist wohl sehr die Frage. Der Osten hat den Westen schon so manches gelehrt, was entweder nicht geglaubt oder nicht verstanden worden ist. Und nun der Orient dieser vergeblichen Belehrung müd geworden ist, behauptet man, daß er alt und schwach geworden sei. Doch, ich wollte ja nicht vom Ilmi ahwali nefs, sondern nur als Hekim von der Krankheit unseres Hadschi Halef zu dir sprechen. Ueber die Seele magst du mit dem Ustad reden, der von ihr wohl noch mehr weiß, als was in seinen Büchern steht.«
»Bücher?« fragte ich. »Er hat Bücher?«
Da schaute mich der Pedehr mit einem Blicke an, der mir die Röte in die Wangen trieb, und antwortete:
»Ob – er – Bücher – hat –! Er besitzt sogar vier große, große Bibliotheken! Die erste besteht im Kitab el mukkades; die zweite ist sein Herz, in welchem tausend herrliche Suren stehen; die dritte umfaßt alles, was die Schöpfung seinem Auge lehrt, und die vierte wirst du sehen, wenn du so weit genesen bist, daß du die Treppe emporsteigen kannst, um ihn in seiner Wohnung aufzusuchen. Da wirst du viele, viele Bände finden, die in Sprachen geschrieben sind, von denen ich ein Wort weder lesen noch verstehen kann. Wenn ich ihn nach dem Inhalte frage, so antwortet er, daß die ganze Summe alles dessen, was geschrieben ist, nichts anderes als der Ausruf sei, den die Pilger ausstoßen, wenn sie nach langer, mühsamer Wanderung endlich Mekka liegen sehen: ›Hier bin ich, o mein Gott!‹ Die noch viel längere und viel schwerere Reise durch diese Bände schließe ganz genau mit denselben Worten ab. Ich habe einen großen Teil meines Lebens da oben bei ihm und seinen Büchern gesessen, um seinen Worten zu lauschen und sie in mir nachklingen zu lassen. Daß ich meinen Stamm durch Kampf und Leid zum Frieden führte, habe ich ihm zu verdanken, und daß man mich als einen guten Hekim kennt, ist auch eines seiner Werke, für welche ihm die Liebe der Dschamikun zu danken hat. Grad die Krankheit, welche auch dich und deinen Halef ergriff, hat früher große und schwere Opfer von uns gefordert. Der Ustad aber hat ihre Macht gebrochen, indem er uns lehrte, wie sie zu behandeln sei. Ahnst du, warum sie so gefährlich sei, gefährlicher als viele, viele andere?«
»Sage es mir!«
»Du weißt es nicht, und eure Aerzte wissen es auch nicht.«
»Ich vermute, der langen Betäubung wegen, die sie mit sich bringt.«
»Du triffst das Richtige. Aber sage mir, was der Grund dieser Betäubung ist!«
»Die Seele zieht sich vom Körper zurück.«
»Ja. Aber warum?«
»Natürlich der Krankheit wegen.«
»Du wandelst im Kreise, Effendi. Und du kennst die Seele nicht. Hast du einmal den Ausdruck ›gute Seele‹ gehört?«
»Ja.«
»Böse Seele?«
»Nein.«
»Jetzt kommt das Neue, was ich dir sagen wollte. Nämlich es giebt keine böse Seele. Die Seele scheut alles Böse, sogar schon alles Häßliche. Das Böse und das Häßliche hat nur darum so große Macht über uns, weil die Seele davon abgestoßen wird. Sie zieht sich zurück; dann stehen wir ohne ihren Schutz allein. Der Mensch soll seine Seele nicht versuchen, sondern alles meiden, was sie, die sich nicht beflecken will, beleidigen muß. Er soll sie ja nicht zwingen, sich von ihm, wenn auch nur für die kürzeste Zeit, zu trennen. Hast du schon einmal gesehen, daß ein Mensch in Ohnmacht fällt?«
»Schon oft.«
»So wirst du wissen, daß der Grund fast stets ein böser oder häßlicher war. Bei bösen Dünsten, bei häßlichen Gerüchen oder gar bei wirklichem Gestank befindet sich der Mensch nicht wohl; er atmet schwer; er kann sogar das Bewußtsein verlieren. Die Seele zieht sich von den Sinnen zurück, welche ihr diese Schmerzen bereiten. Wird dir dein Haus oder Zelt so verunreinigt, daß du es nicht mehr aushalten kannst, so verlässest du es. Nun denke über deine Veilchen und über Halefs Rosen nach!«
»Ah! Ich beginne zu begreifen!«
»Diese Krankheit löst gewisse feine Körperteilchen auf, ohne sie aber ausscheiden zu können. Der Verwesungsprozeß beginnt bei lebendem Leibe. Der Geruch wird dir das bewiesen haben. Ich fürchte dein Lächeln und will dir deshalb und einstweilen nur sagen, daß wir die duftenden Rosen und Veilchen nicht etwa nur darum zu euch gestellt und dein Lager mit ihnen bestreut haben, um unsere Nerven des Geruches zu schonen. Es ist vorzugsweise aus andern und tiefern Gründen geschehen. Bin ich ein guter Hekim, so habe ich mein Augenmerk nicht allein auf den Körper, sondern auch auf die Seele zu richten. Ich muß aus allen Kräften und mit allen Mitteln dahin wirken, daß sie sich nicht gänzlich vom Körper loslöse. Du ahnst nicht, wie oft du während deiner langen Bewußtlosigkeit im reinigenden Wasser gelegen hast. Diese Bäder haben noch ganz andere Gründe als nur die Säuberung des kranken Körpers! Lächelst du?«
»Nein.«
»Es schien mir so! Wenn die Zersetzung des Körpers so weit vorgeschritten ist, daß die Seele die Sinne nicht mehr berühren kann, dann ist der Kranke aufzugeben. Darum setzte ich bei Halef meine Hoffnung darauf, daß er noch werde sehen, hören und sprechen können. Sie hat mich nicht betrogen. Aber die Seele des Leidenden darf nicht bloß können, sondern sie muß auch wollen. Es war ein wunderbar glücklicher Gedanke von dir, zu den Haddedihn zu schicken, daß Kara Ben Halef kommen solle. Und die vortreffliche Wirkung wird dadurch verstärkt, daß er seine Mutter mitgebracht hat. Der Anblick dieser beiden Lieben hat die Seele gezwungen, mit dem Körper verbunden bleiben zu wollen. Denn glaube mir, der Leib hat keine Macht, die Seele zu halten, wenn sie sich nicht halten lassen will oder halten lassen darf! Gelingt es dem Arzte, dieses seelische Wollen zur Energie zu steigern, so kann er doppelt frohe Hoffnung hegen. Halef kam mir da mit seinem Wunsche entgegen, seinen Sohn zu Pferde und als Krieger sehen zu wollen, und du weißt, wie gern und schnell ich hierauf eingegangen bin. Ich glaube nun, daß er gerettet ist.«
»Ja.«
»Wie gern möchte ich hören, daß du überzeugt seist!«
»Warte bis morgen!«
»Giebt es da eine Entscheidung?«
»Wahrscheinlich. Halef ist doch, wie ich gesehen habe, ein ausgezeichneter Reiter?«
»Nicht nur das. Er ist mit ganzer Seele bei allem, was das Pferd betrifft.«
»Mit ganzer Seele! Das ist das, was ich wünsche, denn diese seine Seele ist dadurch zu fassen. Ich denke dabei an den Wettritt zwischen euch beiden und uns. Du wirst dabei bemerkt haben, daß ich wahrscheinlich ein guter Scheik oder Hekim, aber kein tadelloser Reiter bin. Der innige Umgang mit dem Ustad hat mir nicht erlaubt, in der notwendigen, immerwährenden Uebung zu bleiben. Wäre das nicht, so hätte ich die Stute besser geritten und wäre von dir wenigstens nicht so schnell eingeholt worden. Ich erinnere mich, daß Halefs Augen leuchteten. Liebt er solche Anstrengungen der Pferde?«
»Ein Wettreiten auf edlen Rossen geht ihm über alles!«
»Wohl! Es wird bei dem geplanten Feste ein solcher Ritt stattfinden –«
»Das ist ja in zwei Wochen schon!« unterbrach ich ihn. »Ich befürchte, daß er da noch zu schwach ist.«
»Allerdings. Er soll auch nicht etwa mitreiten. Aber schon das Wort, der Gedanke wird von guter Wirkung auf ihn sein. Ich vermute, daß er morgen nicht nur für einige kurze Minuten erwacht. Finde ich, daß ich es wagen darf, so werde ich ihm über diesen Wettritt eine Bemerkung machen. Wirkt sie so, wie ich erwarte, so wird das geschehen, was du vorhin wünschtest: Mein Glaube, meine Vermutung wird sich in Ueberzeugung verwandeln. Aber freilich, kein Mensch und also auch kein Hekim ist allwissend. Wo wäre ein Sterblicher, der zu sagen vermöchte, was schon im nächsten Augenblicke mit ihm geschehen kann. Aber nach menschlichem Ermessen bist du gerettet, Effendi, und ich hoffe, von dem Hadschi morgen dasselbe sagen zu dürfen.«
»Das, o Pedehr, haben wir nur euch zu verdanken, eurer Nächstenliebe und der aufopfernden Pflege, welche –«
»Still, still!« unterbrach er mich. »Sprechen wir lieber von dem Geschenk, welches ich dir morgen zu machen gedenke!«
»Ein Geschenk? Auch noch?«
»Ja.«
»Darf ich schon heut erfahren, was es ist?«
»Ja. Denn ich meine, daß man eine Freude nie zu früh bereiten könne.«
»Nun, so sage es! Was ist es?«
»Rate einmal, Sihdi!«
»Unmöglich! Es giebt so vieles, womit du mich in deiner Güte erfreuen und stützen könntest.«
»Stützen, stützen! Das ist es ja! Du hast es fast erraten!«
»Also stützen? Etwa ein Stock?«
»Ja. Ein Stock. Du sollst morgen versuchen, zum erstenmal wieder aufrecht zu gehen. Und wenn es nur einige Schritte sind, so wird es dich doch stärken.«
»Stärken! Jetzt bist nun du es, der das richtige Wort getroffen hat. Stärken! Daß ich daran denken darf, morgen diesen Versuch zu unternehmen, das läßt schon jetzt mich fühlen, daß es mir gelingen wird. Wie doch schon im Gedanken eine so große Wirkung liegt.«
»So schlafe dich recht aus! Es ist schon spät geworden. Chodeh behüte dich!«
Er ging, und ich that, was er gesagt hatte: Ich schlief tief bis in den nächsten Vormittag hinein.
Als ich erwachte, sah ich Hanneh und Kara bei Halef sitzen. Eben kam Schakara vom Vorplatze herein. Sie sah meine Augen offen, nickte mir still zu und glitt wortlos hinaus, um mir meinen Morgentrank zu holen. Da sie ihn mir brachte, wurden die beiden andern auf mich aufmerksam und kamen zu mir herbei. Ich hörte von ihnen, daß Halef zwar noch schlafe, aber sich zuweilen leise bewege. Der Pedehr hatte angeordnet, sofort zu ihm zu schicken, sobald der Kranke die ersten Zeichen gebe, daß er wieder bei sich sei.
»Wieder bei sich sei!« Diese Worte ließen mich an meine gestrige Unterhaltung mit dem Genannten denken. »Wieder bei sich!« Wer ist dieser »Sich«? Dieser »Er« oder diese »Sie«? Dieses Wesen, diese Persönlichkeit?
Nach der Ansicht des Pedehr ist es die Seele. Der »Geist« ist ihm Phantom. Er kennt am Menschen nur den Körper und die Seele. Die letztere ist das eigentliche Wesen. Was nun aber ist der Leib? Die Seele kann sich von ihm trennen. Unter gewissen Umständen wird aus diesem Können ein Wollen, welches sich sogar – jedenfalls beim Sterben – zum unbedingten Müssen steigert. Ist sie die Herrin und der Leib der Diener? Oder ist dieses Verhältnis für ihn vielleicht ein noch viel niedrigeres? Gleicht er einer, allerdings aus Organen zusammengesetzten, Maschine, welche im Schlafe zu ruhen hat, während sie zu dieser Zeit heimkehrt, um für den morgenden Tag neue Aufgaben und neue Kräfte zu empfangen? Bleibt sie auch während dieses seines Schlafes und während dieser ihrer Abwesenheit durch geheimnisvolle Fäden oder Beziehungen so mit ihm verbunden, daß sie bei jeder Störung zu seinem Schutz zurückgerufen wird? Und wenn es so ist, wo liegt das Heim, zu dem sie einst am Grabe völlig Rückkehr feiert? Im Leibe keinesfalls! Die chemisch-mechanische Thätigkeit gewisser Organe in ihm wird selbst durch die tiefste Ohnmacht nicht beendet, denn diese Kräfte wirken unaufhörlich weiter, bis der dazu nötige Stoff vollständig aufgezehrt worden ist. Aber das willkürliche Leben ist unterbrochen, und alle ihm zugehörigen Bewegungen sind eingestellt, bis sie, die Herrin, wiederkehrt, um den »entseelten« Körper aufs neue zu »beseelen«.
Was gestern vom Pedehr hierüber gesagt worden war, das hatte so einfach, so naiv geklungen. Natürlich hatte er unrecht, er, der geistig arme Mann im unkultivierten Kurdenlande! Mit welch einem unendlich zusammengesetzten und ebenso imponierenden Apparate behandelt dagegen unsere gelehrte Psychologie dieses »Seele« genannte, mit hundert Armen und Beinen zappelnde Gliedertier! Natürlich hat sie recht, diese auf allen Akademien gepflegte und von allen seelenvollen Menschen anerkannte Wissenschaft! Und Geist? Ein Phantom? Ist es nicht grad der Geist, dem wir diese tiefeingehende, beglückende Wissenschaft über die Seele verdanken? Ist nicht er es, der uns mit dem Animismus, dem Okkultismus, dem Spiritismus, der Pneumatologie und ähnlichen übersinnlichen Geschenken gesegnet hat? Und dieser Geist, der die Menschen sogar Geister sehen und mit Geistern sprechen läßt, soll ein Phantom sein? Pedehr, Pedehr, du bist ein lieber, guter Mensch, bist mein und Halefs Retter, ragst seelisch über Tausende empor, doch muß ich dir es sagen: Du hast nicht eine einzige Spur von Geist! –
Man kann sich denken, daß ich an den Stock dachte, der mir für heut versprochen worden war. Die liebe Ungeduld verleitete mich zu der Bitte an Schakara, ihn mir doch recht bald zu bringen. Sie versprach es lächelnd, that es aber nicht, wenigstens nicht gleich.
Es mochte gegen Mittag sein, als Halef die ersten Zeichen gab, daß er erwache. Kara eilte sofort aus der Halle, um den Pedehr zu holen. Als dieser kam, hatte er den Stock in der Hand; er gab ihn mir.
»Ich halte mein Versprechen,« sagte er, »doch warte noch ein wenig. Ich werde dich hinab zu Assil tragen lassen. Dort wirst du im Schatten der Platanen bis zum Abend ungestört sein und dich wohlbefinden.«
Kaum hatte er das gesagt, so ließ sich Halefs Stimme hören:
»Kara, mein Sohn!«
»Hier, mein Vater,« antwortete der Gerufene, der neben dem Pedehr gestanden hatte und nun hin zu dem Hadschi eilte.
»Ich sah dich auf dem Ghalib. Weißt du, wann das war?«
»Gestern war's.«
»Wo?«
»Hier.«
»Hier? Wo ist das?«
»In dieser Halle.«
»Halle? Warte! Ich will sie sehen!«
Er kehrte seinem Sohne langsam das Gesicht zu und öffnete die Augen. Ihr Blick ging, soweit er reichen konnte, von Person zu Person, von Stelle zu Stelle. Als er mich in meiner Ecke sah, fragte er:
»Wer liegt dort? Ist das nicht mein Sihdi?«
»Ja, ich bin es, mein Halef,« antwortete ich.
»O, Sihdi, Sihdi, ich besinne mich. – Ich war sehr krank. – Ich bin es noch. – Ich starb bereits. – Da rief man mich zurück. – Ich hab sehr viel gesehen. – Doch weiß ich es nicht mehr. – Vielleicht fällt es mir wieder ein. – Ich will nicht sterben. – Ob ich wohl noch leben bleibe?«
Er sprach nur in kurzen Sätzen, leise, aber hörbar. Nach jedem Satze sammelte er sich und holte tief Atem. Als eine Weile vergangen war, bat er:
»Hanneh – Kara – steht auf! – Ich will euch ganz sehen. – Ich liebe euch!«
Sie thaten nach seinem Willen. Da begann sein Auge, sich mehr zu beleben.
»Mein Weib! Wie danke ich dir! – Mein Sohn! Wie schön warst du auf deinem Pferde! – War Ghalib sehr ermüdet?«
»Nur ein einziges Mal,« antwortete Kara.
»Hast du für ihn gesorgt?«
»Ja.«
»Für Barkh auch?«
»Ja, mein Vater.«
»Wenn ich sie sehen könnte!«
Im Nu eilten Hanneh und Kara hinaus, um die Pferde zu holen. Als sie die beiden brachten, kam Assil aus eigener Machtvollkommenheit hinterher gelaufen. Er wußte, wo ich lag, und wendete sich zu mir. Die zwei andern wurden hin zu Halef geführt. Dieser bekam plötzlich Kraft, den Arm erheben zu können.
»Barkh, mein Liebling! – Komm her zu mir!« sagte er, indem er die Hand nach dem Rappen ausstreckte.
Dieser trat ganz zu ihm heran, spielte mit den Ohren und nahm die dargebotene Hand in die Lippen.
»Mein Guter! – Mein Treuer! – Du hast dich nach mir gesehnt! – Ich sehe es dir an!« klagte der Kranke. »Er hat gehungert! – Wie ist's damit? – Sag es mir, o Pedehr!«
»Es ist so, wie du sagst,« antwortete der Gefragte. »Wenn sie auch nicht gehungert haben, so konnte Schakara sie doch oft nur dadurch zum Fressen bringen, daß sie ihnen ihr grünes Lieblingsfutter gab.«
»Wenn ich gesund bin – wird Barkh wieder fressen – wie vorher. – Aber ob ich nicht – doch sterben werde?!«
»Du wirst leben bleiben!«
»Glaubst du das?«
»Ja.«
»Wirklich?«
»Gewiß! Du wirst von heut an so schnell genesen, daß du wahrscheinlich schon bei unserm großen Wettrennen zugegen sein kannst.«
»Wettrennen?« fiel Halef rasch und hörbar kräftig ein. »Giebt es ein Rennen?«
»Ja.«
»Wo?«
»Hier. Rund um den See.«
»Wann?«
»In zwei Wochen.«
»So ein kleiner Ritt? – Ganz gewöhnlich und gelegentlich?«
»O nein! Es wird ein großes Fest bei uns gefeiert, zu welchem Tausende von Menschen herbeiströmen werden. Es dauert mehrere Tage, und wir werden vieles thun, die Gäste zu unterhalten. Das Hauptstück wird ein Wettrennen sein, welches aus mehreren Abteilungen besteht.«
»Groß? – Mehrere? – Hanneh, Hanneh! – Gieb mir deinen Arm! – Richte mich auf! – Das muß ich weiterhören! – Alles, alles will ich hören!«
Es hatte sich seiner eine Energie bemächtigt, die man vorher für vollständig unmöglich gehalten hätte. Sein Gesicht, sein Blick, seine Stimme, alles, alles war im Handumdrehen anders geworden. Es schien, als ob ganz plötzlich die volle Lebenskraft durch seine Adern pulsiere.
»Reg dich nicht auf! Schone dich!« warnte der Pedehr.
»Aufregen? Schonen?« antwortete er. »Ich spreche doch bloß! Ich strenge mich ja gar nicht an!«
Er machte jetzt zwischen den Sätzen nicht mehr, wie vorher, eine Pause, um Atem zu suchen.
»Sag, was für Pferde werden laufen?« erkundigte er sich.
»Es werden nicht bloß Pferde sein. Wir lassen alle Arten der Tiere laufen, die es bei uns giebt, Schafe, Ziegen, Esel, Maultiere, Lastkamele, Reitkamele, gewöhnliche Pferde, und zum Schlusse wird es mehrere Rennen zwischen Tieren edelster Rasse geben.«
»Wem gehören sie?«
»Das weiß ich noch nicht. Jeder Gast darf sich beteiligen, und es werden viele kommen, welche gute Renner besitzen.«
»Allah, wallah, tallah! Darf ich mich mit melden?«
»Du?«
»Ja, ich!«
»Verzeihe mir, o Scheik der Haddedihn! Eure drei Pferde werden wahrscheinlich die besten sein, und ich bin sehr überzeugt, daß du rasch gesunden wirst; aber die zum Reiten nötige Stärke wirst du in zwei Wochen doch noch nicht besitzen!«
»Wer hat das gesagt? Wer wagt es, das zu behaupten?«
»Allah verderbe alle Hekims, die es – Nein, Allah verzeihe mir! Ich will nie wieder solche böse Worte sprechen!«
Hanneh hatte ihn durch Kissen so gestützt, daß er mit dem Oberkörper halb aufrecht lag. Er machte einen geradezu mehr als bloß Hoffnung erweckenden Eindruck. Der Pedehr aber ließ ihn keinen Augenblick aus dem Auge. Wenn er sich auch nichts merken ließ, so war es für ihn doch selbstverständlich, daß auf die jetzige An- oder vielmehr Aufregung die unausbleibliche Abspannung folgen werde.
»Wird mein Sihdi in zwei Wochen wieder hergestellt sein?« erkundigte sich Halef.
»Ja; aber wettrennen darf er mir noch nicht!«
»Du bist grausam. Aber Kara, meinem Sohne, wirst du es nicht verbieten? Er ist nicht krank.«
»Ich wünsche sogar, daß er sich beteilige.«
»In drei Rennen? Mit jedem unserer Pferde einmal?«
»Wenn du es wünschest, gern!«
»Oh, wüßte ich doch schon jetzt, was für Renner zu besiegen sein werden!«
»Ich kann dir sagen, daß es feine Perser, vorzügliche Turkmenen und echte Araber geben wird.«
»Das ist für heut genug. Kara, mein Sohn, du wirst von jetzt an mit jedem unserer Pferde täglich einen Eilritt unternehmen! Ueberwache sie beim Füttern und beim Tränken! Laß sie – laß sie bis zur – zur Schnelligkeit der Geheimnisse gehen – aber zwinge sie – ja zu dieser nicht –!«
Er begann jetzt wieder, Pausen zu machen. Seine Stimme wurde matter.
»Hanneh, laß mich wieder nieder!« bat er.
Sie nahm die stützenden Kissen weg. Nun lag er wieder wie vorher. Da fuhr er langsamer und leiser fort:
»Ghalib wird siegen – ganz gewiß! – Barkh überholt jedes – jedes andere Pferd! – Assil Ben Rih aber wird – sie alle mit Leichtigkeit – mit Wonne in ihre – in ihre Schande rennen! Mit dem reinen – echten Blut der Haddedihn – ist kein anderes – kein anderes zu vergleichen –!«
Er schloß die Augen. Alle waren still. Nach einiger Zeit hörte ich ihn wie befehlend sagen:
»Kara – Kara, der Bügel – ist zu scharf –!«
Der Pedehr nickte befriedigt vor sich hin. Was er dann leise zu Hanneh und ihrem Sohn sagte, konnte ich nicht mehr verstehen. Dann aber kam er her zu mir und sagte:
»Ich fürchtete entweder die Gleichgültigkeit oder eine größere Aufregung. Nun bin ich doch zufrieden!«
»Und deine Hoffnung –?« fragte ich.
»Ist zur Gewißheit geworden. Wenn keine unvorherzusehende Störung kommt, wird er gerettet sein. Das Rennen wird ihn beschäftigen, auch wenn er zu schlafen scheint. Ja, es wird ihn vielleicht sogar bis in den Traum begleiten. Er wird, wie du gestern sagtest, ›mit seiner ganzen Seele‹ ununterbrochen bei diesem Rennen sein und sich an diesem Gedanken zum neuen Leben stärken. Dich aber werde ich jetzt hinunter zu den Platanen tragen lassen. Dort magst du den Stock versuchen, bis er dir später nicht mehr nötig ist.«
Er ging, und gleich hierauf kamen drei Dschamikun, welche mich hinausbringen sollten. Sie trieben zunächst Assil hinaus, was Kara Veranlassung gab, auch Barkh und Ghalib wegzuführen. Hierbei war das laute Geräusch der Hufe nicht zu vermeiden. Halef bewegte sich. Grad als man mich vom Lager hob, öffnete er die Augen.
»Komm her zu mir, Sihdi –!« sagte er, »du sollst – etwas hören – etwas sehr – sehr Wichtiges –!«
Man setzte mich bei ihm nieder.
»Gieb mir deine Hand!« bat er.
Ich ergriff die seinige. Er sah mir mit seiner alten Innigkeit in die Augen und fuhr mit leiser Stimme fort:
»Sihdi – wie denkst du – über das Sterben?«
»Ich denke überhaupt nicht mehr daran,« antwortete ich.
»Ich auch nicht! – Das alte – alte Weib – ohne Zähne –! Weißt du –? Sie ist fort –! Sie wollte – mich zwingen – zum Sterben –! Da erfuhr ich – daß auch dieses Sterben – eine große, große Lüge ist – so groß – wie es gar keine – keine zweite giebt! – Sihdi, leg dein Ohr – an meinen Mund –!«
Ich folgte dieser Aufforderung, da flüsterte er mir zu:
»So lange ich lebte – steckte ich im Tabuth – das ist der Leib –! Ich sollte – sollte, nein – ich wollte – wollte, nein – ich durfte – durfte auferstehen! – Da rief jemand – im Sarg meinen ganzen – ganzen Namen! – Das hielt mich in – in ihm – von neuem in ihm fest! – Ich war – war nicht allein –! Es standen – standen – ich sah – Sihdi, ich kann – mich nicht besinnen! Es fällt mir – schon noch wieder ein – dann sage – sage ich es dir!«
Ich behielt seine Hand in der meinen, während er hierauf längere Zeit ohne Wort und Bewegung lag. Plötzlich zuckte er zusammen und rief mit erhobener Stimme aus:
»Sihdi, es giebt ein großes Rennen –! Ich muß essen – muß trinken – muß stark werden –! Assil – mein Barkh – und Ghalib, der Ueberwinder –! Ich bin froh – daß ich lebe –! Wir werden siegen – siegen – siegen –! Hamdulillah – Hamdulillah – Hamdulillah!«---