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Der für den Kampf bestimmte Platz war die weite, sandige Strecke, über weiche wir gestern abend mit dem Münedschi von Ben Nur geführt worden waren. Wir gingen hinaus und zeichneten unsere Stellung und diejenige unserer Gegner mit Strichen in den feinkörnigen Boden; Halef wollte ihr die Richtung nach Norden und nach Süden geben; ich schlug die beiden andern Himmelsgegenden vor und erklärte ihm, daß derjenige Duellant im Vorteile sei, weicher die Sonne im Rücken habe, während sie den mit dem Gesicht ihr Zugekehrten blende. Wir beschlossen also, den östlichen Teil des gezeichneten Kreises einzunehmen. Es war das einer der erwähnten »Kniffe«, welche nicht als Unredlichkeiten gelten, obgleich man dabei ein Überlisten des Gegners im Auge hat. Daß wir uns darüber kein Gewissen zu machen brauchten, zeigte sich, als der Bote der Beni Khalid kam; denn aus dem, was er uns zu sagen hatte, erfuhren wir, daß sie sich einer wenigstens ebenso großen Pfiffigkeit befleißigten wie wir. Halef, als unser Scheik und Anführer, ließ ihn zu sich kommen und fragte ihn nach seinem Auftrage. Er erhielt die Antwort:
»Tawil Ben Schahid, der Scheik der tapfern Beni Khalid, läßt dir sagen, daß geschossen, gerungen und mit dem Speer geworfen wird!«
»Wird? Wird! Das klingt ja so abgerissen und befehlshaberisch, als ob wir es nur so hinzunehmen hätten, wie es ihm beliebt!«
»So meint er es auch!« betonte der Bote.
»Ah?!«
»Ja. Er sagte, nur er allein habe die Waffen zu bestimmen, und ihr hättet nicht die Erlaubnis, Einwendungen dagegen zu machen!«
»So! Die Wahrheit aber ist, daß ich ihm erlaubt habe, diese Bestimmung zu treffen, und so konnte er mir seinen Entschluß wohl in etwas höflicherer Weise mitteilen lassen. Also geschossen soll werden?«
»Ja; das ist der erste Gang.«
»Womit?«
»Mit Flinten natürlich! Das ist doch selbstverständlich; warum fragst du also?« »Mann, vergiß nicht, daß du vor Hadschi Halef stehst, dem obersten Scheik der Haddedihn! Wenn du nicht weißt, in weichem Tone du zu mir zu reden hast, kannst du unverrichteter Sache wieder gehen, und wir behalten, was wir haben! Ich habe mit Tawil Ben Schahid beschworen, daß nicht beleidigend gesprochen werden darf. Das bezieht sich nicht bloß auf die Wahl der Worte, sondern auch auf die Art und Weise, wie du mit mir redest. Merke dir das! Du hast dich mit deiner übel angebrachten Frage nur selbst blamiert, denn du scheinst noch gar nicht zu wissen, daß es außer den Flinten noch andere Waffen gibt, mit denen geschossen werden kann! Hat er die Entfernung bestimmt?«
»Sechzig Schritte und jeder drei Schüsse.«
»So sehr weit? Wer soll da sicher treffen können!«
Sein Gesicht zeigte Enttäuschung und Besorgnis; im Innern aber war er höchst befriedigt, denn sein und auch Karas Gewehr waren jeder Beduinenflinte weit überlegen; ich hatte sie ihnen als Geschenke mitgebracht.
»Soll mit Hurduk oder mit Rusahs geschossen werden?« fuhr er vorsichtig fort.
»Natürlich nur mit Rusahs!«
»Ich stimme bei. Doch sag deinem Scheik, daß die Kugeln vor dem Laden vorgezeigt werden müssen, damit nicht aus Versehen Hurduk genommen wird. Und sodann soll auch gerungen werden?«
»Ja, mit nacktem Oberkörper und einem Messer am Gürtel.«
»Wozu das Messer? Das braucht man doch beim Ringen nicht!«
»Weil es einen Ringkampf auf Tod und Leben sein soll. Sobald einer den andern platt auf den Boden gebracht hat, besitzt er das Recht, ihn mit dem Messer zu erstechen.«
»Also platt auf den Boden! Eher nicht?«
»Nein.«
»Ihr scheint einen bedeutenden Ringer unter euch zu haben?«
»Ja«, lächelte der Ben Khalid unbescheiden. »Unser Ubu el Khuda wird von keinem Menschen besiegt! Das hörst du auch dem Namen an, den wir ihm deshalb gegeben haben.«
»Ist die Zeit bestimmt worden, wie lange das Ringen zu dauern hat?«
»Natürlich bis der eine erstochen worden und der andere Sieger ist.«
»Wieder natürlich! Bei dir scheint alles natürlich zu sein!«
»Wahrscheinlich hältst du es auch für natürlich, daß unsere drei Krieger von den eurigen in kürzester Zeit und mit der größten Leichtigkeit abgeschlachtet werden! Und auch mit Speeren soll geworfen werden. Meinst du da die lange Lanze oder den kurzen Dscherid?«
»Den Dscherid natürlich!«
»Schon wieder natürlich! Du bist wirklich ein vollständiger Abu el Malumat! Es sind doch jedenfalls auch Bedingungen dabei?«
»Natür– – –« er hielt dieses Mal mitten im Worte inne und verbesserte sich dann: »Ja, ich habe sie dir mitzuteilen. Die Entfernung ist fünfundzwanzig Schritte. Jeder bekommt drei Speere.«
»Wenn nun aber diese sechs geworfen sind, ohne daß einer getroffen hat, was dann? Da wird wohl von neuem begonnen?«
»O nein!« lächelte der Bote.
»Warum nicht?«
»Weil es ganz unmöglich ist, daß keiner trifft.«
»So! Ihr habt wohl auch einen sehr geschickten Speerwerfer unter euch?«
»Er trifft stets!« nickte der Gefragte.
»Du machst mich ja ganz neugierig auf ihn! Ist das alles, was du mir zu sagen hast?«
»Ich soll besonders betonen, daß keine Schonung stattfinden wird. Es soll auf den Tod gekämpft werden. Blut wenigstens muß fließen, sonst gilt der Gang nichts. Wer so verwundet ist, daß er sich nicht vom Boden erheben kann, der gilt als besiegt, und der Sieger hat das Recht, ihn vollends zu töten. Jetzt bin ich fertig!«
»Ich aber nicht! Wann werdet ihr kommen?«
»Eine halbe Stunde nach meiner Rückkehr.«
»So schlagt den Weg westlich des Felsens ein! Wir bleiben hier auf dem Punkte, wo wir jetzt stehen. Welche Waffe hat euer Scheik gewählt?«
»Welche – – – ? Der Scheik – – – ?« fragte der Ben Khalid sehr erstaunt.
»Ja, euer Scheik!«
»Du denkst, der kämpft mit?«
»Allerdings!«
»O nein, das tut er nicht!«
»Nicht? Warum?«
»Schon der Gedanke, daß er sich mit beteilige, ist eine Beleidigung für ihn! Ein Scheik ist kein gewöhnlicher Krieger; er kämpft natürlich nur mit Scheiks.«
»Wie natürlich wieder! Wenn wir nicht ausgemacht hätten, daß nicht beleidigend gesprochen werden darf, würde ich ihm jetzt den Vorwurf der Feigheit zurückgeben, den er uns gemacht hat. Ich bin auch Scheik; aber ich kämpfe auch mit jedem Krieger, welcher meiner Tapferkeit würdig ist. Ich werde mich auch nachher beteiligen, denn ich setze meine Ehre und meinen Steh darauf, daß ich nicht aus der sicheren Ferne zusehe wenn meine Krieger für den Ruhm ihres Stammes ihr Blut vergießen und ihr Leben wagen. Ich weiß zwar noch nicht, ob ich die Flinte, den Dscherid oder den Ringkampf wählen werde, denn ich muß mir da erst die Gegner ansehen, aber wenn –«
»Das darfst du gar nicht!« fiel der Bote ein.
»Was?«
»Wählen!«
»Wie? Ich darf nicht wählen?«
»Nein.«
»Wer will und kann mir das verbieten?«
»Unser Scheik.«
»Ah! Warum?«
»Er hat die Waffen zu bestimmen und also auch die Bedingungen zu stellen.«
»Von den Bedingungen ist keine Rede gewesen; aber sprich nur weiter! Ich werde ja hören, was du sagst.«
»Unser Scheik verlangt, daß eure drei Krieger zu losen haben.«
»Sie dürfen sich nicht selbst entscheiden?«
»Nein. Jeder von ihnen hat an dem Kampfe teilzunehmen, für den ihn das Los bestimmt.«
»Ihr aber habt den besten Ringer gewählt?«
»Natürlich!«
»Den besten Speerwerfer?«
»Natürlich!«
»Und wahrscheinlich auch den besten Schützen?«
»Natürlich!«
»Höre, Mann, wenn ich dieses Wort natürlich' nur noch einmal aus deinem Munde höre, so tue ich etwas, was dir zur Abwechslung einmal ganz unnatürlich vorkommt! Eure Pfiffigkeit wäre ja ganz lobenswert, wenn sie nicht ein so dummes Aussehen hätte. Ihr wählt für jede Waffe den besten Mann, und wir sollen uns von dem Zufall dahin werfen lassen. wohin es dem Lose beliebt! Das ist nicht etwa klug von euch, sondern etwas ganz anderes, was ich der Höflichkeit wegen nicht näher bezeichnen will!«
Er machte eine Pause, während welcher er seine Augen von Kara auf Omar Ben Sadek und von diesem dann auf mich richtete. Ich wußte, was er dachte. Sein Sohn erriet es auch.
»Vater, tue es!« sagte er in bittendem Tone.
»Was?« fragte Halef lächelnd.
»Wir fürchten uns doch nicht vor dem Lose, und wenn du nicht darauf eingehst, so denken sie, es sei bei uns so wie bei ihnen!«
»Wie denn, mein Sohn?«
»Bei ihnen weiß man wahrscheinlich wohl mit der einen Waffe umzugehen, aber mit der andern nicht. Wir wollen ihnen aber zeigen, daß die Krieger der Haddedihn gelernt haben, in jedem Sattel fest zu sitzen!«
Da ging der Ausdruck stolzer Vaterfreude über Halefs Gesicht; Er wendete sich wieder zu dem Boten und sagte:
»Du hast die Worte Kara Ben Halefs, meines Sohnes, gehört und kennst also nun den Grund, der mich veranlaßt, auf das Verlangen deines Scheikes einzugehen. Er mag also ja nicht denken, daß er uns überlistet habe oder daß wir aus gewaltigem Respekt vor ihm das tun, was ihm seine Klugheit eingegeben hat! Die Ursache ist nur die, daß es uns ganz gleich ist, welche Waffe wir in die Hand bekommen. Bist du fertig?«
»Ja.«
»So kannst du gehen.«
Der letzte Teil des Gespräches war nicht im Stehenbleiben gesprochen worden, denn Halef hatte sich während desselben nach unserm Lagerplatze gewendet, und wir gingen nebenher, der Ben Khalid auch. Anstatt sich nun nach der Verabschiedung, weiche ihm von dem Hadschi geworden war, von uns zu trennen, blieb er noch. Weshalb, das erfuhren wir, denn er erkundigte sich:
»Du sagtest, o Scheik, daß du selbst mitkämpfen werdest. Ist das wahr?«
»Ja«, nickte Halef. »Ich sage nie etwas, was nicht wahr ist.«
»Wer sind die beiden andern?«
»Warum fragst du?«
»Weil ich sie gern sehen möchte.«
»Ihr alle werdet sie ja zu sehen bekommen.«
»Ich will sie jetzt sehen!«
»Will? Du willst? Allah! Das ist ja sehr gütig von dir, daß du willst! Erlaubst du mir vielleicht einmal, auch zu wollen?«
»Was?«
»Sie dir nicht zeigen! Also, du kannst gehen!«
Wir waren jetzt bei dem Brunnen angekommen, auf dessen Rande der gefüllte Ledereimer stand. Der Ben Khalid folgte der Aufforderung nicht; er blieb zudringlich stehen und sagte:
»Ich wollte sie gern sehen, weil ich selbst es mit einem von ihnen zu tun bekommen werde.«
»Du?« fragte der Hadschi, indem er einen forschenden Blick über die sehnige Gestalt der Beduinen gleiten ließ.
»Ja, ich! Ich bin einer der Kämpfenden!«
Auf seinem Gesichte war die deutliche Aufforderung zu lesen, daß wir ihn bewundern sollten.
»Bist du etwa der Ringer?«
»Nein.«
»Der Schütze?«
»Nein.«
»Also der Mann mit den drei Speeren, weiche unbedingt treffen werden!«
Da warf der Mann den rechten Arm empor, daß der weite Armel von ihm zurückfiel und wir die stark entwickelte Muskulatur sehen konnten, und rief in selbstbewunderndem Tone aus:
»Ja, der bin ich! Seht diesen Arm und diese seine Muskeln! Kein Speer ist mir zu schwer und keine Entfernung zu weit! Entferne dich vierzig Schritte von mir; hebe die Hand empor und sage mir, welchen Fingernagel ich treffen soll – – – ich treffe ihn!«
Das war eine Prahlerei, welche dem Hadschi das Blut in die Stirne trieb. Seine Augen irrten nach dem Eimer hin, und er fragte:
»Du triffst ihn also wirklich?«
»Gewiß! Natürlich treffe ich ihn!«
»Und bist also überzeugt, nachher zu siegen?«
»Natürlich!«
»Dem Haddedihn drei Speere in den Leib zu geben?«
»Natürlich!«
»So will ich dir zur Abkühlung deiner glühenden Einbildung auch etwas geben. zwar nicht in, sondern auf den Leib; aber helfen wird es doch!«
Er griff schnell nach dem Eimer, schwang ihn hoch empor und goß dem Ben Khalid den ganzen Inhalt mit solcher Geschicklichkeit über den Kopf, daß ihm das Wasser in regelrechten Kaskaden an allen Seiten herunterlief, worüber die Haddedihn in ein ungeheures, laut schallendes Gelächter ausbrachen. Der Stolz des Beduinen kennt außer den tödlichen Beleidigungen nichts Schlimmeres, als der Lächerlichkeit preisgegeben worden zu sein.
Dieser Ben Khalid stand für einige Augenblicke bewegungslos; dann aber riß er mit einer blitzschnellen Bewegung das Messer aus dem Gürtel und stieß zu, um es in Halefs Herz zu bohren. Der Hadschi wäre bei der Raschheit dieses Angriffes unbedingt getroffen worden; aber ich hatte seinen nach dem Eimer gerichteten Blick gesehen und seine Absicht erraten; ich wußte, wie gefährlich es ist, einen Beduinen in solcher Weise zum Gegenstande der Belustigung zu machen, und hatte aufgepaßt. Ich griff sehr schnell zu, aber doch beinahe zu spät; es gelang mir einstweilen nur, dem bewaffneten Arme eine andere Richtung zu geben, so daß das Messer nur die Kleidung Halefs traf und da einen langen Schnitt verursachte. Dann aber nahm ich den Mann an den beiden Oberarmen fest, drückte ihm diese so an den Leib, daß er sich nicht bewegen konnte, und herrschte ihn an:
»Mensch, du hast gestochen! Du hast als Abgesandter eures Stammes die Waffe gegen einen von uns gebraucht! Weißt du, was das heißt? Weißt du, weiche Strafe das Gesetz der Wüste auf eine solche Schändung deiner Unver letzlichkeit vorschreibt?«
Er war sofort von unsern Kriegern umringt worden. Die zogen alle ihre Messer und ließen drohende Worte hören. Er versuchte vergeblich, sich von mir loszumachen, und stieß dabei die abgerissene Entschuldigung hervor:
»Er hat – – – hat – – hat – – mich beleidigt – – mir Wasser – – – Wasser über – – –«
»Er hat nichts getan, als sein Versprechen erfüllt, welches er dir vorhin gab, als er dich warnte, nicht so siegesbewußt aufzutreten und unsere Niederlage nicht für so selbstverständlich und natürlich' zu halten. Das war eine Beleidigung für uns! Ein Abgesandter hat seinen Auftrag auszurichten und sich dabei jedes Wortes zu enthalten, was nicht zur Sache gehört. Du hast dich deiner Arme und ihrer Muskulatur gerühmt; jetzt fühlst du, was du kannst! Wenn ich will, drücke ich dir den Atem aus dem Leibe! Wir haben, da du zur Waffe gegriffen hast, das Recht, dich sofort und ohne vorherige Beratung niederzuschießen; aber da wir neugierig auf dein unvergleichliches Speerwerfen sind, so wollen wir dich laufen lassen. Das Messer behalten wir zur Beweisführung hier, falls dein Scheik auf den Gedanken kommen sollte, uns darüber zur Rechenschaft zu ziehen, daß ich mich an dir, seinem Boten, vergriffen habe. Mach dich schleunigst fort, ehe es die andern reut, daß ich dich entkommen lasse!«
Ich gab ihn frei. Er ließ das Messer, welches ihm infolge meines ihn schmerzenden Druckes aus der Hand gefallen war, liegen und entfernte sich rasch, indem die Haddedihn auseinander traten, um ihn durchzulassen. In einiger Entfernung blieb er stehen, hob drohend den Arm und rief uns zu:
»Das sollt ihr büßen! Für diese Nässe des Wassers fordere ich die Nässe eures Blutes!«
»Natürlich, natürlich! Vollständig einverstanden!« lachte Halef.
»Höhne nur jetzt! Nach unserm Siege wird dir der Hohn vergehen! Meine sausenden Speere werden euch zum Geheul des Jammers zwingen!«
»Natürlich, des Jammers, natürlich!«
Als hierauf das Gelächter der Haddedihn wieder erscholl, zog er es vor, zu schweigen und zu verschwinden.
Hanneh kam besorgt herbei und freute sich herzlich, als sie sah, daß der Messerstich kein Blut gekostet habe und mit Hilfe von Nadel und Zwirn zu heilen sei.
Wir wußten nun zwar, welche Art von Kampf uns erwartete, aber leider das Nötigste nicht: welche Waffe auf jeden von den dreien fallen werde. Es klang eigentlich rührend, als Halef, der doch so geschickt, geübt und vielerfahren war, in bescheidener Weise zu mir sagte:
»Es wäre freilich viel, viel besser, Effendi, wenn wir in dieser Beziehung nicht im unklaren wären. Wir könnten mit dir darüber sprechen, und ich weiß, wenn die Rede auf solche Dinge kommt, so kann man immer noch von dir lernen.«
»Schwerlich, lieber Halef! Denn was ich kann und weiß, das ist dir alles schon bekannt.«
»Noch lange nicht! Weißt du, Sihdi, bei dir ist es nämlich so: Während du über den Gebrauch dieser oder jener Waffe sprichst, fallen dir immer noch mehr und noch weitere Erlebnisse ein, bei denen du dich dieser Waffen bedient hast. Da ist jeder Fall anders, jede Anwendung und jeder Erfolg anders! Da werden Messer, Flinte und Pistole lebendig, da fühlen sie; da denken und berechnen sie; da sprechen sie förmlich mit!«
»Wie deine Peitsche!« warf ich scherzend ein.
»Lache nicht über sie! Sie ist eine vornehme Haremsdame, die ihre guten Seiten, aber auch ihre Mucken hat. Wir reden jetzt nicht von ihr. Fällt dir nichts ein? Kein guter Rat? Keine nützliche Verhaltungsmaßregel, die wir befolgen könnten?«
»Ihr wißt ja alles schon! Aber auf eins will ich euch doch aufmerksam machen Richtet eure Augen ja nur auf den Gegner; alles andere schadet, weil es zerstreut. Bei den Zuschauern kann geschehen, was nur immer will, es geht euch nichts an! Oft ist ein fester, unbeirrter Blick schon der halbe Sieg; ich habe das erlebt! Für das Gewehr habe ich keine Bemerkung, für die drei Dscheride aber doch. Ich würde es folgendermaßen machen: Ich ließe den Gegner seine Speere erst verschießen, weil ich da nur auf ihn und nicht auch auf mich aufzupassen hätte. Bei dieser ungeteilten Aufmerksamkeit ist es kinderleicht, seinen Würfen auszuweichen. Hat er dann keinen mehr und hat mich auch nicht getroffen, so weiß er sich machtlos und mich als ihm über. Das gibt ihm ein Gefühl der Unsicherheit, welches mir Vorteil bringt.«
»Aber er macht es dann auch wie du: Er braucht nur auf dich aufzupassen und weicht also deinem Speerwurfe leicht aus!«
»Diese Sicherheit nehme ich ihm, indem ich eine Zeitlang die Bewegung des Werfens mache, aber doch nicht werfe. Das erscheint ihm lächerlich, und er paßt weniger auf. Wenn ich merke, daß er bei diesen Finten ruhig stehenbleibt und nicht einmal mehr zuckt, dann werfe ich wirklich, und zwar die drei Speere schnell hintereinander.«
»Maschallah! Alle drei? Warum das?«
»Er wird glauben, daß ich nur einen werfe und darum seine ganze Aufmerksamkeit nur auf diesen und nicht mehr auf mich richten. Während er den Bogenflug des Speeres verfolgt und aufwärts blickt, sieht er wahrscheinlich gar nicht, daß ich wieder werfe. Dieser zweite Speer wird ihn treffen, und wenn ja nicht, so doch ganz gewiß der dritte. Es ist dazu freilich notwendig, daß man erstens ein guter Dscheridwerfer ist und zweitens ein scharfes und geübtes Auge dafür hat, nach welcher Seite der Gegner ausweichen will; denn nach dieser Seite hat man den zweiten Wurf zu richten.«
»Ich danke dir, Sihdi! Das ist eine Lehre, die ich in Übung nehmen werde. Ich wollte, das Los drückte mir die Speere in die Hände; ich würde es genau so machen, wie du uns jetzt geraten hast! Und wie würdest du dich bei dem Ringkampfe verhalten?«
»Das käme auf den Gegner und auf die Art und Weise an, in der er vorgenommen werden soll, und da ich beides nicht kenne, ist es mir also unmöglich, einen Plan zu haben. Es gibt Ringkämpfe verschiedenster Art. Es handelt sich hier jedenfalls um den bei den Beduinen der Arabischen Wüste ganz gewöhnlichen, daß man den Gegner ohne Befolgung irgendeiner Vorschrift so niederzubringen sucht, daß der Besiegte den Boden mit dem ganzen Körper, also nicht nur mit einem Teile, nur Händen und Knien, berührt.«
»Da wollte ich, daß dies mir zufiele!« wünschte Omar Ben Sadek. »Mir sollte der stärkste Ben Khalid gar nicht lange aufrecht stehen bleiben!«
Omar war, wenn man ihn so wie jetzt stehen sah, scheinbar allerdings nicht geeignet, einem Gegner große Besorgnis einzuflößen; er besaß weder eine hohe noch eine ungewöhnlich breite Gestalt; aber wer ihn unbekleidet gesehen hatte und vielleicht gar wußte, wie oft schon er seinen Mann gestellt hatte, der traute ihm gewiß mehr zu, als ihm anzusehen war. Grad im Ringen schienen seine Muskeln von Eisen und seine Sehnen und Nerven von Stahl zu sein. Wenn er sich mit auseinandergespreizten Beinen hinstellte, die Fäuste ballte und die Ellbogen fest an den Körper legte, hatten mehrere Männer sich anzustrengen, wenn sie ihn von der Stelle, auf welcher er stand, fortbringen wollten. Seine Beine glichen dann Säulen, die nicht ins Wanken zu bringen sind. Und diese Zähigkeit besaß, ich möchte sagen, jedes einzelne Glied von ihm nicht nur im Zusammenwirken, sondern auch für sich besonders.
»Ja, um dich hätte ich da keine Sorge«, stimmte Halef bei. »Dich bringt keiner nieder. Und deinen Griff zum langsamen Hinlegen dessen. den du gepackt hast, macht dir sogar keiner von unseren Haddedihn nach!«
»Das ist nicht mein' Griff, denn ich habe ihn ja von unserm Effendi gelernt. Er ist sehr leicht; aber die Finger, die dürfen freilich, wenn sie sich einmal eingebohrt haben, keinen Augenblick nachgeben; das ist die ganze Kunst. Wenn dieses Los mir zufiele, könntet ihr unbesorgt um unsere Ehre sein.. Aber, Sihdi, wie hältst du es damit, daß der Kampf auf Tod oder Leben gehen soll? Die Beni Khalid werden uns freilich nicht im geringsten schonen. Meinst du, daß wir ebenso streng mit ihnen verfahren?«
»Eigentlich ist diese Frage überflüssig«, antwortete ich, »denn meine Ansichten in dieser Beziehung sind euch ja bekannt. Wenn ich einen Feind unschädlich machen kann, ohne ihm das Leben zu nehmen, so lasse ich es ihm. Das gebietet mir schon die einfachste Menschlichkeit, von meinem christlichen Glauben gar nicht zu sprechen. Freilich dürfen wir diese Rücksicht nicht so weit treiben, daß der Sieg in Frage gestellt wird. Es ist gesagt worden, daß wenigstens Blut fließen soll; das können wir nicht ändern; aber notwendig ist es doch nicht, daß die Verletzungen tödlich sind. Wenn die drei Beni Khalid nur verwundet werden, sind sie für uns ebenso unschädlich geworden, als ob sie nicht mehr lebten; die Hauptsache ist, daß sie sich nicht vom Boden erheben können.«
»Es ist aber doch bestimmt, daß der Besiegte glatt an der Erde liegen soll!« warf Halef ein.
»Das bietet keine besondere Schwierigkeit, denn wer zum Beispiel von einer Kugel so getroffen wurde, daß er in die Knie zusammenbricht, bei dem erfordert es ja nur noch einen Stoß der Hand, um ihn vollends hinzulegen. Ich würde als nach seinem Knie, nicht nach dem Kopfe oder Herzen zielen. Treffe ich gut, so ist er für das ganze Leben untauglich gemacht, und das ist für einen Beduinen schlimmer als der Tod, weil er daheim bei den Schwachen, den Greisen, Frauen und Kindern hocken muß.«
»So wollte ich, der Kampf mit der Flinte wäre für mich bestimmt!« sagte Kara, welcher als Mitkämpfer das Recht fühlte, aus der stets von ihm geübten, bescheidenen Zurückhaltung herauszutreten. »Hadschi Halef, mein Vater, wird dir bestätigen, Effendi, daß ein Fehlschuß jetzt bei mir etwashöchst Seltenes ist. Doch schaut! Was will der Blinde? Er kommt grad auf uns zu!«
Der Münedschi hatte bei den Mekkanern gegessen. Jetzt war er mit einer raschen Bewegung, als ob er unter einem plötzlichen Entschlusse handle, aufgestanden und kam mit großen, sichern Schritten, als ob er ganz gut sehen könne, auf die Stelle zu, an weicher wir standen. Er hielt die Linie so genau und so gerade ein, daß wir auseinander treten mußten, um den Zusammenstoß mit ihm zu verhüten.
»Effendi, kommt mit mir! Du allein!« forderte er mich auf, indem er, ohne anzuhalten, zwischen uns hindurchging.
Das war nicht nur sonderbar, sondern erstaunlich! Woher wußte er, wo wir standen und daß ich mit dabei war? Hatten die Mekkaner es ihm gesagt? Aber auch in diesem Falle wäre die von ihm gezeigte Sicherheit nicht zu erklären gewesen! Und er hatte nicht mit seiner, sondern mit Ben Nurs Stimme gesprochen. Sein Gesicht zeigte das Aussehen der Leblosigkeit, der Todesstarre, und als er sprach, hatte er die Lippen kaum bewegt. Er schritt ganz in derselben Weise weiter, grad auf den Felsen Ben Nurs, und ich folgte ihm. Wollte er wieder hinauf? Es konnte gar kein Zweifel darüber sein, daß er geistes oder, wenn dies bezeichnender sein sollte, seelisch abwesend war, jetzt, am hellen, lichten Tage! War das auch Somnambulismus?
Noch ehe er den Felsen erreicht hatte, blieb er stehen, drehte sich nach mir um und sagte, wieder nicht mit seiner eigenen Stimme:
»Effendi, ich liebe dich! Ich liebe alle Wesen Gottes und also auch alle Menschen, doch, sehe ich ein dem Gesetze der Liebe so freiwillig geöffnetes Herz, so neigt es mich ihm mit besonderer Liebe zu. Die Worte der Güte, welche du jetzt sprachst, ich habe sie gehört. Du willst das Leben eurer Feinde schonen und achtest also die ihnen gegebene Vorbereitungszeit; das wird dir für das Jenseits eingetragen und schon auch hier vergolten, denn ihr werdet Sieger sein. Doch warne ich dich vor dir selbst und vor El Aschdar, der das Verderben der Menschen will und auch das deinige. Vor dir selbst, denn du bedrohst dich als dein eigener Feind.«
Er nahm meine Hand in seine Linke, strich mit der Rechten leise, zärtlich darüber hin und fuhr fort:
»Sei ja nie stolz auf deine Liebe! Der Himmel hat sie dir geliehen; sie ist also nicht dein, sondern sein Eigentum, welches du ihm, nachdem du sie hier wirken ließest, mit Zins und Zinseszins zurückzugeben hast. Sie ist das höchste, größte Gut des Lebens, und darum hat der, welcher sie empfing, viel mehr Verantwortung zu tragen und viel strengere Rechenschaft abzulegen als jene Seelen, denen weniger anvertraut worden ist. Denk nicht, du seist ein besserer Mensch als sie! Vom armen Steppenstrauch wird nur bescheidenes Grünen, vom Baume an dem Wasser aber Frucht gefordert werden. Bilde dir also nichts auf die Früchte deiner Liebe ein! Deine Pflicht ist's, sie zu bringen, und wenn du sie bringst, so hast du nichts als eben nur deine Pflicht getan und darfst nicht meinen, Anspruch auf besonderen Lohn zu haben. Dies ist der Grund, daß ich dich vor dir selbst zu warnen habe. Gehorche mir! Dein Schutzgeist steht bei dir. Du siehst ihn nicht; mich aber bat er, dir zu sagen, was du jetzt vernommen hast. Er leitet dieses Blinden Hand, deren Berührung eine Liebkosung von ihm ist für dich, dem er den rechten Weg zu zeigen hat.«
Hierauf ließ er meine Hand los und sprach weiter:
»Und vor El Aschdar warne ich dich auch. Du hast mit ihm gekämpft, solange du lebst; er hat dich oft zum Fall gebracht, doch standest du immer wieder auf, gehoben von deinem eigenen Willen und gehalten von der unsichtbaren Hand, die dich beschützt. Diese Hand ist ohne diesen deinen Willen schwach; mit ihm vereint aber wird sie riesenstark. Darum leiste auf dein Wollen nie Verzicht; es wird im Schutz des Himmels zum Vollbringen! Dein Wille, der nach der Vereinigung mit Gottes Willen strebt, gewinnt durch diese Vereinigung eine Macht, welcher das Böse zwar widerstreben kann, doch endlich unterliegt. EI Aschdar ist ein unermüdlicher und starker Feind, der immerwährend auf der Lauer liegt. Auch dich hat er nicht etwa freigegeben; er wartet nur, und kommt der Augenblick, an dem du eine Schwäche deiner Seele zeigst, so schlägt er seine Krallen plötzlich ein, und dann beginnt der schwere Kampf mit seiner Macht von neuem. Ich seh' ihn lauern hier an deinem Wege; schon speit er seinen Geifer dir entgegen; es kommt mit ihm bald zum Zusammenprall; drum sei darauf bedacht, daß du dich seiner wehrst!«
Als er jetzt für einen Augenblick innehielt, schwebte mir eine Erkundigung auf der Zunge. Als ob er diesen meinen Gedanken lesen könne, sagte er:
»Wer dieser Drache ist, das möchtest du gern wissen?«
»Ja«, antwortete ich.
»Der Abfall ist's von Gott. Nicht nur der äußere Übertritt von einem Glaubenspfad zum andern ist gemeint; El Aschdar ist das Renegatentum vom Reiche, dessen Bürger du jetzt bist, nach dem Gebiete der Lieblosigkeit. Hab acht, daß du den ersten Schritt nicht tust! Ihm folgt der andre nach, und ehe du es merkst, daß du den Pfad verlassen hast, bist du schon fern von ihm. Ich warne dich nicht nur in diesem Augenblick. Zwar werde ich dich heut verlassen müssen, doch führt mein Weg mich wieder zu dem deinen. Ich wurde jetzt gebeten, dir zu sagen, daß du dem Drachen grad entgegengehst. Es ist ein Kampf mit ihm nicht zu vermeiden, und darum soll ich dir ein Zeichen geben, wenn er die Tatzen hebt, um dich zu fassen. Du wirst mich im Momente der Gefahr das Wort El Aschdar dreimal rufen hören. Sobald du es vernimmst, weich schnell zurück vor dem Entschluß, den du vollbringen willst; er würde dich ins unvermeidliche Verderben führen!«
Er hatte die Hand erhoben und so dringend gesprochen, als ob es sich wirklich um eine Gefahr für mich handle. Nun ließ er die Hand wieder sinken und sprach mit weniger lauter Stimme:
»Der schwache Körper, welcher vor dir steht, ist durch Verführung dir zum Feind geworden; ich bitte dich, entzieh ihm dennoch nicht die Liebe, deren er so sehr bedarf, dahin zu kommen, wo er landen soll! Zusammen hab ich dich mit ihm geführt, zum Heile ihm und dir zur schönen Übung. Verzeih' ihm, was er nur im Irrtum tut, und bleib ihm Freund trotz seines Widerstrebens! Ich weiß im heiligen Mekka ein Gemach, in dem drei Decken des Gebetes liegen; von roter Farbe zwei, die sind es nicht, der Grund der mittleren ist blau gefärbt, gestickt mit goldnen Sprüchen des Korans; das ist die richtige; dort findest du das Ziel schon deiner jetzigen Gedanken und auch zugleich den Schlüssel für die Tat, die ihm den Glauben bringt und euch die Rettung.-
Nun hab ich dir das Nötige gesagt. Geh also hin, wo man dich schon erwartet! Halt fest an dem, was dir gegeben ist, und bleib ein guter Mensch! Leb wohl, doch nicht für immer!«
Nach diesen Abschiedsworten verließ der Münedschi die Stelle, an welcher er stand. Er schritt an mir vorüber und ging zurück, geraden Weges wieder auf den Brunnen zu. Ich hatte mit dem Rücken nach dieser Gegend gestanden. Als ich mich umdrehte, sah ich die Beni Khalid kommen, im Westen des Brunnenfelsens, also so, wie es dem Boten gesagt worden war. Meine Anwesenheit war also dort geboten. Hatte das der Blinde gemeint, als er sagte, ich solle dahin gehen, wo man mich schon erwarte? Sonderbar! Ich ging also, ohne Zeit zu haben, über das nachzudenken, was mir gesagt worden war. Freilich wollte sich mir ganz besonders das einprägen, was ich über das 'Gemach in Mekka' gehört hatte. Das war ja wie eine Prophezeiung gewesen! Drei Decken oder Teppiche des Gebetes, der mittlere blau mit goldgestickten Koransprüchen! Dieser mittlere sollte es sein. Was denn? Meine Gedanken seien schon jetzt auf dieses Ziel gerichtet! Ich hatte allerdings schon wiederholt im stillen die Idee gehabt, daß EI Ghani, welcher den Blinden so auszunützen wußte, auch schuld an den großen Verlusten sei, über weiche der Münedschi geklagt hatte. War etwa das gemeint? Und Rettung sollten wir durch diesen Teppich finden? Rettung kann sich nur auf eine Gefahr, eine Not, eine Bedrängnis, überhaupt auf etwas nicht Wünschenswertes beziehen. Erwartete uns dort so etwas? Denkbar war dies allerdings, zumal nach dem Zusammentreffen mit EI Ghani und seinen Leuten! Und Ei Aschdar, der Drache! Er laure schon auf mich, und der Zusammenstoß mit ihm sei unvermeidlich!
Ich mußte dieses Sinnieren aufgeben, weil mich jetzt die Wirklichkeit mit ihren Anforderungen mehr als zur Genüge in Anspruch nahm.
Die Beni Khalid kamen nicht gegangen, sondern geritten; sie brachten ihre Kamele und die ganze Bagage mit. Daraus war zu schließen, daß sie sich des Sieges bewußt waren und dann gleich den Platz des Brunnens besetzen wollten. Einstweilen ließen sie ihre Tiere draußen jenseits des Felsens lagern und kamen dann herbei, um sich so aufzustellen, wie der Bote es ihnen sagte. Wenigstens sah ich, daß er sie nach der Westseite des von uns gezogenen Kreises führte und sprechend und rufend dort hin und her ging. Es schien uns also gelingen zu sollen, die Sonne hinter uns zu haben. Ihr Scheik war in stolzer Zurückhaltung einstweilen noch bei den Kamelen geblieben. Unsere Haddedihn ordneten sich auch bereits hüben auf unserer Seite. Sie hatten eine Decke ausgebreitet, auf welcher Hanneh saß, um dem Kampfe zuzuschauen. So befand sich also am Brunnen jetzt niemand, denn auch die Mekkaner waren fort. Halef hatte ihnen während meiner Abwesenheit gesagt, daß sie tun könnten, was ihnen beliebe, und so sah ich sie jetzt nach der Rückkehr des Münedschi mit ihm hinüber zu den Beni Khalid ziehen. Sie hatten ihre Tiere mit. Der Schatz, um den es sich handelte, befand sich selbstverständlich in unserer Verwahrung.
Ich holte vor allen Dingen meinen fünfundzwanzigschüssigen Stutzen. Als Halef mich mit diesem Gewehre kommen sah, dem wir schon manche Rettung aus verwickelter Lage verdankten, sagte er:
»Recht so, Sihdi! Der Häuptling ist zwar sehr eifersüchtig auf seinen Ruf, daß er sein Wort nie breche, aber man kann diesen Beni Khalid doch nicht trauen. Wenn sie nicht Sieger werden, kann die Aufregung sie leicht zu Gewalttätigkeiten führen, weiche er nicht zu verhindern vermag. Da ist dein Stutzen das beste Mittel, sie in Schach zu halten. Dein Platz ist hier neben Hanneh. Khutub Agha wird an ihrer andern Seite sitzen.«
Bei uns hier hüben herrschte Ruhe, bei den Beni Khalid aber eine ungemeine Beweglichkeit und Aufregung; es dauerte lange, ehe sie sich gelegt hatte. Endlich hatten sie sich in einem großen Kreisbogen niedergesetzt, in dem es, der fliegenden Kugeln und Speere wegen, eine Lücke gab, damit kein Nichtkämpfer verletzt werden könne. Nur drei saßen nicht. Sie gingen mit stolzen Schritten und herausfordernden Gesten hin und her. Das waren unsere Gegner; der Wassermann befand sich bei ihnen.
Nun kam endlich auch Tawil Ben Schahid. Er betrat den Kreis und ging langsam und würdevoll nach der Mitte desselben. Seine drei Helden folgten ihm. Er erwartete, daß wir zu ihm kommen würden, und wir taten es. In seinem von den gestrigen Hieben geschwollenen und gefärbten Gesichte war nichts als Haß zu lesen, aber hinter äußerlicher Ruhe versteckt.
»Es ist verboten, beleidigend zu sprechen«, sagte er. »Darum werden wir so wenig wie möglich reden und euch lieber unsere Taten zeigen!«
Erschien uns imponieren zu wollen und eine Antwort zu erwarten. Als wir nichts sagten, fragte er:
»Ihr kennt die Bedingungen?«
»Ja«, antwortete Halef kurz.
»Es wird nicht geschont. Tot wollen wir euch sehen oder doch wenigstens so schwer verwundet, daß ihr euch nicht vom Boden erheben könnt und nachträglich elend zu Grunde gehen müßtet, wenn wir euch nicht sogleich vollends töteten!«
»Du sprichst nur davon, was ihr tun werdet. Ich sage nur, daß wir euch schonen werden. Wir trachten nicht nach Mord und Blut.«
»Das kannst du wohl sagen, weit ihr gar nicht dazu kommen werdet, Schonung an uns zu üben! Wir wollen losen. Wo sind eure Kämpfer?«
»Hier wir drei.«
»Dieser Knabe auch?«
»Ja.«
»Ihr seid verloren! Allah hat euch schon bei der Wahl den Verstand so verfinstert, daß eure drei schwächsten Personen ausgesucht worden sind! Die Lose habe ich hier; es sind drei Hölzchen; das längste ist die Flinte, das kürzeste das Ringen und das dritte der Dscherid. Zieht.«
Er hielt ihm die Hand hin, aus welcher die Enden der Lose hervorragten. Als sie gezogen hatten, sah mich Halef fröhlich lächelnd an, doch ohne ein Wort zu sagen. Unsere Wünsche waren erfüllt, denn auf ihn fiel der Speer, auf Kara das Gewehr und auf Omar der Ringkampf.
Der Scheik hatte das Lächeln doch bemerkt. Er sagte:
»Laß deine Fröhlichkeit; du solltest lieber weinen, denn ihr habt die Lose des unvermeidlichen Todes gezogen. Ich werde den Kampf selbst überwachen. Erst wird geschossen, dann der Dscherid geworfen und zuletzt gerungen. Wir beginnen gleich, denn wir haben keine Lust, zu warten, in einer Viertelstunde seid ihr alle drei über die Brücke des Todes gegangen! Dann aber erwarte ich, daß ich den Kanz el A'da bekomme! Was versprochen und gar noch mit einem Schwur bekräftigt worden ist, das muß gehalten werden. Versprecht es mir nochmals!«
»Wir halten unser Wort«, erklärte Halef. »Und du?«
»Ich auch. Der Sieg ist uns zwar gewiß, aber für den Fall, daß er uns nicht wird, habe ich versprochen, diese Gegend mit meinen Kriegern sofort zu verlassen und für den heutigen Tag Frieden zu halten. Das würde ich tun, denn Tawil Ben Schahid, der berühmte Scheik der Beni Khalid, hat noch nie sein Wort gebrochen, und so wäre ihm auch der heutige Schwur heilig. Jetzt werde ich sechzig Schritte abmessen.«
»Und die Kugeln vorzeigen!« erinnerte Halef.
»Das tue ich nicht. Ich gebe euch mein Wort, daß nur mit Kugeln geschossen wird, und das muß euch genügen. Wir wollen nicht verwunden, sondern töten; da kann es uns gar nicht einfallen, Schrot zu nehmen.«
Das war uns auch recht, denn wie hätten wir ihm beweisen wollen, daß Karas Patronen keinen Schrot enthielten?
Die Entfernung wurde abgeschritten, und die beiden Schützen stellten sich auf. Wir hatten auf unserer Linie hinter Kara auch einen freien Raum gelassen, um von den ihr Ziel verfehlenden Kugeln nicht getroffen zu werden. Der betreffende Ben Khalid schwang sein Gewehr und warf, wie das bei den Beduinen so gebräuchlich ist, seinem Gegner eine Menge Ausrufe zu, weiche sich auf seine angebliche unübertreffliche Fertigkeit im Schießen bezogen. Beleidigend aber wurde er nicht. Man schien also entschlossen zu sein, die gestellten Bedingungen auch in dieser Beziehung einzuhalten. Kara sagte nichts.
Nun setzte ich mich mit dem Perser zu Hanneh. Sie schaute unbesorgt und munter drein und sagte:
»Sihdi, es gibt in mir, vielleicht auch in jedem andern Mutterherzen, eine Stimme, welche mich zu warnen pflegt, wenn meinem Sohn Kara etwas Unerwünschtes begegnen soll. Ich habe dann eine ungewisse Angst in mir, welche mir die Ruhe raubt, bis das Ereignis vorüber ist. Da ich diese Stimme jetzt nicht vernehme, so bin ich überzeugt, daß Kara sich außer aller Gefahr befindet. Darum bin ich heiter und lasse Allah walten!«
Jetzt gab Tawil Ben Schahid das Zeichen, daß das Schießen begonnen werden könne. Wann und in weicher Reihenfolge dies zu geschehen habe, darüber war nichts gesagt worden. Es konnte sich jeder der beiden Duellanten verhalten, wie ihm gutdünkte.
Der Ben Khalid hielt seinen Körper in einer herausfordernden Stellung, als ob er erwarte, daß zunächst auf ihn geschossen werde. Dies geschah aber nicht. Da wurde ihm die Zeit zu lang, er legte sein Gewehr an und zielte. Ich richtete nun meine Augen auf Kara, ob ein Zucken seines Körpers uns sagen werde, daß er getroffen worden sei. Der Schuß krachte. Kara stand still und machte erst nach kurzer Zeit, sich zu uns umdrehend, eine Handbewegung der Geringschätzung für die Gegner und der Beruhigung für uns. Die Kugel war vorübergegangen. Halef, weicher mit Omar Ben Sadek neben uns stand, sagte, indem er in väterlichem Stolze glücklich lächelte:
»Seht ihr ihn stehen? Wie eine Mauer! Er hat nicht mit einem, Finger gezuckt, als der Schuß fiel! Wenn das der beste Schütze ist, den die Beni Khalid haben, so dürfen sie sich vor uns nicht sehen lassen.«
»Ob unser Sohn ihm wohl den Schuß zurückgeben wird?« fragte Hanneh gespannt.
»Ich glaube es nicht, denn er hat das Gewehr an den Fuß genommen und rührt sich nicht. Allah, Allah! Ich danke dir! Wie getrost und stolz er dasteht! Es ist eine Wonne, ihn zu sehen! Du siehst hier, Effendi, die Erfolge deiner und meiner Lehren. Wie freue ich mich Ober ihn! Er zeigt, daß er einem Stamm angehört, dessen Kriegern eine pfeifende Kugel ist wie nichts. Er macht uns Ehre, wirklich Ehre! Schaut doch dagegen den andern an!«
Ich konnte die Gefühle meines Halef und seiner Hanneh gar wohl begreifen; war es doch jetzt das erste Mal, daß ihr Liebling sich im offenen Zweikampfe zu bewähren hatte! Wenn man das lebhafte Temperament des Beduinen in Rechnung zieht, so war die kalte Ruhe, welche der Jüngling zeigte, sehr anzuerkennen. Ein anderer hätte lebhaft gejubelt und seine Freude über die Vergeblichkeit des Schusses in lärmender Weise geäußert.
Diese Ruhe und Stille herrschte überhaupt auf unserer ganzen Seite. Nicht so bei den Beni Khalid, welche in ein zorniges Geschrei der Enttäuschung ausgebrochen waren. Viele von ihnen waren aufgesprungen und zeigten durch ihre lebhaften Gestikulationen, wie erregt sie waren. Das mußte doch dem Schützen die für ihn so notwendige Kaltblütigkeit und Fassung rauben. Der Scheik rief ihm lautschallende Vorwürfe zu, die er mit ärgerlichen Entgegnungen beantwortete, indem er wieder lud.
Als er das getan hatte und also wieder schußfertig war, trat drüben wieder Stille ein. Er forderte Kara auf, ihm nun auch eine Kugel zuzusenden; dieser antwortete nicht und blieb so unbeweglich stehen, als ob er auf seiner Stelle festgewachsen sei. So verging eine längere Zeit. Da rief der Scheik dem Vertreter der Ehre seines Stammes zu:
»Dieser Knabe der Haddedihn getraut sich gar nicht, zu schießen; er hat es gar nicht gelernt! Wir haben keine Zeit! Schieß du, schieß wieder! Aber mach es besser als vorhin, sonst wirst du heimgeschickt zu den kleinen Knaben, die noch nichts gelernt haben!«
Er sagte sich nicht, daß er durch solche Drohungen den Mann aufregen müsse. Dieser antwortete mit einem unwilligen Ausrufe und riß sein Gewehr wieder empor. Erzielte dieses Mal länger als vorher, dann knallte der Schuß – – – Kara machte ganz dieselbe Bewegung der Hand; er war wieder nicht getroffen worden. Nun erhob sich drüben ein größeres Geschrei als vorher. Da drehte sich der unglückliche Schütze nach seinen Leuten um und rief ihnen so laut zu, daß wir es hören konnten:
»Haltet die Mäuler! Wer soll da ruhig zielen und schießen können. wenn euer Gebrüll die Arme zittern macht! Ich schwöre bei Allah, daß die dritte Kugel nicht vorübergehen wird! Jetzt gilt's, und darum muß und wird sie treffen!«
Er lud sehr sorgfältig und legte das Gewehr dann sogleich wieder an, ohne zu warten, ob Kara nun vielleicht schießen werde. Er zielte diesmal viel, viel länger als vorher, so lange, daß die Anlage unruhig werden mußte.
»Er trifft wieder nicht!« sagte Hanneh.
»Der Mensch ist kein Schütze!« nickte Halef vergnügt. »Er müßte wieder absetzen, um den Arm ausruhen zu lassen! Doch nein, da da!«
Der Schuß war gefallen, und auch diese dritte Kugel hatte ihr Ziel verfehlt.
»Hamdulillah!« rief Halef aus. »Hanneh, du lieblichster Abglanz meiner Seele, siehst du ihn stehen, unsern Herzenssohn? Ungetroffen, unverletzt und ruhig, als ob er nur Luft vor sich gehabt habe, nicht aber den besten Schützen des Stammes der Beni Khalid und nicht ein auf sich gerichtetes Gewehr, aus dessen Lauf der Tod ihn treffen sollte! Ich bin stolz auf ihn, sehr stolz! Du doch auch?«
»Ja; er ist dein Ebenbild!« antwortete sie.
»lch danke dir! In Beziehung auf die Tapferkeit ist überhaupt jeder Krieger der Haddedihn mein Ebenbild, und Kara ist ein Haddedihn; da braucht man sich gar nicht zu wundern!«
Auf der uns gegenüberliegenden Seite gab es andere Worte als hier bei uns; da herrschte ein Tumult, der gar kein Ende nehmen wollte. Kara hatte uns auch jetzt die schon zweimal erwähnte, verächtliche Handbewegung zugeworfen; nun schob er den einen Fuß von dem andern ab und stützte sich auf sein Gewehr, um zu warten, bis bei den Beni Khalid wieder Ruhe eingetreten sei.
»Effendi«, fragte mich Halef, »siehst du ihm nicht auch ganz deutlich an, daß gleich seine erste Kugel grad da sitzen wird, wo er will?«
»Er wird keinen Fehlschuß tun«, antwortete ich.
»Er hat sich das zu Herzen genommen, was du in Beziehung auf den Speerkampf sagtest, nämlich, daß du warten würdest, bis der Gegner keine Lanze mehr habe. So hat auch er seine Kugeln aufgehoben, und ich bin bereit, zu wetten, daß er nur die erste braucht. Wettest du mit?«
»Nein.«
»Aber so tue es doch!«
»Nein. Du weißt ja, daß ich niemals wette.«
»Allerdings; aber jetzt solltest du doch gegen mich setzen!«
»Wie kann ich das, da ich doch ganz derselben Ansicht bin wie du?«
»Ja, richtig! Also wetten wir nicht! Paßt auf, ihr Leute! Er hat uns gesagt, daß er nun zeigen will, was er, den man einen Knaben nannte, gelernt hat.«
Kara hatte sich umgedreht und uns zugenickt. Drüben war es endlich wieder still geworden. Der Beni Khalid stand auf seinem Platze, und es war ihm anzumerken, daß er sich da doch nicht ganz behaglich fühle. Doch machte er mit dem Arme eine auffordernde Geste durch die Luft und rief:
»So schieß doch nur! Getraust du dich denn gar nicht, ein Gewehr in die Höhe zu nehmen? Dir zittern wohl alle Glieder vor Angst, den Knall des Pulvers zu hören? Fürchte dich nicht, mein Knabe! Deine Kugel gilt ja nicht dir, sondern mir, und die Luft da um mich her hat Platz genug für sie!«
Da sagte Kara sein erstes Wort, und zwar in so gelassener Weise, daß wir uns alle darüber freuen mußten:
»Diese Luft hat keinen Raum für sie, denn die Stelle, wo meine erste Kugel sitzen wird, liegt nicht in der Luft, sondern in deinem Körper. Ihr trachtet nach unserm Leben, wir aber nicht nach dem eurigen. Ich werde dir also das deinige schenken!«
»Ich brauche nicht geschenkt zu nehmen, was mir überhaupt gehört und nicht von dir genommen werden kann. Prahle also nicht, sondern schieß!«
»Ich werde dir beweisen, daß ich es dir nehmen könnte, wenn ich wollte. Ich sage dir vorher, daß ich dich in das Knie schießen werde. Ebenso gut aber würde ich dich in den Kopf oder in das Herz treffen!«
»Schieß, schieß, sage ich! Ich warte mit Ungeduld darauf, um dich dann auszulachen!«
Das war natürlich nur Redensart, denn daß er Angst hatte, getroffen zu werden, zeigte er dadurch, daß er jetzt eine Stellung einnahm, welche zur Folge hatte, daß er seinem Gegner so wenig wie möglich Körperfläche zum Zielen bot. Er kehrte ihm nämlich nicht den Vorderkörper, sondern die Seite zu.
Als ich das sah, mußte ich an meinen dann so vielbesprochenen Schuß denken, mit welchem ich Tangua, dem Häuptling der Kiowa Indianer, beide Knie zerschmetterte und infolgedessen Mitglied des Apatschenstammes wurde. Tangua hatte damals dieselbe Stellung gewählt, um nicht getroffen zu werden, und sie trotz meiner Warnung beibehalten, die Strafe war für diese Unredlichkeit gewesen, daß ihm meine Kugel nicht bloß durch eines, sondern durch beide Knie gegangen war. Genau denselben Schuß konnte Kara jetzt auch tun, und ich traute ihm allerdings zu, denselben Erfolg zu haben.
»Warum stellst du dich anders, als ich gestanden habe?« fragte er.
»Ich tue, was ich will!«
»Du fürchtest dich!«
»Laß dich nicht auslachen, unerfahrener Junge! Ich werde sogar selbst zählen! Also: Eins zwei !«
Da nahm Kara sein Gewehr nicht langsam und bedächtig auf, um nach Beduinen oder überhaupt gewöhnlicher Weise zu schießen, sondern er bediente sich der schnellen Tempi der amerikanischen Westmänner, die er nach meiner Anleitung eingeübt hatte. Das Schießen auf diese Art scheint schwerer zu sein, ist es aber nicht; es erfordert alterdings eine nur durch lange Ausdauer zu erreichende Fertigkeit, bietet dafür aber eine um so größere Treffsicherheit. Er warf, als der Ben Khalid »Eins!« sagte, das Gewehr empor, hatte es bei »Zwei!« im Anschlage, und bei »Drei!« krachte, ganz genau nach dem höhnischen Kommando, der Schuß, so daß das Wort gar nicht zu hören war. Fast in dem selben Augenblicke warf der Ben Khalid beide Arme hoch in die Luft, taumelte einmal hin und einmal her und stürzte dann zur Erde, von weicher er sich nicht mehr erheben konnte. Kara hatte ihn wirklich durch beide Knie getroffen; es war ein Meisterschuß gewesen! Für einige Augenblicke war alles still; darum hörte man die lauten, stolzen Worte des Siegers:
»Der unerfahrene Junge hat sein Wort gehalten. Es fließt das Blut, folglich ist dieser Kampf zu Ende. Der Besiegte gehört nun mir; aber ich schenke ihm die zweite und die dritte Kugel und mit ihnen das Leben. Kara Ben Halef ist ein Krieger, aber kein Mörder!«
Hierauf drehte er sich um und kam mit ernstem und doch freudestrahlendem Gesicht auf uns zugegangen. Drüben waren alle Beni Khalid aufgesprungen; sie rannten zu dem Verwundeten. Diese Hunderte von Stimmen vollführten einen wahren Höllenlärm, um den wir uns aber nicht kümmerten. Halef drückte seinen Sohn an das Herz und küßte ihn wohl zehnmal auf die Wangen. Als er sich vor der Mutter niederbeugte, legte diese ihm die Hand wie segnend auf das junge Haupt und sagte in überquellender Zärtlichkeit:
»Ich wußte, daß du siegen und auch nicht verwundet würdest. Mein Sohn, du hast alle, alle unsere Hoffnungen so schön erfüllt. Deine Eltern und der ganze Stamm der Haddedihn sind stolz auf dich! Allah behüte und beschirme deine Wege!«
Ich drückte ihm nur still die Hand und nickte ihm anerkennend zu. Da sah er mir so ernst in die Augen und sagte:
»Sihdi, weißt du, was ich dachte, als ich dort stand und auf seine erste Kugel wartete?«
»Nun?« fragte ich.
»Ich hatte keine Sorge um mich, nicht die geringste; aber ich wußte, daß nicht ich es war, der dort stand, sondern der ganze Stamm meiner lieben, lieben Haddedihn . Und als ich dreimal nicht getroffen worden war und ihn in meine Hand gegeben wußte, da hatte ich die feste Überzeugung, daß von meinen drei Kugeln zwei überflüssig seien, weil gleich die erste ihre Schuldigkeit tun werde. Mein Schuß hat diesen Beni Khalid die Frage entgegengekracht: Wenn bei den Haddedihn schon die Knaben so sicher treffen, wie erst müssen da wohl die Männer schießen!«
»Du bist von dieser Stunde kein Knabe mehr, mein braver Kara Ben Halef. Ich will es jetzt sein, der auf den unerfahrenen Jungen die richtige Antwort gibt: Du hast von jetzt an das Recht, an allen unsern Beratungen teilzunehmen. Ich gebe es dir als dein Lehrer und als der treuste Freund des Stammes, der stets bereit ist, sein Leben für euch einzusetzen!«
Er trat in freudigem Schrecke einen Schritt zurück und fragte fast stammelnd:
»Ist das wahr, Effendi, wirklich wahr?«
»Ja. Und ich hoffe, daß die Dschemmah, die Versammlung der Ältesten, es bestätigen wird!«
Da ergriff er meine beiden Hände, drückte sie an sein Herz und küßte sie dann. Sein Vater nahm sie ihm und sagte dann, die Augen voll schneller Tränen, zu mir:
»Natürlich wird die Dschemmah jedes deiner Worte bestätigen, Sihdi! Du bist nicht nur unser Freund, sondern du gehörst unserm Stamm und er gehört dir! Du bist der Herr und Besitzer aller unserer Herzen. Ich bin der Scheik, und doch bist auch du unser Scheik, wenn auch in anderer Weise. Für den Rang, den du bei uns einnimmst, ist das rechte Wort noch nicht erfunden worden, aber du darfst auch ohne dieses Wort sicher sein, daß die Ehrenstelle, die es bezeichnen würde, dir für die ganze Zeit des Lebens Anspruch auf unsern Gehorsam und auf unsere Liebe gibt. Du hast diese Stunde zu einer Stunde der Freude, des größten Stolzes für mich gemacht. Ich werde von ihr noch sprechen und erzählen, wenn mir die Zunge des Alters zu andern Erzählungen zu schwer geworden ist!«
Hanneh dankte mir auch, und zwar in echter Frauenweise:
»Ich bitte dich, Effendi, sag' deiner Emmeh, der Bewohnerin deines Zeltes, von mir, daß sie dich stets recht herzlich, recht wahr und innig lieben soll! Du bist ein unerschöpflicher Spender der Liebe; ihr Quell, der in dir liegt, kann zwar nie versiegen, aber trotz seiner Fülle soll er doch auch nehmen dürfen und empfangen, was er gibt. Sage ihr also das, und füg' hinzu, daß Hanneh auch dich liebt!«
»Ja, vergiß das nicht, und teile ihr mit, daß ich das gern erlaube!« bekräftigte der kleine Hadschi. »Nun wird der Kampf mit den Speeren gleich beginnen. Ich sage euch: Ich hätte meinen Mann auch schon so gestellt, aber das Bewußtsein, der Nachfolger meines siegreichen Sohnes zu sein, dem von unserm Effendi die höchste Kriegerehre zuteil geworden ist, wird mir Unüberwindlichkeit verleihen. Ich fühle, daß ich nicht in den Kampf gehe, sondern nur zum Spiele, und ich werde es gewinnen, wie Kara es gewonnen hat!«
Diese freudige Zuversichtlichkeit war von nicht geringem Werte. Sie machte auch auf den Persern einen wohltätigen Eindruck; das ersah ich aus den Worten, mit denen er sich an mich wendete:
»Du kannst gar nicht glauben, wie besorgt ich war! Es geht ja um das Eigentum der heiligen Stätte, welches schon in meinen Händen lag und wieder auf die Spitze des Wagnisses gelegt worden ist. Jetzt aber bin ich fast wieder ganz ruhig geworden. wir haben zwar erst nur einen Sieg errungen und müssen wenigstens zwei haben, doch wenn ich Halef so sehe und so sprechen höre, ist es mir, als hätte er seinen Gegner schon in den Sand gestreckt. Wie denkst du darüber?«
»Ich wünsche dir bloß, so ruhig zu sein, wie ich es bin. Halef ist ein ausgezeichneter Dscheridwerfer. Er hat mir so oft Gelegenheit gegeben, ihn zu bewundern, daß mich sein Gegner, zumal wir ihn gesehen haben, gar nicht bange machen kann.«
»Aber denke an die Muskeln seines Armes!«
»Die hat der Hadschi auch, und sie sind es ja nicht allein, worauf es ankommt. Horch! Es soll losgehen!«
Es war dem Scheik Tawil Ben Schahid gelungen, die Ruhe wiederherzustellen; er hatte den Schwerverwundeten hinter die Linie schaffen lassen und schritt nun die Entfernung ab, welche zwischen den Speerwerfern zu liegen hatte. Der »Vater der Selbstverständlichkeit« stand auch schon bereit.
Einen Wurfspeer hat jeder Haddedihn, auch wenn er mit dem Gewehre bewaffnet ist, stets bei sich, und zwar meist zu Jagdzwecken. Gazellen zum Beispiel werden meist nur mit dem Dscherid und nur höchst selten durch die Kugel erlegt. Die Spitze dieser Speere besteht in einem scharf und lang zugespitzten Eisen, der Schaft aus Palmenholz; Halef hatte sich die drei ihm handlichsten und dem jetzigen Zwecke entsprechendsten ausgesucht. Den Haik trug er gar nicht; nun warf er auch die Jacke ab, und als hierauf die nackten Arme zu sehen waren und ich den Perser durch einen Wink auf sie aufmerksam machte, sagte er mit leise:
»Das ist allerdings beruhigend für mich. Solche Muskeln hätte ich diesem kleinen Manne freilich nicht zugetraut!«
»Und ich wiederhole, daß es auf sie nicht allein ankommt. Sieh, wie er über seinen Gegner lächelt!«
Dieser sprang nämlich, Probewürfe machend, hin und her. Halef schenkte ihm nur kurze Aufmerksamkeit und fällte dann sein Urteil über ihn.
»Er weiß nichts von der Dschewirma, Effendi! Und indem er tut, als habe er nur die Absicht, mich bange zu machen, indem er mir eine Geschicklichkeit zeigt, will er seinen Arm für die Entscheidung vorbereiten. Das habe ich nicht nötig. Ich werde deinen Rat befolgen und ebenso wie Kara warten, bis er keinen Speer mehr hat.«
»Und dann die deinigen rasch nacheinander?«
»Ja.«
»So paß auf seine Füße auf! Aus ihrer Stellung und der Neigung seines Körpers kannst du schließen, wohin er ausweichen will; dorthin wirfst du die beiden andern!«
Jetzt erscholl die Stimme des Scheikes, und Halef schritt langsam seinem Platze zu. Ich warf unwillkürlich einen Blick auf Hanneh. Sie lächelte, und als sie bemerkte, daß ich sie ansah, nickte sie mir zu und sagte:
»Es ist mein Hadschi Halef!«
Sie ahnte wahrscheinlich gar nicht, welches Lob sie in solcher Kürze ausgesprochen hatte und weiche Summe von Vertrauen in diesem einfachen Ausspruche lag!
Tawil Ben Schahid empfing unsern Scheik mit den Worten:
»Der Schejtan hat gewollt, daß der erste Gang zu euern Gunsten ausgefallen ist; er hat unserm besten Schützen die Ruhe des Armes und die Festigkeit des Blickes genommen; aber bildet euch ja nicht ein, daß ihr gewinnen werdet! Ich sehe die drei Lanzen schon in deinem Leibe!«
»Was hast denn du hier herumzureden?« fragte ihn Halef. »Du hast dich vom Kampfe ausgeschlossen, obwohl du als Scheik die erste Person desselben sein solltest. Was wirfst du also mit Worten um dich herum? Du gehörst gar nicht hierher!«
Da stieß der Zurechtgewiesene einen zornigen Fluch aus, zog sich aber zurück, ohne noch etwas zu sagen.
Nun standen sich die beiden Hauptpersonen in einer Entfernung von fünfundzwanzig Schritten gegenüber. Der Ben Khalid hatte zwei seiner Speere vor sich in den Sand gesteckt; den dritten hielt er in der Hand, fuhr mit ihm demonstrierend durch die Luft und rief:
»Schau her! Hier steht der berühmteste Mann des Speeres, vor dessen Kraft und Geschicklichkeit du dich verkriechen mußt!«
»Natürlich!« antwortete Halef lachend.
»Du wirst jetzt erfahren, was es zu bedeuten hat, wenn jemand das Wagnis unternimmt, sich mit mir messen zu wollen!«
»Natürlich!«
»Mein Dscherid wird dir mitten durch den Leib fahren!«
»Natürlich!«
Erst jetzt, beim drittenmal, erkannte der Prahler die ironische Bedeutung dieses Wortes. Er wurde darüber zornig und schrie den Hadschi an.
»Du willst mich höhnen? Meine Antwort darauf wird deinen augenblicklichen Tod bedeuten!«
»Natürlich!« lachte Halef nun zum viertenmal.
»Das, das soll dein letztes, dein allerletztes Lachen sein! Paß auf, er kommt – er kommt!«
Während er das sagte, holte er aus und ließ den Speer bei dem letzten Worte fliegen. Die Waffe ging sehr nahe an Halef vorbei und fuhr hinter ihm mit ihrer Spitze in den Sand. Dieser Mann, war ein sehr beachtenswerter Gegner!
Es hatte genau so ausgesehen, als ob der Dscherid den Hadschi treffen müsse. Der Wurf war gut gezielt, und so ließ keiner der Beni Khalid ein Wort des Tadels hören, vielmehr erklangen die aufmunternden Rufe: »Das war gut, recht gut! Schnell noch einmal – – – noch einmal, ehe er selbst wirft!
Der Mann folgte dieser Aufforderung. Er zog den zweiten Dscherid aus dem Sande und wog ihn vor dem Wurfe weit länger als den ersten in der Hand. Er sauste zwei Hände hoch über Halefs Kopf hinweg in den Sand.
Das war nicht schlechter als das erste Mal; aber nun wurde doch gezürnt, denn die Siegessicherheit war von drei Dritteln auf eines, und zwar auf das letzte gefallen!
Es wurden dem Ben Khalid eine solche Menge von Ratschlägen zugerufen und so kräftige, moralische Rippenstöße versetzt, daß er sich zornig umdrehte und seinen Leuten zurief:
«Ich brauch euer Besserwissen nicht! Wenn ihr mehr könnt als ich, warum habt ihr euch nicht gemeldet. Kommt her, und macht es anders! Ich lasse mich von .
Er wurde in seiner Rede durch einen scharfen Pfiff Halefs unterbrochen, dem er sich jetzt wieder zuwendete.
»Was fällt dir ein, dich umzudrehen!« tadelte ihn der Hadschi. »Wenn ich das benutzt und geworfen hätte, wärst du jetzt eine Leiche!«
»Warum hast du es denn nicht getan?!« hohnlachte der andere.
»Weil der Scheik der Haddedihn keinen Feind heimlich angreift. Diese meine Ehrlichkeit hat dich gerettet!«
»Bilde dir das nicht ein! Wer weiß, wohin dein Speer geflogen wäre! So nahe wie ich dir kommst du mir nicht!«
»Natürlich!«
»Laß deinen Spott! Bis jetzt habe ich nur probiert, nun aber werde ich dich gewiß durchbohren, wie ich den Dscherid in der Hand hatte!«
»Natürlich!«
Es war klar, daß Halef durch die immerwährende Wiederholung dieses lächerlich gewordenen Wortes seinen Feind in Aufregung setzen und dadurch veranlassen wollte, auch noch den dritten Wurf zu tun. Diese Absicht erreichte ihren Zweck, denn der Ben Khalid schrie jetzt wütend:
»Ja, natürlich, natürlich und zum drittenmal natürlich, ganz natürlich! Ich werde dir beweisen, daß es so ist!«
Er tat, um mehr Wucht geben zu können, einige Schritte zurück, holte aus und schleuderte, wieder vorwärtsspringend, den Speer mit solcher Kraft, daß wir sein summendes Zischen hörten. Dann stand er bewegungslos, um mit weit vorgelegtem Oberkörper und stieren Augen den Flug der Waffe zu verfolgen, denn sie mußte, mußte und mußte treffen, weil sie die letzte war!
Halef hatte zwei Speere in der linken und den dritten in der rechten Hand. Er sah, daß der Speer richtig gezielt war und ganz genau auf ihn zugeflogen kam; es schien, als könne er sich nur durch einen Seitensprung retten. Aber der Hadschi war zu ehrliebend, als daß er hätte von sich sagen lassen mögen, daß er auch nur einen Finger breit von seinem Platze gewichen sei. Die rechte Faust bereit haltend, sah er der feindlichen Lanze scharf entgegen; die beabsichtigte, lebensgefährliche Parade gelang: Wir hörten die Speere zusammenschlagen – – – der feindliche flog, seitwärts abgelenkt, vorüber!
Da erschollen nicht etwa hundert Schreie, sondern es war nur ein einziger Schrei, der aus mehreren hundert Kehlen kam. Der Wurf war ausgezeichnet gewesen, er hatte treffen sollen und hätte auch absolut treffen müssen, unbedingt getroffen, wenn diese gewagte und so außerordentliche Parade nicht gewesen wäre! Dazu kam, daß dies die letzte Waffe des zweiten Ganges war. Man kann sich also die Enttäuschung, die Empörung der Beni Khalid über dieses Mißlingen denken! So viele Männer die zählten, so viele Stimmen schallten durcheinander, bis diejenige des Scheikes, sie alle übertönend, Ruhe gebot.
»Seid still!« rief er. »Der Gang ist ja noch nicht vorüber! Wenn der Haddedihn auch nichts trifft, so ist noch gar nichts verloren! Er mag nun auch zeigen, was er kann, oder vielmehr, was er gar nicht kann!«
Dieser Scheik sagte sich nicht, daß eine so meisterhafte Art der Abwehr auch in Beziehung auf den Angriff auf ein ungewöhnliches Können schließen ließ! Es trat wieder Ruhe ein, und der frühere Besitzer von drei Speeren ließ seine vor Wut heiser klingende Stimme erschallen, um dem Aadschi allerhand zu sagen, was alles aber nur nicht höflich war, doch auch nicht direkt beleidigend. Es war so, wie der Scheik gesagt hatte: der jetzige Augenblick lag auf dem Mittelpunkte der Waage. Wenn Halef dasselbe Unglück hatte und der dritte Gang von den Feinden gewonnen wurde, so gab es keine Entscheidung, und es mußte wahrscheinlich beschlossen werden, noch einmal von vorn anzufangen. Darum war, wenigstens bei den Beni Khalid, die Spannung jetzt auf das höchste gestiegen.
Halef sah die Augen aller auf sich gerichtet. Ich nahm an, daß er seinen Gegner nun für einige Zeit mit Finten beschäftigen werde; er tat dies aber nicht. Später erklärte er mir auf meine darauf bezügliche Frage, daß er es als der Würde eines Scheikes der Haddedihn nicht für angemessen gehalten habe, wie ein Gaukler unausgeführte Bewegungen vorzutäuschen. Er hatte recht!
Er stand lange still und unbeweglich, wie aus Marmor gemeißelt, und ließ alle Zurufe von sich abprallen. Aber dann fuhr auch ganz plötzlich, gradezu gedankenschnell, sein Arm mit dem Speer empor; der so lange erwartete Wurf geschah, und der Dscherid flog in einem hohen Bogen so genau auf sein Ziel zu, daß der Ben Khalid verloren war, wenn er auf seinem Platze blieb. Aller Augen, außer den unserigen, waren auf die fliegende Waffe gerichtet, und niemand achtete in diesem Augenblicke auf Halef. Dieser sah, daß sein Gegner den Fuß hob, um sich durch einen Sprung nach rechts zu retten, und ließ darum schnell hintereinander auch die beiden übrigen Speere fliegen, sie um ein weniges nach dieser Richtung dirigierend. Die erste Lanze kam; und der Ben Khalid machte die vorausgesehene Bewegung des Ausweichens, doch kaum hatte er das getan, so fuhr ihm die zweite, ihn mit sich niederreißend, in den seitlich obern Teil der Brust, und die dritte nagelte ihm den Arm fest in den Sand.
Der Aufruhr, den dies bei den Beni Khalid hervorbrachte, ist nicht zu beschreiben. Der Sieger kümmerte sich nicht um diesen mehr als hörbaren Erfolg seiner Überlegenheit. Er kehrte so ruhig, wie er gegangen war, zu uns zurück und sprach da nur die Frage aus:
»Hätte ich es besser machen können, Sihdi?«
»Nein«, antwortete ich. »Du hast alle Erwartungen so vollständig erfüllt, daß ich dir danken muß. Komm, gib mir deine Hand!«
Während ich sie ihm schüttelte, richtete er sein Auge auf Hanneh. Sie sah lächelnd zu ihm auf und sagte nichts als:
»Ich wußte es!«
Doch reichte sie ihm beide Hände hin, die er, sich zu ihr neigend, an seine Lippen zog. Dabei flüsterte er ihr zu:
»Ich zeige auch sonst meinen Rücken keinem Feinde; aber wenn ich dich bei mir weiß, dann wird aus deinem alten, tapfern Löwen eine ganze Löwenschar!«
Auch der Basch Nazyr richtete das Wort an ihn:
»Hadschi Halef, du hast mir den Schatz gerettet, denn nach dieser ihrer zweiten Niederlage haben die Beni Khalid keinen Anspruch darauf. Wahrscheinlich werden sie nun auf den dritten Gang verzichten.«
Da entgegnete ihm Omar Ben Sadek, der sich schon bereitgemacht und seinen Oberkörper entkleidet hatte:
»Das darfst du ja nicht denken. Du siehst, daß ich schon kampffertig bin. Dieser Gang wird ihnen zwar auf keinen Fall den Schatz der Glieder bringen, aber sie meinen, sich rächen zu können, darum darfst du sicher sein, daß sie nicht auf ihn verzichten werden.«
Der Perser betrachtete den jetzt nicht mehr verhüllten Bau des Oberkörpers dessen, der dies sagte. Er schüttelte den Kopf und sprach:
»Eure kriegerische Befähigung entdeckt man erst, wenn man euch ohne Hülle sieht. Du bist ja fast zweimal so breit wie ich!«
»Das hast du noch nicht bemerkt?« lachte Omar vergnügt.
»Nein!«
»So paß nachher auf, wenn ich den Ben Khalid aus den Angeln hebe! Wir haben von unserm Effendi einen wunderbaren Griff unter das Schlüsselbein gelernt. Dazu gebe ich einen Stoß in die andere Achselhöhle, fasse an der Seite herunter in das Fleisch und lege, wenn dies sehr schnell und mit voller Körperkraft geschieht, den stärksten Mann dann nieder in den Sand.«
»Also das ist auch vom Effendi?«
»Nein«, fiel ich da ein. »Nur den Griff unter das Schlüsselbein habe ich gezeigt; das andere hat Omar Ben Sadek hinzuprobiert und mir erst kurz vor unserer Reise gezeigt. Er ist also in Beziehung auf dieses Kunst und Kraftstück mein Lehrer, und ich bin neugierig, ob ich es ihm nachmachen kann. Heut werde ich es zum erstenmale im Ernste ausgeführt sehen.«
Da ertönte die donnernde Stimme des Scheiks Tawil:
»Der Ringer her!«
Ich stand sofort auf und ging hinüber zu ihm. Diese Art und Weise, uns anzuschreien, verdiente eine Lektion.
»Bist du es denn, der ringen wird?« fragte er mich, indem er mich mit seinen Augen durchbohren zu wollen schien.
»Nein«, antwortete ich.
»So packe dich fort! Hier haben nur die Ringer Platz.«
»Bist du einer?«
»Welche Frage! Ich doch nicht!«
»So packe auch du dich fort!«
»Ich befehlige den Kampf!«
»Ich auch!«
»Wer hat dir das erlaubt?«
»Wer dir?«
»Ich!«
»Ich sage ebenso Ich! Du hast dir dieses Recht angemaßt, und wir sind dazu still gewesen. weil es dem Stärkeren geziemt, daß er nachgibt; aber den Ton, in welchem du jetzt zu uns zu sprechen wagst, den werden wir uns verbitten! Du hättest vielmehr alle Veranlassung, höflich und bescheiden zu sein, denn wir sind nicht nur bisher Sieger, sondern werden euch beweisen, daß wir es auch bleiben! Der Kanz el A'da gehört uns schon; die Fortsetzung des Kampfes ist also vollständig überflüssig.«
»Ihr fürchtet euch?!«
»Diese Frage ist nach dem bisher Geschehenen so kindisch lächerlich, daß ich sie gar nicht beantworte. Ich will dir nur das Verständnis dafür geben, daß wir, wenn wir auch den dritten Gang beenden, dies nur freiwillig tun.«
»Freiwillig? Ich würde euch zwingen!«
»Alah mahlak!«
»Sieh dort meine Leute!«
»Alah mahlak!«
»Und sieh hier mich!«
Er warf sich in die Brust, als ob er ein Halbgott und ich ein reiner Garnichts sei. Darum ließ ich meine Augen vom Kopfe bis zu den Füßen herab langsam und höchst geringschätzig über ihn gleiten und antwortete wieder nur:
»Alah mahlak!«
Dies brachte ihn so in Wut, daß er mich beim Arme faßte und mir grad in das Gesicht brüllte:
»Leiste sofort Abbitte, sonst zermalme ich dich mit meinen Fäusten!«
»Ich habe nichts abzubitten«, antwortete ich sehr ruhig. »Es ist ausgemacht, daß jede Beleidigung zu vermeiden sei; du aber hast uns angebrüllt, als ob wir räudige Hunde seien; du beleidigst jetzt auch mich; ja, du wagst es sogar, die Hand an mich zu legen. Du brichst also den Frieden! Paß auf, was ich dir jetzt sage! Achtest du nicht sofort auf meine Worte, so zeige ich dir, ob du es bist, der mich zermalmen kann! Also: Weg mit deiner Hand von meinem Arm!«
»Hund!« antwortete er, indem er auch den andern faßte. »Ihr habt euch darüber aufgehalten, daß ich mich nicht mit am Kampfe beteiligt habe. Jetzt will ich dir zeigen, ob –«
Er sprach nicht weiter, denn was jetzt geschah, raubte ihm die Sprache. Er hatte während seiner überlaut gebrüllten Worte versucht, mich niederzuwerfen; da aber bekam er den vorhin erwähnten Griff unter das Schlüsselbein, was ihn zwang, mit der entgegengesetzten Hand mich loszulassen und herüberzulangen. Dadurch gab er die Achselgrube frei, in welche sofort von unten herauf mein Hieb zu sitzen kam, der ihn mit unwiderstehlicher Gewalt auf die Seite warf, indem er ihm den Fuß aushob, und nun fuhr ich mit derselben Hand schnell herunter und faßte ihn so rücksichtslos fest in der Weiche, daß er sogar das Schreien vergaß. So hob ich ihn auf und warf ihn nieder auf die Erde.
Das war in Zeit von kaum zehn Sekunden geschehen, so schnell, daß seine Leute ihn liegen sahen, ohne eigentlich zu wissen, wie das zugegangen war. Er wollte zwar wieder aufspringen, um mich zu fassen, konnte aber nicht. Es gelang ihm nur, sich unter schmerzlichem Ächzen und fast atemlos sehr langsam zu erheben. Als er dann gebeugt vor mir stand, denn den Oberkörper grad zu halten, das brachte er noch nicht gleich fertig, sprach ich in demselben ruhigen Tone wie vorher:
»Nun, wie steht es mit dem Zermalmen? Daß du mich einen Hund genannt hast, das verzeihe ich dir; aber du hast dich an mir vergriffen, und das bringt Schande über dich und deinen ganzen Stamm! Von nun an wird es heißen: Tawil Ben Schahid, der Scheik der Beni Khalid, der so stolz auf die Unverbrüchlichkeit und Heiligkeit seines Wortes ist, hat nicht nur dieses sein Wort, sondern sogar seinen Schwur, höre! seinen auf den Kuran geleisteten Schwur gebrochen! Wenn du diese Schande tragen kannst, so trage sie; ich aber würde mir eine Kugel durch den Kopf jagen!«
Nach diesen Worten ließ ich ihn stehen und ging an meinen Platz zurück. Von da aus sah ich ihn langsam forthinken, zu seinen Leuten hin.
»Das hast du recht gemacht!« sagte Halef. »Nun ist auch er besiegt, körperlich und moralisch! Wie wird er seinen Zorn verwünschen, der ihn zu diesem Fehler verführt hat!«
»Und ich habe da gleich Gelegenheit gefunden, den Kraftstreich auszuführen, den ich von Omar gelernt habe. Er ist ausgezeichnet. Nur schonen darf man nicht dabei; dann nimmt er dem Betreffenden den Atem und die ganze Kraft zum Widerstande.«
»Das scheint der Fall zu sein«, bemerkte Halef; »denn Tawil Ben Schahid geht gebückt wie ein alter Greis, der den Stock zu Hilfe nehmen muß. Nun bin ich wirklich neugierig, was geschehen wird. Vielleicht hetzt er seine Krieger zum offenen und sofortigen Angriff gegen uns!«
»Das befürchte ich nicht«, war meine Meinung. »Ich halte den Stoß, welchen er auf die Unverletzlichkeit seines Wortes legt, für echt. Er wird die jetzige Niederlage schwer empfinden, so schwer, daß er gegen seine Leute darüber schweigt. Wenn mich meine Vermutung nicht täuscht, so tritt etwas ganz Unerwartetes ein.«
»Was?«
»Das kann Verschiedenerlei sein, wahrscheinlich ein Rückzug ohne Beendigung des Kampfes.«
»Das würde mir sehr unlieb sein«, bemerkte Omar Ben Sadek. »Ich will doch auch meinen Gegner haben!«
»Sei nicht unwirsch darüber! Du wirst später mehr als nur diesen einen finden. Unser Übereinkommen bezieht sich ja nur auf den heutigen Tag: von morgen an ist ihre Feindschaft doppelt unversöhnlich. Ich bin vollständig überzeugt, daß wir nach unserer Entfernung von hier nicht lange auf einen neuen und zwar viel gefährlicheren Angriff von ihnen zu warten haben. Sie werden überhaupt nach Rache dürsten, und der Scheik wird im Besonderen darnach trachten, denjenigen den Mund sprachlos zu machen, welche erzählen können, daß er seinen Schwur gebrochen hat.«
Die Vermutung, von welcher ich gesprochen hatte, ging wirklich in Erfüllung. Wir sahen, daß der Scheik die ansehnlichsten seiner Krieger um sich versammelt hatte und mit ihnen beriet. Das dauerte eine geraume Zeit; dann kam er allein wieder über den Platz herüber und blieb, uns winkend, dort stehen. Er konnte sich schon besser aufrichten als vorhin. Ich ging mit Halef hin. Als wir ihn erreichten, versuchte er, seinem Gesichte nur einen Ausdruck des Ernstes zu geben; aber er konnte doch nicht ganz verleugnen, daß ein Vulkan des Hasses und der Rache in ihm lag.
»Hadschi Halef Omar und Akil Schatir Effendi«, begann er »ich will euch mit dem Freimute eines berühmten Kriegers gestehen, daß ich eine Übereilung begangen habe, die ich hätte unterlassen sollen, Ich bitte euch, sie zu vergessen und gegen niemanden davon zu sprechen! Für die Erfüllung dieses Wunsches biete ich euch Entschädigung.«
»Welche?« fragte ich.
»Wir verzichten zunächst auf die Fortsetzung des Kampfes.«
»Das heißt, wir sollen auf den dritten Sieg verzichten; so ist es. Doch weiter!«
»Wir nehmen sofort unsern Aufbruch und ziehen fort!«
»Das müßtet ihr sowieso, denn der Besiegte ist dazu gezwungen. Weiter.«
»Wir lassen euch den Kanz el A'da.«
»Den könnt ihr uns nicht nehmen; er ist dem Sieger zuerkannt, und wir haben ja gesiegt. Noch etwas?«
»Ihr macht keine Ansprüche auf die Mekkaner.«
»Behaltet sie in Allahs Namen, denn wir sind herzlich froh, daß wir uns nicht mehr mit ihnen zu befassen brauchen!«
»So seid ihr also einverstanden?«
»Das habe ich nicht gesagt. Du verlangst von uns das Geschenk der Verschwiegenheit und bietest uns dafür nur Dinge, die schon unser Eigentum sind, Das ist für dich freilich ein vorteilhafter Handel, bei dem du alles bekommst und nichts zu geben hast. Da wir nun keine geistig blinden Menschen sind, so wollen wir uns, ehe wir dir unser Wort geben, die Angelegenheit doch erst einmal näher betrachten. Wohin reitet ihr von hier?«
»Nach der Ain Bahrid«.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Irre ich mich nicht, so liegt sie eine volle Tagesreise im Südwesten von hier?«
»Ja.«
»Und dorthin wollt ihr reiten? So, so! Ich habe bisher angenommen, daß der Pfad des Krieges, auf dem ihr euch befindet, euch nach Westen und Nordwesten führt! Doch geht uns das nichts an, denn eure Wege sind nicht unsere Wege; aber weit wir darum wünschen, daß sie nicht wieder zusammenführen, so hoffen wir, daß ihr auch wirklich und direkt nach der Ain Bahrid reitet. Es war ausgemacht, daß nach der Beendigung des Zweikampfes für heute Friede zwischen uns sein solle. Wie steht es damit?«
»Es bleibt dabei.«
»Für heute nur?«
»Ja.«
»Und später?«
»Wieder Kampf.«
»Und da sollen wir dir Verschwiegenheit versprechen, für die du nichts weiter als nur Fortsetzung der Feindschaft bieten kannst!«
»Ich habe euch doch viel, viel mehr versprochen!«
»Das haben wir ja alles schon! Dieser dein Vorschlag ist so kindisch, daß wir uns sogar schämen müssen, darüber zu lachen! Wir sind keine Kinder, die man mit nichtssagenden Worten oder mit leblosen Puppen beruhigen kann, sondern Männer, denen die Stürme der Wüste und des Lebens noch öfter und drohender als euch um die Nase gepfiffen sind, und als solche durchschauen wir dich nur zu wohl. Du sollst also auf deine Anfrage nicht eine kindische Zusage, sondern eine Männerantwort zu hören bekommen, und diese lautet folgendermaßen: Ihr verlaßt den Bir Hilu sofort und gebt uns für heute den ausbedungenen Frieden. Wenn ihr das tut, so versprechen wir dir die gewünschte Verschwiegenheit für uns so lange, als uns nichts Feindliches von euch widerfährt. Das ist unser Entschluß, zu welchem nichts getan und von weichem auch nichts genommen wird.«
»Hast du nichts hinzuzufügen?«
»Nein; ich sage es ja; kein Wort!«
»Also ihr werdet schweigen, so lange euch von uns nichts geschieht?«
»Ja.«
»Gut, ich bin zufrieden!«
»Dieser jetzige Handel gilt?«
»Ja.«
»Du gibst dein Wort?«
»Ich gebe es!«
»Reiche Hadschi Halef Omar, dem Scheik der Haddedihn, deine Hand darauf, dann sind wir fertig!«
Er tat es, hielt die Hand Halefs fest, sah ihm und dann auch mir ebenso fest in die Augen und wiederholte, jedes Wort einzeln und schwer betonend:
»Ihr schweigt, so lange euch von uns nichts geschieht! Abgemacht! Wir reiten fort!«
Hierauf drehte er sich um und ging hinüber zu seinen Leuten. Halef sah mich fragend an und schüttelte den Kopf.
»Dir ist etwas nicht klar?« fragte ich ihn.
»Allerdings!«
»Was?«
»Warum wiederholte er diesen Satz und betonte ihn in solcher Weise, Effendi?«
»Weil er ein höchst unvorsichtiger Mann ist, der gar nicht ahnt, daß er uns seine Absichten damit verraten hat.«
»Wieso?«
»Du glaubst doch, daß die Beni Khalid darauf brennen, sich an uns zu rächen?«
»Das ist doch so sicher, daß wir gar kein Wort darüber zu verlieren brauchen!«
»so dauert also unsere Verschwiegenheit von heut an bis zum nächsten Angriffe ihrerseits; da der Scheik aber unserer Schweigsamkeit nicht traut, wird er diese Zeit möglichst abzukürzen, zu verringern suchen. Verstehst du mich?«
»Sehr gut, sehr gut! Du meinst, daß wir es baldigst wieder mit ihnen zu tun haben werden.«
»Ja. Heut zwar nicht, denn Wort wird er halten, aber sehr wahrscheinlich morgen schon, und wenn das nicht, dann sicher übermorgen, damit wir nicht etwa Gelegenheit bekommen, mit Leuten zusammenzutreffen, denen wir von seinem Schwuresbruche erzählen können. Wir haben uns also so in acht zu nehmen, wie noch selten in unserm Leben. Das hat er uns verraten, ohne es zu wissen. Er wollte uns unsere Verpflichtung so tief und fest wie möglich einprägen und dachte dabei aber nicht, daß grad in dieser Wiederholung für einen vorsichtigen und scharfsinnigen Mann die Aufforderung lag, zwischen seinen Worten die verborgenen Gedanken herauszulesen.«
Omar Ben Sadek sah sich also zu seinem wirklichen Leidwesen gezwungen, auf eine der Ehre seines Stammes geltende Heldentat zu verzichten. Er versicherte, sich darauf gefreut zu haben, und wir alle glaubten ihm das gern. Eigentlich trug ich die Schuld an dieser Entsagung, denn wenn ich nicht auf den Gedanken gekommen wäre, dem Scheik der Beni Khalid die erteilte Lektion zu geben, so hätte der dritte Gang wohl noch ausgekämpft werden müssen, aber dann wäre uns nicht durch den Wortbruch Tawils eine Waffe in die Hand gegeben worden, die nicht nur für heut', sondern auch für später geeignet war, uns gute Dienste zu leisten.
Wir sahen zu unserer Genugtuung, daß sich die Beni Khalid zum schnellen Aufbruche rüsteten. Daß sie nicht direkt nach der Ain Bahrid reiten würden, stand für mich außer allem Zweifel. Ich hatte diese Quelle und ihre Lage, als er von ihr sprach, gekannt, weil sie auch unser nächstes Ziel war, nach welchem wir uns zu wenden hatten, gleichviel, ob die Beni Khalid auch hingingen oder nicht. Sie war die nächste Wasserstation auf unserer Route.
Eigentlich konnten wir mit unserm Erfolge sehr zufrieden sein. Wir hatten die gestohlenen Sachen bekommen und den Perser mit seinen Soldaten befreit, wir Fünfzig gegen eine uns so vielfach überlegene Schar! Ja sogar den Kampfplatz hatten wir behauptet, während die Überlisteten und Besiegten gezwungen waren, abzuziehen!
Als ihre Vorbereitungen ziemlich vollendet waren, sahen wir den Scheik noch einmal herüberkommen. Hinter ihm ging zu unserem Erstaunen der Ghani, welcher den Münedschi an der Hand führte. Daß dem ersteren noch etwas eingefallen war, was er uns nachträglich zu sagen hatte, das war ja leicht denkbar; was aber wollten die beiden andern noch hier bei uns?
Sie kamen zunächst nicht ganz heran, sondern blieben in einiger Entfernung von uns stehen. Der Scheik sagte:
»Ich komme nicht um meinetwillen, sondern nur um dieser beiden Männer wegen. Sie wollen von euch etwas holen und fürchten, von euch feindlich behandelt zu werden. Da sie als Gastfreunde unter meinem Schutze stehen, habe ich dafür zu sorgen, daß dies nicht geschehe. und sie also begleitet. Dürfen sie hinkommen zu euch?«
»Ja«, antwortete Halef.
»Ihr vergreift euch nicht an ihnen und haltet sie fest?«
»Das kann uns gar nicht in den Sinn kommen!«
»So habe ich meine Pflicht getan und werde hier stehen bleiben, um auf sie zu warten. Geht!«
Diese letztere Aufforderung war an den Ghani gerichtet, welcher ihr folgte, indem er mit dem Blinden vollends zu uns kam. Er deutete auf das Paket, welches neben dem Perser lag und sagte:
»Ihr habt mir dieses mein Eigentum gestohlen, welches ihr als Kanz el A'da bezeichnet, um euern Diebstahl.«
»Halt!« unterbrach ich ihn da. »Wir haben euch erlaubt, mit uns zu sprechen, und unser Wort gegeben, daß euch nichts geschehen soll. Wenn du es aber wagst, uns solche schamlose, freche Beschuldigungen, deren Grundlosigkeit du am allerbesten kennst, in das Gesicht zu werfen, so stehe ich für nichts. Sag' also kurz, was du willst, und nimm dich zusammen, kein unnützes Wort zu sprechen!«
Er schien sich gar nicht sehr eingeschüchtert zu fühlen, fuhr aber nun ohne weitere Beleidigungen fort:
»Die Sachen sind in meinen Gebetsteppich gewickelt. Ich muß sie euch lassen, weil der Scheik der Beni Khalid sie euch zugesprochen hat; aber den Teppich verlange ich zurück!«
»Du irrst. Es hat uns niemand diese Gegenstände zugesprochen, sondern das Wüstengericht der Haddedihn hat erkannt, daß sie Eigentum des Kanz el A'da in Meschhed Ali sind, wo sie gestohlen wurden. Daß ein Teppich des Gebetes zur Umhüllung gestohlener Sachen benutzt wird, könnte man vielleicht einem ungläubigen Abd el Asnahm, nie aber dem Liebling des Großscherifs' von Mekka zutrauen. Ihr habt da eben ganz Unglaubliches geleistet. Daß ein so entweihter Teppich wieder seine fromme Benutzung finden werde, halte zwar ich für ganz ausgeschlossen, euch aber ist das allerdings wohl zuzutrauen –«
»Ihn Harahm! Cha'in!« rief der Blinde laut dazwischen, indem er mit der Gebärde tiefsten Abscheues seine Hände emporwarf.
Ich wußte in diesem Augenblicke nicht, wem das gelten sollte, und fuhr also fort:
»Es fällt uns gar nicht ein, uns an diesem Stücke zu bereichern; es wird dir gleich zurückgegeben werden.«
»Ja, sofort!« stimmte der Basch Nazyr bei. »Es kann mir bloß lieb sein, wenn ich nichts mehr zu berühren brauche, was Eigentum von Dieben ist.«
Er wickelte das Paket auf, legte die Beutel einstweilen neben sich und warf dem Ghani den Teppich samt der Schnur zu. Dieser hob beides auf.
»Seid ihr nun fertig?« fragte ich.
»Nein. Der Münedschi ist auch da«, antwortete der »Liebling«.
»Was will er?«
Da trat der Blinde, dem Klange meiner Stimme folgend, nahe zu mir heran und sagte:
»Damit ich mich ja nicht irre, muß ich wissen, ob du der Effendi aus dem Wadi Draha bist. Du hast seine Stimme, ich könnte mich trotzdem täuschen und einen großen Fehler begehen. Was ich dir zu sagen habe, ist für keinen andern. Also du bist es?«
»Ja.«
»Neige dein Gesicht ganz nahe her zu mir! Du weißt, daß ich dich dann erkennen kann, weit die Sonne scheint.«
Ich hatte keinen Grund, ihm diese Bitte abzuschlagen, und hielt ihm das Gesicht hin. Er hob die Hände, faßte hüben und drüben meinen Kopf, hielt ihn fest und spie mir ein, zwei, dreimal in das Gesicht. Auf so einen Angriff gar nicht gefaßt und von ihm mit allen seinen Kräften festgehalten, gelang mir die Befreiung meines Kopfes nicht schnell genug, der dreimaligen Mißhandlung zu entgehen. Ein fünfzigfacher Schrei der Haddedhin ertönte rundum, und Halef packte mit beiden Fäusten den Blinden an der Brust.
»Mensch! Wahnsinniger!« schrie er ihn, ganz außer sich, an. »Was hast du getan! Du bist ein Greis und blind dazu, aber das soll mich nicht abhalten, dich zu Brei zu malmen!«
Er hatte ihn schon fast nieder; ich griff also, ohne mich abwischen zu können, schnell zu, riß ihn von dem Münedschi weg und befahl mit lauter Stimme:
»Daß keiner den Blinden anrührt! Diese Beleidigung geht nur mich an, keinen andern Menschen!«
»Aber Sihdi, er hat es gewollt; er hat es beabsichtigt!« rief Halef, noch immer höchst aufgeregt »Er befindet sich nicht in seinem Zustande des Traumes, sondern er ist wach und vollständig im Besitze seiner Sinne! Er hat also nicht unbewußt gehandelt, sondern mit klarer Überlegung, und da ist es eine so freche und infame Besudelung deiner Person, daß die Strafe gar nicht hart und schnell genug erfolgen kann!«
»Das ändert gar nichts daran, daß nur ich allein darauf zu antworten habe! Er will sprechen, seid still!«
Hanneh war auch erschrocken aufgesprungen. Sie kam heran zu mir, wischte mir den Geifer aus dem Gesichte und liebkoste mir dann, ohne dabei zu sprechen, mit ihrer Hand die nach Ansicht ihres Mannes so fürchterlich gekränkten Wangen. Während sie das tat, sprach der Münedschi:
»Das, das wollte ich dir sagen, ja, sagen, denn das Anspeien ist ja die deutlichste der Sprachen! Du bist der elendste, der armseligste Mensch, der mir jemals vorgekommen ist! Mit Worten der Liebe hast du dich in mein Herz gestohlen, während in dem deinigen nur der Haß regiert! Du gabst dir den Anschein der Seelenreinheit, der Gedankenhöhe und wälzest dich doch in dem tiefsten, niedrigsten Schmutze des Verbrechens! Du hast das Kleid der Güte, der Barmherzigkeit um dich geschlagen und hetzest doch die Menschen wie Hunde, die sich zerreißen sollen, aufeinander. Du heuchelst Wahrheit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Treue und bist doch voller Falschheit, Lug und Trug! Ja, deine Gelehrsamkeit ist groß, wohl größer als das Wissen, weiches ich mir mühsam erworben habe, aber du hast sie in den Pfuhl der sittlichen Verdorbenheit geworfen, aus dem heraus sie nur verderbend anstatt Segen bringend wirken kann! Du gibst vor, himmelan zu streben und stehst doch nicht nur auf dem Weg zur Hölle, sondern bist schon jetzt und selbst ein Abgrund schlimmster Teufelei! Du tust, als liege dir der Menschen Seligkeit am Herzen und bist doch ein Verführer zum Verbrechen und trägst die Schuld an all der Schlechtigkeit, die hier geschehen ist! Ihr sprecht von einem Kanz el A'da, der eine unverschämte Lüge ist, du aber hast einen Raub an mir begangen, hast meine Seele betrogen und bestohlen und mir einen innern Verlust zugefügt, für den es keinen Ersatz gibt! Das mußte ich dir sagen; nur darum ließ ich mich jetzt zu dir führen, um dich des Seelenraubes, ja, des Seelenmordes anzuklagen und dir in das Gesicht zu speien, damit du erfährst, wie der von dir denkt, dem du das Herz nur öffnetest, um es noch ärmer und elender zu machen, als es vorher war! Das erblindete Auge meines Körpers ist trocken, aber mein inneres Auge weint. Ich gebe dich der Strafe Allahs heim und fordere von ihm, für dich nicht Gnade, nicht Barmherzigkeit zu haben, sondern nur den Untergang, das ewige Verderben!«
Die Wucht dieser gegen mich geschleuderten Anklagen wurden durch den Eindruck seiner Persönlichkeit überhaupt und dann auch durch die Art und Weise verstärkt, wie er sie vorbrachte. Das waren ja wahre Keulenschläge, die mich aber nicht treffen konnten, und also in die Luft geführt. Die Haddedihn waren so betroffen, daß sie nur erstaunte Blicke hatten. Halef schaute mich erwartungsvoll an, was ich nun sagen werde. Ich öffnete auch schon den Mund, um zu antworten, da trat der Ghani auch zu mir heran und warf mir die Worte zu:
»Mein Schützling, der von meiner Barmherzigkeit lebt und unsere Unschuld kennt, hat mir aus dem Herzen gesprochen. Ich bestätige alles, was er gesägt hat, und zeige dir meine Verachtung in ganz derselben Weise wie er, indem ich dich ansp- – – – !«
Wahrhaftig, dieser Mensch war so frechverwegen, auch speien und spucken zu wollen! Vielleicht machte ihn meine Selbstbeherrschung, welche ich dem Münedschi gegenüber zeigte, so vermessen! Aber er hatte das Wort noch nicht ganz ausgesprochen, so bekam er von mir eine so gewaltige Maulschelle, nicht etwa bloß Ohrfeige, daß er, wie von Pulverkraft getrieben, zur Seite und unter die Haddedihn hineinflog. Fast hätte er einige von ihnen mit in seinen Sturz gerissen. Sie stürzten sofort über ihn her, um das von meiner Hand begonnene Werk so tatkräftig fortzusetzen, daß seine heulende Stimme über den ganzen Platz schallte. Da sprang der Scheik herbei. Er schlug, um ihn zu befreien, auf sie ein und schrie:
»Weg von ihm, weg! Er steht unter meinem Schutze! Indem ihr euch an ihm vergreift, brecht ihr die für heut getroffene, friedliche Vereinbarung!«
Da drängte ihn Halef von ihnen ab und antwortete drohend:
»Zurück mit dir, augenblicklich zurück! Wer hat sie zuerst gebrochen, wir oder ihr? Das weiche Herz unsers Effendi hat den Münedschi geschont, weil der alte Mann blind und auch sonst unzurechnungsfähig ist, dem Ghani aber, diesem Ausbund der maßlosesten Unverschämtheit, muß gezeigt werden, daß wir ihn mit demjenigen Eifer zu behandeln wissen, den wir seinem Verhalten schuldig sind. Ich an deiner Stelle würde mich schämen, hier noch von Schutz zu sprechen! Eure Dreistigkeit ist geradezu empörend!«
Er nahm sich aber doch des Gezüchtigten an, indem er ihn aus den Händen der Haddedihn befreite, was allerdings nicht allzuschnell vonstatten ging. Die »eifrige Behandlung« hatte zur Folge, daß er fast des Gebrauches seiner Glieder beraubt war. Er hinkte zu dem Münedschi hin und ergriff seine Hand, um ihn fortzuführen; dies geschah aber nicht, ohne daß er uns noch drohend zuzischte.
»Wartet bis Mekka, bis Mekka! Oder vielleicht noch viel, viel eher, ihr Hunde!«
Der Scheik entfernte sich mit schnellen Schritten. Sein »Schützling« krümmte sich, so gut oder übel er konnte, mit dem Blinden hinter ihm her.
»Ich habe schon viel, sehr viel erlebt«, meinte Halef »und so manchen von Gott verlassenen Menschen kennengelernt, aber so etwas hätte ich doch nicht für möglich gehalten! Doch, er hat für einstweilen seinen Lohn, und wahrscheinlich wird er uns in dieser Beziehung noch besser kennen lernen! Aber, Effendi, du warst ganz still! Warum hast du zu dem Münedschi kein einziges Wort der Verteidigung gesagt? Nun ist er überzeugt, daß er recht, habe!«
»Erstens ging alles so schnell, daß es für mich keine Zeit zum Sprechen gab, und zweitens war es wohl genug von mir, daß ich überhaupt schwieg. Und wenn ich ihm seine stundenlange Rede gehalten hätte, so wäre sie doch ohne Erfolg geblieben. Ich habe ihm verziehen und denke, daß für jetzt nicht mehr erforderlich war. Betrachten wir diesen so ganz unerwarteten Angriff als ungeschehen!«
»Gut! Es ist wohl auch am richtigsten so! Wir haben jetzt an Dinge zu denken, weiche für uns wichtiger sind als diese grundlosen Beschuldigungen aus dem Munde eines armen, mißgeleiteten, blinden Mannes. Ich hätte ihn in der ersten Hitze umbringen können; nun aber freue ich mich, daß du mich davon abgehalten hast, ihn zu züchtigen. – – – Was tun wir jetzt? Wann setzen wir unsere Reise fort?«
»Morgen früh.«
»Erst? Warum nicht schon heut?«
»Weil wir erst an der Ain Bahrid Wasser finden und sie heut' nicht erreichen würden, denn die Beni Khalid sind zwischen uns und ihr. Ich vermute überhaupt, daß wir nicht so schnell, wie wir es wünschen, an diese Quelle kommen werden; die Rache Ben Schahids hält uns auf. Darum haben wir uns vor allen Dingen mit Wasser zu versehen und werden den heutigen Tag zur Füllung unserer Schläuche benutzen, doch nicht eher, als bis Khutub Agha dies mit den seinigen getan hat.«
»Warum ich?« fragte der Perser.
»Weil du natürlich so bald wie möglich fortreitest.«
»So bald wie möglich? Nein, Effendi! Ich habe gesagt, daß wir diesen Ort nicht eher als ihr verlassen werden, und von diesem Vorhaben bringt mich niemand ab, auch du nicht. Soll Dschafar, unser gemeinschaftlicher Freund, wenn ich ihn treffe, mir den erstaunten Vorwurf machen, daß ich mit Kara Ben Nemsi zusammen gewesen bin und dieses Glück, diesen Vorzug nicht bis zum letzten Augenblick ausgenützt habe? Und wenn du mir alles zumuten darfst, alles andere, aber nur das nicht!«
»So ist es meine Pflicht, dich zu warnen! Der Scheik der Beni Khalid ist ohne Zweifel gewillt, dir den Kanz el A'da wieder abzunehmen. Jetzt, wenn du dich so bald wie möglich von hier entfernst, muß er darauf verzichten; bleibst du aber bis morgen hier, so gibst du ihm Zeit, diese seine Absicht auf irgendeine Weise auszuführen. Das mußt du bedenken!«
»Ich bedenke es und bleibe dennoch da. Auf mein gestriges Zusammentreffen mit ihm war ich nicht vorbereitet; nun ich aber weiß, woran ich bin, kann es ihm unmöglich gelingen, mich zum zweitenmal festzunehmen. Also, ich bitte dich, rede mir nicht darein; ich bleibe!«
Er sagte das in einem so bestimmten Tone, daß ich die Vergeblichkeit jedes weiteren Einspruches einsehen mußte und also schwieg, obgleich ich es viel, viel lieber gesehen hätte, wenn er von diesem seinem Vorhaben abgewichen wäre, welches gefährlicher für ihn war, als er in seiner Unerfahrenheit jetzt dachte.
Bald hierauf sahen wir die Beni Khalid mit ihren ›Gastfreunden‹ abziehen, und einige Zeit später schickten wir ihnen zwei Haddedihn zur Beobachtung nach. Das war eine Vorsichtsmaßregel, deren Ausführung wir nicht versäumen durften.
Nun waren wir allein und für den heutigen Tag wahrscheinlich sicher. Da machten unsere Leute es sich bequem. Der Platz und seine Umgebung wurden auf das genaueste durchforscht und die hiesigen Verhältnisse ebenso genau und ausgiebig im Gespräche durchgenommen. Der Vormittag verlief vollends, ohne daß etwas Erwähnenswertes geschah, und ein großer Teil des Nachmittages auch. Dann aber bekamen wir am Brunnen Besuch, nämlich zwei Beduinen, welche auf Eilkamelen aus westlicher Richtung kamen und, als sie den Brunnen besetzt sahen, von weitem halten blieben. Sie beobachteten uns eine Weile und kamen dann näher. Der Umstand, daß Soldaten bei uns waren, mochte ihr Mißtrauen zerstreut haben. Als sie uns erreicht hatten, stiegen sie aber nicht sogleich ab.
»Hadschahdsch!« sagte der eine von ihnen, weiter nichts.
Dieses Wort ist der Plural von Hadschi und sollte soviel heißen wie. »Wir sind Mekkapilger!« Es gibt nämlich eine Vorschrift, nach welcher man gegen jeden Pilger Frieden zu hatten hat, während er unterwegs ist, selbst wenn er einem feindlichen Stamme angehört. Doch aber sind es grad die Pilgerzüge, welche sich vor den räuberischen Beduinen am meisten in acht zu nehmen haben. Daß diese beiden Männer hier Hadschahdsch seien, das glaubten wir nicht; sie legten sich diese Eigenschaft nur bei, um von uns nicht feindlich aufgenommen zu werden. Halef antwortete:
»Seid uns willkommen, und steigt getrost ab! Wir haben Platz und auch Wasser für euch!«
»Wer seid Ihr?«
»Ich bin Hadschi Halef Omar, der oberste Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar.«
»Und diese Asaker?«
»Sie sind in der hiesigen Gegend gewesen, um einen Flüchtling einzufangen, und kehren nun nach Meschhed Ali zurück. Und welchem Stamme gehört ihr an?«
»Wir sind Scherarat von der Ferkah Fawwahl und haben nicht die Absicht, lange hier zu bleiben. Erlaubt uns nur, unsere Kamele zu tränken; dann reiten wir wieder fort.«
Das mußte auffallen. Wenn sie friedliche Pilger waren, so blieben sie hier, denn der nächste Brunnen war eine Tagereise entfernt, und als Wallfahrer treibt man sich doch nicht des Nachts in einem unbekannten Teile der Wüste herum. Ich machte also Halef die leise Aufforderung, seinen Leuten und auch den Soldaten den Befehl zu geben, sich ja nicht etwa ausfragen zu lassen. Er tat dies so, daß die Fremden es nicht bemerkten.
Diese letzteren hatten ganz besondere Blicke für unsere Pferde und für das getüpfelte Hedschihn des Persers. Die Art und Weise, wie sie diese Tiere nur ganz verstohlen aber mit gieriger Bewunderung betrachteten und einander dann ansahen, fiel nicht nur mir, sondern auch Hadschi Halef auf.
»Effendi, das sind Pferdediebe!« flüsterte er mir zu.
»Vom Stamme der Beni Lam«, ergänzte ich seine Worte.
»Maschallah! Das ist möglich!«
»Ich habe zwar keine Beweise dafür, möchte aber behaupten, daß ich mich nicht irre. Daß sie zu den Fawwahl der Scherarat hören, ist eine Lüge, denn wären sie das wirklich, so führte sie der Weg nach Mekka immer den Tebuk, Madschihn und Medina-Karawanenpfad entlang, aber nicht so weit in die südöstliche Nedschd-Wüste herüber. Der Scheik der Beni Khalid hat uns ja gesagt, daß sein Kriegszug den Beni Lam gelte, und so ist es klar, wenigstens für mich, daß diese zwei Beduinen Kundschafter dieses Stammes sind, welche nach den Beni Khalid suchen.«
Bald darauf wurde uns der Beweis geliefert, daß ich mit dieser Vermutung nicht fehlgegangen war, denn als ihre Kamele getrunken hatten, fragte uns der eine:
»Wohin geht von hier aus euer Weg?«
»Nach der Ain Bahrid«, antwortete ich.
»Dahin reiten wir jetzt und ruhen uns dann dort aus. Ihr werdet uns also morgen abend dort wiedersehen.«
Wie schlau! Er wollte nur wissen, wann wir von hier aufzubrechen beabsichtigten. Darum führte ich ihn irre:
»Die Freude, euch dort zu treffen, ist uns versagt, denn wir sind so ermüdet, daß wir diesen Brunnen hier erst übermorgen verlassen werden.«
Da fragte er unvorsichtig schnell: »So seid ihr morgen den ganzen Tag noch hier?«
»Ja.«
»Habt ihr vielleicht Begegnungen gehabt? Wir wurden vor den Beni Khalid gewarnt, welche sich auf einem Kriegszuge gegen die Beni Lam in der Gegend des Bir Hilu herumtreiben sollen.«
Jetzt hätten wir die beste Gelegenheit gehabt, uns dadurch an den Beni Khalid zu rächen, daß wir die Beni Lam auf sie hetzten. Eine schnelle Bewegung Halefs sagte mir, daß er auch wirklich in diesem Sinne an meiner Stelle antworten wolle; ich kam ihm aber zuvor:
»Wir sind Hadschahdsch, gradso wie ihr, und bekümmern uns nicht um die Streitigkeiten fremder Leute.«
»Aber Auskunft könnt ihr uns doch geben, ob ihr eine Spur der Beni Khalid oder gar sie selbst gesehen habt!«
»Nein, denn ihr seid Beni Lam und keine Scherarat! Wir Haddedihn lassen uns nicht täuschen, und es fällt uns nicht ein, die Schuld am Blute anderer auf uns zu laden!«
Da wollte er heftig werden, besann sich aber eines anderen und war still.
Nach kurzer Zeit stiegen sie auf, grüßten ganz kurz und ritten fort, und zwar in westlicher Richtung, während der Weg nach der Ain Bahrid sie doch nach Süden geführt hätte. Sie hielten es also für überflüssig, noch einen Versuch zu machen, unsere Ansicht über sie zu ändern.
»Warum sagtest du ihnen die Wahrheit über die Beni Khalid nicht?« fragte mich der Hadschi, als sie fort waren.
»Habe ich ihnen die Unwahrheit gesagt?«
»Nein. Du hast nichts als nur geschwiegen. Aber wie schön hätten wir uns der Rache Tawil Ben Schahids entziehen können, wenn wir ihnen die Beni Lam nachgeschickt hätten, von denen ich jetzt überzeugt bin, daß sie da im Westen von uns irgendwo stecken!«
»Wir hätten dadurch einen blutigen Zusammenstoß zwischen ihnen verursacht!«
»Der aber doch auch ohne uns ganz sicher geschehen wird!«
»Da sind wir ohne Schuld; meine Mitteilung aber wäre eine so direkte Ursache gewesen, daß ich mir später die bittersten Vorwürfe gemacht hätte. Denke doch an El Mizan, lieber Halef, an El Mizan!«
»Ja, ja, an die Waage der Gerechtigkeit! Du hast recht, Effendi! Es wird Liebe von uns verlangt, immer nur Liebe; hättest du aber die Frage dieses Kundschafters beantwortet, so würde es uns dereinst als Haß, als Rache angerechnet werden, und diese schwere Last wollen wir ja nicht auf unsere Seelen laden. Ich fürchte mich in meinem Leben zum allererstenmal, und zwar vor dieser fürchterlichen Waage, welche nichts verschweigt, sondern alles Verborgene an das helle Licht des Tages zieht!«
Wollte doch jedermann die Augen stets immer zu der Beobachtung offenhalten, daß das Gute die Belohnung und das Böse die Bestrafung ohne alles Zutun des Menschen schon in sich trägt! Leider üben die meisten Menschen diese Aufmerksamkeit fast nie, und nur in ganz in die Augen springenden Fällen läßt man sich zu einer Art von Erstaunen herbei, denkt einen kurzen Moment darüber nach und hält dann die Sache mit dem geistreichen Endurteile Sonderbarer Zufall! für abgetan! Und doch gibt es keinen Zufall! Wenigstens für den gläubigen Christen ist durch dieses Wort ein starker, dicker Strich gemacht. Der Erfinder desselben wußte von Gottes Weisheit und Gerechtigkeit nichts, und alte, die es nach ihm in den Mund nahmen, hatten, grad wie er, ihr Augenmerk zwar auf die irdische, nicht aber auf die himmlische Erkenntnis gerichtet. Man spricht so schön gelehrt vom Makrokosmos und vom Mikrokosmos; der erstere bedeutet die ganze Weit, der letztere ist der Mensch. Nun ist man wohl bereit, jene sogenannte große Weltordnung' zu bewundern, nach welcher alles zum Makrokosmos Gehörige sich auf streng vorgeschriebener Gesetzesbahn bewegt und keine einzige der Welterscheinungen absolut für sich selbst bestehen kann, sondern sich in der innigsten Beziehung zum Ganzen befindet, weil sich das eine aus dem andern mit lückenloser Folgerichtigkeit entwickeln muß und bisher auch entwickelt hat. Das hat man wohl erkannt, und das gibt auch der Gottesleugner zu. Er gibt sogar auch zu, daß Gesetze von ähnlicher Unverbrüchlichkeit ebenso im Mikrokosmos, also im Menschen, walten, meint aber damit nur den für die Erde existierenden Menschen; der für den Himmel den ich hier Seele' nennen will, existiert ja für ihn nicht. Und doch gibt es eine – – bitte, ja nicht zu lächeln! – – eine Seelenweltordnung, welche wenigstens ebenso große Bewunderung verdient wie jene angestaunte Ordnung der makrokosmischen Welt!
Wie das Leben der Einzelseele eine gottgewollte Entwicklung eng zusammenhängender Folgerichtigkeiten zeigt, so werden auch die Beziehungen der Seelen zueinander von Gesetzen regiert, von welchen es keine Abwege und gegen die es kein Widerstreben gibt. Schau nur hinein in deine Seele, lieber Leser! Beobachte sie und ihre Regungen mit nachdenkender Aufmerksamkeit! Du wirst bald wunderbare Entdeckungen machen und vor allen Dingen zu der Erkenntnis gelangen, daß dir diese deine eigene Seele bisher eine vollständig unbekannte Welt gewesen ist! Es ist mir ja ganz ebenso gegangen! Aber als ich erst einmal mit Ernst angefangen hatte, da wuchs mein Interesse für diese meine innere Welt von Tag zu Tag, und es taten sich mir Ausblicke auf, die mich zum Weiterforschen förmlich begeisterten. Es begann zunächst eine große, leider so unendlich schwierige Reinigung, daß ich gar wohl einsehe, mit ihr in diesem kurzen Erdenleben nicht fertig werden zu können; aber es wurde doch wenigstens soviel Erdenschmutz überwunden, daß mir jetzt, wo ich Fast sechzig Jahre zähle, das Weiterlernen und Weiterüben als die schönste Aufgabe der mir beschiedenen, abendroten Tage erscheint. Wie herzlich, aber wie so von ganzem Herzen wünschte ich, daß jeder meiner Mitmenschen ein so beseligendes Abendrot haben möge!
Könntest du, meine Freundin oder mein Freund, deine Seele in die Hand nehmen und beobachten wie eine Uhr, welch ein wunderbares, wohlgeordnetes Ineinandergreifen sämtlicher Regungen würdest du da bemerken! Du würdest sehen, wie reingehalten sie werden muß, wieviel hinderlicher Erdenstaub stets zu entfernen ist. Du würdest erkennen, daß jedes einzelne Tick und Tack darauf berechnet ist, den Zeiger nach der mitternächtlichen, letzten Zwölf zu leiten, nach welcher dir die Eins des Jenseits schlägt. Das hängt alles, alles, so innig zusammen, das kommt wie ganz von selbst; da kannst du dir nicht eine einzige Sekunde ohne die vorhergehenden denken; da kann nicht eine einzige Minute als überflüssig weggelassen und zur zeitleeren Lücke werden. Genau so steht die leiseste Seelenvibration im Zusammenhange mit dem Ganzen, und ob dein Leben ein Streben nach dem Himmel oder ein Sträuben gegen den Himmel sei, es ist nicht das kleinste seelische Stäubchen in dir zu finden, weiches unbeteiligt an diesem Streben oder Sträuben ist. Und wie in deinem Seelenmikrokosmos die treibenden Kräfte nur nach ganz bestimmten Regeln und Geboten tätig sind, so herrschen auch im Seelenmakrokosmos, also auf dem Gebiete der Zusammen, der Auseinanderwirkung menschlicher Seelen, Vorschriften und Gesetze, welche selbst die geringste Ordnungslosigkeit, also auch den Zufall, vollständig ausschließen. Es können zwei Seelen nicht, wenn auch noch so kurz, aneinander vorüberstreifen, ohne aufeinander zu wirken. Und wenn eine Seele die deinige nur einen Augenblick berührt, so wird diese Berührung einen Punkt in deinem innern Leben schaffen, der sich zur für dich vielleicht nicht bemerkbaren Linie weiterbildet. So entstehen Beziehungen, für dich einstweilen geheimnisvolle Fäden, welche dich mit andern unsichtbar aber doch für immer vereinen und als einen nicht zu missenden, sondern notwendigen Teil des Ganzen mit der großen, unendlichen Welt der Seelen verbinden. Du gehörst notwendig zu ihr, wie die einzelne Minute zur Stunde, zum Tag, zum Jahr, zur Ewigkeit; sie würde ohne dich nicht vollständig sein. Und wie sie auf dich und deinen Einfluß, mag er auch noch so winzig und unbedeutend sein, nicht verzichten kann, so stehst auch du und so steht auch jede andere Seele in fortwährender, unabweisbarer Beziehung zu ihr und ihren Gesetzen, weiche weit, weit entfernt liegende Ursachen an dir oder durch dich zur Tätigkeit bringen, so daß scheinbar plötzliche Handlungen entstehen oder vermeintlich zusammenhanglosen Ereignisse eintreten, weiche man sich nicht erklären kann. Dieses Herüberwirken der Seelenwelt in die Welt der Seele, diese Folgen, deren Gründe und diese Schlüsse, deren Voraussetzungen im Verborgenen liegen, sind nicht etwa Unbegreiflichkeiten, sondern ganz das gerade Gegenteil, nämlich Beweise eines von der göttlichen Weisheit vorgeschriebenen und unendlich logischen Zusammenhanges der unsichtbaren mit der sichtbaren Welt. Wer diese unsichtbare freilich leugnet, weil er unter dem Pantoffel seines gelehrten und geliebten Materialismus steht oder nicht gewohnt ist, nachzudenken, der weiß sich beim Eintritte solcher, für ihn zusammenhangloser Ereignisse nicht anders zu helfen, als daß er sie auf die Rechnung des großen Unbekannten' und doch so Wohlbekannten schreibt, den man so wie jenen berüchtigten kriminellen Unbekannten an den Haaren herbeizieht, wenn man sich nicht mehr zu helfen weiß, auf die Rechnung des Zufalles nämlich.
Wenn ich mich des Wortes Materialismus bediene, so meine ich nicht nur die ungläubigen Materialisten. Es gibt auch gläubige Christen, und zwar sind es leider Millionen, weiche ich so nenne. Sie halten sich für das Material der Erlösung, des Heiles, der Seligkeit. Unser Herrgott hat sie geschaffen; er wird sie auch erhalten. Er hat sie für den Himmel berufen und muß sie also nun auch hinaufführen. Sie beten, sie singen, sie sind fleißige Kirchenbesucher und fühlen sich unendlich behaglich dabei. Der himmlische Vater hat es nun einmal grad auf sie abgesehen. Die Überzeugung, seine Lieblinge zu sein, verleiht ihnen einen Komfort, der ihnen über die irdischen Freuden geht, und das halten sie für ein Verdienst, weiches er ihnen hoch anzurechnen hat. Sie sind geladene Hochzeitsgäste, und da sie damit einverstanden sind und ganz gern kommen wollen, so wird man sie per Equipage abholen. Da sie das Material der Seligkeit sind, so ist diese Seligkeit ohne sie gar nicht möglich; welche Freude muß also im Himmel über sie sein! Alle Mühen und Beschwerden des Himmelsweges legen sie in Gottes Hand; er wird ihnen schon darüber hinweghelfen, und seine Diener müssen Vorspann leisten! Für ihn und sie bestehen diese Leute nur aus dem äußern Menschen, dem die Auferstehung von den Toten und das ewige Leben verheißen ist. Ihre Seele aber? Gibt es denn eine Seele? Wenn ja, nun, so gehört sie zum Körper und muß doch mit ihm selig werden. Über diesen Punkt viel nachzudenken oder gar an dieser Seele zu arbeiten, das würde die ganze Behaglichkeit zunichte machen. Für diese Materialisten, diese Liebhaber des religiösen Komfortes, gibt es keinen Zufall, denn daß sie so fromm sind so selig werden, das ist doch wahrlich kein Zufall, sondern die unbedingte Folge ihres hohen geistlichen und auch sonstigen Wertes; das ist doch leicht erklärlich! Und was sie nicht erklären können, das nennen sie nicht Zufall, denn dieses Wort paßt für einen guten Christen nicht, sondern Gottes Schickung. Aber wie das Wort Schickung hier gemeint ist, bedeutet es eben auch nur Zufall, und zwar nicht nur ein blindes, sondern ein gewolltes Ungefähr, und das ist noch schlimmer. Das Wort Schickung in diesem Sinne bringt das allgerechte und allweise Walten der göttlichen Liebe um die ihr auf den Knieen zu zollende Ehre. Geistliche Güter sind in gewissem Sinne auch als materielle Gaben zu bezeichnen und die Liebe Gottes teilt diese Geschenke nicht nach Willkür aus, sondern nach Gesetzen, die ihre eigenen sind , sie handelt nicht regellos. Ist doch grad sie es, die jene geheimen Fäden in den Händen hält, welche Seele mit Seele vereinen und Ursache mit Ursache verbinden, so daß die Wirkung dann als eine Schickung im wirklichen Sinne, nämlich als eine Fügung des allgütigen Ratschlusses Gottes erscheint. Wer gelernt hat, zu sehen, der kann in seinem Leben Beweis um Beweis finden, daß das, was andere Zufall nennen, ein von der belohnenden, warnenden oder wohl auch strafenden Liebe herübergeleitetes Ergebnis seelischer Zusammenwirkung ist. Und wenn er eifrig sucht, wird er dann gewiß in seiner eigenen Seele den Berührungspunkt entdecken, der ihm erklärt, warum grad ihn und keinen andern diese Fügung traf, die dann für ihn nichts weniger als ein Zufall ist!
Warum aber hier diese Darlegung meiner Ansicht über den Zufall? Zunächst, weil es mir so sehr am Herzen liegt, soviel Menschen wie möglich an dem sonnigen Glücke teilnehmen zu lassen, welches ich meinem Glauben verdanke. Und sodann bin ich jetzt beim Bir Hilu überzeugt, daß viele meiner Leser unser Zusammentreffen mit den beiden Beni Lam und unser Gespräch mit ihnen für Zufall halten werden, aber es stand mit dem, was geschehen war und noch geschehen sollte, in so engem Zusammenhange und grad der Umstand, daß ich die Beni Khalid nicht verraten hatte, obgleich sie unsere Feinde waren und ihre Ablenkung von uns auf die Beni Lam vom größten Vorteile für uns zu sein versprach, lieferte uns dann später den augenfälligsten beweis, daß eine jede Tat ihre guten oder bösen Folgen schon in sich trägt. Hätte ich nicht den seelischen Einflüssen in mir, sondern meiner kalten Berechnung und Klugheit gefolgt, so wären wir schon am nächsten Tage alle verloren gewesen!
Am Abende dieses Tages saßen wir beisammen, zum letztenmal mit dein Basch Nazyr, wie wir alte meinten. Wir hatten einige Wachen ausgestellt und unterhielten uns, wie das ja begreiflich ist, fast ausschließlich über das, was wir seit unserm Zusammentreffen mit ihm gemeinschaftlich erlebt hatten. Später, als die Zeit zum Schlafen gekommen war, richtete er die Frage an mich:
»Sihdi, ich habe eine Bitte an dich. Wirst du sie mir erfüllen?«
»Recht gern, wenn ich kann«, antwortete ich.
»Ich möchte gern eines meiner Kamele mit einem von euch vertauschen.«
»Warum?«
»Um ein Andenken zu haben.«
»So! Ich habe kein Kamel, bezweifle es aber nicht im geringsten, daß Halef auf deinen Wunsch eingeht.«
»Das wird er gewiß tun; nur möchte ich gern wissen, ob du gewillt bist, das Kamel von mir anzunehmen.«
»Ich?«
»Ja; denn du bist es, der es reiten soll.«
»Warum ich?«
»Weil es ein Andenken von mir an dich sein soll. Ich gebe dir meine Hedschihn Stute, und weil ich dann ein Kamel zu wenig haben würde, bitte ich mir dafür ein anderes aus.«
Ich sah ihn an, ohne zunächst zu antworten. Diese herrliche, unbezahlbare Stute wollte er mir schenken! Als Scherz konnte ich dieses Anerbieten unmöglich auffassen und behandeln, und da es also Ernst war, so handelte es sich um eine gradezu fürstliche Freigebigkeit, von der ich nicht wußte, wie ich mich zu ihr verhalten sollte. Ja zu sagen, widerstrebte meinem ganzen Wesen, und ein Nein hätte ihn nicht nur kränken, sondern sogar schwer beleidigen müssen. Da fuhr er fort:
»Ich begreife, daß dir mein Wunsch überraschend kommt, hoffe aber, daß du ihn nicht für zudringlich halten wirst. Es würde mir eine stolze Freude sein, zu wissen, daß Kara Ben Nemsi Effendi auf meinem Hedschihn sitzt. Den Wert des Tieres darfst du nicht berücksichtigen, denn ich habe es ja nicht zu bezahlen gehabt und kann mir von Tscharbagh zu jeder Zeit ein ähnliches erbitten. Dazu kommt, daß du mir das Leben gerettet hast und –«
»Ich nicht!« warf ich ein.
»Ja, doch du! Dabei will ich aber die Verdienste Halefs um mich gar nicht schmälern. Auch hast du den Kanz el A'da entdeckt; ohne dich würde ich ihn nicht wiederbekommen haben. Du wirst also einsehen, daß das Geschenk dieses Kameles gar nichts ist gegen das, was ich dir zu verdanken habe. Ich will jetzt nicht in dich dringen; du hast ja eine ganze Nacht Zeit dazu, es dir zu überlegen. Aber ich gebe mich der Hoffnung hin, daß du mir morgen früh nicht den Schmerz bereitest, mir diese Bitte abzuschlagen, die mir so aus dem Herzen kommt!«
Er wendete sich ab und schien also die Sache als für einstweilen erledigt zu betrachten; darum sagte auch ich nichts mehr; aber Halef, der dabeigesessen hatte, raunte mir dringlichst zu:
»Effendi, du wirst es annehmen; ja, du mußt sogar! Einen Freund darf man doch nicht durch die Verweigerung der Annahme eines Geschenkes beleidigen!«
»Aber eines solchen!« antwortete ich.
»Es ist freilich wertvoll, höchst wertvoll, ja; aber du mußt bedenken, daß du es zwar jetzt für dich, dann aber auch für uns bekommst!«
»Ah! Du schaust aus diesem verborgenen Loch heraus?«
»Ja. In deiner Heimat ist dir dieses Hedschihn nutzlos, und so wirst du es mit ihm wohl ebenso machen, wie du es damals mit deinem herrlichen Rih gemacht hast, nämlich du wirst es nicht mitnehmen, sondern bei uns lassen. Und nun denke dir unsere Freude, wenn wir für unsere Zucht eine fünfjährige, tadellose Stute von dieser Vortrefflichkeit erhalten! Wenn du es annimmst, erweisest du unserm Stamme einen Dienst, der uns dir zur größten Dankbarkeit verpflichtet. Ich hoffe, daß du das einsiehst! Oder etwa nicht?«
»Doch! Es wäre eine vortreffliche Erwerbung für euch!«
»Schön, Effendi! Es freut mich, daß du diese Einsicht besitzest. Sie ist aber nur die Nebeneinsicht, und ich hoffe, daß dir nun auch noch die Haupteinsicht kommt!«
»Welche?«
»Daß du es annehmen mußt. Willst du?«
»Hm!«
Da wendete er sich rasch zum Perser:
»Mein Freund Khutub Agha. Es liegt mir sehr am Herzen, daß mein Sihdi deinen Wunsch erfüllt. Ich habe ihn jetzt in diesem Sinne bearbeitet und kann dir mitteilen, daß ich zufrieden bin, denn er hat soeben schon gehmt! Da ich ihn sehr genau kenne, so weiß ich, daß man bei ihm von diesem unschlüssigen Hm bis zum schließlichen Ja nicht weit zu reiten hat. Es ist mir gelungen, ihn schon halb und halb, ja schon vielleicht dreiviertel für deinen Vorschlag einzunehmen, und so darfst du der angenehmen Hoffnung sein, daß das vierte Viertel sich bis morgen früh auch noch einstellen wird. Du wirst also einsehen, daß das Kismet dir und deinem Kamele nicht ungünstig gestimmt ist. Ihr werdet voneinander befreit werden!«
Dieser liebe, kleine Pfiffikus! So schwer es ihm stets wurde, sich in die Verhältnisse und Anschauungen meines Vaterlandes zu versetzen, in welches er den Orient fast stets zu übertragen pflegte, jetzt, wo es sich um die Aneignung des Hedschihn handelte, hatte er sich sofort daran erinnert, daß mir ein Kamel in der Heimat nichts nützen könne! Und dann die rasche und sonderbare Ausdeutung meines Hm. So etwas brachte eben nur mein Hadschi Halef fertig!
Früh gestand er mir, daß er wegen des Hedschihn fast die ganze Nacht nicht habe schlafen können, und daß ich es unbedingt annehmen müsse, wenn ich ihn nicht für seine ganze Lebenszeit um den Schlaf bringen wolle, was doch unbedingt seinen schließlichen Tod zur Folge haben müsse. Dann zog er den Basch Nazyr heran, und ich wurde von ihnen, nach Halefs gestrigem Ausdrucke, in der Weise »bearbeitet«, daß ich schließlich wohl oder übel meine Einwilligung erteilte. Das gab einen Jubel bei den Haddedihn! Ebenso kann ich von dem Perser sagen, daß er sich wirklich und aufrichtig freute. Er hatte mir das Geschenk nicht in chinesischer Weise, auf welche man mit der Nichtannahme zu antworten hat, angeboten, und diese seine Freude war mir ebenso lieb wie der Gegenstand seiner Freigebigkeit. Während die andern das Kamel umringten und alle seine Vorzüge aufzählten, wobei es von ihnen als »unser« Hedschin bezeichnet wurde, nahm er mich auf die Seite und sagte:
»Effendi, da du mich mit der Annahme meines Geschenkes beglückt hast, muß ich dir etwas sagen, was jetzt noch niemand außer dir zu wissen braucht. Es ist dir wohl bekannt, daß man den Kamelen nicht, wie den Pferden reinsten Blutes, ein Geheimnis geben kann, denn sie sind zu dumm dazu; bei diesem Hedschihn aber ist es mir gelungen, und zwar vortrefflich. Es besitzt eine Intelligenz, welche man bei seinesgleichen sonst vergeblich sucht, und ist so treu, anhänglich und willig wie ein Pferd. Da es nun dein Eigentum ist, will ich dir sein Geheimnis mitteilen, damit du es anwenden kannst. Das Tier heißt Maschurah. Um es vorher aufmerksam zu machen, mußt du diesen Namen zweimal nennen, worauf du dreimal hintereinander das Wort ›Bubuna‹ sagst. Hast du das getan, so entwickelt es eine Eile, weiche dir die stille Luft als Wind erscheinen läßt, und hört nicht eherauf, als bis du ihm das Wort ›Yawahsch!‹ auch dreimal sagst. Da das Kamel das Pferd an Ausdauer überhaupt übertrifft. so hält meine Maschurah, die nun die deinige ist, auch unter dem Geheimnisse viel länger aus als ein Pferd, was dich aus großer Gefahr erretten kann und jede Verfolgung nutzlos machen wird. Hast du dir das alles gut gemerkt?«
»Ja; ich danke dir! Aber sag, warum hast du grad dieses Wort Bubuna gewählt?«
»Weit dieses Hedschihn eine große und ganz sonderbare Vorliebe für Kamillen hat. Ich habe darum, so oft ich es reite, stets einige von diesen Pflanzen in der Tasche. Ich reibe sie in der Hand, so daß sie nach ihnen riecht und liebkose dann das Maul und die Nase Maschurahs mit dieser Hand. Wenn da das tust, wirst du seine Freundschaft und Liebe schnell erwerben. Nur darfst du es keinem andern verraten, dem es dann durch Anwendung dieses Mittels gelänge, die Anhänglichkeit des Tieres auf sich zu lenken. Ich habe auch jetzt Kamillen mit und werde sie dir geben. Sie sind trocken geworden. duften aber noch stark genug.«
Ein Kamel mit einem »Geheimnisse«! Das hatte auch ich bisher für unmöglich gehalten. Wenn es sich bewährte, so war diese Stute allerdings unbezahlbar zu pennen! Er gab mir die Pflanzen, welche ich einsteckte, und erteilte dann seinen Asaker den Befehl, sich zum Aufbruche zu rüsten.
Als dies geschehen war, verabschiedete er sich von uns. Es geschah das in der herzlichsten Weise. Man sah ihm an, daß er uns liebgewonnen hatte; die Tränen standen ihm in den Augen, und er griff immer und immer wieder nach unsern Händen. Es war wirklich, als ob er sich gar nicht von uns trennen könne.
Ich forderte ihn zur größten Vorsicht auf und bat ihn, wenigstens für heut ja den Weg zu meiden, den er, und wir nach ihm, hierhergeritten war. Er versprach das auch, doch leider nicht in der bestimmten Weise, wie ich es wünschte, und ich merkte gar wohl, daß er die ihm von den Khalid drohende Gefahr nicht für so bedeutend hielt wie ich. Er glaubte, seinen Kanz el A'da sicher zu haben, denn sie waren ja nach Süden gezogen, während er nach Norden ritt. Als er sich schon in Bewegung gesetzt hatte, rief ich ihm meine Warnung noch einmal dringend nach. Er drehte sich nach uns um und nickte mir lächelnd zu, doch grad dieses Lächeln wollte mir nicht gefallen!
Es verstand sich ganz von selbst, daß Halef ihm eines unserer besten Hudschuhn gegeben hatte, welches zwar nicht den Wert von Maschurah besaß, aber doch verläßlich war. Als sich die Reiter so weit entfernt hatten, daß wir sie nicht mehr sehen konnten, beschäftigte ich mich mit der Stute. Sie hatte ihrem bisherigen Herrn sehr lange nachgesehen, eine Anhänglichkeit, die von uns allen noch bei keinem Kamele beobachtet worden war. Als ich ihr mit meiner nach den Kamillen duftenden Hand über die Nase strich, sog sie den Geruch mit sichtbarer Wonne ein, streckte die Lippen wie Fangschalen so außerordentlich weit, daß ich darüber lachen mußte, aus und ließ die Hand vollständig im Maule verschwinden, wo sie, das Gebiß nur ganz sanft auflegend, an ihr zu saugen begann wie ein Kind an einem Zuckerstücke. Ich sah, daß es mir nicht schwerfallen werde, ihre Zuneigung zu gewinnen, und ließ ihr meinen Sattel auflegen, denn es verstand sich ganz von selbst, daß ich sie nun ritt.
Nun konnten auch wir den Bir Hilu verlassen, den wir wohl nicht wiedersehen würden; so dachten wir, weil wir uns für die Heimkehr von Mekka einen andern Weg vorgenommen hatten, doch es steht geschrieben: »Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, noch meine Wege eure Wege, spricht der Herr!« Unsere Schläuche waren voll. In dieser Beziehung waren wir darauf vorbereitet, die Ain Bahrid heute abend schon besetzt zu finden. Wir hatten Wasser für mehrere Tage.
Als wir den Brunnenplatz verlassen hatten, waren die Spuren der Beni Khalid so deutlich zu sehen, daß wir ihnen mühelos folgen konnten, denn es verstand sich ganz von selbst, daß wir dies taten. Wir mußten wissen, woran wir mit ihnen waren. Nach vielleicht einer Stunde kamen wir aus der Wüste der zerstreuten Felsengruppen heraus auf den offenen, ebenen Sand. Die Fährte führte genau in der Richtung der ›Kalten Quelle‹.
Halef und Kara ritten neben mir. Unsere Unterhaltung hatte fast nur den Perser zum Gegenstande, der in dem gestern abend geführten Gespräche wiederholt den tiefen Eindruck verraten hatte, der ihm von der vorgestrigen Szene mit Ben Nur hinterlassen worden war. Das Wort von der Liebe hatte sich seinem Herzen so tief eingeprägt, daß er wiederholt und mit großem Eifer darauf zurückgekommen war. Darum hegten wir die Überzeugung, daß sie von jetzt an wohltätig auf sein Tun und Leben einwirken werde.
Nach einer zweiten Stunde bog die Spur nach Westen ab. Das war ein Umstand, der uns auffallen mußte. Es kam uns nicht bei, unsere bisherige Richtung innezuhalten, sondern wir blieben der Fährte der Beni Khalid treu. So ritten wir vielleicht zwei Stunden lang nach Sonnenuntergang und sahen dann an dem Horizonte vor uns eine dunkle Linie auftauchen, von welcher der Ben Harb, unser Führer, vermutete, daß sie ein langgestreckter Höhenzug sei, von dem er wohl gehört hatte, dessen Namen er aber nicht kannte. Wenn er sich nicht irre, müsse die Wüste nun wieder steinig werden.
Dies war auch wirklich der Fall. Je näher wir dieser Höhe kamen, desto gerölliger wurde der Sand; dann trat der nackte, unbedeckte Felsen zutage, auf weichem wir nur noch mit Mühe die Spuren entdecken konnten.
»Warum mögen die Beni Khalid wohl von ihrem Wege abgewichen und hierhergeritten sein?« fragte Halef. »Ob das mit uns zusammenhängt, Sihdi?«
»Zunächst wohl mit dem Perser und dann auch mit uns«, antwortete ich. »Mir wird jetzt angst um ihn, und ich wünsche von Herzen, daß meine Vermutung sich nicht bestätigen möge! Die Beni Khalid haben diese ihre neue Richtung in so auffälliger Weise eingeschlagen, daß die Absicht, wir möchten ihnen folgen, für mich bewiesen ist. Wahrscheinlich stecken sie dort an einer verborgenen Stelle dieser Höhe, um uns zu überfallen, wenn wir kommen. Aber es gibt auch wieder einen Grund, grad dies nicht anzunehmen. Ich bin überzeugt, daß es Tawil Ben Schahid nicht eingefallen ist, auf den Kanz el A'da zu verzichten. Er weiß, daß ihn der Perser hat, von dem er ihn nur dadurch erlangen kann, daß er ihm unterwegs auflauert. Wenn er diese Absicht verfolgt, kann er nicht hier stecken, sondern ist in einem weiten Bogen um den Bir Hilu zurückgeritten, um sich jenseits desselben dem Basch Nazyr in den Weg zu legen. Wir haben es also mit zwei verschiedenen Annahmen zu tun: Entweder sind die Beni Khalid hier, um uns aufzulauern, oder sie sind jetzt nördlich vom Bir Hilu zu suchen.«
»Aus welchem Grunde wären sie da aber hierhergeritten?«
»Des felsigen Bodens wegen, auf welchem die Spuren schwer zu lesen sind. Sie halten unsere Augen nicht für besser als die ihrigen und sind darum überzeugt, daß wir ihre Fährte hier verlieren werden. Zugleich haben sie wohl an den Vorteil gedacht, den sie über uns erringen, wenn sie sich zuerst den Perser holen, denn dadurch kommen sie uns in den Rücken, während wir glauben, sie vor uns zu haben. Es ist auch ein dritter Fall möglich, nämlich der, daß der Scheik seine Leute geteilt hat. Wenn dies geschehen sein sollte, so werden wir von der einen, wahrscheinlich größeren Abteilung hier erwartet, während er selbst mit der andern nach Khutub Agha sucht. Ich werde mir sogleich darüber Klarheit verschaffen. Wir hatten, um ihnen nicht zu nahe zu kommen, jetzt hier an, und ich suche, ob es eine Spur gibt, welche zurück nach Norden führt.«
»Das wird hier auf diesem harten Felsen lange dauern!«
»Nein, denn ich gehe bis zur Grenze des Sandes hinüber. Reite ich dieser entlang, so muß ich die Eindrücke, wenn es überhaupt welche gibt, unbedingt finden. Auch lange dauert das nicht, weil ich ja weiß, nach weicher Seite sich Tawil gewendet hat; ich habe also nicht die ganze Höhe zu umreiten.«
»Darf ich mit?«
»Ja. Wir nehmen aber unsere Pferde. Die Kamele sind mir zum Spurensuchen zu hoch. Komm!«
Halef bestieg seinen Barkh, ich meinen Assil Ben Rih. Wir ritten seitwärts ab, bis wir den Sand erreichten, und bogen dann links um, wodurch wir auf die Spur einer etwa nach Norden gerittenen Ben Khalid Schar treffen mußten. Mich zur Seite des Pferdes möglichst tief herunterneigend, um die Augen dem Boden nahe zu bringen, ließ ich meinen Rappen schlank vorwärts fliegen und hatte sehr bald die Genugtuung, ihn anhalten zu müssen, denn wir trafen auf eine sehr deutliche Fährte, weiche von der Höhe hierher und dann in nördlicher Richtung weiterführte. Wir stiegen ab, um sie zu betrachten. Diese Beni Khalid waren so eng zusammen geritten, daß die Einzelspuren nicht auseinander gehalten werden konnten, es gelang uns also nicht, sie zu zählen, doch glaubte ich, der Wahrheit nahe zu kommen, wenn ich über dreißig und höchstens vierzig Reiter schätzte. Diese Zahl war ja auch vollständig ausreichend, den Perser mit seinen zwanzig Soldaten zu überwältigen, zumal Scheik Tawil gewiß annahm, daß der Khutub Agha auf so einen Überfall gar nicht vorbereitet sei.
Jetzt wurde es auch dem Hadschi angst.
»Effendi, deine Befürchtung ist eingetroffen!« sagte er. »Ich wette, daß unser Freund jetzt, in diesem Augenblicke, schon tot ist! Was tun wir? Sage es schnell, sehr schnell!«
»Es kommt alles darauf an, ob er meine Warnung beachtet hat, den Herweg zu meiden. In diesem Falle kann er den Beni Khalid entgangen sein.«
»Ich befürchte, daß er sie nicht befolgt hat, denn er nahm sie nicht so ernst auf, wie du sie meintest. Denkst du, daß er noch zu retten ist?«
»Vielleicht. Wir dürfen keinen Augenblick versäumen. Steig schnell auf! Wir müssen alte umkehren!«
Während wir zu unseren Leuten zurückjagten, teilte ich ihm meinen Entschluß mit:
»Wir reiten so schnell wie möglich nach dem Bir Hilu zurück, nicht auf dem Wege, den wir gekommen sind, denn er bildet einen rechten Winkel, sondern auf der geraden Schnur von hier nach hin. Von dort aus halten wir uns auf der Spur des Persers und werden dann wohl bald erfahren, wie es mit ihm steht. Da ich das Schlimmste befürchte, so reite ich voraus, denn wenn es notwendig ist, halte ich mit meinem Henrystutzen die ganze Beni Khalid-Schar in Schach, und ihr habt hinter mir nur meiner Spur zu folgen.«
»Warum wir hinterher und nicht gleich mit?«
»Weil eure Kamele nicht schnell genug sind; sie müssen ja zurückbleiben!«
»Aber unsere Pferde doch!«
»Ich nehme Maschurah, die Hedschihnstute. Selbst wenn ihr den Pferden das Geheimnis sagt, könnt ihr nicht mit mir fort, denn sie hält länger aus als jedes Pferd. Das ist abgemacht. Sprich also nicht dagegen! Auch bitte ich dich sehr ernstlich, ja keine Fehler zu begehen! Ihr kommt, so schnell ihr könnt, mir immer nach und habt euch dabei stets vor einem plötzlichen Zusammentreffen mit den Beni Khalid zu hüten, denn sie nehmen ihren Rückweg auf alle Fälle über den Bir Hilu, und so ist es möglich, daß ihr schon auf sie stoßt, während ich dem Perser nacheile. Dieses letztere kann allerdings nur dann der Fall sein, wenn sie ihn nicht gefunden haben, weil er meine Warnung befolgt und einen andern Weg gewählt hat. Also, Halef, Schnelligkeit und Vorsicht! Weiter habe ich jetzt nichts zu sagen!«
Wir hatten nun unsere Leute erreicht. Ich schwang mich vom Pferde und sofort in den Sattel des Kameles. Ein kurzer Gruß und ich ritt fort, dem Hadschi die Erklärung dieser meiner Eile überlassend.
Ich ließ Maschurah einige hundert Schritte langsam gehen; dann trieb ich sie an; sie gehorchte; es ging ja zum Brunnen zurück! Wir waren vom Bir Hilu aus erst in gerader Linie zwei Stunden lang, und dann in einem rechten Winkel von ihr aus über zwei Stunden wieder geradeaus geritten. Das machte zusammen einen Weg von ungefähr vier Stunden und eine halbe. Dieser Weg bildete die zwei Katheten eines rechtwinkligen Dreiecks, auf dessen Hypotenuse ich nun zurückkehrte. Sie war also nach der von uns bis jetzt innegehalten Schnelligkeit ungefähr drei Stunden lang. Aber Maschurah griff so erstaunlich aus, daß ich den Bir Hilu schon nach drei Viertelstunden erreichte.
Die Beni Khalid konnten freilich schon hier sein; ich hatte aber keine Zeit, mich von diesem Gedanken aufhalten zu lassen, denn wenn sie sich am Brunnen befanden, so lag grad in der Schnelligkeit für mich der beste Schutz vor ihnen; ich kam an ihnen vorüber, ehe sie nur daran denken konnten, etwas gegen mich zu unternehmen. Der Platz war aber leer, kein Mensch zu sehen!
Maschurah hatte einen wunderbar leichten, elastischen Gang. Ich saß, obwohl ich balancierte, wie in einem unbeweglichen Stuhle. Sie besaß im höchsten Grade die hochgeschätzte Eigenschaft, welche der Beduine mit dem Worte »raumverzehrend« bezeichnet, und dabei ließ sie auch nicht die Spur von Anstrengung bemerken!
Als ich den Brunnen hinter mir hatte, war ich außerordentlich gespannt darauf, ob der Basch Nazyr einen andern Weg eingeschlagen hatte oder nicht. Im ersteren Falle durfte ich hoffen, daß er von den Beni Khalid verfehlt worden sei; im letzteren aber war fast mit Sicherheit anzunehmen, daß sie ihren Zweck erreicht hatten. Bekanntlich waren wir bei unserm Wege nach dem Brunnen östlich ausgewichen. Ich konnte also erst, nachdem ich diesen Bogen abgeschnitten hatte, auf unsere alte Fährte treffen. Dies geschah sehr bald, und da bemerkte ich denn, daß der Perser meine Warnung nicht befolgt hatte; seine Spur führte auf der früheren zurück!
Nun gab es nur noch eine, wenn auch sehr kleine Hoffnung: Wenn er langsam geritten war und der Hinterhalt der Beni Khalid in bedeutender Entfernung von dem Brunnen lag, so war es möglich, daß er sie noch nicht erreicht hatte. Freilich waren seit seinem Fortritte schon über fünf Stunden vergangen, die ich nun einzuholen hatte. Weich ein Glück also, daß der Perser so aufrichtig gewesen war, mir das Geheimnis der Stute mitzuteilen! Denn nur durch die Anwendung desselben konnte ich es ermöglichen, meine Absicht auszuführen.
Ich beobachtete das Hedschihn also sehr aufmerksam, ob es eine Spur von Ermüdung oder Atemmangel zeige. Es ging aber so leicht und frisch, als ob es soeben erst das Nachtlager und die Tränke verlassen habe. Darum gab ich ihm nun das Zeichen. Ich rief zweimal seinen Namen und dann, als es aufhorchte, dreimal das Wort Bubuna. Der Erfolg war, daß es mit den Ohren spielte und in seinem bisherigen Schritt verblieb. Ich wartete eine Weile und wiederholte es dann – – – ganz mit demselben Mißerfolge. Ich hatte ganz genau getan, was mir vorn Khutub Agha gesagt worden war! Hatte er vielleicht bei seiner Mitteilung etwas vergessen?
Es wurde mir heißer und heißer, nicht etwa bloß von der über mir brennenden Sonne, sondern auch weil meine Angst um den Perser in stetem, schnellem Wachsen war. Wie konnte ich ihn retten, wenn mir das Kamel nicht gehorchte! Ich wiederholte den Versuch noch zweimal, doch vergeblich; ich bekam ganz dasselbe Ohrenspiel zur Antwort, weiter nichts! Da dachte ich denn nun endlich an den Umstand, daß mich das Hedschihn ja noch gar nicht kannte. Vielleicht war das schuld an seiner Weigerung! Ich hielt also an, stieg ab, rieb mir die Hand mit den Kamillen ein und hielt sie ihm dann hin. Sie wurde mit Begierde in das Maul genommen und dort festgehalten. Ich hatte nur acht oder zehn Pflanzen bekommen, die schon ganz abgebraucht waren, beschloß aber dennoch, einige davon zu opfern. Maschurah schnappte mit wahrer Wonne zu; ich bekam die Hand frei und stieg wieder auf. Zunächst ließ ich sie eine kleine Strecke langsam gehen; dann trieb ich sie an, und als sie gehorcht hatte, wartete ich nicht länger, den letzten Versuch zu machen:
»Maschurah, Maschurah – – – ! Bubuna,bubuna,bubuna – – –!«
Da bekam ich einen Ruck, der mich fast aus dem Sattel warf, und dann – – – ja, dann ging es los, und aber wie! Ja, es war genauso, wie der Perser gesagt hatte: Die stehende Luft, die wir durchschnitten, wurde für mich zum Winde. Ich war früher einige Male gezwungen gewesen, bei meinem Rapphengste Rih auch das Geheimnis anzuwenden, und muß der Wahrheit nach gestehen, daß es mir jetzt war, als ob Rih damals schneller gewesen sei als das Hedschihn jetzt; ich bin auch jetzt noch überzeugt, daß dies kein Irrtum war; aber es kam nun darauf an, auf wessen Seite die größte Ausdauer war, ob auf der Seite des Pferdes oder des Kameles! Der Basch Nazyr hatte, wie man weiß, dem letzteren den Vorzug gegeben.
Es war jetzt kein Ritt, kein Jagen mehr, sondern ein Fliegen zu nennen. Die Felsengruppen, die es noch gab, schossen förmlich an uns vorüber, Dann kamen wir hinaus auf die steinige Serir, wo ich, um mich eines vaterländischen Ausdruckes zu bedienen, »aufzupassen hatte wie ein Heftelmacher«, um die Fährte, weicher ich folgte, nicht zu verlieren. Doch gehorchte Maschurah trotz der ungeheuern Schnelligkeit jedem meiner Worte und auch der leisesten Berührung mit dem dünnen Metrek. Auf dieser Ebene brauchte das Hedschihn zehn Minuten, um eine Strecke zurückzulegen, für weiche auf dem Herwege im Schritte eine ganze Stunde notwendig gewesen war. Und diese unbeschreibliche Hast wurde nicht geringer, sondern blieb sich stetig gleich, auch als wir die Serir hinter uns hatten und in den Sand kamen, bei dessen Beschreibung ich vom »Mahlen« der Hufe sprach. Aber er strengte unbedingt mehr an als der Felsenboden. Maschurah begann zu schwitzen.
Dann wuchsen die schon beschriebenen Dünenreihen aus dem Sande empor. An der ersten hatte, wie ich aus den Spuren sah, der Perser aus irgendeinem Grunde längere Zeit gehalten. Es war mir der Gedanke gekommen, das Hedschihn hier verschnaufen zu lassen; aber bei dein Anblicke dieses Halteplatzes unterließ ich es, das Zeichen dazu zu geben, denn durch die hier entstandene Verzögerung war das Zusammentreffen des Basch Nazyr mit den Beni Khalid verzögert worden, und dadurch vergrößerte sich für mich die Möglichkeit, ihn doch noch vorher einzuholen und von ihnen abzulenken.
Es war eine böse Anstrengung, weiche das brave Tier zu überwinden hatte! Auf der einen Seite sich an den steilen Sandbergen in fast rasenden Sätzen emporschnellend, schoß es an der andern mehr rutschend, gleitend und oft dem für uns beide gleich gefährlichen Sturze nahe, wieder hinab, um die nächste Düne in ebendieser Weise zu überwinden. Der Schweiß zeigte sich stärker, schon bildete sich ein weißer Schaumrand an den Lefzen, und – – ja, da hörte ich den ersten, hastigen, lauten Atemstoß. Es war Zeit, innezuhalten!
»Yawahsch, yawahsch, yawahsch!« rief ich.
Maschurah fiel sofort in ein langsameres Tempo, in weichem ich sie aus Vorsicht noch eine ziemliche Strecke gehen ließ, bis sich wieder ruhiger Atem zeigte und der Schaum verschwunden war. Dann hielt ich an, stieg ab, liebkoste sie mit wirklicher Dankbarkeit, denn sie hatte mehr, weit mehr als ihre Pflicht getan, und gab ihr die Datteln, welche ich für Assil Ben Rih eingesteckt hatte. Die Art, wie sie mich dabei ansah, war geradezu rührend. Ein solches Kamelauge hatte ich noch nicht gesehen! Das war nicht die rote Farbe desselben, sondern der Inhalt des Blickes! Es schien, als ob sie mich fragen wolle, ob ich mit ihr zufrieden sei. Wahrlich, der Mensch sollte doch stets beherzigen, daß das Tier auch eine denkende und fühlende Seele besitzt, welche Liebe und Härte vielleicht tiefer empfindet und besser zu unterscheiden weiß, als wir alle denken! Ich habe zum Beispiele Beobachtungen gemacht, welche mir bewiesen, daß der Hund ein schärferer Menschenkenner ist als der Mensch selbst, und wenn das Tier in der Beziehung eine anerkennenswerte Tätigkeit der Seele zeigt, so widerstrebt es mir auch in anderer Beziehung, es für unfähig zu halten. Und doch, wie gefühllos verfährt der Mensch gegen seine Mitgeschöpfe, die ebenso wie er ihr Dasein der Güte des Alliebenden verdanken! Ich glaube nicht, daß er sie dazu geschaffen hat, versengt, verbrüht, verhungernd und verdurstend, an das Marterbrett geschnallt, qualgekrümmt und schmerzheulend auf dem Felde des Tierversuches, der heiligen Vivisektion, zu verenden oder vielmehr, noch lebend schon als Aas behandelt, zu verrecken! Man verzeihe mir diesen unästhetischen, doch wahren Ausdruck! Ich bin ein Menschenfreund und darum auch ein Tierfreund, und beides muß und muß und muß ich sein, weil ich als Christ nicht anders kann! Wer als Tierquäler über diesem Christentum erhaben steht, der mag immerhin über mein schwaches, lächerlich gefühlvolles Herz aburteilen; ich aber bin ganz froh, daß ich grad dieses und kein anderes, auch nicht das seinige, habe! Halef würde sagen: »El Mizan, el Mizan, die Brücke der Gerechtigkeit! Sie mißt auch das kleinste unserer Gefühle!« Und ich gestehe aufrichtig, daß ich, wenn ich ein Jünger der so inbrünstig festgehaltenen, inevitabeln Vivisektion wäre, mich vor dieser Waage fürchten würde! Doch weg von dieser Abschweifung, welche vielleicht Entschuldigung findet, weil sie aus dem Herzen kam!
Ich gab dem Hedschihn noch einige der Bubuna-Pflanzen und stieg dann wieder auf, denn nach dieser höchst notwendigen Schonung des braven Tieres durfte keine weitere Minute versäumt werden. Wir begannen wieder im Schritte, gingen dann in schnelleres Tempo über, worauf ich das Geheimnis wieder wirken ließ. Maschurah gehorchte dieses Mal sofort.
Es tat mir leid, sie zum zweitenmal in dieser Weise anstrengen zu müssen, aber es handelte sich um viele Menschenleben, und so außerordentlich ihre Leistung war, das, was man »Schinden« nennt, das war es denn doch nicht. Sie ging freiwillig; sie trug keine Kandare, kein schmerzendes Gebiß, und sie wurde von keinem Peitschenschlage getrieben.
So flogen wir wieder bergan und bergab wie vorher. Wie oft wich der Sand unter ihren Füßen; wie häufig war sie dem Sturze, dem Überschlagen nahe, ohne daß ich sie, wie bei einem Pferde, mit Hilfen unterstützen konnte! Und doch kam sie wohl zum Straucheln, zum Stolpern, Gleiten, doch aber nicht zum Fall. Sie hielt aus; sie war ein wirklich unbezahlbares Tier!
Da kam ein Augenblick, an welchem eine ungewöhnlich hohe, aber auf dieser Seite nicht steile Düne zu nehmen war. Sie stieg langsam empor, allmählich, und Maschurah fegte im rasenden Laufe hinauf; hätte ich auf dem Herwege gewußt, daß und in welcher Weise ich wiederkommen würde, so wäre ich wohl aufmerksam gewesen, mir die gefährlichen Stellen gut zu merken. Es schwebte mir jetzt eine vor, wo die nördliche Kante einer Düne oben eingefallen war; es gab da einen steilen Sandsturz, den wir, um auf die Höhe zu gelangen, hatten umreiten müssen. Jenseits war es dann um so weniger schroff, fast bequem, hinabgegangen. Sollte das die jetzt vor uns liegende Höhe gewesen sein?! Es ging ja hier auf der südlichen Seite leicht hinan! Herrgott! Dann stand uns ein schwerer Fall bevor!
»Yawahsch, yawahsch, yawahsch!« schrie, nein brüllte ich.
Aber das Hedschihn war schon hinauf; es wollte auch gehorchen, konnte es aber nicht so schnell, wie es erforderlich war. Ja, ein Pferd, welches man an den Zügeln hat, das reißt man auf die Seite, was allerdings auch nicht ungefährlich ist! Aber hier saß ich im hohen Kamelsattel und besaß weder im Metrek noch in der Maulleine ein Mittel, das Tier so rasch von der gefährlichen Richtung abzubringen. Mein Ruf bewirkte zwar sofort eine Verringerung der vorwärtstreibenden Energie, aber doch schon zu spät. Ich sah nicht hinüber nach der nächsten Höhe und auch nicht hinunter in das zwischen ihr und uns liegende Dünental; ich hatte keine Zeit dazu, denn das, was jetzt geschah, vollzog sich in einem einzigen Augenblicke. Ich bemerkte, in dem Momente, als wir die Kante oben erreichten, nur den vor uns gähnenden Sandsturz, weiter nichts, zog das linke Bein auf die rechte Seite und warf mich vorwärts, vom Kamele herab und in das Loch hinunter. Das war das einzige, was ich zu meiner Rettung tun konnte, während das im Schusse befindliche Tier hinaus in die Luft sprang. Nur die Weichheit des hinuntergerollten Sandes, auf den mein Sturz gerichtet war, konnte mich retten!
Ich fiel – – ich fiel und fiel – – fiel tiefer und immer tiefer! Das war kein Fallen mehr, sondern ein langsames, gemächliches Niedersinken, welches gar kein Ende nahm! Ich hatte die Augen zu und fühlte keinen andern Schmerz als nur einen scharfen Druck in den Hand und Fußgelenken. Es war ein ganz eigenartiger Zustand. Hörte denn dieses Sinken gar nicht auf? Weiche Tiefe war es denn eigentlich, in welche ich mich hinunterbewegte? Ich öffnete die Augen, um es zu sehen. Die Lider gehorchten dem seelischen Impulse ohne Widerstreben. Da sah ich – –
Ja, was ich da sah, das brachte mich augenblicklich zu der Überzeugung, daß dieses Gefühl der unaufhörlichen Abwärtsbewegung nicht Wahrheit, sondern Täuschung, daß ich betäubt gewesen war! Nur eines hatte mich nicht betrogen, nämlich der Schmerz an den Händen und den Füßen. Sie waren gebunden, und zwar so fest, daß man jedenfalls alle Gewalt angewendet hatte, um diese Arbeit so gut wie möglich zu machen. Vor mir saß Scheik Tawil Ben Schahid, zu seiner Rechten der Ghani und zu seiner Linken dessen Sohn. Neben dem Vater sah ich den Münedschi, der wach und munter war. Die drei anderen Mekkaner saßen mehr auf der Seite.
Indem ich weiter um mich blickte, sah ich oben den Sandrutsch, in den ich mich hatte werfen wollen. Der Schwung aber, den ich mir gegeben hatte, war im Vereine mit der Beharrungskraft des ungestümen Rittes zu groß gewesen, und so war ich darüber hinausgefallen und den steilen Abhang hinunter in das Tal gerollt. Da lagen die Soldaten zerstreut umher, alle tot, fast jeder in einer Lache von Blut. Der Überfall war den Beni Khalid geglückt, und ich hatte den Ritt zur Rettung des Persers und seiner Leute nicht nur vergeblich, sondern zu meinem eigenen Unheile unternommen. Die Kamele der Soldaten standen nicht weit von uns, und etwas weiter davon lag – – – mein Hedschihn, ganz gemächlich wiederkäuend und mit den roten Augen hell um sich blickend. Es hatte also den Sturz ebenso überstanden wie ich, und zwar wohl nur infolge des tiefen, weichen Sandes, welcher sich grad an und unter der betreffenden Stelle aufgehäuft hatte. Wo aber war der Basch Nazyr?
Als ich den Kopf wendete, um mich nach ihm umzuschauen, sah ich ihn, oder vielmehr nur seine Beine, welche hinter einer niedrigen Sandwehe hervorragten. War auch er tot? Ich nahm an, daß er noch lebte, denn seine Füße waren zusammengebunden wie die meinigen, was bei einem Leblosen doch nicht notwendig ist. Auch saßen fünf Beni Khalid bei ihm, wahrscheinlich um ihn zu beaufsichtigen. Auch das ließ darauf schließen, daß er noch am Leben war. Hinter ihnen lagen Kamele, vielleicht ein Dutzend, weiche den Beni Khalid gehörten. Wo aber waren die andern Menschen und Tiere? Die von uns untersuchte Fährte hatte doch auf wenigstens dreißig schließen lassen! Später wurde es mir klar, daß der Scheik sie fortgeschickt hatte, um möglichst wenig Zeugen für das zu haben, was hier an dieser Stelle geschehen sollte. Auch wollte er den Kanz el A'da nur für sich allein oder, falls dies nicht zu erreichen war, mit möglichst wenigen Personen zu teilen haben. Warum aber hatte er da die Mekkaner, welche doch den ersten Anspruch darauf erhoben, mit hierhergenommen?
Jedenfalls war die ganze Abteilung der Beni Khalid hier beisammengewesen, um dem Perser aufzulauern. Oben hatten wahrscheinlich Posten gestanden, um seine Ankunft zu melden. Sie waren mit einer Salve von über dreißig Schüssen empfangen worden, und wer dann noch lebte, war, den Basch Nazyr ausgenommen, durch weitere, schnelle Schüsse abgetan worden. Der seinen Soldaten voranreitende Perser hatte ebensowenig wie ich an den Sandrutsch gedacht; er war, wenn auch in weniger gefährlicher Weise, herabgestürzt und den Beni Khalid in die Hände gefallen und sogleich von ihnen in Fesseln gelegt worden.
Man kann sich meine Stimmung denken! Nicht etwa, daß ich mich verloren gab; o nein! Selbst wenn ich nicht meine Haddedihn hinter mir gewußt hätte, wäre es mir nicht eingefallen, der Hoffnung auf Rettung zu entsagen. Aber der Anblick der zwanzig hingemordeten Asaker erfüllte mich mit Grauen. An diesem Scheik der Beni Khalid schien nur das eine Gute zu sein, daß er sein Wort heilig hielt. Weiter aber nichts!
Als er bemerkte, daß ich die Augen geöffnet hatte und mich bewegte, ging ein höhnisch grausames Lächeln über sein von Halefs Peitsche gekennzeichnetes Gesicht. Er deutete mit der Hand auf mich und sagte zu EI Ghani:
»Schau! Er lebt; er hat also den Hals nicht gebrochen! Allah hat mir ihn für meine Kugel aufgehoben. Jetzt muß er sagen, warum er hierhergekommen ist. Wenn er es nicht gesteht, werden wir ihn schon zu zwingen wissen, die Wahrheit zu sagen! Du hast meine Worte gehört. Nun sprich, Hund!«
Diese Aufforderung galt mir. Ich antwortete, ohne auf den Hund! zu achten:
»Ich habe keinen Grund, zu schweigen. Es fiel mir ein, daß ihr auf den Gedanken gekommen sein könntet, den Basch Nazyr zu überfallen und ihm den Kanz el A'da wieder abzunehmen; da bin ich ihm auf seinem Hedschihn, welches er mir geschenkt hat, nachgeritten, um ihn zu warnen.«
»Allein?«
»Ja.«
»Wo sind die Haddedihn?«
»Auf dem Wege, welcher von hier nach der Ain Bahrid führt.«
»Sie werden dich nicht wiedersehen, aber uns, denn wir holen sie ein, um sie zu vernichten. Also, das Hedschihn, das kostbare, hat er dir geschenkt? Wohl weil du ihm das Leben und den Schatz gerettet haben willst?«
»Ja.«
»So ist es liebreich von dir, daß du es mitgebracht hast. Ich werde es behalten, und eure Pferde, von denen ich gestehe, daß sie ihresgleichen suchen, kommen auch in den Besitz meines Stammes; ihr aber lauft alle in die Krallen des Teufels. Daß dies geschieht, dafür werde ich jetzt sorgen!«
Während er sprach, waren seine Augen und auch die Blicke der Mekkaner ,in einer Weise auf mich gerichtet, daß ich einsehen mußte, bei ihnen keine Spur von Erbarmen zu finden. Der Münedschi horchte aufmerksam auf jedes Wort. Jetzt, als der Scheik schwieg, wendete er sich mit der Frage an ihn:
»Das ist der Effendi aus dem Wadi Draha der hier gefangen vor uns liegt?«
»Ja«, antwortete Tawil.
»Was werdet ihr mit ihm tun?«
»Er wird erschossen, und zwar gleich hier! Hast du etwas dagegen einzuwenden?«
»Nein, gar nichts. Ich stimme vollständig bei. Ich hätte ihm noch einige Bemerkungen zu machen, unterlasse es aber, weil so ein Mensch nicht wert ist, daß ich mit ihm spreche. Ich habe ihm in das Gesicht gespuckt; das ist für ihn genug, um zu wissen, was ich von ihm denke und wie unendlich ich ihn verachte. Während er vorgibt, ein frommes, unschuldiges Lamm zu sein, ist er ein Raubtier, und zwar ein so gefährliches, daß man sich mit seiner Tötung Allahs Lohn verdient. Ihn zu schonen, würde die größte Sünde sein, die ihr auf euch laden könnt. Er gehe also dahin, wohin er gehört: in die Hölle!«
Da ließ sich auch El Ghani hören:
»Das ist ganz so, als ob ich es gesagt hätte! Ich gebe also auch meine Zustimmung und fordere von dir, o Scheik, daß er erschossen wird!«
»So? Ihr stimmt also bei!« fragte der Scheik in einem so ironisch wegwerfenden Tone, daß ich vermutete, das Verhältnis zwischen ihm und seinen ,Gastfreunden' sei nicht mehr das frühere. »Es ist prahlerisch und lächerlich, mir eure Einwilligung anzubieten. Ich tue hier, was mir beliebt, und frage nicht, ob es euch paßt oder nicht. Ihr wißt ja, wie wir jetzt zusammen stehen! Bildet euch also nicht ein, daß ich mich nach euren Wünschen richte!«
»Ich wünsche nichts, sondern ich fordere mein Recht! Vor allem verlange ich den Perser für mich! Er hat mir, dem Liebling des Großscherffs, die Schande des Diebstahls frech in das Gesicht geworfen; er ist mir mit Soldaten nachgeritten, wie man einen ehrlosen Verbrecher verfolgt; er trägt die Schuld an der Behandlung und an allen Beleidigungen, die wir am Bir Hilu erduldet haben, er, der von Allah verdammte Schiit, der nicht wert ist, daß ich ihn auch nur mit dem Fuße berühre, um ihn fortzustoßen. Darum verlange ich, der Vollstrecker des Urteiles zu sein. Es darf ihn keine andere Kugel treffen, als nur die meinige!«
»Dagegen habe ich nichts«, lachte der Scheik in einer jeden Gefühlesbaren Weise. »Wenn es dir Spaß macht, ihn mit deiner eigenen Hand in die Hölle zu schleudern, so werde ich dich nicht hindern, es zu tun. Hast du geladen? Du kannst es sofort tun, denn unsre Zeit für hier ist abgelaufen.«
Er stand auf, der Ghani auch. Sollte das im Ernst gemeint gewesen sein? Das wäre ja fürchterlich! Ich erhob meine Stimme, um gegen diesen Mord zu protestieren, erhielt als Antwort aber nur ein höhnisches Gelächter. Da hörte ich, jetzt und hier zum erstenmal, die Stimme des Basch Nazyr:
»Ich bitte dich, gib dir keine Mühe, Effendi! Ich habe schon selbst erfahren, daß jedes Wort umsonst ist. Mein Tod ist beschlossen, und davon geben diese Leute um keinen Preis ab. Ich bin selbst schuld daran, denn ich habe deine Worte in den Wind geschlagen und werde nun dafür bestraft. Aber ich will nicht wie ein armseliges Paket, sondern wie ein Mann sterben. Bindet mir die Füße los! Ich will die Kugel stehend empfangen. Tut mir wenigstens diesen Gefallen! Ich fliehe nicht; ich gehe keinen Schritt von der Stelle, von welcher aus ich durch die Pforte des Todes treten soll!«
Da lachte der Scheik wieder in der schon beschriebenen Weise auf und antwortete:
»Diesen Wunsch werde ich dir gern erfüllen, denn ich bin ein menschenfreundlicher Mann, und es wird ja doch dein letzter sein in diesem Leben!«
Er ging zu ihm hin und gab ihm die Füße frei. Der Perser stand auf, kam langsam auf mich zu und sah mir in das Gesicht. Er mochte auf demselben lesen, was in mir vorging, denn er schüttelte den Kopf und sagte:
»Denk nicht darüber nach, wie mir vielleicht zu helfen wäre! Wir sind nicht zu retten und können nichts tun, als mit Würde sterben. Ich bin nicht nur schuld an meinem, sondern auch an deinem Tode. Hier bitte ich dich nicht um Verzeihung, denn alle Ohren, welche es hier gibt, sind es unwert, solche Worte anzuhören. Aber du wirst nur wenige Minuten nach mir durch die große Mauer, welche Ben Nur uns zeigte, nach Es Setschme, den Ort der Sichtung, kommen, und da erwarte ich dich, um dich auf meinen Knien und mit der Hand zu bitten, mir meine Unbedachtsamkeit zu verzeihen. Wie ich dich kenne, weiß ich, daß ich nicht umsonst bitten werde. Ja?«
»Ich verzeihe dir schon jetzt«, antwortete ich. »Das Leben der Menschen steht in einer höheren Hand, die uns noch im letzten Augenblicke retten und sogar die Kugeln lenken kann. Ihr wollen wir uns anvertrauen!« '
»Tut das, wenn es euch beliebt!« lachte der Scheik abermals. »Ich habe aber auch eine Hand, und der entkommt ihr nicht, so wahr euer Es Setschme, der Ort der Sichtung, nichts als Schwindel ist! Aber da ihr glaubt, dort drüben so schön vereinigt zu sein, will ich euch zu Liebe dafür sorgen, daß ihr es schon hier sein werdet. Wir graben jetzt ein Grab, in weiches wir euch nebeneinander legen. Die Leichen der Asaker mögen die Geier fressen, sie bleiben liegen; euch aber sollen nur die Würmer bekommen. Das ist der einzige Unterschied, den wir zwischen zwei Arten von Halunken machen. In der Hölle trefft ihr doch mit ihnen zusammen!«
Seine Beni Khalid machten sich auf seinen Befehl daran, ein Loch in den Sand zu wühlen, nicht weit von uns und grad vor unsern Augen, so daß wir zusehen konnten. Das gab doch einen Aufschub, jetzt kostbar, denn es stand außer allem Zweifel, daß Halef sich der allergrößten Eile befleißigen werde. Ich wußte zwar nicht, wie lange Zeit ich betäubt gelegen hatte, aber da mein Hedschihn sich während derselben so ruhig niedergelegt hatte und von den Beduinen trotz der Erregung, welche unser Erscheinen hatte hervorbringen müssen, gar nicht mehr beachtet worden war, so durfte ich annehmen, daß dieser Zustand der Besinnungslosigkeit von längerer Dauer gewesen sei. Die Hoffnung, daß die Haddedihn noch rechtzeitig zu unserer Rettung eintreffen würden, war also gar nicht ausgeschlossen.
Das hätte ich dem Perser gerne gesagt; aber der Scheik und auch der Ghani hielten uns so scharf unter ihren Augen, daß mir kein leises Wort ermöglicht war. Sie hinderten aber den Basch Nazyr nicht, laut zu sprechen:
»Effendi, da unser Geschick sich in dieser Weise geändert hat, will ich dir eine Mitteilung machen, welche dich interessieren wird. Ich habe darüber geschwiegen, weil ich glaubte, daß du Dschafar Mirza zürnen werdest.«
»Warum?«
»Er hat mir ein Geschenk gemacht, welches er erst von dir erhalten hat.«
»Darüber kann ich doch nicht zornig sein! Das Geschenk gehörte dann ihm, und er konnte also darüber verfügen, wie es ihm beliebte. Wir haben uns gegenseitig wiederholt mit Gaben erfreut. Welches Geschenk meinst du?«
»Das kleine Buch in persischer Sprache El Beschair el arba. Ich habe mit ihm in innigerer Beziehung gestanden, als ich dir bisher gesagt habe und jetzt in der Todesstunde sagen kann. Du weißt, sein Leben war geheimnisvoll, und darum schwieg ich gegen dich. Er hat das Buch gelesen und jede Zeile desselben in sein Herz gegraben. Dann schenkte er es mir, damit auch ich erleuchtet werde. Du hast mir verziehen, was ich über die Spaltung eures Glaubens sagte; nur die Bekenner sind uneinig; die Lehre selbst aber kennt und will diese Teilung nicht. Sie ist auch mir in das Herz gedrungen, obgleich ich zu dir kein Wort davon gesprochen habe, denn du solltest ja nicht wissen, daß ich das, was ich jetzt denke und fühle, aus deinem Geschenk gezogen habe. Ich las täglich darin, auch heut früh wieder, als ihr es nicht merktet. Da schlug ich die Stelle nach, welche lautet: Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, welche euch verfolgen und verleumden, aul dasß ihr Kinder seid eures Vater, der im Himmel ist, der seine Sonne aufgehen läßt über die Guten und die Bösen und läßt regnen über die Gerechten und die Ungerechten! Es lebte jedes Wort in mir, welches wir von Ben Nur gehört hatten, als der Quell und die Summe seiner ganzen Rede nur das eine, nur die Liebe war. Ich dachte an unser Verhalten gegen diese unsere Feinde hier, denen wir für den Haß die Liebe gaben. Es schien mir der Güte allzu viel gewesen zu sein, und darum schlug ich diese Stelle auf, um meiner Schwachheit Kraft zu geben. Nun scheint es aber doch, als hätten wir besser gehandelt, wenn wir schwach geblieben wären, denn wir werden, du und ich, unsern Gehorsam gegen die Liebe mit dem Leben bezahlen!«
»Nein, das glaube ich nicht!« antwortete ich, tief ergriffen von diesem so unerwarteten Glaubensbekenntnisse des dem Tode Geweihten. »Das Leben hat dieselbe Ewigkeit wie die Liebe. Wir sterben nicht, vielleicht nicht einmal leiblich. Der, weicher, als du heut die Stelle lasest, von dir forderte, deine Feinde zu lieben, hat wohl die Macht, dich grad durch diese Liebe zu erretten! Sein Evangelium ist ein fester Schutz und Schirm im Leben und auch in der größten Todesgefahr. Wenn du auf ihn vertraust, ist seine Hilfe vielleicht näher, als du denkst!«
»So wollen wir uns ja beeilen, dieser Hilfe schnell zuvorzukommen!« lachte der Scheik. »Das Loch ist fertig.«
»Ja, es ist fertig und meine Kugel ist bereit!« fügte El Ghani entschlossen hinzu. »Wir müssen fort. Nun wird nicht länger gezaudert!«
»Stelle dich hierher!«
Bei diesem an den Perser gerichteten Befehle deutete der Scheik neben das Grab; Khutub Agha gehorchte. Als er dort stand, rief er mir zu.
»Effendi, ich sage kein Lebewohl zu dir, denn wir trennen uns doch nur für einige Augenblicke. Du kannst deine Hände nicht falten, weil du auch gefesselt bist; aber sprich in deiner Seele ein Gebet für mich, daß ich an EI Mizan, der Waage der Gerechtigkeit, die Hand des Engels fassen darf, der mich hinüberführt!«
Bei dieser Bitte kam ein Grimm über mich, den ich, wenigstens für mich und mein ganzes Leben, wohl beispiellos nennen kann. Es erhob sich eine, fast möchte ich sagen, bisher unbekannte, dämonische Kraft in mir, weiche, keinen Widerstand achtend, zum rücksichtslosen Ausbruch trieb. Da, vor mir stand der Freund, mitten unter den Mördern, in einer roten Lache des vergossenen Soldatenblutes! Mußte es geschehen? Durfte es geschehen? Konnte ich denn nicht helfen? War ich armseliger Kerl denn wirklich zu schwach für meine Fesseln?
»Du sollst noch nicht nach dieser Hand fassen!« schrie ich auf. .Ich befreie mich; ich komme, ich komme! Steh nur nicht still, sondern wehre dich! Du hast ja die Füße frei! Stoß zu; tritt sie nieder, immer nieder!
Ich zog und drehte an meinen Fesseln, obgleich ich fühlte, daß sie mir in das Fleisch schnitten; ich bäumte und schnellte mich auf, stürzte aber sofort wieder hin, doch nicht, ohne daß der um die Fußgelenke geschlungene Strick zerriß. Er hatte der Kraft, mehr derjenigen des Falles als meiner eigenen, doch nicht widerstehen können!
»Drauf! Drauf auf ihn! Der Hund macht sich wirklich frei!« rief der Scheik.
Er, die Beni Khalid und die drei Mekkaner warfen sich auf mich. Ich stieß mit den noch gefesselten Händen und den frei gewordenen Füßen nach ihnen, schnellte mich hin und her – – – ! Es war ein zu ungleicher Kampf, und da – – – da fiel der Pistolenschuß des Ghani; ich sah aus der Umschlingung, in der ich mich befand, heraus, daß der Perser mit ausgebreiteten Armen hintenüberstürzte; da war mein Widerstand dahin; ich streckte mich aus und ließ mir auch ruhig die Füße wieder zusammenbinden und gestehe, daß ich dabei laut und bitterlich weinte. Ich wollte nicht; ich wußte nur zu gut, weich eine Schande mir dieser Weinkrampf machte; aber es war eben ein Krampf, der sich nicht unterdrücken ließ. Es war mir das noch nie passiert, doch da die beispiellose Aufregung, welche sich meiner bemächtigt hatte, nicht auf anderem Wege hatte explodieren können, tat sie es eben in diesem Schluchzen, welches bei denen, die es hörten, ein schallendes Gelächter hervorrief.
Auf den Hohn, mit dem ich nun beworfen und überschüttet wurde, achtete ich gar nicht. Sie mußten ja von selbst aufhören, und das taten sie sehr bald, weil der Ghani die Aufmerksamkeit. der andern von mir auf sich ablenkte. Er kniete nämlich bei dem Basch Nazyr nieder und begann, dessen Taschen zu durchsuchen.
»Halt! Was fällt dir ein!« störte ihn der Scheik.
»Nichts fällt mir ein, als nur das, was ich darf!« antwortete der andere. »Soll das, was er bei sich hat, etwa mit ihm begraben werden?«
»Nein, aber dir gehört es nicht!«
»Dieser Schiit ist mein Eigentum! Mir ist er nachgeritten, mich hat er beschuldigt und beleidigt; von meiner Kugel ist er gefallen. Sein Eigentum, sein ganzes, ganzes Eigentum gehört also nur mir!«
Ich sah da einen Streit kommen, der sich vielleicht in die Länge ziehen und mir dadurch Rettung bringen konnte. Dieser Gedanke wirkte wohltätig auf mich; ich wurde innerlich wieder ruhig.
»Sollen wir dich vielleicht ebenso auslachen, wie wir jetzt über diesen weinenden Hund gelacht haben?« fragte Tawil Ben Schahid. »Wer hat den Angriff hier geleitet, wer die Soldaten besiegt, du oder ich? Wer ist also Besitzer alles dessen, was sich hier befindet?«
Er stand hochaufgerichtet und drohend vor dem Ghani, und seine Beni Khalid näherten sich, ihre Gewehre in den Händen, den Mekkanern in einer Weise, welche zwar diesen nicht, aber mir auffiel. Das sah ja ganz so aus, als ob jetzt etwas geschehen solle, was der Scheik vorher mit seinen Leuten heimlich verabredet hatte! In dieser Vermutung wurde ich durch die Beobachtung bestärkt, daß sie ihre Augen nur auf ihn gerichtet hielten, als ob sie auf ein mit ihm vereinbartes Zeichen warteten.
»Etwa du?« rief der Liebling des Großscherifs. »Warum hast du den Kanz el A'da dort neben dein Kamel gelegt? Willst du mich um ihn betrügen? Ich habe schon gestern während des ganzen Tages gemerkt, daß du etwas gegen uns im Schilde führst. Ist's ein Betrug, eine Verräterei, so denke nicht, daß ich sie dulden werde! Meine Macht reicht weiter als die deinige!«
Seine Augen funkelten; der Scheik antwortete um so ruhiger und kälter:
»Wie weit deine Macht und dagegen die meinige reicht, wirst du sofort erfahren! – – – Jetzt!«
Dieses Wort, weiches den erwarteten Befehl enthielt, galt seinen Leuten. Wie von nur einer einzigen Hand gehoben, flogen die Kolben ihrer Gewehre empor und krachten auf die Köpfe der Mekkaner nieder, die auf eine solche Überrumpelung nicht vorbereitet waren und, vor Schreck sich gar nicht wehrend, durch weitere Hiebe niedergeschlagen wurden. Daß diese Tat vorher besprochen worden war, bestätigte sich nun gleich auch dadurch, daß die zum Binden der Mekkaner nötigen Stricke sofort bei der Hand waren. Es war für mich ein unendlich häßlicher, widerlicher Vorgang, der mich empören mußte, obwohl die so verräterisch Behandelten meine Feinde waren. Nur für wenige Augenblicke bestürzt oder betäubt gewesen, wanden und krümmten sie sich nun schreiend, fluchend und heulend hin und her. Der Scheik stand eine ganze Weile stumm dabei, um ihre erste Wut vorübergehen zu lassen; aber als ihm das zu lange dauerte, zog er seine Pistole und gab sein Wort als Schwur, daß er jeden, der nicht sofort ruhig sei, erschießen werde. Das wirkte augenblicklich, denn sie wußten j a, wie stolz er darauf war, daß er sein Wort oder gar seinen Schwur niemals breche.
Hatte ich mich vorhin in einer beinahe beispiellosen Aufregung befunden, so fühlte ich mich jetzt von einer fast ebenso großen Spannung ergriffen. Indem die Ereignisse der letzten Tage an mir vorüberflogen, wurde es für mich gewiß, daß der Tod der Mekkaner für den Scheik eine beschlossene Sache sei. Er wollte den Kanz el A'da haben und mußte sich auch alter Zeugen dessen, was geschehen war, entledigen. Aber seine Leute! Wie stand es da mit diesen? Durften sie alles wissen?
Es zeigte sich, daß dies eine Frage war, die er schon vorher im stillen beantwortet hatte. Er gab ihnen den Befehl:
»Jetzt könnt auch ihr nun fort; ich komme nach! Ich habe diesen früheren Freunden und jetzigen Feinden einige gute Lehren zu erteilen, ehe ich sie wieder freigebe. Nach dem Bir Hilu dürfen sie auf keinen Fall wieder. Der Effendi bekommt von mir selbst eine Kugel.«
Sie gehorchten, wenn auch sichtlich widerstrebend. Sie schienen, wenigstens in Beziehung auf den Kanz el A'da, auch ihre Absichten und Wünsche zu haben. Wahrscheinlich durchschauten sie den Scheik und hielten es aber für klug, ihm einstweilen alles zu überlassen und erst später dann mit ihren Forderungen hervorzutreten. Sie gingen zu ihren Kamelen, stiegen auf und ritten fort, und zwar nicht auf dem Wege, den ich gekommen war, sondern auf demjenigen, der sie hierhergeführt hatte, denn sie waren einen weiten Bogen um den Bir Hilu geritten und so vorsichtig gewesen, erst hier auf die Linie zu treffen, auf welcher ihrer Ansicht nach die Rückkehr des Persers erfolgen werde. Das war ein für mich sehr günstiger Umstand, da ich nun nicht zu befürchten brauchte, daß sie mit Halef zusammentreffen oder gar ihn vorzeitig sehen und schnell zurückkehren würden, um den Scheik zu warnen.
Dieser hatte für mich einstweilen keine Beachtung mehr, womit ich allerdings sehr gern einverstanden war. Jetzt, da seine Leute sich entfernt hatten, war meine Lage so ganz unerwartet hoffnungsvoll geworden. Ich hatte es mit ihm allein zu tun und hielt es für gar nicht unmöglich, mit ihm fertig zu werden, ohne Halefs Hilfe abzuwarten. Die Hauptsache dabei war, ihn nahe an meine Hände zu bekommen.
Auf seine Flinte gelehnt, hatte er dagestanden, bis seine Beni Khalid verschwunden waren. Nun wendete er sich dem Ghani zu:
»Ich wiederhole es: Es spricht keiner von euch eher, als bis ich es erlaube, sonst ist ihm eine Kugel sicher! Ich gebe noch einmal mein Wort darauf!«
Er sah sie einzeln, einen nach dem andern finster an und fuhr dann fort:
»Ihr seid ganz unbeschreiblich dumme und dabei ebenso unbeschreiblich freche Menschen! Es ist eine Unverschämtheit sondergleichen, mir zuzumuten, euch für unschuldig zu halten! Allah weiß es, und ich weiß es auch, daß der Schiit dort in seinem Rechte war. Ich sage euch das in Gegenwart dieses Effendi, den ich dem Perser nicht nachschicken will, ohne ihn vorher zu überzeugen, daß ich euch gar wohl durchschaut habe. Das tue ich, weil ich mich bisher vor ihm zu schämen hatte, denn er mußte ja annehmen, daß ich verbrannte Dattelkörner anstatt des Gehirnes im Kopfe habe!«
»Wir sind – – – !« wollte der Ghani beginnen.
»Schweig!« wurde er unterbrochen. »Ich werde dir sagen, wenn du zu sprechen hast.«
»Aber ich muß – –«
Er hielt sofort wieder inne, denn der Scheik richtete den Lauf der Pistole auf ihn.
»Du scheinst gern reden zu wollen. Gut, du sollst es dürfen, aber ja nicht mehr als ein einziges Wort!«
Er trat hart an ihn heran, näherte die Waffe seinem Herzen und fuhr fort:
»Wenn du eine Lüge antwortest oder mehr als nur ein einziges Wort, auch wenn du auf den Gedanken kommen solltest, nicht zu antworten, also in jedem von diesen drei Fällen trifft dich meine Kugel augenblicklich und ebenso sicher, wie die deinige dort den Unschuldigen getroffen hat! Also jetzt! Habt ihr den Kanz el A'da gestohlen? Ja oder nein!«
»Ja«, würgte der Ghani, als ob er am Ersticken sei, hervor.
»Daran habe ich natürlich keine Sekunde lang gezweifelt, und darum verdient es die härteste aller Strafen, daß ihr mich für einen Geisteskranken gehalten und von mir gefordert habt, euch nicht nur als Unschuldige gegen die Haddedihn und die Asaker zu verteidigen, sondern, was noch tausendmal schlimmer ist, euch auch wirklich für unschuldig zu halten. Ich kannte dich, Ghani, schon früher, und ihr kamt zu uns an den Brunnen. Ihr waret also meine Gäste, und wir haben mehr als unsere Pflicht gegen euch getan. Sogar das Leben wagten wir wiederholt, zuletzt im Zweikampfe, den wir um euretwillen forderten. Dann aber war euch genug von uns geschehen. Als wir vorn Brunnen reiten mußten, erklärte ich euch, daß wir uns von euch trennen müßten. Ihr weigertet euch, zu gehen! Ich sagte euch, daß ich euch nicht mehr als Gäste betrachten dürfe. Ihr bliebt dennoch bei uns! Als wir hierherritten, befahl ich euch, zurückzubleiben. Ihr gehorchtet nicht, sondern kamt uns nachgeritten! Wir mußten euch dulden, weil ihr sonst zu den Feinden geritten wäret, um zu verraten, daß wir dem Perser auflauern wollen. Ihr seid also nicht als meine Gäste und Freunde mitgeritten, sondern als zudringliches Ungeziefer, dessen man sich entledigt, wenn es zu frech geworden ist. Und das tue ich jetzt. Was den Kanz el A'da betrifft, so ist diese Angelegenheit durch den Zweikampf vollständig für euch erledigt worden. Er gehörte euch nicht, denn ihr hattet ihn gestohlen, und er wurde dem rechtmäßigen Besitzer zugesprochen. Wolltet ihr ihn wiederhaben, so konntet ihr ihn ja zum zweitenmal stehlen; dagegen hatte ich nichts, und es war allein eure Sache; ihr hättet euch also von uns trennen sollen! Ebenso hatte ich das Recht, ihn mir zu holen, denn euer Recht ist nicht größer als das meinige, nämlich gar keins! Ich habe das unternommen, und der Fang ist mir gelungen; nun seid ihr an der Reihe, nichts dagegen zu haben! Anstatt dessen aber sehe und höre ich, daß ihr es wagt, mich um den wohlerworbenen Lohn zu bringen. Ihr seid trotz eurer Schwäche und Erbärmlichkeit so dreist, ihn mir streitig zu machen. Ihr bezahlt meine Güte mit Feindschaft, meine Gastfreundlichkeit mit Undank, und es ist für mich also Pflicht der Selbsterhaltung, daß ich mich gegen euch sicherstelle. Da ich euch weder durch Güte noch durch ernste Vorstellungen loswerden konnte, muß ich zu einem anderen Mittel greifen, mich eurer zu entledigen. Bis vorhin war ich gewillt, kein Blut zu vergießen. Ich wollte euch gefesselt hier liegen lassen, bin aber anderer Meinung geworden. Ihr würdet langsam verschmachtet sein, ohne daß ich mir die Schuld zu geben hätte, weil ihr gegen meinen Willen mit hierhergeritten seid. Doch seit ich vorhin gesehen habe, weiche Freude es dir macht, mit eigener Hand das Blut eines Unschuldigen zu vergießen, kann ich euch denselben Dienst erweisen, ohne mir den geringsten Vorwurf machen zu müssen. Ja, eine Kugel ist nur die wohlverdiente Strafe für euch, und indem ich euch den Weg von der Erde zeige, befreie ich die Menschheit von einer Anzahl von Schurken, welche der allerärgsten Verbrechen fähig sind!«
Es war gewiß eine sonderbare Logik, welche dieser langen Rede zugrunde lag! Machte es die Plötzlichkeit, mit weicher der Scheik jetzt seine Feindseligkeit enthüllte, oder die Angst vor der angedrohten Kugel, kurz, es ließ keiner ein Wort der Entgegnung hören. Auch der Münedschi war still. Ich kann die Art und Weise, in der er dem Ben Khalid zugehört hatte, wohl nicht besser bezeichnen, als indem ich sage, daß er ihm mit den Ohren die Worte von den Lippen las. Seine blaustrahlenden Augen standen weit auf, und sein Mund war geöffnet; sein Gesicht schien plötzlich versteinert zu sein, denn kein Zug desselben, kein einziges Haar seines Bartes wollte sich bewegen. Es war mir mehr, weit mehr als interessant, ihn zu beobachten. Er hatte das Geständnis des Ghani gehört, ebenso alles, was von dem Scheik gesagt worden war, und mußte nun also wissen, was es mit dem Kanz el A'da für eine Bewandtnis hatte. Obgleich es wohl eigentlich nicht nötig ist, will ich doch erwähnen, daß er weder einen Kolbenschlag empfangen hatte, noch gefesselt worden war. Dieser Gewaltmaßregeln bedurfte es bei ihm, dem Blinden, nicht.
Während ich den Blick beobachtend auf ihn gerichtet hatte, sah ich, daß die Starrheit aus seinen Zügen wich. Er stand auf, langsam, sehr langsam, wie jemand, der aus einem tiefen Schlaf mit süßem Traume zur ganz entgegengesetzten, harten Wirklichkeit erwacht.
»Darf ich reden?« fragte er.
»Du? – Ja«, antwortete der Scheik.
»Ich hörte alles, was du sprachst. Ich bitte dich bei Allah und allem, was dir heilig ist, mir die Wahrheit zu sagen! Haben meine Gefährten wirklich den Kanz el A'da in Meschhed Ali gestohlen?«
»Ja.«
»Es ist ihnen wirklich nachgewiesen? Sie sind wirklich überführt worden?«
»Ja. Der Ghani hat es doch jetzt sogar gestanden!«
»Und sie haben die Gegenstände des Raubes bei sich gehabt?«
»Gewiß! Du hast es ja gehört! Im Zweikampfe handelte es sich doch nur um sie!«
»So hatte der erschossene Perser recht?«
»Vollständig recht!«
»Bedenke, was du damit sagst! Du wühlst damit in mir das großte Unglück auf, welches es im Leben der Bewohner dieser Erde geben kann!«
»Es ist so, wie ich sage. Der Basch Nazyr hat nichts als seine Pflicht getan und wurde dafür von der ruchlosen Hand des Hauptdiebes umgebracht.«
»So ist der Ghani also nicht nur Dieb, sondern auch Mörder?«
»Beides. Überhaupt, wenn du diesen deinen Beschützer, welcher so oft und sehr mit seinen dir erwiesenen Wohltaten prahlt, für einen guten Menschen gehalten hast, so ist dieser dein Irrtum nur mit deiner Blindheit zu entschuldigen. Auf ihn, nicht auf den Effendi paßt das Wort, welches du diesem in das Gesicht warfst, nämlich daß er ein höchst gefährliches Raubtier sei, von welchem man die Menschheit zu erlösen habe.«
»So hat also dieser Effendi aus dem Wadi Draha nicht gelogen und betrogen, sondern es ist von ihm die Unschuld, das Gesetz verteidigt worden?«
»Ja. Er ist mit euch ganz unbegreiflich gütig verfahren. Ein anderer an seiner Stelle hätte euch alle ohne Gnade und Rücksicht umgebracht!«
»O Allah, Allah, Allah! Er hat mich vom Grabe errettet! Er hat mir solche Liebe und Barmherzigkeit geschenkt! Und ich, ich – – – ich – – -ich habe ihm in das Gesicht gespien! Welch eine Sünde, welche Undankbarkeit!«
Er schlug die Hände zusammen und sah dabei grad so aus, als ob er vor Scham und Reue in die Erde sinken wolle. Tahil Ben Schahid antwortete:
»Wäre ich er gewesen, als du ihn anspucktest, so hätte ich dich zerrissen!«
»Welch eine Selbstbeherrschung, welch ein Edelmut von ihm! Und er ist hier?«
»Ja. Da liegt er, nur fünf Schritte von dir.«
»Er hat alles, was hier geschehen ist, gesehen? Er hört auch, was ich jetzt sage?«
»Natürlich sieht und hört er alles! Er hält seinen Blick auf dich gerichtet.«
»So erbarme sich Allah meiner! Was habe ich getan; was habe ich getan!«
Nach diesem Ausrufe sank er wieder nieder, legte die Arme auf die angezogenen Knie und verbarg das Gesicht in die Hände. Jetzt durfte ich mich über meine ihm gegenüber geübte Schonung freuen. Er hatte die einzig richtige Antwort auf seinen wörtlichen und tätlichen Angriff ohne mein Zutun nun erhalten. Es gibt eben eine Gerechtigkeit, welche hoch über der menschlichen steht und mit ebenso unerschütterlicher wie unnachsichtlicher Strenge darüber wacht, daß sich nach dem großen, ethischen Weltgesetze des Allgerechten die Strafe aus der Sünde zu entwickeln hat. Nicht ein einziges menschliches Gesetz ist fähig, eine solche Kongruenz zwischen Schuld und Sühne, eine solche innere »Einerleiheit« von Tat und Folge zu erreichen!
Der Scheik hatte seine Antworten in der sehr bemerkbaren Absicht gegeben, die Schlechtigkeit des Ghani zu beleuchten. Vielleicht war es ihm dabei gleichgültig, oder dachte er gar nicht daran, daß er damit auch über sich selbst ein nicht weniger treffendes Urteil sprach.
Er setzte nun seine Rede an den Ghani fort, doch hörte ich nicht, was er sagte, denn meine Aufmerksamkeit war jetzt von ihm ab und auf die Höhe der Düne gelenkt worden. Ich sah nämlich zwei Reiter oben erscheinen, dann einen dritten – – – Halef, Kara und Omar Ben Sadek. Sie rissen, als sie uns sahen, ihre Pferde zurück, wodurch sie auch aus der gefährlichen Nähe des Sandsturzes kamen. Ein schneller Blick unterrichtete sie über die Lage, in weicher ich mich befand; dann verschwanden sie wieder. Hatte ich schon seit dem Fortritte der Beni Khalid nichts mehr für mich befürchtet, so war ich nun erst recht meiner Sache gewiß. Das Blatt sollte sich für den Scheik gefährlich wenden!
Jedenfalls waren die drei unsern Haddedihn eine Strecke vorausgeritten; sie saßen auf unsern Pferden, weiche schneller als die Kamele waren. Es war auch gut, daß sie den jähen Abfall auf dieser Seite der Höhe gesehen hatten, denn nun konnten sie sich vor ihm hüten. Jetzt berieten sie wohl, ob sie auf das Herankommen unserer Krieger warten sollten oder nicht. Wie ich meinen ungeduldigen, gern rasch handelnden Halef kannte, stimmte er gegen den Verzug. Sie hatten es ja nur mit einem einzelnen Gegner, dem Scheik, zu tun! Und wie ich gedacht hatte, so geschah es: Ich sah sie wieder erscheinen, seitwärts von der gefährlichen Stelle. Sie kamen, um dem Ben Khalid keine Zeit zum Besinnen zu geben, trotz der Steilheit des Terrains in einer Weise heruntergejagt, daß es mir um sie und auch die Pferde hätte angst und bange werden mögen.
»Allah, Allah!« rief der Ghani, der sie zuerst erblickte.
Seine Augen waren mit einem Ausdrucke auf die Höhe gerichtet, der den Scheik aufmerksam machen mußte. Er drehte sich rasch um und sah sie kommen.
»Die Haddedihn!« schrie er auf. »Die führt der Teufel her! Aber sie haben sich getäuscht!«
Er hatte seine Pistole noch in der Rechten und das Gewehr in der Linken. Die erstere auf mich richtend, drückte er ab. Ich schnellte mich sofort zur Seite und wurde nicht getroffen. Ohne dies in seinem Eifer zu bemerken, legte er das Gewehr auf Halef, welcher der vorderste war, an und schoß. Auch diese Kugel ging fehl. Nun sprang er zu den Gewehren der Mekkaner, weiche in meiner Nähe lagen. Ich mußte annehmen, daß sie geladen seien, und es lag noch so viel Raum zwischen ihm und meinen Helfern, daß es für ihn, ehe sie ihn erreichen konnten, genug Zeit zu mehreren Schüssen gab, denn das, was er tat, geschah so schnell, daß es in dem winzigen Zeitraum einiger Sekunden lag.
Jetzt war es an mir, ihm den Gebrauch dieser Waffen unmöglich zu machen! Das war nicht allzuschwer, denn indem er sich zu ihnen niederbückte, kehrte er mir den Rücken zu. Ich stemmte die Hände und die Füße ein und arbeitete mich mit einigen kräftigen Stößen zu ihm hin. Als ich ihn erreichte, hatte er sich schon wieder aufgerichtet und das ergriffene Gewehr im Anschlage. Ich konnte trotz der Fesseln den Fuß packen, auf weichen er den Schwerpunkt legte. Ein Ruck, und er stürzte nieder, wobei er das Gewehr fallen ließ. Im Begriffe, sich augenblicklich wieder emporzuraffen, sah er, wer ihn zum Falle gebracht hatte, und machte den Fehler, den ihm noch zustehenden Augenblick mit mir zu versäumen. Er schleuderte sich herum, faßte mich mit der Linken an der Brust und griff mit der andern Hand nach dem Messer.
»Du lebst noch, Hund?« schrie er. »Also zuerst noch dich!«
Es kam mir darauf an, ihn beim Halse nehmen zu können; darum gab ich ihm in die Ellbogenbeuge einen Stoß, weicher seinen Arm zusammenklappte und seinen Oberkörper zu mir nieder brachte. Sofort hatte ich ihn bei der Kehle und preßte sie ihm so zusammen, daß es ihm alle Kraft benahm. Das Messer blieb stecken; sein Körper fiel vollends nieder, und seine Arme und Beine bewegten sich. krampfhaft in der Todesangst.
»Halte ihn fest, Sihdi! Ich bin schon da!« rief da der kleine Hadschi..
Er hatte mich erreicht, parierte sein Pferd, sprang ab und griff auch mit zu.
»Ich halte ihn schon fest. Bindet ihn!« sagte ich.
»Mit Wonne und mit Stricken!« lachte er. »Den lassen wir ja nicht wieder laufen, er weiß nichts, als nur Unheil anzurichten!«
Nun standen auch Kara und Omar da. Sie banden mir die Fesseln los, welche zu den Händen und Füßen des Scheikes hinüberwanderten, auch eine unmittelbare Gerechtigkeit! Erst jetzt, als ich mich aufgerichtet hatte und die Anne streckte, fühlte ich den ganzen Schmerz meiner verletzten Handgelenke.
»Allah erbarme sich!« klagte Halef nun, indem er rund umherblickte. »Alle Soldaten tot, alle!«
»Und dort der Basch Nazyr auch!« machte ich ihn aufmerksam, indem ich auf die in der schon erwähnten Blutlache liegende Leiche zeigte.
Sie lag mit dem Rücken nach oben. Der Hadschi ging hin, zog sie auf das Trockene, drehte sie um und untersuchte sie.
»Mich schaudert, Sihdi!« sagte er, fast stöhnend. »Warum hat er dir nicht gefolgt! Der Ärmste ist ganz vom Blute durchtränkt! Hier sehe ich das Loch im Gewand. Die Kugel ging ihm in die Brust, grad in das Herz! Und dieses Gesicht, so todesstarr und bleich! Ich kann es nicht länger ansehen!«
Er wendete sich ab.
»Und nicht etwa im Kampfe erschossen, sondern als gefesselter Gefangener von dem Ghani mit Bedacht ermordet!« erklärte ich.
Da sah mich Halef stumm an; dann trat er zu dem Mekkaner hin und sprach:
»Ungeheuer! So also dankst du es ihm und uns, daß wir euch eine Nachsicht zeigten, die man fast für unmöglich halten sollte! Mit dieser deiner Kugel hast du nicht nur ihn, sondern auch dich selbst erschossen! Du wirst in kurzer Zeit eine Leiche sein wie er!«
Er kehrte sich mit der Gebärde des Abscheues wieder von ihm ab, betrachtete die umherliegenden Leichen, schüttelte traurig den Kopf und fuhr dann fort:
»Es ist mir, als ob ich gar nich daran glauben könne! Wie ist das nur gekommen. Zwanzig, zwanzig Asaker tot, und doch nur der Schtik mit den Mekkanern hier, die noch dazu gefesselt sind. Das ist mir unerklärlich, vollständig unerklärlich! Und wie bist du in die Hand dieses Teufels gefallen, welcher im Körper des Scheikes der Beni Khalid steckt? Erzähle es doch, Effendi!«
»Wann kommen unsere Krieger!« fragte ich.
»Sie werden gleich hier sein. Unser Vorsprung vor ihnen war nicht groß.«
»So will ich mit meiner Erzählung warten, bis sie da sind, sonst müßte ich sie dann wiederholen. Kara mag auf die Höhe steigen und sie auf die eingesunkene Stelle aufmerksam machen, sonst geht es, wenigstens den Vorderen von ihnen, so wie mir. Ich bin nämlich mit dem Hedschihn abgestürzt, von oben herunter bis hierher.«
»Oh! Und darum konnten sie dich erwischen, nur darum?«
»Ja. Ich hatte dem Kamele das Geheimnis gegeben, und so entwickelte es eine Schnelligkeit, weiche es mir unmöglich machte, mitten im Laufe vor dem Loche anzuhalten.«
»Und da mußten diese Halunken auch grad hier unten sein!«
»Wahrscheinlich hatten sie nur dieser Stelle wegen sich für hier entschieden. Freilich weiß ich nicht, ob sie sie vorher kannten.«
»Sie werden auch stürzen, und zwar nicht von da oben herunter in den weichen Sand, sondern von der Brücke des Todes hinab in Ei Halahk, den Abgrund des Verderbens! Denn das versteht sich doch nun ganz von selbst, daß wir von jetzt an nur die größte Strenge walten lassen. Blut um Blut, Leben um Leben! So wie die Kerls hier liegen, werden sie erschossen, und dann suchen wir die Beni Khalid auf. Wir sind zwar nur fünfzig Mann, aber auch wenn sie tausend zählten, würde ich nicht eher ruhen, als bis für jeden ermordeten Soldaten wenigstens zwei oder drei von ihnen tot am Boden liegen!«
Jetzt kamen unsere Haddedihn, deren Kamelen man es ansah, daß sie zur größten Eile angetrieben worden waren. Am meisten schwitzten und außer Atem waren die beiden, welche den Tachtirwan zu tragen hatten. Dieser Ritt, immer auf und nieder, war eine große Anstrengung für Hanneh gewesen, die ihr aber nicht hatte erspart werden können, weil auch schon nur der Gedanke, sie einstweilen irgendwo zurückzulassen, sich unter den gegenwärtigen Verhältnissen ganz von selbst verbot.
Auf sie, die Frau, machte der Anblick der Leichen natürlich noch einen ganz anderen Eindruck als auf die rauheren Männer, und doch gab es auch unter diesen wohl keinen, der jetzt das Verlangen nach Rache nicht empfunden hätte!
Als alle abgestiegen waren, lagerten sie sich, um meine Erzählung zu hören, in einem Kreise, der die Gefangenen umschloß. Diese wagten kaum, eine Bewegung zu machen, und gar vom Sprechen war erst recht keine Rede. Auch der Münedschi war still. Er saß aufrecht und mit geschlossenen Augen da wie ein lebloses Bild; er war nach der Aufregung von vorhin wieder in seinen Zustand der In sich selbst Versunkenheit gefallen.
Ehe ich meinen Bericht begann, schickte ich einen Haddedihn auf die Höhe, um dort Wache zu stehen. Da sie die andern Dünen überragte, hatte er einen weiten Fernblick und mußte also jede Annäherung so rechtzeitig bemerken, daß wir nicht überrascht werden konnten. Es war zwar, wenigstens für jetzt, kein Grund vorhanden, unsere Sicherheit für gefährdet zu halten, aber wir hatten annehmen müssen, daß die Hauptabteilung der Beni Khalid sich an dem westlichen Bergeszug befand, in dessen Nähe wir umgekehrt waren. Da war es denn leicht möglich, daß sie uns gesehen und beobachtet hatten. Ihr Scheik war mit einer kleinen Schar wieder nordwärts geritten, und da auch wir in dieser Richtung zurückgingen, konnten sie sich denken, daß wir dies in der Absicht taten, ihm zu folgen. Sie wußten ihn also von uns bedroht, und so wäre es eine unverzeihliche Nachlässigkeit von ihnen gewesen, wenn sie unterlassen hätten, uns nachzukommen oder uns wenigstens eine hinreichend starke Rotte nachzuschicken. Hatten sie aber dies getan, so war die von mir getroffene Vorsichtsmaßregel gar nicht überflüssig, zumal wir nicht wußten, wohin die Begleiter des Scheikes geritten waren, deren größter Teil sich schon vor meinem Eintreffen von hier entfernt hatte, während der Rest dann nach dem Angriffe auf die Mekkaner von ihm fortgeschickt worden war.
Meine Erzählung fand einen Zuhörerkreis, der so bei der Sache war, daß ich sie sehr oft unterbrechen mußte, um den vielfältigen Ausrufungen des Beifalles, des Staunens, des Zornes und des Abscheues Raum zu lassen. Die Empörung gegen die Mörder wuchs immer mehr, und als ich geendet hatte, waren die braven Haddedihn kaum vor sofortigen Gewalttätigkeiten zurückzuhalten.
Während die Stimmen der aufgeregten Leute wirr durcheinander klangen und die Interjektionen hin und her flogen, wobei niemand auf die Umgebung achtete, geschah etwas, was so unerwartet und so außerordentlich war, daß ich es noch heut, nach Jahren, so deutlich vor mir sehe, als ob es erst vor einigen Minuten geschehen wäre. Das Stimmengewirr wurde nämlich von einem lauten, ja überlauten, schrillen Schrei unterbrochen. Hanneh hatte ihn ausgestoßen. Sie saß mit blutleeren Wangen und weit aufgerissenen Augen da und deutete mit der Hand nach der Gegend, nach welcher auch ihr vor Schreck starrer Blick gerichtet war. Wir sahen hin. Es erklangen mehrere Schreie, nicht Hannehs, sondern der Haddedihn; dann aber trat die tiefste, allertiefste Stille ein.
Das, was wir sahen, wäre uns vorher so undenkbar gewesen, daß unser jetziges Erstaunen, welches nahe an Schreck grenzte, allerdings keiner Erklärung bedurfte. Khutub Agha nämlich, der Totgeglaubte, lag nicht mehr an seiner Stelle; er war aufgestanden und kam mit sehr langsamen, taumelnden Schritten auf uns zu! Wir mußten uns ja wohl sagen, daß dies auf ganz natürliche Weise zugehe, daß sein Tod eine Täuschung gewesen sei, und doch gab es wohl wenige unter uns, die sich nicht einer Art von Grauen zu erwehren hatten! Wir dachten gar nicht daran, aufzustehen; wir blieben alle, alle sitzen, so groß war der Einfluß, den das Wiederaufleben des Erschossenen auf unsere Bewegungsnerven ausübte.
Mit blutleerem Gesichte, aber bluttriefendem Gewande kam er uns Schritt um Schritt näher, zuweilen den Kopf hebend, den Mund öffnend und mit der Hand nach dem Herzen greifend, als ob ihm das Atmen schwer werde. Dabei wankte er bei jedem Schritte wie ein Kind, welches noch nicht die Fertigkeit des Gehens besitzt. Da sprang ich denn doch auf, um ihn zu unterstützen. Er aber hob die Hand, winkte mir ab und sagte:
»Bleib – – – ! Ich – – – ! Ich will – – – neben – – – neben – – -dir sitzen!«
Das klang so dumpf, so hohl und doch so mit Gewalt herausgepreßt! Ich blieb stehen, bis er da war, bis er bei mir stand und sich bückte, um sich niederzusetzen. Er verlor dabei das Gleichgewicht und wäre vornüber gestürzt, wenn ich ihn nicht gehalten hätte. Dann kam er mit meiner Hilfe zum Sitzen, und ich setzte mich an seine Seite. Niemand hatte ein Wort gesagt, und auch jetzt schwiegen alle. Ich hatte eine ganze Menge von Worten und Fragen auf der Zunge, behielt sie aber zurück, denn ich sah ihm an, daß er nicht wünschte, jetzt angeredet zu werden. Woran ich das merkte, das weiß ich nicht mehr oder hätte es vielleicht auch schon damals nicht sagen können. Er hatte, auch ganz abgesehen von seiner blutigen Kleidung, etwas Fremdes, Geisterhaftes an sich, was keine Neugierde aufkommen ließ, sondern zum Schweigen mahnte. Wenn er sprach, bewegte er bloß die Lippen; das Mienenspiel schien erstarrt zu sein. Auch seine Augen waren nicht dieselben wie vorher; sie hatten das Aussehen, als ob ihr Blick vor Angst, vor Entsetzen gestorben sei.
Ich suchte die Stelle, wo die Kugel eingedrungen war. Das Loch befand sich genau in der Gegend des Herzens. Da mußte er doch tot sein! Und doch war zwar die Kleidung blutig, aber es schien kein Tropfen mehr zu fließen! Jetzt wendete er mir das Gesicht zu und sagte mit tonloser Stimme:
»Effendi, ich war dort!«
»Wo?« fragte ich, indem ich eine Art von Grauen fühlte.
»Dort!«
Er senkte den Kopf, hob ihn nach einer Weile wieder und fügte hinzu: »Wo der Münedschi mit Ben Nur war!«
»In der Phantasie?«
»Nein, wirklich!« »Das kann doch nicht sein!«
»Es ist so, Effendi! Ich bin soeben erst von dort zurückgekommen! Da wachte ich auf und sah mich im Blute liegen. Es fiel mir ein, daß ich erschossen worden bin, und fragte mich, ob ich gestorben oder lebend sei. Ich dachte nach, und da kam ich zu der Überzeugung, daß ich nicht mehr tot sei, denn ich bin ja nur wieder ich allein und nicht mehr ich und mein Leib.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Vielleicht lernst du mich erst dann verstehen, wenn du gestorben bist. Ich weiß nicht, wie ich es deutlich machen soll. Mein Sterben war folgendermaßen –«
Er legte wieder beide Hände auf das Herz, holte tief und schmerzlich seufzend Atem und fuhr dann in der Weise fort, wie er auch bis zu Ende sprach, nämlich als ob ein schwerer Druck auf ihm, auf seinem ganzen Innern und auch auf seiner Stimme liege:
»Ich sah dich mit den Beni Khalid ringen; ich sah, daß der Ghani seine Pistole auf mich richtete und schoß; ich hörte den Schuß und fühlte die Kugel in mein Herz dringen. Doch schnell war dieser Schmerz vorüber, denn nur der Körper fühlt diese Art von Schmerz; ich aber war nicht mehr in ihm, sondern ich stand als Seele bei ihm. Ich sah ihn liegen; ich sah euch alle, dieses Tal, die beiden Höhen, den Himmel darüber, die Mekkaner, die Beni Khalid, ihre Kamele, dein Kamel und auch dich selbst, der seine Füße befreit hatte und den sie nun wieder banden.«
»Das, das hast du gesehen?« fragte ich betroffen.
»Ja.«
Was sollte ich da denken? Der Schuß, der ihn niederwarf, war ja schon längst gefallen, als ich wieder gefesselt wurde. Wie also konnte er davon wissen? Totgestellt hatte er sich doch jedenfalls nicht! Man denke, mit der Kugel im Herzen! Und nur erraten konnte er es auch nicht, denn ich war ja nicht mehr gebunden. Überhaupt war es mir, wenn ich ihn so neben mir sitzen sah und in dieser Weise sprechen hörte, ganz und gar unmöglich, anzunehmen, daß er uns auch nur mit dem geringsten Worte täuschen wolle.
»Ja«, fuhr er fort, »ich stand mitten unter euch und sah meinen Körper, meine Leiche liegen. Ich war also Seele, als Mensch gestorben, als Seele aber weiterlebend.«
»Konntest du diese deine Seele, also dich selbst, sehen?«
»Ja, denn ich besaß alle meine Sinne noch, und mein Seelenkörper glich ganz genau dem irdischen, ganz genau, bis auf das einzelne Haar meines Bartes und den Nagel meines kleinen Fingers. Vor dem Tode fürchtete ich mich nicht vor ihm; ich war voller Mut und bot der Waffe des Ghani ruhig meine Brust, Kaum aber war mein Körper tot, so erfüllte mich der Gedanke, gestorben zu sein, mit Entsetzen. Ich dachte an die Mauer mit den vielen Todespforten – – – Allah w'Allah, kaum hatte ich an sie gedacht, so war ich schon dort! Während der Mensch auf Erden nur langsam zur Einsicht kommt, gelangte ich, da ich nun Seele war, nicht nach und nach, sondern sofort zu der Erkenntnis, zu der Überzeugung, daß Gedanke und Tat, Wunsch und Wirklichkeit in jenem Leben nur eins, nicht zweierlei ist. Kaum dachte ich an Es Setschme, den Ort der Sichtung hinter jener Mauer, so war ich auch schon da. Und als mir El Mizan, die Waage der Gerechtigkeit, einfiel, stand ich auch schon vor derselben. Was Ben Nur dem Münedschi zeigte, muß ein Gesicht, eine Übertragung gewesen sein, denn in Wirklichkeit vollzieht sich alles viel, viel schneller, ja mit Gedankenschnelligkeit! Nur die Zeit vor der Waage dünkte mir eine Ewigkeit, eine ganze, ganze Ewigkeit zu sein. Mich schauert noch in diesem Augenblick vor ihr!«
Er schüttelte sich, und das war nicht bloß ein Schütteln des Körpers, sondern nach innen hinein, wobei die Blässe seines Gesichtes ganz erschrecklich wurde. Was sollte ich von ihm und von dem, was er sagte, denken? War er nur betäubt gewesen, wie ich nach meinem Sturze von der Höhe? Ich hatte da das Gefühl eines unaufhörlichen Fallens gehabt. Hatte da vielleicht ein ähnliches Gefühl in ihm die jenseitigen Orte vorgegaukelt, deren Namen ihm seit unserer Szene mit Ben Nur im Gedächtnisse standen? Aber nur betäubt, das konnte ich mir gar nicht denken. Es war kein Zweifel daran zu setzen, daß ihn die Kugel getroffen hatte, und zwar in das Herz. Ich selbst sah ja das Loch in seinem Gewande! Um mir Klarheit zu verschaffen, sprach ich jetzt die Bitte aus:
»Du hast viel geblutet und blutest wohl jetzt noch. Erlaube mir, daß ich vor allen Dingen einmal nach deiner Wunde sehe!«
»Warte jetzt noch!« antwortete er. »Das Bluten hat aufgehört. Ich habe keinen Schmerz. Was ich fühle, ist nichts als ein Druck, der mir das Atmen erschwert. Wahrscheinlich verblute ich mich, sobald die Wunde wieder berührt wird; aber doch ist mir auch gesagt worden, daß ich noch länger leben muß! Mag es nun das eine oder das andere sein, so will ich zunächst meine, Seele von der Last erleichtern, welche sich an der Waage der Gerechtigkeit mit zermalmender Schwere auf sie gelegt hat!«
Er bat um Wasser, trank, als es ihm gegeben wurde, einen Schluck und sprach dann weiter:
»Der Münedschi scheint eine wirkliche Waage gesehen zu haben. Vielleicht haben bei ihm an jenem Abende die seelisch gemeinten Gegenstände eine körperliche Gestalt angenommen. Ich habe keine wirkliche Waage, kein Werkzeug zum Wiegen gesehen, aber dennoch und dennoch war diese Waage da. Hast du, Effendi, schon einmal gehört, daß in der Todesstunde das ganze, ganze Leben des Sterbenden, sogar mit allem, was er längst vergessen hat, an ihm vorüberziehe?«
»Ja. Das hat man mir schon öfters behauptet.«
»Diese Behauptung ist wahr, ganz entsetzlich wahr! Als ich an die Waage der Gerechtigkeit dachte, stand ich sofort vor ihr. Ich wußte, daß sie es war, sah sie aber nicht. Ich wußte auch, daß viele, viele Seelen sich bei mir befanden, konnte sie aber weder sehen noch hören, denn meine Seele hatte nur mit sich selbst zu tun. Ihr Denken, Fühlen und Tun war mit ihr eins, war sie selbst. Außer ihr gab es nichts, als sie selbst und ihr vergangenes Leben. Und dieses Leben war doch auch wieder nur sie selbst. Es lag nicht außerhalb von ihr, nicht in der Vergangenheit, sondern sie war das Produkt und zugleich der Inbegriff alles dessen, was sie getan, gedacht und empfunden hatte, so wie zum Beispiel das Meer das Ergebnis und zugleich die Summe all der unzähligen Tropfen ist, welche hineingeflossen sind. Ebenso war meine Seele. Die Quellen, Rinnsale, Bäche, Flüßchen, Flüsse und Ströme, das waren die Stunden, Tage, Wochen und Jahre meines Lebens. Das Wasser in ihnen, das waren die der Prüfung entgegenfließenden, zahllosen Tropfen meiner Regungen, Entschlüsse und Ausführungen, und das große Meer selbst war meine Seele, in welcher jeder einzelne dieser Tropfen lebte und sich geltend machte. Es fehlte nichts, kein einziger von ihnen allen. So war ich selbst dieses Meer, diese Seele; ich selbst bestand aus allen diesen Tropfen, für welche es kein Maß und keine Ziffer gibt, und doch erkannte ich sie alle, alle, alle! Dieses Erkennen geschah nicht mit dem Auge, dem Ohre, dem Gefühle, nicht mit irgendeinem Sinne, denn ich stand ja nicht außerhalb mir selbst, und doch wußte ich alles, und doch begriff ich alles, denn ich war ja dieses alles selbst. Ich kann euch das nicht sagen, nicht beschreiben; der Ausdruck mangelt mir, und indem ich vergeblich darnach suche, stelle ich das jetzt Gesagte mit dem Früheren in Widerspruch. Diese Unklarheit gab es vor der Waage nicht, sondern es herrschte da eine Deutlichkeit, für welche der Ausdruck ›zum Erschrecken‹ wenig, ja viel zu wenig sagt. Ich kannte jedes, aber auch jedes Wort, welches ich in meinem Leben gesprochen habe, mochte es nun nützlich, schädlich oder gleichgültig sein. Aber diese Bezeichnung ›gleichgültig‹ ist eine irdische; vor der Waage der Gerechtigkeit gibt es nichts Gleichgültiges, denn nichts, keine Silbe, kein Laut kann ohne Wirkung bleiben, weil er in einem Zusammenhange steht, welcher unzerreißbar ist. Ich kannte auch jede noch so leise Regung meines Innern, und das war fürchterlich! Ich kannte alles, was ich getan hatte, denn nichts, gar nichts war vergessen, weil es überhaupt kein Vergessen gibt. Das, was wir Vergessen nennen, ist nur das einstweilige Verschwinden des einzelnen im Ganzen, in der Summe; aber dann, wenn dieses Ganze im Augenblicke der Prüfung durchsichtig, klar und offenbar wird, muß das Verschwundene im Zusammenhange wieder erscheinen. Gäbe es doch eine Sprache, die wir aber alle auch sprechen und verstehen müßten, in welcher ich euch das alles begreiflich machen könnte, was zwischen dem Schusse und meinem Erwachen in mir und mit mir vorgegangen ist! Es beginnt ja schon jetzt, sich in mir selbst zu verwischen! Darum eben soll vorher gar nichts geschehen, und darum sollst du, Effendi, nicht einmal nach meiner Wunde sehen, bis ich nicht, so gut ich kann, davon gesprochen habe! Ich will es euch direkt und ohne Aufschub von dem Orte der Sichtung' herüberbringen. Jeder Augenblick löscht mehr davon aus!«
Er hatte sehr langsam und in wiederholten Pausen gesprochen. Jetzt ruhte er sich länger aus. Wir waren still, denn jeder von uns hatte das Gefühl, daß laute Worte auf seinen Gedankengang störend wirken müßten. Als er sich erholt und gesammelt hatte, begann er wieder:
»Es ist mir unmöglich, euch das nun Folgende in der gewünschten, richtigen Weise zu sagen. Es gab keine sichtbare Waage, denn auch diese Waage war ich selbst. Der Gewogene, die Waage und der Wägende, das war in mir vereint. Ich stand vor Gericht und war zugleich der Ankläger und der Richter. Es wurde jeder, aber auch jeder meiner Gedanken in mir laut. Über einige wenige durfte ich mich freuen; die unendliche Zahl der andern aber machte mich erzittern! Es zeigte sich, daß jeder Ton, der über meine Zunge gegangen war, von ewiger Dauer sei. Der irdische Klang ist nur die Wirkung der Luftbewegung; ist sie vorüber, so ist er nicht mehr vorhanden. Aber der seelische Teil des Menschen, der in diesen Ton gekleidet wurde, um zu wirken, der ist unvergänglich und bleibt ihm angehörig für die Ewigkeit. Was alles hatte ich da gesprochen! Die entsetzliche Erkenntnis, daß auch nicht eine einzige Silbe vernichtet sei, hätte mich zum glühenden Wunsche der Selbstvernichtung bringen können, wenn es überhaupt Vernichtung gäbe! Gegen die brausende Sündflut all dieser wieder erklingenden Worte gibt es keine andere Hilfe als den sie übertönenden Schrei nach Gnade, Gnade, Gnade! Und so wachten auch alt meine Taten auf. Es war keine von ihnen verschwunden, denn auch sie waren Teile meines Lebens, also Teile meiner selbst. Ich bestand aus ihnen; sie bildeten mein seelisches Gerippe, meine Muskeln; jeder Tropfen meines Blutes war eine Tat oder eine Folgerung meiner Taten. Ich konnte also jede von ihnen, selbst die geringste, in mir nach ihrem Wert oder Unwert empfinden. Und da war ich denn so voller Aussatz und voller Schwären, daß ich, der ich doch berufen war, ein Ebenbild Gottes zu sein, in fürchterlichster Angst mir sagen mußte, daß es besser für mich gewesen wäre, gar nicht gelebt zu haben. So sprach die Waage. Sie mußte so sprechen, weil meine Seele, also ich selbst, zwar ein Dasein, aber kein Leben gelebt hatte. Das einzige Licht der Seele ist die Liebe; die einzige Nahrung der Seele ist die Liebe; die einzige Luft, welche sie zu atmen vermag, ist die Liebe. In Liebe soll sie sich kleiden, sich mit Liebe schmücken, und wenn sie in Liebe tätig gewesen ist, soll sie auch in Liebe ruhen. Mein Dasein aber hatte nur mir gegolten; ich war liebeleer gewesen und hatte also nicht gelebt. Und was ich als Leben bezeichnet hatte, das war eine Aufeinanderfolge von Gedanken, Worten und Taten gewesen, die mich jetzt hinab in den Abgrund des Verderbens ziehen mußten. Ich brach zusammen und stöhnte in meiner Angst und Not: O hätte ich Liebe gehabt, mehr Liebe, mehr Liebe! Könnte ich noch einmal zurück, wie wollte ich lieben und leben, wie wollte ich leben und lieben!' Und kaum hatte ich das gesagt, so wurde es licht um mich her; eine helle Gestalt stand neben mir; sie faßte mich an der Hand und gab mir den himmlischen Trost: Dein Gebet sei erhört, denn der letzte Tag deines Erdenlebens ist Liebe gewesen, Liebe selbst für den Feind! Lebe sie weiter, diese Liebe, damit, wenn du hier wieder erscheinst, die Waage dann anders spreche, als sie jetzt gesprochen hat!' Beseligt von dieser Barmherzigkeit, fragte ich ihn: Bist du vielleicht Ben Nur, der am letzten Tage meines Lebens bei uns war?' Er lächelte gütig und sprach: Hier gibt es nur Liebe, die namenlos ist, und darum für ihre Boten auch keine Namen. Wenn einer ihrer Strahlen sich einen Namen gab, so tat er das nur für euch. Nenne mich immerhin auch Ben Nur, denn ich bringe dir das Licht, um welches du hier flehtest!' Während er so sprach, wurden wir von einer mir unbekannten Kraft empor und über die Mauer der Trennung hinübergetragen. Ich befand mich also an seiner Hand wieder diesseits der Sterbestunde.«
Da er eine Pause machte, fragte ich ihn:
»Das war wohl nun der Augenblick, an welchem du erwachtest?«
»Nein. Ich kehrte noch nicht in meinen Körper zurück, sondern ich wurde mit ihm durch eine Unermeßlichkeit getragen, in weicher es keine Schranken gab. Ich sah die Welten, die Sonnen und die Sterne; aber ich sah sie anders, als ich sie von der Erde aus gesehen hatte, denn mein Auge war ja dasjenige meiner Seele, nicht das irdische, welchem die Herrlichkeit, durch die wir schwebten, verborgen ist. Wir befanden uns in einem Ozeane des Lichtes, welches so rein und so klar war, daß mein Blick die fernste aller Fernen schauen konnte. Ich sah, daß alle diese Welten bewohnt waren, so wie die Erde das Geschlecht der Menschen trägt. Das kam mir so leicht begreiflich, so ganz selbstverständlich vor, daß ich mich wunderte, früher darnach gefragt und gar daran gezweifelt zu haben. Ich sah, daß alle diese Kinder des Lichtes herrlich gestaltet waren und aber doch auch wieder keine Gestalt hatten, denn sie besaßen keine sich durch den Stoffwechsel immer erneuernde und dem Tode verfallende Form, sondern sie waren – – – sie selbst! Der Mensch aber ist, solange er seinen sich stetig verwandelnden Körper trägt, in keinem Augenblicke er selbst; er ist niemals wahr; diese aber waren es; sie wohnten in Wahrheit und Klarheit, ja, sie bestanden aus ihr! Warum und auf welche Weise ich das sah und auch so mühelos begriff, das kann ich nun nicht sagen, da ich wieder in den Leib zurückgekehrt bin; mein Unsterbliches ist wieder eingehüllt in ihn und darum der Klarheit beraubt, in weicher ich mich befand. Die Augen meiner Seele sind trübe geworden und mit ihnen die Gedanken; darum ist das Licht, welches ich euch mitbringen möchte, nun nichts als ein Nebelschein, den auch ich selbst nicht mehr durchdringen kann. Dort aber gab es eine wunderbare, ununterbrochene Helligkeit, die auch mich selbst durchdrang und mir ein Gefühl des Glückes, der Seligkeit verlieh, welches ich nicht beschreiben kann. Darum sprach die Engelsgestalt an meiner Seite: Ich halte dich an meiner Hand, und darum dringt die Wonne, weiche dich durchflutet, zu mir herüber. Was dich jetzt durchdringt, was dich umleuchtet, hält und trägt, es ist nicht Licht, es ist nicht Wärme, nicht Äther und nicht Luft, denn diese Bezeichnungen gehören nur der Erde an; es ist die Liebe! Ihr kennt einstweilen fast nicht mehr als nur das Wort, noch aber nicht sie selbst in ihrer ganzen Fülle und Unendlichkeit. Ihr sprecht von Liebe und sprecht auch vom Leben, doch beides ist dasselbe; nur eure Worte sind verschieden. Und weil sie das Leben ist, wird jede Lebensform und jede neu entstehende Weit aus ihr geboren. Hat diese Welt ihren Zweck erfüllt, die ihr anvertrauten Wesen zur Liebe zu erziehen, so übergibt sie sie der Seligkeit und löst sich auf, um für dieselbe Aufgabe dann wieder zu erstehen. Dies ist der Zweck auch eurer Erdenweit. Das Dasein auf ihr soll zum Leben, soll zur Liebe werden. Und dieses Ziel wird unbedingt erreicht, denn was ist euer Sträuben gegen die Allmacht dessen, der es will! Ob ihr es leugnet oder eingesteht, es ist doch wahr, daß ihr in Liebe atmet und in Liebe lebt. Die größte Selbstsucht ist mit allen Regungen, die ihr entspringen, doch nichts und nichts als Liebe, wenn auch nur Liebe zu dem eigenen Ich. Daß dieses Ich ohne die andern Ichs unmöglich wäre, das ist der große, unwiderstehlich zwingende Grund, der im Verlaufe dessen, was ihr als Zeit bezeichnet, die Liebe zu sich selbst zur Bruder und zur Menschenliebe macht. Dieser Mangel an Erkenntnis, dieses Sträuben des Ich gegen das Wir, umhüllt die Erde mit dem Dunkel, welches das auf ihr ruhende Auge der Seligen betrübt, obgleich wir wissen, daß es sich in Licht verwandeln wird und muß. Sobald wir diesem Dunkel nahen, scheide ich von dir, doch höre vorher meine Bitte: Laß es wenigstens in dir und auch um dich hell werden! Streu Liebe aus! Je mehr die Zahl der Menschen wächst, die dieses tun, desto mächtiger wirkt das Licht auch auf die andern, und desto eher erreicht das Geschlecht der Sterblichen das Ziel die Seligkeit!' Nachdem er das gesprochen hatte, war es, als vermindere sich die Helle um mich her; wir kamen durch ein immer mehr sich dämpfendes Licht; die unermeßliche Ferne, in weiche ich vorher zu schauen vermochte, trat mir immer näher und näher, und in demselben Maße ging mir auch die Gabe verloren, die Worte des Engels und alles, was ich gesehen hatte, ohne Mühe zu verstehn und zu begreifen. Das ist die Erdennähe!' lächelte er wehmütig. Du hast die Furchtbarkeit der Waage empfunden; vergiß sie nicht! Laß alle die wiedergeschenkten Tage so sein, wie dein letzter war, dem du die Rückkehr zu verdanken hast, weil er der Liebe zu dem Feind gewidmet war! Du wirst erfahren, daß es die Liebe war, die dich beschützte; sei ihr dankbar dadurch, daß du in ihr die einzige Regentin deines weiteren Lebens anerkennst!' Ich weiß nicht, sah ich ihn schwinden, oder war ich es, der sich von ihm entfernte. Es wurde dunkler, immer dunkler um mich her und auch in mir selbst; ich sah nichts mehr; ich hörte nichts mehr und fühlte einen drückenden Schmerz auf meinem Herzen. Dann, als ich angstvoll lauschte, hörte ich eure Stimmen und öffnete die Augen. Ich lag neben einer Blutlache und besann mich auf alles wieder, an was ich nicht mehr gedacht hatte. Ich versuchte aufzustehn, und es gelang mir trotz des Druckes auf meiner Brust, der mich nicht emporlassen wollte. Jetzt hat er sich vermindert; es ist mir wohler geworden. Und nun ich euch erzählt habe, was ich nicht aufschieben wollte, weil ich es zu vergessen befürchtete, bitte ich dich, Effendi, nach meiner Wunde zu sehen!«
Ich hatte ihm mit so gespannter Aufmerksamkeit zugehört, daß ich mich erst besinnen mußte, um seiner Aufforderung nachzukommen. Er mußte sich legen; dann knöpfte ich ihm die Nimtaneh und das Qämihs auf und – – – konnte mich eines lauten Ausrufes des Staunens nicht erwehren. Es gab keine Wunde; seine Brust war unverletzt. Ich sah nur eine dunkelgefärbte, unregelmäßig verlaufende Stelle, welche auf einen vorhanden gewesenen Druck schließen ließ. Welch ein Wunder! Es war gar nicht anders möglich, als daß sich auf der Brust ein Gegenstand befunden hatte, von weichem die Kugel aufgehalten worden war! Ich griff an die geöffnete Nimtaneh und fühlte in der Tasche einen viereckigen Gegenstand. Ich nahm ihn heraus.
»Was suchst du da?« fragte er verwundert. »Das ist mein Beschair el arba, welches stets in der Satteltasche steckte. Heute aber, als ich die Stelle von der Liebe zu den Feinden gelesen hatte, tat ich es in die Brusttasche der Nimtaneh. Warum ich das tat, das weiß ich nicht; es fiel mir grad so ein.«
»Aber ich weiß es! Dein Schutzengel war es, der dir diesen Gedanken eingegeben hat. Das Buch hat dir das Leben gerettet!«
»Wie? – Das Leben gerettet?«
»Ja; steh auf und betrachte es! Du brauchst nicht liegen zu bleiben, denn du bist gar nicht verwundet. Der Schmerz, den du auf der Brust fühlst, ist alles, was der Schuß dir hinterlassen hat.«
Das gab nun eine allgemeine Verwunderung und eine noch viel, viel größere Freude. Dschafar Mirza, dem das kleine Evangelienbuch von mir geschenkt worden war, hatte es in Metall binden und ein silbernes Lesezeichen dazu fertigen lassen. Es hatte verkehrt, ich meine mit der Anfangsseite nach innen, nach dem Körper zu, in der Tasche des Basch Nazyr gesteckt und war von dem Geschosse also auf die hintere Platte des Einbandes getroffen worden. Da diese Platte dünn war, hatte sie der Kugel nicht genug Widerstand geleistet; diese war hindurchgeschlagen und auch so weit durch die Blätter gegangen, bis das Lesezeichen sie aufgehalten hatte. Dort steckte sie noch jetzt, nicht breitgeschlagen, sondern ein wenig abgeplattet. Der Schuß hatte also keine große Kraft gehabt. Es war ja, wie sich dann herausstellte, eine Pistole alter Konstruktion, und wahrscheinlich hatte auch das Pulver nicht viel getaugt. So war der durch das Buch verminderte Prall nicht einmal stark genug gewesen, eine Rippe zu verletzen. Schmerzhaft freilich war die Quetschung; der Perser laborierte längere Zeit daran.
Das Buch ging natürlich aus einer Hand in die andere, denn jeder wollte es nicht nur sehen, sondern auch genau betrachten. Als dies geschehen war, ließ ich es mir wieder geben und sah nach der Seite, in welcher das Zeichen gesteckt hatte. Welch eine Fügung! Ja, eine Fügung war es, denn Zufall gibt es nicht für mich! Die Kugel war fast durch das ganze Buch gedrungen, denn das Lesezeichen hatte fast ganz vorn, nämlich in der Bergpredigt, im fünften Kapitel des Matthäus, gesteckt, wo durch den verbogenen Rand des Zeichens ein kleiner Einschnitt entstanden war, weicher die letzte im Buche sichtbare Wirkung des Schusses bildete. Und wo befand sich diese Stelle? Ich hielt sie dem Perser hin und bat ihn:
»Lies!«
»Warum?« fragte er.
»Das nachher! Jetzt aber lies!«
»Es ist dasselbe, was ich heute früh gelesen habe: Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, welche euch verfolgen und verleumden, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters, der im Himmel ist, der seine Sonne aufgehen läßt über die Guten und die Bösen und läßt regnen über die Gerechten und die Ungerechten! Hierher habe ich das Zeichen gelegt.«
»Und was siehst du hier, grad neben diesen beiden Versen?«
»Ein kleines Loch, wahrscheinlich von dem verbogenen Zeichen!«
»Ja, aber für mich ist es noch mehr, und auch für dich soll und muß es noch mehr sein!«
»Was?«
»Du hast mir gesagt, dir sei heut früh der Gedanke gekommen, daß wir viel zu gütig gegen unsere Feinde gewesen seien; um dieser deiner Schwachheit Kraft zu verleihen. habest du hier diese Stelle aufgeschlagen und gelesen. Das ist doch so?«
»Ja, so ist es.«
»Nun, hier steht der Befehl: Liebet eure Feinde! Vorhin erzähltest du, der Engel wünsche, daß dein ganzes noch folgendes Leben so sei wie der letzte hier vergangene Tag. Und hat er nicht auch ausdrücklich gesagt, daß es die Liebe sei, welche dich beschützt habe?«
»Ja; das war eines seiner Abschiedsworte!«
»Nun, der Drang nach dem Gebote der Feindesliebe gab dir dieses Buch in die Hand. Aus Gehorsam für dieses Gebot schlugst du diese Stelle auf und legtest das Zeichen hinein. Grad bis hierher ist die Kugel gedrungen. Hier an dem Worte der Liebe hat sie ihre Macht verloren. Ist das ein Zufall?«
»Allah, Allah! Nein, gewiß nicht!«
»Ich denke das auch! Und jetzt fallen mir meine Worte ein, welche ich dir über das Evangelium sagte, kurz, ehe du erschossen werden solltest. Kannst du dich besinnen?«
»Nein.«
»Ich versicherte dir, daß Gott, welcher von dir die Liebe zu den Feinden fordere, auch die Macht habe, dich grad durch diese Liebe zu retten. Ich sagte, sein Evangelium sei ein starker Schutz und Schirm selbst in der größten Todesgefahr, und vielleicht stehe dir die Hilfe näher, als du denkest!«
»Ja, das ist sonderbar, Effendi!«
»Nicht nur sonderbar! Ich sprach von dem Schutze des Evangeliums, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß dieses Buch der vier Evangelien in deiner Brusttasche steckte! Und dazu kommt noch mehr. Besinne dich nur! Als du davon sprachst, daß du mich im Jenseits um Verzeihung bitten werdest, sagte ich dir, daß ich dir schon verziehen habe, und fügte hinzu, daß Gottes Hand dich noch im letzten Augenblicke retten und sogar die Kugeln lenken könne!«
»Ich besinne mich. Ja, so sagtest du wirklich!«
»Und noch etwas! Der Scheik sagte: Meiner Hand entkommt ihr nicht, so wahr euer Es Setschme, der Ort der Sichtung, nichts als Schwindel ist!' Du behauptest, auf Es Setschme und an der Waage der Gerechtigkeit gewesen zu sein; dieser Ort ist also für dich kein Schwindel. Und schau: Wir sind ihm entkommen, wir sind frei, während aber nun er unser Gefangener ist und uns ohne unsern Willen sicher und wahrlich nicht entkommen wird. Ist dieses wiederholte und erstaunliche Zusammenstimmen der gesprochenen Worte mit den späteren Ereignissen Zufall?«
»Nein, nein!« sagte der Perser.
Und »Nein, nein!« riefen auch Halef, Hanneh, Kara und alle, alle Haddedihn.
»Entweder müssen wir uns für Propheten halten«, fuhr ich fort, »oder wir sind der Überzeugung, daß wir unter einer alliebenden und allweisen Führung stehen, welche für uns das Unheil in Heil, das Unglück in Glück verwandelt. Da wir aber nicht den Wahnsinn haben, zu behaupten, daß wir mit der Gabe der Weissagung ausgerüstet seien, so ist für uns nur die zweite Annahme möglich. Ich habe stets an Gottes Führung geglaubt; ich werde an sie glauben und mich ihr mit herzlicher Zuversicht anvertrauen, solange ich lebe, und ich bitte euch alle, dies auch zu tun! Wir stehen hier an einem Orte, den wir wohl nie vergessen werden, an der Stelle eines Ereignisses, weiches nicht bloß für Khutub Agha, unsern Freund, sondern auch für uns alle von der größten Wichtigkeit ist. Wir haben hier abermals eine Kijahma, eine Auferstehung von den Toten, erlebt. Sie mag uns nicht nur auf unsere einstige Auferstehung von dem leiblichen Tode hinweisen, sondern uns zu einer Auferstehung schon jetzt erwecken, zu einem Erwachen alles dessen, was noch tot und fruchtlos in uns liegt, zu einem Lebendigwerden besonders der Liebe, die uns gegeben ist, nicht, daß wir sie in uns vergraben, sondern daß wir sie von uns hinausstrahlen lassen auf jedermann, auf Freund und Feind, der mit uns in Berührung kommt. Ihr habt durch den Mund des Basch Nazyr die Worte seines Engels gehört, welcher sagte, daß dies der Weg sei zum klaren Lichte, zum wirklichen Leben und zur Seligkeit. Und in diesem Sinne wollen wir uns jetzt zusammensetzen, um Gericht zu halten, über die, welche sich so schwer gegen uns vergangen haben, daß sie nach dem Gesetze der Wüste nur den Tod erwarten dürfen!«
Es antwortete hierauf niemand. Selbst mein kleiner, sonst so sprechfertiger Halef war still. Die allgemeine Stimmung zeigte überhaupt einen Ernst, ich möchte sagen, eine Feierlichkeit, weiche in diesem Grade und bei diesen Menschen nur bei höchst seltenen Gelegenheiten zu bemerken war. Mochte die Quelle, aus welcher die Reden und Darstellungen des Persers geflossen waren, sein, welche sie wolle, der Eindruck war ein ebenso tiefer wie nachhaltiger. Der Orientale ist für ein solches Hereinragen des Übersinnlichen in das Sinnliche ganz besonders empfänglich, und ich bin überzeugt, daß ein Abendländer, der dem Basch Nazyr zugehört hätte, wohl schwerlich so unverständig gewesen wäre, über ihn und seine Erzählung zu lächeln. Ich bin ja auch kein Orientale, und das Leben hat mich gelehrt, allem, was mir unbekannt erscheint, zunächst kühl und forschend gegenüberzutreten; aber das, was wir erst von Ben Nur und nun von dem Perser gehört hatten, kam mir denn doch nicht wie das ausschließliche Produkt eines kranken Gehirns oder wie die innere Folge eines äußerlichen Druckes auf die Herzgegend vor. Der Gelehrte wird zwar da gleich von Krankheit sprechen. Ja, krank war der Münedschi; das ist nicht zu leugnen, und den Basch Nazyr hatte gar eine Kugel hingestreckt: aber der letztere war nach seinem Erwachen aus der Ohnmacht geistig völlig gesund und klar, und was den ersteren betrifft, so gibt es mehr als genug Gelehrte, sogar echte, richtige Zunftgelehrte, weiche behaupten, es sei nicht durchgängig wahr, daß eine kräftige Seele nur in einem kräftigen Körper wohnen kann, sondern es habe sich umgekehrt sehr häufig erwiesen, daß die Seele erst und grad dann ihre Kräfte und Tätigkeiten entfalten könne, wenn die körperlichen Banden, in denen sie gefesselt ist, schwach und darum weniger hinderlich geworden sind.
Was unsere Gefangenen betrifft, so hatten auch sie alles gesehen und alles gehört. Das Erwachen des Persers hatte bei ihnen gewiß dasselbe Erstaunen hervorgebracht wie bei uns. Höchst wahrscheinlich freuten sie sich nun desselben, denn sie glaubten wohl, der Umstand, daß die Kugel unschädlich gewesen sei, müsse uns zur Milde stimmen. Gesagt aber hatte keiner vonihnen etwas, kein einziges Wort. Der Münedschi saß mit geschlossenen Augen bei ihnen, er rührte sich nicht, und wenn er ja einmal eine Bewegung machte, so war es diejenige des Rauchens, obgleich er seine Pfeife nicht in den Händen hatte. Was mit ihm geschehen werde, das hing ganz von dem Schicksale seiner mekkanischen Gefährten ab.
Dem Perser konnte ich in unserer gegenwärtigen Lage nur eine kalte Kompresse raten, welche von Zeit zu Zeit erneuert wurde. Er war schon sonst ein ernst angelegter Mann; jetzt nun schien sich dieser Ernst verdoppelt zu haben, und ich will gleich bei dieser Gelegenheit bemerken, daß während unsers ganzen späteren Beisammenseins nur sehr selten ein Lächeln auf seine Lippen kam. Die Wirkung der »Waage der Gerechtigkeit,« welche er, sooft er von ihr sprach, eine entsetzliche nannte, war keine vorübergehende bei ihm.
An der Beratung über die Strafe, welche die Schuldigen treffen sollte, hatten folgende Personen teilzunehmen: Halef, Kara, der Perser, Omar Ben Sadek und ich. Es galt vor allen Dingen, festzustellen, wer sich an dem Kampfe gegen die Soldaten beteiligt hatte. Khutub Agha behauptete, gesehen zu haben, daß nicht bloß die Beni Khalid, sondern auch die Mekkaner geschossen hätten. Um sich Gewißheit zu verschaffen, ging Halef hin zu ihnen und fragte den Ghani:
»Hast du auf die Soldaten geschossen?«
»Nein«, antwortete er.
»Dein Sohn?«
»Nein.«
»Einer deiner andern Gefährten?«
»Auch nicht. Warum hätten wir uns an dem Kampfe beteiligen sollen? Es waren ja genug Beni Khalid da!«
»Glaubt ihm nicht!« rief da der Scheik dazwischen.
»Er hat gar wohl geschossen, und zwar mehrere Male!«
»So!« meinte Halef. »Sein Sohn etwa auch?«
»Ja.«
»Und die andern?«
»Diese ebenso! Sie haben alle geschossen, alle. Nun aber sind sie so feig, es zu leugnen.«
»Und du sagst diese dir vom Teufel eingegebene Lüge, um nicht der einzige zu sein, den die Strafe trifft. Du willst uns mit dir ins Verderben ziehen!« rief der Ghani.
Der Scheik antwortete ihm wieder, und so entspann sich ein Hin und Her von Schimpfworten, dem ich dadurch ein Ende machte, daß ich ihnen befahl:
»Seid still! Ich werde gleich sehen, wer die Wahrheit sagt!«
Ich untersuchte ihre Flinten. Sie waren alle geladen, aber auch ebenso alle vor kurzem abgeschossen worden. Um aber doch ganz sicher zu gehen, richtete ich die Frage an den Ghani:
»Eure Flinten sind noch geladen; das spricht für euch, denn der Kampf ist sehr kurz gewesen, und wenn ihr euch an ihm beteiligt hättet, so wären die Läufe leer. Ist es so?«
»Ja, ja, so ist es. Du hast das richtige getroffen, Effendi«, antwortete er.
»Was hättet ihr auch jetzt oder in den letzten Tagen zu schießen gehabt! Ich wüßte nichts.«
Er ließ sich wirklich durch den beistimmenden Ton, in welchem ich dies sagte, irre machen und antwortete:
»Nichts, gar nichts, Effendi! Wir haben weder gejagt, noch sonst eine Gelegenheit zum Schießen gehabt.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
»Auch nicht auf eurem gestrigen Wege, vom Brunnen weg nach Südwest und dann hierher?«
»Nein! Du siehst also, daß wir unschuldig sind!«
»Ich sehe vielmehr, daß ihr schuldig seid. Es sind alle eure Flinten erst vor kurzem abgeschossen worden, und da du mir jetzt soeben bewiesen hast, daß dies nirgends anderswo geschehen ist, so ist es hier geschehen.«
Da lachte der Scheik höhnisch auf und rief ihm zu:
»Dummkopf! Hörtest du es denn diesem Effendi aus dem fernen Westen nicht an, daß er von vorn ganz ungefährlich tat, weil er dich von hinten packen wollte? Das ist ein schlauer Teufel, an den du nicht reichtest, auch wenn du das Gehirn von hundert solchen Kerlen, wie du bist, unter deinem Schädel hättest! Nun hat er dich gefangen, und ich habe recht behalten. Ich wiederhole, und ich mache keine Lüge: ihr habt vier oder fünf von den Soldaten erschossen! Ich gebe mein Wort darauf, und da ist es wahr!«
Der Ghani war nun still, und das genügte! Wir setzten uns zusammen. Die Haddedihn lauschten, damit ihnen kein Wort entgehen möge. Auch Hanneh hatte sich aus demselben Grunde ganz in unserer Nähe niedergelassen. Ihr liebes, gütiges und dabei doch so kluges Gesicht strahlte vor Stolz, ihren Sohn zum ersten Male in der Dschemmah, der »Versammlung der Ältesten«, nicht nur zu wissen, sondern sogar zu sehen und sprechen zu hören. Sein Vater war nicht weniger von Genugtuung erfüllt. Er selbst gab sich sehr ernst und würdevoll, was ihm, dem Jüngling, gar nicht übel stand.
Halef ergriff zuerst das Wort. Die Anwesenheit seiner Frau und seines Sohnes war für ihn eine sehr zwingende Ursache, eine seiner berühmten Reden zu halten. Ich kann sie hier übergehen und bringe nur den Schluß:
»Ihr wißt, wie gerne ich meine Peitsche sprechen lasse; aber nach dem, was wir von Ben Nur vernommen haben, bin ich gewillt, ihr von jetzt an weniger als früher das Wort zu geben, und hier, wo es sich um den Tod von soviel Menschen und auch außerdem um eine ganze Anzahl von Sünden und Verbrechen handelt, hat sie überhaupt zu schweigen. Eine Untersuchung ist nicht notwendig, denn die Taten liegen offen und deutlich vor unsern Augen. Es kann sich nur um den Tod handeln. Den haben sie mehr als verdient. Stimmen wir schnell ab! Das ist zwar nur eine Förmlichkeit, die aber doch erfüllt werden muß. Dein Urteil, Sihdi?«
»Ich will der letzte sein«, antwortete ich.
»So mag es nach der Reihe gehen. Khutub Agha, du sitzest neben mir. Also sag! Nicht wahr, den Tod?«
Der Perser sah in die Weite hinaus, als ob er von dorther einen Rat erwarte. Dann antwortete er:
»Nein!«
»Was – -wie – – ? Nicht den Tod?« rief Halef erstaunt.
»Nein!«
»Was sonst?«
»Ich begnadige sie. Sie mögen laufen! Ich weiß, daß sie der Strafe nicht entgehen werden, nicht entgehen können; aber ich will nicht derjenige sein, der das Tuch über ihnen zerreißt!«
»Das soll ich für Ernst nehmen?«
»Es ist mein Ernst. Und nun bitte ich dich, mich nicht weiter zu drängen! Ich habe die Waage' kennen gelernt und will erst selbst besser werden, ehe ich über andere richte!«
»Ich kann dich nicht zwingen und wünsche nur, daß du es nicht bereuen magst. Jetzt du, Omar Ben Sadek!«
»Ich stimme für den Tod!«
Das sagte er fest und streng und weiter kein einziges Wort.
»Jetzt du, Kara Ben Halef, mein Sohn!« fuhr der Hadschi fort.
Es war ein jugendlich helles, gutes, freundliches Auge, welches Kara jetzt auf mich richtete. Daß er grad mich ansah, das war mir erklärlich, denn ich wußte ja, daß er schon als Knabe stets gesagt hatte, er werde sich alle Mühe geben, so zu sein wie Kara Ben Nemsi Effendi. Ich war selbst auch neugierig auf das Wort, weiches wir aus seinem Munde hören würden.
»Ich begnadige sie auch!« klang es mild und doch so fest.
»Allah! Du auch, mein Sohn?« fragte Halef. »Wahrscheinlich hast du es dir nicht recht überlegt?«
»Ich habe es überlegt. Allah verlangt Liebe, und ich gebe sie; ich werde sie geben, so lange ich lebe!«
Da konnte ich nicht anders. Ich langte zu ihm hinüber und drückte ihm die Hand. Und von dem Platze her, wo seine Mutter saß, erklang der anerkennende Ruf:
»Kara, mein Sohn, säßest du jetzt nicht in der Versammlung der Ältesten, ich würde jetzt kommen und dich küssen!«
Er errötete, denn geküßt zu werden, wenn auch von der Mutter, ist etwas, wovon in der würdevollen Dschemmah nicht gesprochen werden darf.
»Nun habe ich mein Wort zu sagen«, erklärte Hadschi Halef. »Ich stimme natürlich für den Tod und füge hinzu, daß das Urteil sofort zu vollstrecken ist, denn wir haben keine Zeit zum langen, nutzlosen Verweilen hier. Jetzt bist noch du als der letzte übrig, Effendi. Es sind zwei Stimmen für und zwei Stimmen gegen den Tod. Bei dir liegt also die Entscheidung. Darf ich vorher noch ein Wort sagen?«
»Ja, doch kurz!«
»Ich sehe nämlich ein, daß wir uns in Gefahr befinden, Taten, welche gradezu zum Himmel schreien, unbestraft zu lassen. Das hat Ben Nur nicht gesagt und auch nicht gewollt! Er hat von Richtern gesprochen, welche selbst in dem ärgsten Verbrecher noch den Menschen suchten, um ihrem Urteile Milde verleihen zu dürfen, aber daß ein zwanzigfacher Mord keine Strafe finden soll, daß wir diese Menschen nach all den schweren Plänen und Anschlägen, die sie gegen uns hegten und nur deshalb nicht zur Vollendung bringen konnten, weil wir klüger, erfahrener und vorsichtiger sind als sie, freizulassen haben, das will selbst Ei Mizan nicht, die Waage der Gerechtigkeit. Was wird geschehen, wenn wir ihnen nicht die verdienten Kugeln geben? Sie reiten fort und lauern uns wieder auf. Und können sie uns nichts anhaben, so leben sie in ihrer Weise weiter, und alle schlechten Taten, weiche sie dann begehen, haben wir zu verantworten und zu tragen, wenn wir dereinst durch die Pforte des Todes gehen. Wenn ich mir Mühe gebe, ein guter Mensch zu sein, so will ich mich ja hüten, nicht etwa durch meine eigenen, sondern durch die Taten anderer doch noch hinabgerissen zu werden in den Abgrund des Verderbens! Das habe ich geglaubt, noch sagen zu müssen, und das gebe ich besonders dir zu bedenken, Effendi. Überlege es dir wohl, ehe du das letzte, entscheidende Wort auf die Lippen nimmst!«
Der Hadschi hatte in seinem Leben wohl viel Überflüssiges gesprochen; das jetzt aber war, wie mir schien, ein Wort zur rechten Zeit! Ich gestehe, daß auch ich beabsichtigt hatte, Gnade walten zu lassen, nicht etwa aus falscher Liebesduselei oder um meinen Standpunkt als Christ besonders hervortreten zu lassen, sondern aus dem Grunde, weicher für mich in dem Namen lag: Ben Nur. Ich sage aufrichtig, daß ich noch unter dem Eindrucke seiner Reden stand, und grad hier, nicht fern dem Orte, an welchem er gesprochen hatte, widerstrebte es mir, das Blut von sechs Menschen zu vergießen, weiche, mochten sie auch noch so schlecht gehandelt haben, doch die Entschuldigung für sich hatten, Angehörige einer Bevölkerung zu sein, weiche den Raub als eine Art ritterliches Handwerk betrachtet. Aber die ernste und sehr begründete Vorstellung Halefs war zu beherzigen. Ich überlegte. Leider sollte nur eine Strafe geltend sein, die Todesstrafe. Wäre diese Bedingung nicht gemacht worden, so hätte sich wohl ein Weg oder ein Mittel finden lassen, die Sühne ohne Blutvergießen mit der Schuld in das möglichste Gleichgewicht zu bringen. Die Hauptschuldigen waren unbedingt der Scheik und der Ghani; wenn diese – – – ja, das war es! Auf diese Weise konnte ich hier der Strenge und dort der Milde gerecht werden: diese beiden sollten bestraft, die andern aber begnadigt werden! Als Halef, dem mein Nachsinnen zu lange dauerte, mit einem: »Nun, Effendi?« drängte, beschloß ich, demgemäß zu sprechen.
Ich achtete dabei kaum darauf, daß der alte Münedschi aufgestanden war und sein Gesicht, doch mit geschlossenen Augen, nach uns gerichtet hatte.
»Mein Entschluß ist folgender«, sagte ich: »Der Scheik der Beni Khalid und Abadilah el Waraka, den man Ei Ghani nennt, sollen miteinander –«
»El Aschdar – – – ! El Aschdar – – – ! El Aschdar – – –!« schrie da, mich unterbrechend, der Münedschi mit aller Kraft seiner Stimme herüber. Trotz der hoben Tageshitze überlief es mich eiskalt! Niemand sah auf mich; aller Augen waren auf den Blinden gerichtet, welcher mit hocherhobenen Händen dastand, als ob er uns vor einer großen Gefahr zu warnen habe. Halef, Kara, Hanneh und der Perser kannten die Bedeutung dieses Wortes, denn Halef war neugierig gewesen und mit seinen Fragen so lange in mich gedrungen, bis ich ihm gesagt und erzählt hatte, warum ich kurz vor dem Zweikampfe von dem Münedschi fortgeführt und was mir da gesagt worden war.
»El Aschdar! Der Drache!« sagte Halef, indem er mich ganz betroffen anschaute. »Er hat es dreimal gesagt; hörst du, Effendi, dreimal! Weißt du noch, was das zu bedeuten hat?«
»Jawohl, weiß ich es«, antwortete ich.
»Wenn dir der Drache droht, will Ben Nur im Momente der Gefahr dreimal das Wort El Aschdar rufen! Welche Gefahr aber soll das jetzt sein? Ich sehe keine!«
»Aber ich!«
»Wo?«
»Hier, in unserer Dschemmah. Ich stand im Begriffe, eine Entscheidung zu treffen, welche nicht in und nach dem Sinne der Liebe ist. Es scheint, wir sollen uns vor Blutvergießen hüten.«
»Höre Effendi, werde nicht bedenklich! Was kann es uns persönlich schaden, wenn wir der Gerechtigkeit Genüge tun?«
»Vielleicht ist eine persönliche Gefahr dabei, vielleicht auch nicht; das ist jetzt Nebensache. Die Hauptsache besteht darin, daß ich vor dem Drachen der Lieblosigkeit gewarnt worden bin.«
»Vielleicht bezieht sich diese Warnung gar nicht auf das Urteil, welches wir hier zu fällen haben!«
»Ich beziehe es darauf. Horch!«
Der Blinde begann wieder zu sprechen. Es war ganz unmöglich, daß ein Wort von uns zu ihm gedrungen war, denn ich hatte, und Halef ebenso, in gedämpftem Tone gesprochen. Dennoch rief der Münedschi jetzt zu uns herüber:
»Ja, es ist das Urteil gemeint, streitet euch also nicht! Es gibt ein großes Gesetz der Gerechtigkeit, dessen Walten euch verborgen ist. Dasselbe Gesetz stellt neben die Gerechtigkeit die Gnade. Wenn die Gnade spricht, ist die Gerechtigkeit erfüllt! Ihr habt euch zu Richtern gesetzt des vergossenen Blutes wegen, dessen Lachen ich hier starren sehe. Wer unter euch besitzt das Recht dazu? Nur einer, denn den andern haben diese Toten ferngestanden. Und dieser eine hat sich für das Wort der Gnade entschieden. Woraus schöpft ihr andern nun die Pflicht, die Ausführung seines dem Himmel wohlgefälligen Entschlusses unmöglich zu machen? Ruft das, was euch getan wurde, eine blutige Rache heraus? Es ist El Aschdar, dessen Stimme ich in eurem Urteile höre! Vermeßt euch nicht, in den Gang der höheren Gerechtigkeit einzugreifen! Sie hat die Faust schon hoch erhoben zum wohlverdienten Schlage. Wenn ihr sie stört, trifft dieser Schlag euch; darum weicht zurück; jetzt ist noch Zeit dazu! Der Mund, der die Berechtigung dazu besitzt, hat Gnade ausgesprochen, nun laßt sie walten. Ich fordere es von euch!«
Das war mit der Stimme Ben Nurs, nicht mit der gewöhnlichen des Münedschi gesprochen worden. Nun setzte sich der Blinde wieder nieder und war ganz so teilnahmslos wie vorher, ein Werkzeug, welches nicht weiß, was es getan hat.
Halef holte tief Atem und sah mich bedenklich an.
»Effendi, du hast es gehört?« fragte er.
Ich nickte.
»Und auch verstanden?«
»Wahrscheinlich! Sag, Halef, wer war wohl mit dem gemeint, welcher allein zum Urteile berechtigt ist?«
»Hier Khutub Agha.«
»Ja. Und es ist richtig! Gehen wohl uns die Soldaten etwas an? Sind wir ihre Vorgesetzten, ihre Offiziere gewesen?«
»Allerdings nein!«
»Sie gehörten zu Khutub Agha, nicht zu uns.«
»Aber sie sind mit uns zusammengetroffen; sie waren unsere Gefährten, und so haben wir sie zu rächen. So lautet das Gesetz der Wüste, nach weichem wir uns hier richten müssen, Effendi.«
»Ja, sie waren unsere Gefährten! Khutub Agha aber war ihr Gebieter; darum steht seine Bestimmung über der unserigen. Ich weiß jetzt genau, was ich zu tun und was ich zu sagen habe.«
»Nun, was?«
»Ich stimme für Gnade.«
Er senkte den Kopf; die andern waren alle still. Dann, als er ihn wieder hob, war in seinem Gesichte keine Spur von Enttäuschung zu sehen; er lächelte vielmehr zustimmend, indem er sagte:
»Wahrscheinlich hätte ich es auch gradso gemacht wie du. Ich war für die größte Strenge, denn ich glaubte, daß ich verpflichtet dazu sei; da dies aber nicht der Fall ist, so soll Khutub Agha seinen Willen haben. Jetzt sag mir, ob du an den Hieb glaubst, Sihdi?«
»An welchen Hieb?«
»Er sprach doch von der Faust, die bereits zum Schlage erhoben sei. Wenn wir sie stören, soll er uns treffen. Das scheint eine Prophezeiung zu sein. Ob sie sich wohl in Erfüllung setzt?«
»Halef, bin ich allwissend? Wir haben mehr zu tun, als uns mit solchen ungewissen Dingen zu beschäftigen. Du weißt nun, wofür ich meine Stimme abgegeben habe. Ich denke, wir haben nichts weiter zu beraten.«
»Ja. Ich erkläre die Dschemmah für beendet und geschlossen. Die Mörder sind begnadigt, weil nicht wir es sind, weiche den Tod der Soldaten zu rächen haben. Und was die Halunken gegen uns gesündigt haben, das wollen wir aus dem Buche der Vergeltung streichen; sie sind ja arme, machtlose Würmer gegen uns!«
Die Haddedihn hörten das. Es war keiner unter ihnen, der durch ein Wort oder auch nur durch irgend ein Zeichen zu verstehen gegeben hätte, daß er mit diesem so unerwarteten Ausgange der Beratung nicht einverstanden sei. Erstens verbot ihnen das die Achtung, die sie uns ja nie versagten, und zweitens standen sie unter dem Einflusse der Rede, weiche der Münedschi gehalten hatte. Er galt bei ihnen für das, was auch sein Name bedeutete, für einen Wahrsager, und die Drohung mit der schon erhobenen Faust hatte einen ganz besonderen Eindruck auf sie gemacht.
Unsere Herren Verbrecher aber hatten von unserem Entschlusse nichts gehört. Als sie sahen, daß wir aufstanden, ruhten ihre Blicke mit ängstlicher Erwartung auf uns. Halef ließ es sich natürlich nicht nehmen, ihnen die betreffende Mitteilung selbst zu machen. Er trat zunächst vor den Ghani hin, nahm seine allerfreundlichste Miene an und fragte ihn:
»Mein heißgeliebter Milch und Waffenbruder, was denkst du wohl, was über dich, den Liebling des Großscherifes, beschlossen worden ist?«
Der Gefragte sah ihn forschend an. Er wußte nicht, was er aus dieser plötzlichen und so strahlend freundlichen Brüderschaft zu machen hatte. Wahrscheinlich war sie Hohn, und darum zog er vor, keine Antwort zugeben. Halef fuhr fort:
»Warum willst du mich denn nicht mit dem ersehnten Tone deiner Stimme beglücken? Ich schmachte nach ihm. Also sei so gut und sprich!«
»Spotte nicht!« würgte der Mekkaner doch hervor.
»Spotten? Ich deiner? Was denkst du von mir! Ich kenne jedes einzelne Gesetz der Höflichkeit und trachte stets mit Eifer darnach, sie zu erfüllen. Du bist als Schech el Harah der berühmte Gebieter eines ganzen Stadtviertels von Mekka, und so weiß ich, was ich dir schuldig bin. Dein Fuß wandelt täglich in dem größten Heiligtume Muhammeds, des Propheten, und die Blicke von tausend frommen Pilgern sehen auf deine erhabene Gestalt, wenn sie über den Suq el Lehl oder durch den Schi'b el Maulid spaziert. Genauso bin auch ich erfüllt von Ehrfurcht und Bewunderung für dich, das unerreichbare Vorbild aller derer, welche das Glück haben, dich in den Strahlen deiner unzählbaren Tugenden kennenzulernen. Und da meinst du, daß ich deiner spotte? Ich bin im Gegenteile ganz von Seligkeit erfüllt, dir mitteilen zu können, daß du dich über das Ergebnis unserer Beratung freuen darfst.«
Das Gesicht des Mekkaners wurde – es gibt keinen andern Ausdruck dafür, und ich muß es also sagen immer dümmer.
»Freuen? – Wieso?« fragte er.
»Wir haben alles, was für dich und was gegen dich sprach, sehr genau miteinander verglichen und wohl erwogen, und sind zu dem Ergebnisse gelangt, daß du unschuldig bist.«
»Ich?!« rief der Mekkaner.
»Ja, du!«
»Unschuldig?!«
»Gewiß! Vollständig unschuldig!«
»Hadschi Halef, das ist Schlechtigkeit von dir, die allergrößte Schlechtigkeit, denn was du sagst, das ist ja wirklich nichts als Spott!«
»Mein Freund, wie wenig kennst du mich! Es tut meinem Herzen bitter wehe, daß ich grad von dir so falsch beurteilt werde!«
»Aber un – – unschuldig?!«
»So unschuldig, wie der Frosch daran unschuldig ist, daß er im Wasser naß wird. Du bist rein, unendlich rein von allen deinen Fehlern!«
Der Ghani stieß, ohne auf die Doppelzüngigkeit dieser letzten Worte zu achten, sondern nur an das, was er getan hatte, denkend, den Einwand hervor:
»Ich habe aber doch auf den Perser geschossen!«
»Ja, das hast du allerdings. Nun sag, in welcher Absicht du das tates.«
»Ich wollte ihn töten!«
»Schön! Aber ist er tot?«
»Nein; er lebt!«
»Bist du daran schuld, daß er lebt?«
»Nein!«
»So liegt die Sache doch so klar, wie sie klarer gar nicht liegen kann! Sei so herablassend, mir noch zu sagen: Bist du schuld an seinem Tode?«
»Nein! Er ist ja gar nicht tot!«
»Nun so denke doch nach! Du bist nicht schuld an seinem Tode, und du bist nicht schuld daran, daß er noch lebt, also bist du nicht nur überhaupt unschuldig, sondern sogar doppelt unschuldig!«
Die Verblüfftheit des Ghani hatte jetzt ihren höchsten Grad erreicht. Er wußte nicht, was er sagen könne, ohne sich lächerlich zu machen, und zog es darum vor, zu schweigen und zu warten.
Halefs Gesicht strahlte vor Vergnügen. Er fuhr freundlich fort:
»Da also erwiesen ist, daß nicht die geringste Schuld auf dich fällt, so haben wir kein Recht, dich länger festzuhalten, und ich bitte dich um dein gütiges Einverständnis, daß ich dich befreie!«
»Allah, Allah!«
Ein weiteres Wort als diesen Ausruf fand er nicht. Halef bückte sich nieder und band die Fesseln los. Da sprang der alte Sünder freilich augenblicklich auf und rief in frohestem Tone:
»Also frei, frei! Wirklich frei!«
»Ja. Du siehst und fühlst es doch!«
»Und keine Strafe?«
»Nein, denn Unschuldige bestrafen wir nicht.«
»Und mein Sohn?«
»Wird auch frei.«
»Wann?«
»Sofort.«
»Und meine anderen Gefährten?«
»Ebenso! Wenn du mir eine Liebe erweisen willst, so befreie sie selbst von ihren Banden! Du wirst dir dadurch ihre Dankbarkeit erwerben.«
Das ließ sich der Ghani freilich nicht zweimal sagen. Er kniete sofort nieder und machte sich mit vor freudiger Aufregung zitternden Händen an die ihm so willkommene Arbeit. Als sie beendet war und seine Leute den freien Gebrauch ihrer Glieder wieder erhalten hatten, holte er tief Atem und fragte:
»Dürfen wir aber auch fort?«
»Jawohl«, nickte Halef.
»Wann?«
»Sobald wie möglich, am liebsten gleich jetzt.«
»Mit allem, was uns gehört?«
»Ja. Wir sind keine Räuber.«
»Und wie steht es mit dem Kanz el A'da?«
Da bekam das Gesicht Halefs plötzlich einen ganz andern Ausdruck. Er riß die Peitsche aus dem Gürtel und antwortete in drohendem Tone:
»Mensch! Kerl! Halunke! Sag dieses Wort nur noch ein einziges Mal, so zerhaue ich dir das Gesicht, daß die Fetzen bis nach Mekka fliegen! Eine solche Frechheit ist noch nie auf Erden vorgekommen!«
»Verzeih, verzeih! Ich glaubte, ich müsse doch wenigstens eine Erwähnung davon tun.«
»Und ich glaube, oder ich bin vielmehr davon überzeugt, daß unsere Nachsicht nur bis hierher, aber keinen Schritt weiter geht. Schlägst du dir den Kanz el A'da nicht vollständig aus dem Kopfe, so wird er dir trotz aller unserer Barmherzigkeit doch noch zum Verderben!«
»Ich verzichte, ich verzichte! Wir dürfen uns also unsere Waffen nehmen?«
»Ja. Aber unsere Gewehre werden auf euch gerichtet sein, bis ihr aus unsern Augen verschwindet. Und schlagt euch ja auch alle weiteren Pläne gegen uns aus den Köpfen! Von diesem Augenblicke an bringt euch die kleinste Bewegung eines Fingers, die ihr gegen uns wagt, den Tod. Weiter habe ich euch nichts zu sagen.«
Wir hatten den Kanz el A'da natürlich schon längst an uns genommen und uns auch überzeugt, daß nichts davon fehlte. Die Mekkaner nahmen den Blinden auf und gingen mit ihm zu ihren Kameraden. Er war geistesabwesend und ließ sich führen, ohne zu wissen, was geschah. Sie beeilten sich außerordentlich, in die Sättel zu kommen, denn sie mochten dem Landfrieden doch nicht recht trauen. Ihrem Anführer aber fiel, ehe er aufstieg, noch etwas ein. Er kam eilfertig zu Halef gelaufen und richtete an ihn die Frage:
»Wie steht es aber nun mit dem Scheik der Beni Khalid?«
»Warum fragst du?« antwortete der Hadschi.
»Weil ich wissen möchte, was ihr über ihn beschlossen habt.«
»Geht dich das etwas an?«
»Sehr viel sogar! Er hat den Tod verdient. Was er gegen euch unternommen hat, das wißt ihr ja ebenso genau wie ich. Schon das muß ihn um das Leben bringen! Aber außerdem wollte er auch uns hier ermorden, um sich in den Besitz des Schatzes zu setzen. Ich brauche das nicht zu beweisen, denn der Effendi aus Wadi Draha hat alles mit angehört. Darum muß ich unbedingt von euch verlangen, daß er ohne Gnade erschossen wird!«
»Ah! Also unbedingt?«
»Ja!«
»Und ohne Gnade?«
»Ja!«
»Du bist also nicht bereit, dich zur Milde, zur Nachsicht bewegen zu lassen?«
»Nein, auf keinen Fall! Er ist der größte Halunke, den es gibt. Er hat uns, seine Freunde, betrügen und umbringen wollen. Ihr habt ihn zu erschießen!«
»So? Wir?«
»Ja!«
Da brauste der Hadschi zornig auf:
»So wagst du also, uns zuzumuten, die Henker zu sein, welche deine Befehle auszuführen haben? Kerl, nicht er ist es, sondern du, du selbst bist der größte Halunke, den es gibt! Ja, du bist noch mehr als das, nämlich eine Bestie in menschlicher Gestalt! Wir haben dich mit Gnade und Erbarmen förmlich überschüttet; ein anderer hätte dafür Allah und uns auf seinen Knien gedankt und seinem Herzen den Schwur getan, von nun an ein besserer Mensch zu werden. Du aber hast als Antwort auf all diese große Liebe nur den Haß und forderst das Blut dessen, der dein Helfer war und für dich mehr, ja viel mehr wagte, als er durfte! Eigentlich sollten wir nun unsern Gnadenspruch zurücknehmen; aber es graut uns allen so vor dir, daß wir nur den einen Wunsch haben, dich nicht mehr zu sehen! Mach dich rasch fort!«
Der Ghani hatte ihm mit seinem gespannten Blicke jedes einzelne Wort sozusagen aus dem Munde gezogen; nun, da er erfahren hatte, was er wissen wollte, machte er seinem Grimme rücksichtslos Luft:
»Es scheint also, ihr wollt ihn auch begnadigen! Dieser räudige Hund, dieser Verräter, dieser Mörder seiner Gastfreunde soll entkommen! Und warum? Ich weiß es wohl und will es euch sagen: Aus Liebe, Liebe, Liebe!«
Er lachte höhnisch auf, warf die Arme mit einer verächtlichen Bewegung hoch empor, ließ das Gelächter zum zweitenmal hören und führ dann fort: »Ich muß sprechen, muß reden, und wenn es mir das Leben kosten sollte! Ich saß bei euch und habe eure verrückten Reden über diese Liebe anhören müssen! Ich habe alles gesehen, was ihr tatet; ich habe alles beobachtet und weiß also nur zu gut, daß dieses Nebel und Jammerbild, weiches ihr Liebe nennt, von euch erfunden wurde, um eure Albernheit und Schwäche zu entschuldigen oder gar zu beschönigen. In dieser eurer Liebe begeht ihr jetzt wieder die hirnlose Einfältigkeit, eurem größten und unerbittlichsten Feinde das Leben zu schenken und ihn wieder gegen euch loszulassen! In dieser eurer Liebe bildet ihr euch ein, etwas Höheres und Besseres zu sein als andere Menschen! Wegen dieser eurer Liebe sollen die Bewohner dieses Landes, sollen ihre Sitten und Gebräuche, sollen ihre Gedanken und Taten, ja, soll sogar die Wüste sich plötzlich verändern! In dieser eurer Liebe dünkt ihr euch weiße, reine, heilige Schwäne zu sein, welche sich den freien Adlern und Geiern dieses Gebietes zugesellen und von ihnen verlangen dürfen, ihren Gewohnheiten und Instinkten gänzlich zu entsagen! In dieser Liebe glaubt ihr, Wunder zu tun, und wenn man diese Wunder näher betrachtet, so sind sie erbärmliche Knabenstreiche, über welche man nur lachen kann! In dieser eurer Liebe scheint ihr sogar zu glauben, daß wir euch für diese Streiche loben, preisen und danken sollen, denn eure Lippen fließen von salbungsvollen Ermahnungen und Warnungen er, die ihr uns am liebsten nach hinten auf den Rücken heften möchtet! Es wird dem, der das anzusehen und anzuhören hat, so schlimm, daß es ihm scheint, sein Inneres wolle sich nach außen wenden! Ich fordere euch um Allahs willen auf, ja dem Gedanken zu entsagen, daß ihr mich damit anders macht, als ich gewesen bin und auch für immer bleiben werde! Ihr habt in mir nur Ekel erregt, weiter nichts! Hier seht mich an, ob ich nicht ein ganz anderer Mann bin, als ihr alle seid! Hier stehe ich! Ich habe euch, ohne mich vor euch zu fürchten, den ganzen Inhalt meines Herzens ausgeschüttet. Nun schießt mich augenblicklich nieder! Denn soviel Gerippe wird euer Charakter und eure Ehre doch vielleicht noch haben, daß ihr nicht sogar auch noch jetzt euch hinter dieses schwache, vor Angst zitternde Weib, die Liebe, steckt, um euer schönes, weißes Gefieder ja nicht durch den Vorwurf einer Tat der Rache zu beschmutzen! Ich wiederhole: Hier stehe ich; nun schießt mich nieder!«
Der Grimm, mit dem er seine Rede begonnen hatte, war von Satz zu Satz gewachsen. Sein Gesicht hatte sich verzerrt, und seine Lippen geiferten. Dieser Mensch hatte uns alle Veranlassungen gegeben, ihn für einen Feigling zu halten, und er war es auch. Die treibende Kraft seines jetzigen Auftretens war nicht etwa das Selbstbewußtsein, der Mannesmut, sondern die zügellose unbezähmbare Wut darüber, daß wir ihn nicht an dem Scheik rächen wollten. Grad daß er diese Wut nicht beherrschen konnte, war ein Beweis seiner Schwachheit, denn wer für das Leben der Psyche ein aufmerksames Auge besitzt, wird die Erfahrung gemacht haben, daß Leute, welche eine so plötzliche Eruption, einen in dieser Weise ausbrechenden Todesmut zeigen, eigentlich feig und zaghaft sind. Der wahre Mut ist ruhig und weiß sich in jeder Lage zu beherrschen!
Darum konnte mich der Anblick dieses so ganz und gar aus dein Gleichgewicht gebrachten Mannes nur mit Mitleid erfüllen, mir aber ja nicht imponieren. Die Haddedihu drängten sich drohend zu ihm hin. Der Perser blieb ruhigstehen; aber er schaute außerordentlich finster drein. Halef war dunkler im Gesicht geworden; ich sah, daß er Mühe hatte, sich zu beherrschen. Darum übernahm ich die Antwort, indem ich mich dem Wütenden näherte und zu ihm sagte:
»Du willst wirklich, daß wir dich erschießen?«
»Ja, ich will; ich will!« donnerte er mir zu.
»Mach uns doch nichts weiß! Wir kennen dich da besser! Du bist ein so mutloser, feiger Kerl, wie ich fast noch niemals einen gefunden habe. Es ist dir ja nicht einmal in den Sinn gekommen, dich an dem Zweikampfe um den Kanz al A'da zu beteiligen, obwohl du ihn für dich haben wolltest und also eigentlich der erste unter den Kämpfern hättest sein sollen! Das hast du nicht getan; ja, du hast es nicht einmal gewußt, daß du es tun solltest, und wer so wenig weiß, was ein mutiger Mann zu tun hat, der darf uns getrost schwach und furchtsam nennen, denn er versteht ja nichts davon! Was du jetzt zeigst, ist nicht Mut, sondern das Gefäß, in dem du Rache gegen den Scheik kochst, ist umgestürzt, und nun zischt und brodelt und dampft und stinkt sie auf und macht einen Lärm, der gar nichts weiter ist als eben bloß nur Lärm! Was du von unserer Liebe denkst, das kann uns ebenso gleichgültig sein, wie überhaupt alles, was du denkst. An dieser Liebe kannst du so wenig rühren, daß sie selbst zu deinem jetzigen Angriffe, so viel Getöse er auch verursacht hat, nur lächelt. Er war noch törichter als ein Knabenstreich; der unerfahrenste Junge hätte ihn unterlassen. Wir erlauben dir, zu gehen, und geben dir unser Mitleid mit. Entferne dich!«
Das Feuer seiner Wut war schon fast niedergebrannt; seine Haltung hatte schon nicht mehr das Herausfordernde wie vorhin. Jedoch bei meinem Worte Mitleid brauste er rasch wieder auf:
»Euer Mitleid brauche ich nicht; behaltet es für euch! Ihr wollt euch also alles, was ich gesagt habe, ruhig gefallen lassen?«
»Ja.«
»Und schämt euch nicht vor euch selbst?«
»Nein, nicht einmal vor dir!«
»So wiederhole ich: Behaltet ja euer Mitleid für euch selbst! Und da ihr davon so sehr viel braucht, so lasse ich euch noch dazu das meinige zurück. Eure ›Liebe‹ macht mir so unendlichen Spaß, daß ich, sooft ich an sie denke, die Tränen des Gelächters über sie vergießen werde!«
»Lach' immerhin! Doch will ich dir auch etwas Ernstes mitgeben: Sei ja darauf bedacht, daß aus diesen Lachtränen nicht etwa Tränen der Reue und des Schmerzes werden! Die Liebe, welche dir jetzt so spaßhaft vorkommt, lächelt nicht immerwährend. Sie wohnt in jedem Menschen, auch in dir.
Halte sie ja fest, und lache nicht zu lange über sie, sonst könnte sie sich von dir wenden, und dann, das sage ich dir, ist es mit dem Gelächter aus!«
Er hielt mir seine Hand entgegen, mit der innern Fläche nach oben, als ob etwas darauf liege, und drehte sie schnell um, als ob er es fallen lasse, wie man zu tun pflegt, wenn es etwas abstoßend Häßliches ist. Diese Gebärde bedeutet in der Zeichensprache der Beduinen noch mehr als Nichtbeachtung oder Gleichgültigkeit. Man will damit sagen, daß einem das, was man gehört hat, im höchsten Grade widerwärtig ist. Dazu rief er lachend aus:
»Ich mag nichts von ihr wissen; sie mag sich von mir wenden; ich hasse sie! Desto fester hatte ich dir Rache! Da mir die Beni Khalid nicht mehr helfen werden, so bin ich jetzt zu schwach gegen euch; aber wehe euch wenn ihr nach Mekka kommt! Kehrt lieber jetzt noch um! Denn sobald ihr mit dem Fuße das Gebiet der heiligen Stadt betretet, habt ihr den ersten Schritt in euer Verderben getan. Ich schwöre es bei Allah und dem Propheten!«
Er erhob die Hand zum Schwure, drehte sich um und ging. Niemand hinderte ihn daran, obgleich es wohl den meisten Haddedihn in den Händen zuckte, ihm eine derbe Erinnerung mitzugeben.
Wir sahen, daß der Münedschi im Sattel festgebunden wurde, eine Vorsichtsmaßregel, welche bei seinem eigenartigen Zustande sehr geboten war. Er schien das gar nicht zu bemerken, doch als sein Kamel sich in Bewegung setzte, wendete er uns sein Gesicht zu, in welchem die Augen geschlossen waren, und rief:
»Lebt wohl für kurze Zeit! El Aschdar hungerte vergeblich nach euch. Nun wird er seine eigenen Kinder verzehren! Das Lächeln der Liebe ist verschwunden; nun wird sie streng und – – –«
Mehr hörten wir nicht, denn der Ghani versetzte dem Blinden mit dem Metrek einen Hieb, daß er schwieg. Es war auch dieses Mal wieder nicht seine Stimme, sondern diejenige Ben Nurs gewesen.
Ich hatte vorhin gesagt, daß unsere Gewehre auf die Abziehenden gerichtet sein würden, denn es war ja doch möglich, daß einer von ihnen auf den Gedanken kommen könne, uns aus der Entfernung einen Schuß zuzusenden. Sie waren aber doch so klug, keinen Versuch dazu, ja nicht einmal eine drohende Bewegung zu machen. Wohin sie ritten, das war uns zunächst gleichgültig, doch wenn die Worte Ben Nurs eintrafen, so wie sie bisher eingetroffen waren, so war uns ein Wiedersehen mit ihnen gewiß, und zwar voraussichtlich ein sehr baldiges.
Nun wendete Halef sich dem Scheik Tawil Ben Schahid zu. Sein Gesicht wurde wieder freundlich, und seine Stimme klang wie diejenige eines besorgten, aufmerksamen Freundes, als er zu ihm sagte:
»Du hast vielleicht geglaubt, daß ich dich ganz vergessen habe. Entschuldige mich! Ich fühlte mich verpflichtet, zunächst meinen lieben, alten Ghani mit der Wonne meiner Freundschaft zu beleuchten. Du hast wohl gehört, was ich zu ihm sagte? Bitte, sprich dich doch aus!«
Der Scheik gab sich Mühe, weder Hoffnung noch Befürchtung in seinem Gesichte sehen zu lassen. Er antwortete möglichst gleichgültig:
»Ich habe alles gehört.«
»Auch daß wir dich erschießen sollen?«
»Ja.«
»Was sich dieser Liebling des Großscherifs' nicht alles einbildet. Wir sollten für ihn die Henker sein! Was sagst du denn dazu?«
»Daß es ganz recht war, daß ihr euch nicht dazu hergegeben habt.«
»Ja, richtig! Es ist zwar wahr, daß du erschossen wirst, doch davon braucht der Ghani nichts zu wissen. Wir tun das bloß für uns!«
»Erschossen? – Ich?«
»Ja, du. Wer anders?«
»Ich dachte – – – -dachte – – – dachte –«
»Du dachtest – – –? Ich bitte dich, gewöhne dir das unnötige Denken ab! Es fällt schon schwer genug, wenn es nötig ist. Warum soll man sich da auch noch in überflüssiger Weise damit beschäftigen!«
»Aber ich meinte – – – !«
»Sei still! Das unnütze Meinen ist ebenso zeitraubend wie das vergebliche Denken; es kommt nichts dabei heraus! Da habe ich doch recht?«
»Aber du willst doch mit mir sprechen?!«
»Allerdings!«
»So muß ich auch antworten?!«
»Das wünsche ich sogar!«
»Du lässest mich aber doch nicht dazukommen!«
»Nicht? Tröste dich! Weißt du, wenn es auch nicht gleich auf der Stelle sein muß, im Verlaufe des heutigen Tages oder spätestens morgen kommst du schon noch dazu!«
»So lange soll ich gefesselt sein?«
»Oh, noch viel, viel länger!«
»Warum?«
»Weil du uns sonst fortlaufen würdest. Das siehst du doch wohl ein!«
»So sag doch, was ihr eigentlich mit mir vorhabt!«
»Wir nehmen dich mit nach Mekka.«
»Allah! Warum?«
»Um dich dort dem Pascha auszuliefern.«
Der Scheik erschrak, schwieg eine Weile und sagte dann:
»Das wäre teuflisch von euch!«
»Warum?«
»Ich würde elend aufgehängt werden!«
»Ja, das würdest du, und das freut mich um deinetwillen, denn es ist ja viel ehrenvoller, so hoch da oben, als bloß ganz unten am Erdboden zu sterben. Als Scheik kannst du dir das bieten, und wir werden dir dabei behilflich sein, soviel wir nur können!«
»Und sodann würde er einen Rachezug gegen meinen Stamm unternehmen!«
»Ja, das würde er! Denke nur, wie gut das für die Beni Khalid ist! Wie sie da zeigen und beweisen können, daß sie tapfer sind! Denn, unter uns gesagt, bisher hat man davon noch fast gar nichts gesehen.«
»Hadschi Halef, du treibst dein Spiel mit mir!«
»Wie der Löwe mit der Maus, meinst du?«
»Ja.«
»So wissen wir ja gleich, wer du bist und wer ich bin! Aber da der Löwe großmütig sein soll, will ich es auch sein, indem ich dir verrate, daß wir dich mit nach Mekka nehmen wollen.«
»Ja, so sprich doch endlich! Was wollt ihr mit mir tun?«
»Dich erschießen.«
»Wann?«
»Sofort.«
»Das ist ein Mord!«
»O nein! Es ist nur eine gerechte Strafe. Das Morden überlassen wir euch.«
»Ich bin nicht schuldiger, als die Mekkaner es waren, und die habt ihr entkommen lassen. Meßt ihr mit zweierlei Maß?«
»Nein; aber wenn wir gemessen haben, tun wir dann, was wir wollen. Sag mir doch einmal aufrichtig: Hast du den Tod verdient?«
»Nach den Gesetzen der Wüste, ja.«
»Schau, das ist schön von dir! Das gefällt mir außerordentlich!«
»Aber denke auch an meine Beni Khalid, welche jetzt wieder am Bir Hilu liegen!«
»Du hast ja gehört, daß man nicht überflüssig denken soll!«
»Das ist nicht überflüssig. Wenn ihr mich erschießt, so rächen sie mich!«
»Damit hast du uns schon öfters gedroht, ohne daß es ein einziges Mal eingetroffen ist. Woher weißt du übrigens, daß sie dort sind? Sie sind doch, diejenigen abgerechnet, mit denen du hierher geritten bist, vier Stunden hinter dem Braunen an der Hohe zurückgeblieben.«
»Um euch dort zu erwarten. Da ihr, wie ich jetzt höre, dort gewesen und wieder umgekehrt seid, so sind sie euch gefolgt. Ich meinte aber nicht einmal diese große Abteilung, sondern die kleine, welche ich von hier weg nach dem Brunnen geschickt habe.«
»Ja, du wolltest den Kanz el A'da nicht mit so vielen teilen!«
»Und da nun also mein Haupttrupp wieder zurückgekehrt ist, hat er den kleineren am Brunnen getroffen. Es sind also alle beisammen. Ich mache dich auf diese Gefahr für euch aufmerksam!«
»Das ist sehr freundlich von dir! Ich danke dir, mein Freund«
»Spotte nicht!«
»Wenn du meinst, daß ich spotte, so mußt du annehmen, daß wir uns nicht fürchten. Was sagst du zu dem Einfalle, den ich jetzt habe: Wir erschießen dich und reiten dann gar nicht nach dem Brunnen, wo deine Leute sind! Es ist ja gar nicht notwendig, daß wir sie wieder mit unserer Gegenwart belästigen!«
Da konnte der Scheik seinen bisher niedergehaltenen Zorn doch nicht mehr bemeistern. Er schrie Halef zornig an:
»Ihr seid Schurken!«
»Oh! Warum?«
»Weil ihr die Mekkaner, diese Hunde, freigegeben habt, mich aber erschießen wollt! Ihr habt wahrscheinlich schon vergessen, was der alte Münedschi von der Gnade sagte!«
»Hm! Gnade! Ja, denkst du denn, da wärest auch du gemeint!«
»Natürlich!«
»Das ist freilich etwas anderes, etwas ganz, ganz anderes! Du bittest also auch um Gnade?«
»Bitten? Nein! Ich verlange sie!«
Da zeigte Halef schnell wieder sein ernstes Gesicht und warnte.
»Scheik Tawil Ben Schahid, der Ton, in welchem du sprichst, gefällt mir nicht! Höre, was ich dir jetzt sage! Und das gilt!«
Er winkte einen Haddedihn herbei und befahl ihm.
»Du zielst jetzt auf das Herz dieses Mörders, welcher glaubt, die Gnade müsse ihm gehorchen. Sobald ich die Hand hebe, gibst du ihm eine Kugel in den Kopf, genau in die Stirn. Paß auf!«
Der Krieger hielt den Lauf auf den Scheik, zielte und legte den Finger an den Drücker. Hierauf richtete der Hadschi sein Wort wieder an Tawil:
»Du siehst die Folgen deines Verhaltens. Ich gebe dir zwei Minuten Zeit. Hast du bis dahin noch nicht gesprochen, so hebe ich die Hand.«
Es trat eine tiefe Stille der Erwartung ein. Die Hälfte der Frist verlief; dann aber wirkte die Drohung.
»Nehmt die Flinte weg!« bat der Scheik.
»Du willst Gnade?« fragte Halef.
»Ja.«
»Du willst?«
»Ja.«
»Das Wollen ist noch kein Bitten!«
»Allah zerschmettere euch mitsamt dieser Flinte! So sei es denn: Ich bitte um Gnade!«
Da senkte der Haddedihn das Gewehr, und der Hadschi lachte:
»So war es recht, o Scheik der Beni Khalid! Aber ich will dir trotzdem mitteilen, daß ich das Zeichen auf keinen Fall gegeben hätte. Es war ja beschlossene Sache, auch dich laufen zu lassen. Ich wollte nur hören, wie es klingt, wenn ein Scheik um Gnade bittet.«
Tawil antwortete hierauf kein Wort und schenkte von jetzt an keinem einzigen von uns einen Blick. Als er losgebunden worden war, stand er auf, ging nach der Stelle, wo sein Gewehr lag, hob es auf, schritt zu seinem Kamele hin, setzte sich in den Sattel, gab ihm das Zeichen, sich zu erheben, und ritt fort. Wir sahen ihm ebenso still nach. Fast war er so weit gekommen, daß er um den Fuß der Düne biegen und dann verschwinden mußte, da lenkte er um, kam im schnellen Laufe wieder hergeritten, hielt vor uns an, maß uns mit stolzen, grausam kalt blickenden Augen und sage, indem er seine Hand zum Schwure hoch erhob:
»Auch ich habe über eure Liebe gelacht und lache jetzt noch über sie. Zwischen mir und euch gibt es nichts als nur die Rache! Ich schwöre bei Allah, beim Propheten, bei den Khalifen und bei der heiligen Kaaba Die Wüste, welche hier uni uns liegt, richtet zwischen mir und euch. Entweder verlaßt ihr oder verlasse ich sie nicht! Ihr seid fünfzig und ich bin nur einer; aber in den Augen der Rache zähle ich ebensoviel wie ihr. Ich rufe die Wüste auf, sich entweder für euch oder für mich zu öffnen! Von diesem Augenblicke an gähnt zwischen uns ein Grab. Wen es aufnehmen soll, ob mich oder euch, das mögen die entscheiden, bei denen ich geschworen habe!«
Schon stand er im Begriff, sein Kamel zu wenden, da stieß er noch ein spöttisches Lachen aus und fügte hinzu:
»Oder mag das auch die Liebe entscheiden, die eure angebetete Götzin ist; ich habe nichts dagegen!«
Hierauf ritt er fort, ohne sich noch einmal umzusehen.
Wir blickten ebenso wortlos wie vorhin hinter ihm drein. So ein Schwur ist eine eigene Sache! Es wäre einem jeden von uns jetzt unmöglich gewesen, die eingetretene Stille durch ein alltägliches Wort zu unterbrechen. Man hatte da eine so unbeschreibliche, andachtsähnliche Empfindung, daß ich, wenn ich Muhammedaner gewesen wäre, gesagt hätte:
»Die angerufenen Geister von Muhammed und seinen Nachfolgern stehen unsichtbar um uns her, um zwischen uns und ihm zu entscheiden!«
So war es nicht nur mir, sondern den andern auch. Einige der Haddedihn nahmen sich der verwundeten Militärkamele an, und die andern taten, was an den Leichen der Soldaten zu tun war, und das alles geschah, ohne daß man ein lautes Wort hörte. Diese Heiligkeit der Situation, möchte ich es nennen, hatte ihren obersten Grund natürlich in dem Umstande, daß überall, wo der Tod einzieht, sich mit ihm auch jene fromme Scheu, jenes andächtige Grauen einfindet, über dessen Ursache sich so wenige Menschen klar werden. Und doch ist es etwas so sehr Einfaches! Der Mensch scheint, solange er lebt, sein eigener Herr zu sein. Er kann tun und lassen, was ihm beliebt, er kann glauben oder bezweifeln, was er will; er kann gut oder böse handeln, ganz, wie er sich entschließt; er ist ja überhaupt derjenige, auf den alles ankommt. Da plötzlich streckt sich die Hand des Todes nach ihm aus, und der Tod ist das Gericht. Der »Herr und Gebieter« liegt im Staube vor Gott, dem einzigen Herrn, außer dem es keinen andern gibt. Er hat nun plötzlich Rechenschaft abzulegen über sein ganzes Leben. Er besitzt nicht die Spur eines Willens mehr; er muß sich fügen. Jede Sekunde seines Lebens tritt als Zeugin für oder gegen ihn auf, und er muß das ruhig geschehen lassen. Der Herrgott hält Gericht; zu seinen Seiten sitzen die Gerechtigkeit und die Gnade. Tief vor ihm hingestreckt liegt auf seinem Gesichte der zu Richtende, am ganzen Leibe zitternd im Gefühle seiner Ohnmächtigkeit. Er kann nichts, nichts mehr für sich tun. Wer wird nun das entscheidende Wort sprechen, die Gnade oder die Gerechtigkeit? Gehe während der Verhandlung in einen Gerichtssaal! Du wirst unwillkürlich leise auftreten und auch leise sprechen. Warum? Du kannst nicht anders; die Ehrfurcht vor dem Gerichte dämpft deine Schritte und deine Stimme. So trittst du auch in das Sterbezimmer. Ob du es ahnst oder nicht, du hast den Ort des ewigen Gerichtes betreten, weiches mit dem Augenblicke des Todes seinen Anfang nimmt. Es ist der unsichtbare Richter, welcher hier waltet; du siehst ihn nicht und trittst aber doch so unhörbar wie möglich auf. Es ist die Ehrfurcht vor dem Gesetze des Ewigen, nach welchem hier über dem Dahingeschiedenen das Urteil gesprochen wird; es ist diese Ehrerbietung, welche dich zwingt, dein Haupt zu entblößen, das mehr oder weniger deutliche Bewußtsein, daß auch du selbst über kurz oder lang so ohnmächtig daliegen wirst, um auf der Waage der Gerechtigkeit gewogen zu werden. Das, das ist die Ursache des Grauens, welches jeder nicht ganz verdorbene Mensch in der Nähe einer Leiche empfindet und nicht von sich abzuwehren vermag!
Und wir hatten zwanzig Tote hier, und diese Toten waren ermordet worden, was noch viel, viel mehr sagen will! Es wurde ihnen ein möglichst tiefes und großes, gemeinsames Grab bereitet.. Dahinein legten wir sie, einen neben den andern, in ihren Uniformen und mit den Seitengewehren, die Flinten neben sich. Als wir die Sterbegebete über sie gesprochen hatten, gaben wir eine dreimalige Salve ab, legten einem jeden seinen kleinen Gebetsteppich auf das Gesicht und warfen das Grab zu. Während dieser ganzen Handlung weinte Khutub Agha, der Ernste, immerfort still vor sich hin. Da tauchte wohl in manchem von uns die Frage auf, ob wir nicht mit den Mördem denn doch wohl zu mild verfahren seien, und es gesellte sich der feste Vorsatz hinzu, nun aber streng zu sein, wenn wir wieder in Konflikt mit ihnen kommen sollten. Und daß dies geschehen werde, das hatte uns der Scheik der Beni Khalid ja schon angedroht.
Darüber waren wieder mehrere Stunden vergangen, und als wir nun diesen für uns unvergeßlichen Ort verlassen konnten, war die großte Hälfte des Nachmittages vorüber. Aber wohin jetzt? Weit konnten wir für heute nicht. Zum Glück waren wir mit Wasser versehen, und so beschlossen wir, den Weg der Sanddünen, den wir nun schon einmal hin und einmal her geritten waren, zum drittenmal zurückzulegen und dann im Tale zwischen der letzten und vorletzten Düne zu übernachten. So ein Tal war mit wenigen Posten am leichtesten zu bewachen und gewährte uns den besten Schutz. Morgen früh wollten wir uns dann nach den Umständen richten.
Dies wurde ausgeführt. Der Weg wurde sehr langsam und vorsichtig, indem eine Vorhut voranritt, zurückgelegt, und wir erreichten die betref, fende Stelle, als es eben dunkel werden wollte.
Wenn ich von der letzten und vorletzten Düne sprach, so meinte ich die letzten bedeutenden Höhen, nicht die kleineren, die dann, nach und nach immer niedriger werdend, in die flache Sandwüste übergingen, in welcher unsere Kamele »gemahlen« hatten. Das Tal war außerordentlich passend zum Lagerplatz. Die Höhen, zwischen denen es lag, vereinigten sich auf der einen Seite, während sie auf der andern so nahe nebeneinander herliefen, daß ein Einzelposten genügte, diesen Zugang zu bewachen. Eine vortrefflichere Stelle konnten wir gar nicht finden.
Heut mußten die Militärkamele von den Haddedihn mit bedient werden, weiche also mehr als bisher zu tun hatten. Was den Perser betraf, so konnte er natürlich nicht daran denken, den Rückweg nach Meschhed Ali allein anzutreten. Er mußte bei uns bleiben und einstweilen mit uns weiterreiten, bis wir auf einem der Hauptwege eine Karawane treffen würden, der er sich heimwärts anschließen konnte. Er war außergewöhnlich still und beteiligte sich nicht an unserm Gespräche. Wenn ja einmal eine Frage an ihn gerichtet wurde, so beantwortete er sie so kurz wie möglich, oft nur mit einem einzigen Worte. Das war so auffällig, daß ich ihn nach dem Grunde dieser Einsilbigkeit fragte.
»Meine Asaker!« seufzte er. »Ich muß nur immer an sie denken!«
»Ich tue das auch; aber kannst du es vielleicht dadurch anders machen?«
»Nein. Ja, du Effendi! Dich braucht das nicht zu bedrücken!«
»Etwa dich mehr als mich?«
»Ja, denn ich bin schuld an ihrem Tode. Zwanzig, zwanzig Seelen, die nun durch meine Schuld ganz unvorbereitet an die Waage der Gerechtigkeit treten! Dieser Gedanke ist unerträglich schwer!«
»Wieso trägst du die Schuld?«
»Weil ich deine heutige Warnung ebensowenig beachtet habe wie deinen gestrigen Rat. Du sagtest, ich solle sofort heimkehren; ich blieb aber trotzdem. Wenn wir gestern gleich nach dem Zweikampfe fortgeritten wären, so hätten die Beni Khalid keine Zeit gehabt, mir einen solchen Hinterhalt zu legen. Ich habe also die Schuld zu tragen, ich ganz allein! Denn ich bin nicht nur einmal, sondern wiederholt gewarnt worden und habe nicht darauf geachtet. Wie schwer, wie unendlich schwer wird mich das dereinst belasten. wenn für mich die Zeit da ist, Rechenschaft abzulegen!«
Die Vorwürfe, weiche er sich machte, waren leider nicht unbegründet, doch tat und sagte ich alles, was ich tun und sagen konnte, ihm das Herz leichter zu machen; es gelang mir aber nicht so, wie ich wollte.
Wir hatten die Kamele nach dem Hintergrunde geschafft, dahin, wo die beiden Höhen zusammenstießen. Dort war nicht ein besonderer Wächter für sie nötig. Wir lagerten so vor ihnen, daß sie eingeschlossen waren. Zu unserer Sicherheit waren drei Posten erforderlich, welche wir ausstellten, nämlich auf die vor uns und auf die hinter uns liegende Höhe und den dritten rechts in die schon erwähnte Enge unsers Tales. Es schien also eine Überrumpelung ganz unmöglich zu sein, und in diesem Gefühle legten wir uns sehr zeitig schlafen, um früh gut ausgeruht zu haben, denn infolge der Drohung des Scheikes hatten wir anzunehmen, daß der morgige Tag ein anstrengender und gefährlicher für uns sein werde. Dieser Mann tat jedenfalls alles mögliche, seinen Schwur ganz und baldigst in Erfüllung gehen zu lassen!
Während uns dies natürlich Sorgen machen mußte, waren wir heut in Beziehung auf die Sicherheit unseres Lagerplatzes vollständig beruhigt. Wir hatten einen wunderbaren Sternenhimmel; es war bedeutend heller als gestern und vorgestern abend, und so hätten unsere Wächter blind oder sehr nachlässig sein müssen, um den Beni Khalid einen Überfall zu ermöglichen. Überhaupt war diesen letzteren die Stelle, an weicher wir lagen, höchst wahrscheinlich nicht bekannt.
Ich schlief sehr tief und traumlos, bis ein Ruf erscholl, der mich weckte. Noch aber hatte ich die Augen nicht geöffnet, so vervielfältigte sich dieser Ruf zu einem vielstimmigen Geschrei, weiches von den Lippen sämtlicher Haddedihn kam. Ich wollte aufspringen, konnte aber nicht, denn es hatten sich zwei, drei, vier Gestalten auf mich gestürzt, welche alle ihre Kräfte anwendeten, mich niederzuhalten.
Der Schlaf war mir da so vollständig aus den Augen vertrieben, daß er sie nicht mehr trübte. Ich schnellte mich empor, um um mich blicken zu können, wurde zwar sofort wieder niedergerissen, hatte aber doch genug gesehen. Es wimmelte von Beduinen rund um uns her; es waren ihrer so viele, daß jetzt, da sie uns einmal hatten, der Widerstand gradezu Wahnsinn gewesen wäre und uns nur zum Untergange hätte führen müssen. Darum schrie ich so laut wie möglich:
»Ergebt euch, ihr Haddedihn! Ich, Akil Schatir Effendi, sage es euch. Ich ergebe mich auch!«
»Ich auch!« erschallte hierauf Halefs Stimme. »Wehrt euch nicht! Ich befehle es euch!«
Hierauf streckte ich mich aus und ließ mich binden. Es gab noch ein nur kurzes Durcheinander rund umher, dann war es still. Diejenigen Haddedihn, weiche der Widerstand von ihren Plätzen getrieben hatte, wurden wiedergebracht. Wir lagen alle, alle beisammen, und unsere Sieger setzten sich so, daß sie uns in ihrer Mitte hatten. Nun, da ich ungehindert Umschau halten konnte, sah ich, daß bei dem Tachtirwan, welcher sich natürlich an einer von uns abseits liegenden Stelle befand, drei Beduinen standen, welche ihn in Schutz genommen hatten. Das war eine Rücksicht, welche man den Beni Khalid, besonders aber ihrem Scheik, gar nicht hätte zutrauen sollen! Ich bemerkte ihn. Er bewegte sich die Reihe seiner Leute entlang hin nach der Sänfte, um sich dort nach irgend etwas zu erkundigen. Dann kam er auch zu uns.
»Welcher von euch ist der Scheik der Haddedihn?« fragte er.
»Ich bin es« antwortete Halef.
»Welcher ist der fremde Effendi?«
»Ich«, sagte ich.
Seine Stimme klang ganz anders als die Stimme Tawil Ben Schahids! Er fuhr fort:
»Welcher ist der Basch Nazyr aus Meschhed Ali?«
»Hier liege ich«, rief der Perser.
»Hört, was ich euch sage: Wenn ihr drei mir euer Ehrenwort gebt, nichts ohne meine Erlaubnis zu unternehmen, so lasse ich euch wieder losbinden. Antwortet mir!«
Das war ja wunderbar! Dieser Mann hatte nicht Tawils Stimme und das bemerkte ich erst jetzt auch nicht ganz seine Gestalt. Wer war er? Ich dachte bei dieser Frage an die Kundschafter, weiche für kurze Zeit bei uns am Brunnen gewesen waren.
»Sprich du zuerst, Sihdi!« forderte mich Halef auf.
Ich antwortete:
»Ich gebe mein Ehrenwort, doch einstweilen nur für so lange, wie wir uns an diesem Orte befinden. Für länger können wir uns nicht verpflichten, weil wir nicht wissen, wer diese Leute sind, warum sie uns überfallen haben und was sie mit uns beabsichtigen. Verhalte dich also wie ich!«
»Gut! Auch ich gebe mein Ehrenwort, aber auch nur für die Zeit, welche der Effendi jetzt angedeutet hat!« erklärte Halef.
Und der Perser folgte diesem Beispiele.
»Ich ebenso!«
»Das genügt mir vollständig«, sprach der Anführer. »Bindet also diese drei Männer wieder los!«
Ertatesnichtselbst;seinBefehlwurdevondreienseinerLeuteausgeführt, während er unbeweglich vor uns stand. Als es geschehen war und wir uns zum Sitzen aufgerichtet hatten, setzte er sich uns gegenüber nieder und machte uns die Mitteilung:
»Ich bin Abd el Idrak, der Scheik der Beni Lam.«
Er machte das, was man eine Kunstpause nennt, um seinen Worten Zeit zu lassen, die beabsichtigte Wirkung auf uns auszuüben. Diese Wirkung blieb auch gar nicht aus. Also mit den Beni Khalid hatten wir es nicht zu tun! Aber konnten wir nicht dadurch aus dem Regen in die Traufe gekommen sein? Die Beni Khalid hatten wir kennen gelernt, die Beni Lam aber noch nicht! Aber daß grad uns dreien, den Anführern, die Fesseln gleich wieder abgenommen worden waren, das gab uns doch wohl die Berechtigung, unsere jetzige Lage für keine allzu schlimme zu halten. Diese Beni Lam befanden sich in einer so bedeutenden Anzahl hier, daß wir uns bei ihnen, den Feinden der Beni Khalid, gegen diese im vortrefflichsten Schutz befanden, den wir uns nur wünschen konnten. Das war auch sehr viel wert! Übrigens hatte Abd el Idrak die Absicht, jetzt mit uns zu sprechen, und da mußte es sich ja zeigen, weichen Zweck er mit dem ihm so wohlgelungenen Überfalle verfolgte.
»Ihr werdet keine Ahnung davon gehabt haben, daß sich eine so große Schar der Beni Lam in der Nähe des Brunnens Hilu befand«, begann er.
»Oh, doch«, antwortete ich.
»Also ist es trotzdem so, wie ich dachte! Dieser Tawil Ben Schahid hat euch gesagt, daß er es auf uns abgesehen hatte?«
»Ja.«
»Ich sandte zwei Kundschafter nach dem Brunnen; sie haben mit euch gesprochen. Für wen oder was habt ihr sie gehalten?«
»Für das, was sie waren, für deine Späher.«
»Warum gabt ihr ihnen keine Auskunft über die Beni Khalid, an denen ihr euch dadurch nicht nur hättet so schön rächen, sondern von denen ihr euch dadurch auch hättet befreien können?«
»Wir sind ehrliche Krieger, also keine Verräter! Wir handeln schon überhaupt nach dem Grundsatze, daß Allah den Frieden, nicht aber den Krieg zwischen seinen Kindern will, und jetzt befinden wir uns als Pilger auf dem Wege nach der heiligen Stadt und sind als solche verpflichtet, uns bei keiner Gelegenheit von der Hand der Unfriedfertigkeit leiten zu lassen.«
»Ja«, nickte er nachdenklich, »du überhaupt bist ein Abd el Musalaha!«
»Wie kommst du dazu, mich so zu nennen?« fragte ich verwundert.
»Du hast bewiesen, daß du es bis!«
»Weißt du das?«
»Ja. Ich weiß mehr von euch, als ihr denkt. Es gibt mehrere Personen, welche mir von euch erzählt haben.«
»Darf ich fragen, wer diese Personen sind?«
»Zunächst meine beiden Kundschafter. Es hat mich sehr von euch gefreut, daß ihr eure Feinde nicht verraten habt! Ich sage euch, wenn ihr das getan hättet, wäre euch dasselbe Los wie ihnen beschieden gewesen, denn der Verräter ist ein stinkender Dib, den man nicht schonen darf, sondern vernichten muß!«
Da stieß mich Halef mit dem Ellbogen an. Ich wußte, was er meinte. Er hatte mir Vorwürfe darüber gemacht, daß ich gegen die beiden Späher so verschwiegen gewesen war. Nun sah er ein, wie richtig dieses Verhalten von mir gewesen war. Dieser Abd el Idrak war ein ganz, ganz anderer Mann als der Scheik der Beni Khalid, ein bei aller Barschheit des hiesigen Lebens edel angelegter und edel handelnder Charakter; das sollten wir später noch deutlicher erkennen als jetzt. Er trug seinen Namen Abd el Idrak, Diener der Einsicht, mit vollem Rechte! Er fuhr fort:
»Der Scheik der Beni Khalid glaubte, uns ganz unvorbereitet zu finden; aber Allah schützt die Guten und verdunkelt die Augen der Bösen. Er fügte es, daß ich das Unternehmen unserer Feinde zur rechten Zeit erfuhr. Ich rüstete meine Krieger und zog den Beni Khalid entgegen, um die Entscheidung zwischen uns und ihnen in die Wüste zu legen, damit nicht die Wohnungen friedlicher Leute dabei verwüstet würden. Meine Späher standen von ferne und lauschten. Ich hörte, daß sie nach Süden gezogen seien, und folgte ihnen. Sie waren von dort zurückgekehrt, hatten aber einen Mann zur Beobachtung zurückgelassen, den wir festnahmen. Er mußte uns alles erzählen, was am Brunnen geschehen war. So erfuhren wir von euch, von dem Kanz el A'da, von seinen Dieben und von dem Kampf um ihn. Der Schatz hat einen großen, großen Wert; ich beschloß, ihn in meine Hände zu bringen und euch zu überfallen. Darum ließ ich euch genau beobachten, ohne daß ihr eine Ahnung davon hattet. Auch die Beni Khalid merkten nichts davon.«
»Bi Khatir-i-Khudah – um Gottes willen«, rief da der Perser aus. »Nun soll ich den Kanz el A'da schon wieder hergeben!«
»Das sollst du nicht«, lachte der Scheik, doch es war ein freundlich klingendes Lachen. »Wir haben ihn doch schon!«
»Ja, das Paket ist fort!«
»Dort liegt es bei dem Tachtirwan und wird mit dem Harem des Scheikes der Haddedihn sehr gut bewacht, wie du siehst!«
»Ihr werdet es behalten?«
Der Scheik tat, als ob er diese Frage gar nicht gehört habe und sprach weiter:
»Abadilah el Waraka, den man El Ghani nennt, trat vor einigen Monaten eine Reise an, welche von Mekka nach Meschhed Ali gehen sollte. Auf dieser Reise kam er auch nach Oneizeh, der großen Stadt. Er hatte seinen Sohn mit, drei andere Begleiter und auch einen alten Mann, den man El Münedschi nennt, weil er die Gabe der Weissagung besitzt. Dieser Münedschi verkehrt mit einem Engel des Himmels, weicher Ben Nur heißt und ihm alle Geheimnisse des Lebens entdeckt. Darum ist alles, alles wahr, was der Münedschi sagt, und wenn er etwas verkündet, so geht es in Erfüllung. Er muß sehr, sehr reich sein, denn es kommen Tausende von Pilgern zu ihm, welche ihn sehen und hören wollen und dann nicht gehen, ohne eine Gabe der Dankbarkeit zurückzulassen. Zu derselben Zeit war auch ein junger Krieger unseres Stammes in Oneizeh, um Blei und Pulver für uns einzukaufen. Er hieß Ibn Kurban und war der einzige Sohn von Abu Kurbart, des reichsten Mannes unseres Stammes. Er hatte diamantene Ringe an den Fingern, und seine Waffen waren mit edlen Steinen besetzt, deren Wert ein Vermögen betrug. Als er mit seinen drei Begleitern die Stadt verließ, schloß er sich dem Ghani an, weil er eine Zeitlang den gleichen Weg mit diesem hatte; aber er ist nicht heimgekehrt, und auch seine Gefährten hat man nicht wieder gesehen. Abu Kurban reiste nach Oneizeh, um nachzuforschen. Er erfuhr, daß die Verschwundenen mit dem Ghani fortgeritten seien. Der Weg war gegen El Kasab gegangen. Er ritt dorthin und erfuhr, daß weder sein Sohn noch der Ghani hier gewesen sei; aber es war ein junger Mann mit drei älteren Männern gekommen, welche folgendes verkauft hatten: drei Reit und vier Lastkamele, viel Pulver und auch Waffen, denen man ansah, daß sie mit Steinen verziert gewesen waren, die man aber ausgebrochen hatte. Diese Waffen besaß der Händler noch; auch zwei von den Kamelen waren noch vorhanden, und Abij Kurban überzeugte sich, daß sie seinem Sohne gehört hatten. Wer die vier Fremden gewesen seien, das wußte man nicht. Der jüngere Mann hatte zwar einen Namen nennen müssen, doch war anzunehmen, daß er sich eines falschen bedient habe. Der Händler konnte sich nur noch erinnern, daß dieser Mann eine gewöhnliche und eine stärkere, buschige Hadschib gehabt habe. Weiter konnte er nichts sagen. Es stand fest, daß die vier Beni Lam ermordet worden seien; aber wer die Mörder seien, das konnte man zwar vermuten, doch nicht eher beweisen, als bis es möglich war, sie den Personen zu zeigen, von denen sie in El Kasab gesehen worden waren.«
»O nein, nein!« rief da Halef aus. »Ihr braucht nicht so lange zu warten. Ich weiß schon jetzt, wer sie waren!«
»Nun, wer?« fragte der Scheik.
»Der Sohn des Ghani hat zwei solche Brauen. Ihr Unterschied ist so groß, daß er mir sogleich aufgefallen ist. Diese Kerle haben den Kanz el A'da beraubt, und so ist es ihnen auch zuzutrauen, daß sie diesen Raubmord begangen haben! Sie sind allein nach El Kasab gegangen; der Ghani, hat mit dein Münedschi einstweilen gewartet, denn wenn diese beiden auch mitgegangen wären, hätten sie dadurch die Entdeckung sehr erleichtert. Diese Mekkaner sind gestern nach Mittag von uns fort. Sie können sich noch nicht weit von hier entfernt haben, und wenn du dich beeilst, so kannst du sie wahrscheinlich noch einholen!«
Da rief der Scheik einem seiner Leute einige Worte zu, worauf dieser sich entfernte, und zwar nach rechts hin, wo in der Enge unser Posten gestanden hatte. Als dieser Ben Lam fort war, sprach der Scheik:
»Ich werde euch etwas zeigen, doch müßt ihr eine kleine Weile warten. Inzwischen will ich euch eine Frage beantworten, weiche euch wahrscheinlich auf den Lippen liegt, nämlich die Frage, wie es uns möglich gewesen ist, euch zu überraschen, obgleich ihr drei Wachen ausgestellt hattet.«
»Ja«, stimmte Halef bei, »wir bitten dich, uns das zu sagen!«
»Wir haben in unserem Stamme einige vorzügliche Läufer, welche ich dann, wenn es der größten Vorsicht bedarf, als Späher verwende. Sie laufen ebenso schnell wie die Kamele und sind aber nicht so leicht und so weit zu sehen wie diese. Diese Läufer sind dem Scheik Tawil gefolgt, als er mit vierzig seiner Leute wieder nach Norden ritt, um euch einen Hinterhalt zu legen. Sie haben die nördliche Grenzhöhe des Tales erstiegen und sich dort so in den Sand eingegraben, daß sie nicht bemerkt werden, aber selbst alles beobachten konnten. Sie sind Zeugen alles dessen gewesen, was dort geschehen ist; auch haben sie das meiste von dem verstanden, was gesprochen wurde. Zuerst waren die Beni Khalid allein da; sie sprachen davon, daß sie auf den Perser und seine Soldaten warteten, um ihm den Kanz el A'da abzunehmen. Da ich aber diesen Schatz auch haben wollte, so machte sich einer der Läufer sofort auf, um mich zu benachrichtigen. Der Weg zu mir war sehr weit, und so bekam ich diese Kunde so spät, daß es mir unmöglich war, zur rechten Zeit zu kommen. Sosehr ich mich auch beeilte. ich kam doch erst dann dort an, als ihr euch schon entfernt hattet. Aber ein zweiter Läufer war euch gefolgt, und der dritte und letzte hatte gewartet, bis ich eintraf. Er erzählte mir alles und nannte mir auch die Zeit und den Ort, wann und wo der zweite wieder zu uns stoßen wollte, um mir zu sagen, wo wir euch während der Nacht finden würden. Dorthin ritten wir natürlich und trafen dabei auf die Fährte von sechs Kamelen, welche genau in unserer Richtung lief.«
»Maschallah!« rief Halef aus. »Gewiß die Spur des Ghani!«
»Ja, sie war es.«
»Habt ihr diese Halunken eingeholt?«
»Davon später. Als es dunkel geworden war, stieß der zweite Läufer zu uns und beschrieb mir euern Lagerplatz, den also, auf welchem wir uns jetzt befinden. Ihr seid sehr vorsichtig gewesen, er aber auch. Er ist stets hinter euch her und hat sich so eingerichtet, daß er stets erst dann eine Höhe erklommen hat, wenn ihr euch im übernächsten Tale befandet. Darum wäre er unentdeckt geblieben, selbst wenn ihr euch noch so oft umgeschaut hättet.«
»Das war ungeheuer klug von ihm!« lobte Halef. »Dieser Krieger wäre wirklich wert, ein Haddedihn zu sein!«
»Ich kann ihn auch brauchen!« lachte der Scheik in gütiger Weise. »Dieser Läufer führte uns später bis in die Nähe eures Lagers hier, und ich gab meinen zwei gewandtesten Kundschaftern, nämlich denen, welche bei euch am Bir Hilu waren, den Auftrag, sich das Lager anzusehen.«
»Aber unsere Posten?« fragte Halef.
»Es handelt sich bloß um den von ihnen, bei welchem sie vorüberkamen, und der hat nichts gesehen.«
»Welcher war es? Ich werde ihn so bestrafen, daß –«
»Sei still!« unterbrach ihn der Scheik. »Grad weil du ihn bestrafen willst, werde ich dir nicht sagen, welcher es gewesen ist. Du selbst würdest auch nichts bemerkt haben!«
»Ich ?« fragte der Hadschi, sich gekränkt fühlend.
»Ja, du! – Wenn du des Abends oder Nachts kundschaften gehst, so kommt es auf die Farbe des Sandes an. Leg also möglichst viele Haiks ausgebreitet in den Sand. Denjenigen, den du am schwersten vom Sande unterscheiden kannst, weil seine Farbe am meisten mit derjenigen des Sandes stimmt, den nimmst du um, in den hüllst du dich ein. Wenn du dann recht leise, so daß man dich nicht hört, am Boden hinkriechst und dabei den Hai so weit wie möglich ausbreitest, kann man dich nur sehr schwer oder wohl auch gar nicht bemerken. Begreifst du das?«
»Gewiß begreife ich es, denn ich muß dir sagen, daß mein Verstand kein Haik ist, den man nicht entdecken kann!«
»Auf diese Weise erfuhr ich,« erklärte der Scheik weiter, »daß auf der hinter dem Tachtirwan aufsteigenden Steilung, wo die beiden Talwände zusammenstoßen, keine Wache stehe, und entschloß mich also, auf dieser Stelle herunterzukommen.«
»Aber die fällt ja zu jäh ab!«
»Wo man nicht klettern kann, da rutscht man; der Sand eignet sich dazu ganz vortrefflich, und das geht auch so schnell, daß wir unten waren, ehe das Geräusch des mit abstürzenden Sandes euch aufgeweckt hatte.«
»Erlaube mir, dir in der aufrichtigsten Höflichkeit mitzuteilen, daß es mir, wenn nicht ihres gewesen wäret, unendlich lieb sein würde, wenn ihr alle die Hälse gebrochen hättet!«
Da aber reichte ich dem Scheik die Hand hin und bat:
»Gib mir deine Hand; ich muß sie drücken! Das ist eine Kühnheit gewesen, welche mich zur Hochachtung zwingt!«
Ich mußte diesen Mann wirklich achten, daß er den Kampf in die Wüste verlegt hatte, um die Bewohner der bebauten Gegend zu schonen, und daß er den nachlässigen Posten nicht verraten hatte, das waren zwei Züge von ihm, die ihm meine Zuneigung gewannen, obwohl er nach dem Kanz el A'da trachtete.
»Ich danke dir, Effendi!« antwortete er. »Du wirst noch weiter hören, daß ich nicht so schlimm bin, wie ich euch erscheine. Doch still! Da kommen sie. Schaut hin, denn das ist etwas für euch!«
Es nahte nämlich von der Talenge her ein kleiner Zug. Voran gingen zwei Beni Lam, hinterher auch zwei. Zwischen ihnen sahen wir zwei Kamele. Auf dem ersten saß ein einzelner Mann; das zweite aber schien zwei Personen zu tragen. Man konnte das noch nicht deutlich erkennen, weil sie noch nicht nahe genug waren. Der erste Reiter saß zusammengedrückt im Sattel. Da aber richtete er seinen Oberkörper gerade auf, breitete die Arme aus und rief:
»Seid mir gegrüßt, ihr Folgsamen der Liebe! Hier bring ich euch den Mann, den sie gerichtet hat, die höhnisch er verlachte! Ihr habt das gute Teil erwählt und er für sich die Strafe!«
Welche Überraschung für uns! Ja, er war es, der alte Münedschi, der auch jetzt wieder mit der Stimme Ben Nurs gesprochen hatte! Die Kamele knieten nieder; er wurde abgebunden und auf eine ausgebreitete Decke gesetzt. Der andere, oder die andern, denn es waren wirklich zwei, waren auch angebunden. Auch sie wurden losgemacht, und da sahen wir, daß nur einer von ihnen sich bewegte; der andere hing unbeweglich auf seinem Rücken.
»Wer sind diese zwei?« fragte Halef.
»Geh hin, und schau sie an!« antwortete der Scheik.
Der Hadschi tat es. Kaum war er dort, so rief er aus: »Der Ghani, der Ghani! Und der andere ist sein Sohn! Er trieft von Blut und ist an ihm festgebunden! Oh, Sihdi, Sihdi, ich glaube, er ist tot!«
Es war mir, als ob jemand mir mit einer in kaltes Wasser getauchten Hand über den Rücken streiche! Das war ja entsetzlich, entsetzlich! Das war im wahrsten und zugleich im überzeugendsten Sinne ein Gottesgericht. Wer da noch von Zufall sprechen kann, an den ist jedes weitere Wort Verschwendung!
Der »Liebling des Großscherifs« mußte sich auch setzen, und zwar zwischen zwei Beni Lam, weiche seine Wächter waren. Und das tat er mit der hinter ihm festgebundenen Leiche seines Sohnes! Es war so grauenhaft anzusehen, daß ich mich abwendete. Er sagte kein Wort; keinen Laut ließ er hören! Sein Gesicht konnte ich der Dunkelheit wegen von meinem Platze aus nicht sehen oder doch nicht erkennen. Halef kam wieder her und sagte in bewegtem Töne:
»Wie mich das gepackt hat, Effendi, das kann ich dir gar nicht sagen! Es ist mir, als ob ich an der Waage der Gerechtigkeit stände und selbst gewogen werden sollte! Nichts Böses tun, nur nichts Böses tun! Ich wollte, tausend Menschen, Millionen Menschen, alle Menschen, die ganze Menschheit ständen hier, um diesen niederschmetternden Beweis zu sehen, daß Allah sich nicht spotten läßt! Horch! Was war das? Hast du es gehört?«
»Ja.«
Es war vom Tachtirwan her ein Schluchzen geklungen, dem man anhörte, daß es zurückgehalten werden sollte, aber doch nicht unterdrückt werden konnte.
»Das ist Hanneh, die weichherzigste aller gütigen Frauen! Sie fühlt sich auch ergriffen, tief ergriffen. Oh, Effendi, und früher habe ich mich oft mit ihr gestritten, weil ich als Moslem behauptete, daß die Frauen keine Seelen haben! Und jetzt geht mir nicht nur die meinige, sondern noch viel, viel mehr die ihrige über alle irdischen Vorzüge und alle Reichtümer dieser Welt! Wenn ich mir den Mann dort vorstelle, wie er geifernd vor uns stand, um unsere Liebe zu schmähen und zu verlachen, wie er lästernd sie herausforderte, ihn zu strafen, und ihn nun zusammengebrochen unter der fürchterlichen Last der Leiche seines Sohnes dort hocken sehe, so habe ich das Gefühl, als ob mir alle meine Nerven einzeln aus dem Leibe gezogen werden sollen! Ich möchte es hinausschreien über die Wüste, die Städte und Dörfer, über die Flüsse und Ströme, über alle Länder und alle Meere, daß es außer dem Glauben für die Seele keine andere Luft zum Atmen gibt, und daß die Liebe das einzige Licht, die einzige Wärme im Himmel und auf Erden ist!«
Scheik Abd el Idrak saß noch neben uns. Er hörte Halefs Worte, machte eine Bewegung der Hände, um unsere Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen, und sagte dann:
»Es hat auch für mich stille und einsame Stunden gegeben, in denen ich hinabgetaucht bin in die Fluten meines Innern, um zu sehen, was ich da unten finden werde, ob Perlen oder häßliches Getier. Meist war es das letztere. Und es hat wieder Stunden gegeben, in denen ich hinausgeschaut habe auf die Fluten des Lebens, auf die Segel, weiche den heimatlichen Hafen verlassen, uni nach der fremden Stätte getrieben zu werden. Ich sah die Güter, die sie trugen, vor Allah wertlose Lasten, und wunderte mich nicht, daß sie im Sturme dann sanken oder an Riffen zerschellten. Ich bin ein Bewohner der Wüste, und diese scheinbar so öde Wüste ist voller Gedanken. Ich erhielt meinen Teil davon, doch machten sie mich nicht glücklich. Es wohnte ein Verlangen in mir, eine oft laut aufschreiende Sehnsucht, die keine Erhörung fand, so weit die einsame Wüste, so weit das bewohnte Land und so weit mein Leben reicht. Ich wußte nicht i was das war; es machte mich elend und krank. Da, da hörte ich es heut, heut zum erstenmale, das große, das herrliche Wort von der Liebe! Nicht von der Liebe, wie ich sie bisher gekannt habe, sondern von einer höheren, reineren, edleren Liebe, von der Liebe, die Himmel und Erde verbindet und die Menschen zu Brüdern, zu Kindern Gottes macht. Das ist es, wonach ich suchte, ohne es zu kennen; das ist es, wonach sich meine Seele sehnt; das ist es, dem sich mein leeres Innere schon längst öffnen wollte, um von ihm ganz, ja ganz erfüllt zu werden! Ich will es haben; ich muß es haben, darum bin ich hierhergekommen, denn ihr habt es; ihr habt diese Liebe; ihr übt diese Liebe, und nur von euch, von euch kann ich sie bekommen. Darum, nur darum habe ich euch überrumpelt und überfallen! Nichtden Kanz el A'da will ich nun. Erst, ja erst wollte ich ihn, und ich hätte ihn mir geholt, und wenn ich alle Beni Khalid und alle Haddedihn hätte erschießen müssen. Nun ich aber von eurer Liebe gehört habe, verzichte ich auf diesen armseligen Schatz der Glieder' und will nur sie, nur sie! Sagt, kann ich sie bekommen? Wollt ihr sie mir geben?«
Er war aufgesprungen und hatte nach und nach immer lauter und lauter gesprochen, als ob er seine Sehnsucht über alte Höhen und über alle Berge und Täler, über die ganze Wüste hinausschreien wolle. Das war jener Schrei, von welchem die heilige Schrift sagt: »Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so verlangt meine Seele, o Gott, nach dir!« Diese Sehnsucht geht durch die ganze Schöpfung, durch die ganze Erdenwelt, durch die ganze Menschheit. Grad in der heutigen Zeit ist es lautes Schreien nach Liebe; aber die, denen es gilt, die wollen es nicht hören! Nicht nur aus menschlichem Munde, sondern auch von den Lippen des unter dem unbarmherzigen Messer gemarterten Tieres ertönt dieser Jammerschrei. Nicht nur der Mensch, sondern auch die fälschlicherweise »leblos« genannte Kreatur wartet auf die Erlösung. Gebt sie ihr; o gebt sie ihr! Gebt ihr Liebe, Liebe, Liebe! Lacht um Gottes willen nicht, wie der Ghani, über diese Liebe, denn was ihm gesagt wurde, das sage ich auch hier: Die Liebe lächelt nicht immer! Sie bittet, und was man ihr versagt, was man ihr von ihren Rechten vorenthält, das holt und nimmt sie sich mit unwiderstehlicher Gewalt, nachdem sich ihre linde, milde Hand in die strafende Faust des Zorns verwandelt hat! Gebt also Liebe aus Liebe, und wartet nicht, bis ihr aus Zwang geben müßt, was mit eiserner Strenge von euch gefordert wird!
Die Worte des Scheikes Abd el Idrak hatten uns so ergriffen, daß keiner ,von uns sogleich die doch so leichte Antwort gab. Da wiederholte er mit derselben lauten Stimme seine Frage:
»Sagt, kann ich sie bekommen? Wollt ihr sie mir geben?«
»Ja, von Herzen gern!« antwortete ich nun.
Da drehte er sich um und warf seinen Leuten den Befehl zu:
»Macht sie frei! Bindet sie alle los, sofort, augenblicklich!«
Es war gewiß nicht vorher besprochen worden, aber ganz so schnell und einmütig, als ob es so verabredet worden sei, beeilten sich die Beni Lam, dieser Weisung nachzukommen. Im Handumwenden, wie man zu sagen pflegt, waren alle unsere Haddedihn ihrer Fesseln wieder los. Dann rief der Scheik:
»Diese tapferen und ehrlichen Krieger der Haddedihn sind von diesem Augenblicke an die Brüder und Gäste unseres ganzen Stammes! Ihre Freunde gelten als unsere Freunde, und ihre Feinde werden als die unsrigen behandelt. Ich habe es gesagt, Abd el Idrak, der Scheik der Beni Lam!«
Er reichte uns seine Hand, die wir ihm recht herzlich, aber auch ganz und gar herzlich schüttelten! Wer solche Szenen nicht erlebt hat, der ahnt gar nicht, welche Reichtümer ein Menschenherz in sich trägt! Und seine Leute taten mit. Das war ein Drücken und Schütteln der Hände, welches kein Ende nehmen zu wollen schien. Als sich die frühere Ruhe einigermaßen, wenn auch nicht ganz, wieder eingestellt hatte, ergriff unser Gastfreund, der Scheik, von neuem das Wort:
»Ihr werdet die Ursachen meines Verhaltens jetzt nur halb verstehen; ich will es euch nun aber ganz erklären! Ihr wißt, daß wir die Spur des Ghani fanden und ihr folgten. Dort sitzt er und hört alles, was ich sage; das mag eine Verschärfung seiner Strafe sein, und Allah gebe, daß die Härte seines Herzens unter ihr nun endlich einmal zu schmelzen beginne! Nach längerer Zeit führte diese Fährte zwar von unserer Richtung ab, aber so wenig, daß wir auf ,ihr blieben. Schaut hinüber zu dem Liebling' des Großscherifs! Der alte Mann, der eng an seiner Seite sitzt, ist Abu Kurban, der Vater des Ermordeten, und der fast ebenso alte Krieger an der andern Seite ist der Oheim der drei Brüder, welche mit ermordet wurden. Es ist dunkel; darum könnt ihr nicht sehen, wie tief der Gram um den Verlust des einzigen Kindes sich in das Gesicht Abu Kurbans eingefressen hat, und wie sehr ihn der Gedanke quälte, daß diese Missetat von ihm im Buche der Rache noch zu durchstreichen sei. Als beide hörten, wen wir vor uns hatten, taten sie den Schwur, sich Blut für Blut zu nehmen, falls es ihnen gelingen sollte, sich von der Schuld zu überzeugen. Sie haben diesen Schwur gehalten, denn sie mußten es. Der Ghani hatte sich mit seinen Begleitern zwischen zwei niedrigen Ausläufern der Dünenwüste gelagert. Sie erschraken, als sie uns erblickten, denn wir waren über sie gekommen, ehe sie die Anwesenheit einer solchen großen Schar nur ahnen konnten. Wir umringten sie. Wir sahen den Sohn des Ghani; er besaß die Verschiedenheit der Brauen, und so stand es fest, daß er und die drei andern es gewesen sind. Ich zögerte nicht, ihnen das Verbrechen sofort in die Gesichter zu werfen. Sie erbleichten vor Angst, leugneten aber. Da sahen wir einen Ring am Finger des Sohnes. Abu Kurban betrachtete ihn und tat einen Eid. daß er Ibn Kurbans Eigentum gewesen sei. Wir durchsuchten die Mörder und fanden die andern Ringe und Steine. Da glaubte einer der drei, er könne sich durch den Verrat der andern retten. Er erzählte, wie die Tat sich zugetragen hatte. Die vier Mörder hatten zunächst ohne das Wissen des Ghani gehandelt, ihm aber nach dem Morde gleich alles mitgeteilt. Auf seinen Rat waren sie dann nach EI Kasab geritten, in dessen Nähe der Alte mit dem Münedschi auf sie wartete. Was hatten die Mörder verdient? Sag es mir, Scheik Hadschi Halef!«
»Den Tod«, antwortete Halef.
»Hättest du sie begnadigt?«
»Nein.«
»Trotz der Liebe, deren Kinder und Söhne ihr seid?«
»Nicht nur trotz, sondern sogar infolge dieser Liebe. Du darfst ja nicht glauben, daß sie eine Beschützerin der Sünde sei. Kann sie nicht durch Güte wirken, so greift sie zur Rettung durch die Strenge. Sie ist nachsichtig und barmherzig, solange sie glauben darf, daß dies zum Ziele führt; zwingst du sie aber zum Gegenteile, so wird sie zur Mutter, weiche ihr Kind straft, nicht obgleich, sondern weil sie es liebt!«
Das hatte der Hadschi vortrefflich gesagt; aber weil er weggelassen hatte, was hier für diesen Fall die Hauptsache war, fügte ich hinzu.
»Und hat sie ein Kind, welches auch der Strenge nicht gehorcht, so trennt sie es von den andern, damit diese nicht auch verderben. Das ist die Strafe des Todes, die hart erscheint, aber als Folge einer gebieterischen Ursache entspringt.«
»Also auch du hättest für den Tod dieser Mörder gestimmt«, fragte mich der Scheik.
»Ja.«
»Aber ihr habt doch heute Mörder begnadigt!«
»Sie standen uns nicht so nahe, daß die Rache unsere Pflicht gewesen wäre. Und, was wichtiger ist, es wurde uns der Befehl, Liebe walten zu lassen.«
»Ja, ich weiß es, denn meine Späher haben es gehört und mir dann erzählt. Ben Nur sprach zu euch. Er hat dann auch zu mir, zu uns gesprochen.«
»Vor dem Urteile?«
»Nein, sondern nach der Vollstreckung desselben. Bis dahin war der Münedschi still, ganz so in sich versunken, wie er jetzt dort sitzt, als ob er schlafe. Desto mehr aber sprach der Ghani. Er schwor alle Himmel auf die Erde herab; er wollte Allah zwingen, die Lüge zu beglaubigen; er zog alles, was heilig ist, herbei auf seinen falschen Eid, und als er sah, daß diese Lästerungen keinen Erfolg hatten, wurde er zum Rasenden. Dieser verlorene Mensch hat nur sich selbst und seinen Sohn geliebt, aber nie ein anderes Wesen. Wir hörten das aus seinen verzweiflungsvollen Reden. Er hielt ihn fest; er umklammerte ihn, und als wir beide auseinanderrissen, heulte er auf wie ein Tier, verfluchte sich, verfluchte die Menschheit, verfluchte die Himmel und schwor, wenn sein Sohn schuldig sei, so wolle er die Schuld desselben auf sich nehmen und tragen in alle Ewigkeit. Das war so schrecklich, daß ein heiliger Grimm über mich, über uns alle kam. In diesem Zorne verurteilte ich ihn, den Sohn diese Nacht tragen zu müssen, um nur eine Ahnung davon zu bekommen, was es heiße, ihn und seine Schuld durch die endlose Nacht der Ewigkeit zu schleppen. Die Mörder sind erschossen worden, kurz, schnell, ohne sie zu quälen. Drei von ihnen haben wir begraben; den vierten seht ihr dort, wie ich euch sagte. Der Alte hat alle seine Sünden nur für den Sohn begangen; nun liegen sie, und nun liegt auch der Sohn auf ihm. So will es die Gerechtigkeit. Vielleicht hätte ich ihm das nicht angetan, denn Grausamkeit wohnt nicht in meinem Herzen; aber meine Kundschafter, welche heimlich Zeugen seiner letzten Tat waren, haben ihn auf die Asaker schießen sehen und dann gehört, wie er gegen euch und gegen eure Liebe wütete. Das hat mich gegen ihn unerbittlich gemacht. Es war heut überhaupt ein Tag der Abrechnung, ein Tag, an weichem wir Gericht gehalten haben. Ihr sollt jetzt noch nichts wissen, doch wenn es Tag geworden ist, so werdet ihr es sehen.«
»Bist du etwa mit den Beni Khalid zusammengestoßen?« fragte Halef.
»Ja«, antwortete der Scheik.
»Ihr habt mit ihnen gekämpft?«
»Nur kurze Zeit. In wenigen Minuten war es aus!« klang es in verächtlichem Tone.
»Allah 'w Allah! Ihr habt gesiegt?«
»Mein Freund, säßen wir hier, wenn wir nicht Sieger wären. Es währt nicht lange mehr, so wird es Tag. Dann werdet ihr die Spuren des Kampfes an uns sehen. Den Platz des Sieges zeige ich euch.«
»Wo liegt er?«
»Da, wo ihr gelegen habt, am Bir Hilu. Diese Beni Khalid haben seit dem Tage, an welchem Tawil Ben Schahid ihr Gebieter wurde, niemals Ruhe gehalten. Der Stamm der Beni Lam litt unter ihren Raubzügen so, daß ihm die Armut drohte. Da faßte ich endlich den Entschluß, daß es mit einem Male, mit einem großen Schlage zwischen uns und ihnen zur Entscheidung kommen solle. Ich bereitete mich vor und wartete nur auf den nächsten Angriff ihrerseits: Da wurde mir vor kurzer Zeit die Kunde, daß sie sich wieder zu einem Oberfalle rüsteten; sie wollten ihren Weg über den Bir Hilu nehmen, um, wenn wir ja etwas erfahren sollten, uns glauben zu machen, daß dieser Zug nicht uns gelte. Es wurde mir auch die Anzahl ihrer Krieger gesagt. Um es kurz mit ihnen machen zu können, zog ich ihnen mit einer bedeutend größern Schar entgegen, die ich des Wassers wegen teilen mußte. Drei Brunnen waren es, westlich vom Bir Hilu die wir besetzten. Ich schickte dem Feinde meine Läufer entgegen, die nicht leicht zu entdecken sind. Als diese mir das Nahen der Beni Khalid melten, zog ich die drei Scharen zusammen. Dann lagen die Läufer in der Nähe des Brunnens, tief im Sande eingewühlt und beobachteten euch alle. Nach dem Zweikampfe schickte ich zwei Kundschafter zu euch, nicht etwa, um zu erfahren, ob ihr euch noch am Brunnen befändet, sondern ich wollte wissen, wie ich euch zu behandeln hätte. Euer Kanz el A'da sollte unser werden; ich fragte mich, ob ich euch dabei schonen solle oder nicht. Da hörte ich, daß ihr eure Feinde nicht verraten hättet. Ich traute meinen Ohren nicht, denn ein solcher Edelmut war mir noch nicht vorgekommen. Als ihr dann nach Süden rittet, wurdet ihr von den Beni Khalid erwartet. Ich wollte dies benutzen, um sie und euch zugleich zu fassen. Sie sollten geschlagen, ihr aber mit Zurücklassung des Schatzes wieder freigelassen werden. Ich wußte nicht, daß die Soldaten mit ihm nach Norden reiten sollten. Da kehrte Scheik Tawil mit einer kleinen Schar zurück. Ich schickte ihm meine Läufer nach, und so entging es mir, daß sich der Perser von euch trennte. Dann rittet ihr auch nach Süden, kehrtet aber ebenso wieder um; die Beni Khalid folgten euch. Was nun geschah, wißt ihr zum kleinen Teile; das andere sollt ihr erst dann erfahren, nachdem ihr es gesehen habt. Der Osten scheint sich schon lichten zu wollen. Sobald es hell wird, brechen wir auf von hier.«
»Wohin?« fragte Halef.
»Zum Bir Hilu.«
»Nehmt ihr den Ghani mit?«
»Ja.«
»Und was geschieht dann mit ihm?«
»Wir jagen ihn fort.«
»Allah! Ihr werdet ihn nicht auch erschießen?«
»Nein. Er ist an dem Morde, den wir zu rächen hatten, nicht beteiligt, sondern nur später der Verhehler gewesen, hat also nicht das Blut eines Ben Lam vergossen; wir dürfen ihm also auch nicht das seinige nehmen. Was er gegen euch und die Asaker getan hat, das ist nicht unsere, sondern eure Sache. Auch ist ein einsames Alter ohne seinen Sohn für ihn eine größere Strafe, als es ein rascher Tod sein würde.«
»Das ist wahr. Er hat die Liebe von sich gestoßen; sie ist von ihm gegangen; nun muß er ohne Liebe dem Grabe entgegenwanken. Er hat es grad so und nicht anders gewollt.«
»Um so fester werden wir sie, und besonders werde ich sie halten«, sagte Abd el Idrak sehr ernst. »Schon aus den Beobachtungen, welche ich am Bir Hilu an euch machen ließ, ergab sich ein Verhalten, welches mich zunächst befremdete. Ihr wenigen Leute fürchtet euch nicht vor einer großen Übermacht von Feinden, die ihr sogar noch schontet! Dann hattet ihr für die Mörder der Soldaten Gnade anstatt Rache. Eure Reden wurden mir berichtet, auch wie ihr die Toten bestattet und über ihrem Grabe geschossen habt. Das tut kein Ibn Arab und ist so tief ergreifend! Dazu kommt etwas, was ich euch doch sagen will, obgleich ich mir vorgenommen hatte, darüber zu schweigen. Als einer meiner Läufer beim Brunnen tief im Sande steckte, um euch zu beobachten, entfernten sich von dort vier Männer, die nahe an ihm vorübergingen. Er schlich ihnen nach. Sie stiegen auf einen Felsen. Der Münedschi ist bei ihnen gewesen. Er sprach lange Zeit mit lauter Stimme. Mein Späher hat zugehört und mir alles berichtet, auch das, was ihm zu schwer gewesen ist, es zu begreifen. Sein Bericht ist unvollständig›und wohl auch in vielem falsch gewesen; aber ich habe doch so manches davon tief in mein Herz geschlossen, wo es mir die Ahnung dessen brachte, was ich im Leben besitzen muß, um den Tod in Leben zu verwandeln. Wißt ihr, wer die andern drei gewesen sind?«
»Der Effendi, Khutub Agha und ich«, antwortete Halef.
»Könnte ich diese Reden von euch ausführlicher erfahren?«
»Ja. Wir sind sehr gern bereit dazu.«
»Ich danke dir schon jetzt!«
Er gab dem Hadschi die Hand und sprach dann weiter:
»Ich habe euch schon gesagt, daß der Münedschi still war, bis das Urteil an den vier Mördern vollzogen worden war. Gleich nach dem letzten Schusse aber stand er auf und sprach mit geschlossenen Augen längere Zeit so ernste und tiefsinnige Worte von dem Leben und dem Tode, von der Liebe und der Gerechtigkeit, daß wir alle so andächtig lauschten, wie ich in meinem ganzen Leben noch keinen Chatib zugehört habe. Es war, als ob der Engel, der durch ihn sprach, die Absicht hätte, alles aus meinem Herzen zu treiben, was sich gegen euch noch darinnen befand. Ich beschloß, auf den Kanz el A'da zu verzichten, auch auf eure Pferde und auf das Hedschihn, auf welche ich es noch mehr als auf den Schatz der Glieder' abgesehen hatte. Ich kann das, was in mir vorging, nicht beschreiben; ich weiß, daß dies kein Mensch zuwege gebracht hätte, und bin überzeugt, daß es der Einfluß dieses unsichtbaren Ben Nur gewesen ist. Es wuchs und wuchs, es wallte und wallte ein Gefühl, doch nein, kein Gefühl bloß, sondern eine Überzeugung in mir auf, daß ich euch bitten müsse, mich mit meinen Armen an euch festhalten zu dürfen, daß über mich und mein Leben von euch eine Kraft ausgehen würde, die mir segensreicher sei als der Schatz und die Tiere, welche ich euch hatte nehmen wollen. Und ganz sonderbarerweise gab es eine Stimme in mir, welche mir riet, euch zu zeigen, daß wir Krieger sind, weiche eure Achtung verdienen. Darum nahm ich mir vor, euch zum Scheine zu überfallen, und zwar so, daß ich euch überwältigte, ohne daß einem von euch ein Leid geschehen durfte. Das war freilich nur dadurch möglich, daß wir den gefährlichen Abstieg dort von der Sandwand herunter wagten. Es ist niemand von uns dabei verunglückt, und ihr werdet zugeben, daß auch das übrige gelungen ist. Den Ghani und den Münedschi ließen wir mit ihren Wächtern natürlich einstweilen in der Nähe zurück, und dort stehen auch unsere Kamele, auf denen wir hergeritten sind. Nun wird es hell. Wir werden aufbrechen können. Ihr reitet doch mit?«
»Das brauchst du gar nicht erst zu fragen«, antwortete Halef. »Du hast sehr recht daran getan, dir zunächst unsere Achtung zu erwerben. Sie ist euch geworden, und die Liebe ist auch schon unterwegs!«
»Das wünsche ich. Es gibt ein reiches Feld für sie wohl überall, vor allen Dingen aber hier in diesem vom Haß zerrissenen Lande. Allah will das Glück der Menschen; er bietet es ihnen an, schon seit es Menschen gibt; sie greifen aber nicht zu, es von ihm zu nehmen. Sie suchen es an Orten, die fern von seinen Wegen liegen!«
Ich verwunderte mich im stillen immer mehr über diesen seltenen Mann. Er war ein Suchender, und wer sucht, der findet; so lautet die Verheißung. Ich sah, da es nun heller wurde, sein Gesicht, nicht plötzlich, sondern nach und nach, um so deutlicher, je heller der Morgen wurde. »Das ist Petrus!« sagte ich mir. Und es war so! Je mehr es tagte, desto bestimmter trat seine Ähnlichkeit mit diesem Jünger, wie er auf dem bekannten Abendmahlsbilde von Leonardo da Vinci zu sehen ist, hervor. Ich hätte es ihm am liebsten sagen mögen, aber ich durfte dieses Bild ja gar nicht kennen!
Welch ein anderes, geradezu fürchterliches Gesicht war dagegen jetzt dasjenige des Ghani! Der »Liebling des Großscherif«! Er sah nichts weniger als wie ein Liebling aus. Seine aufgedunsene Physiognomie wirkte mehr als abstoßend; seine Augen waren mit Blut unterlaufen, seine Lippen blau. Er bot einen mehr tierischen als menschlichen Anblick dar. Sein Gewand war mit Blut getränkt. Und die Leiche auf seinem Rücken es war schrecklich!
Halef betrachtete ihn auch. Er sah es, und da brach er nach so langem Schweigen brüllend los:
»Hund, schau nicht her! Euch, euch habe ich dieses Elend zu verdanken, nur euch, euch allein! Ich verfluche euch, verfluche euch beim Himmel und der Hölle! Seid alle, alle verflucht, und – – –«
Doch still! Denn was nun noch folgte, kann unmöglich wiedergegeben werden. Als Halef annahm, daß er sich ausgetobt hatte, sagte er ihm:
»Schieb ja die Schuld nicht auf uns; du trägst sie ganz allein, wie du die Leiche deines Sohnes trägst. Der Effendi hat dir vorher gesagt, daß dein Gelächter sehr bald enden und sich in das Gegenteil verkehren wird. Nun ist es so eingetroffen. Die Last, welche auf dir liegt, hast du dir – – –«
Weiter konnte er nicht sprechen, denn er wurde von einem neuen Ausbruche des Ghani unterbrochen. Ich bat ihn, doch lieber zu schweigen, und er gab mir recht. Wir ließen diesen Auswurf den Beni Lam über und nahmen uns des Münedschi an, weicher von dem immerwährenden Hin und Herreiten so geschwächt war, daß er gar nicht mehr recht zu sich kam. Wir richteten ihm den Sitz im Sattel so bequem wie möglich her, banden ihn fest und ließen ihn dann, als wir aufgebrochen waren, zwischen uns reiten.
Es ging zu der schon öfters erwähnten Enge hinaus und nach der Stelle, wo sich die Kamele der Beni Lam befanden, hierauf setzte sich der Scheik derselben an die Spitze und führte den Zug hinaus auf die offene Sandwüste, wo wir nach der von uns schon zweimal gerittenen Linie einlenkten. Später ging es über den Serir, die Wüste des glatten Steines, bis wir die Wüste der Felseninseln durchritten, in welcher der Bir Hilu lag.
Noch ehe wir diesen ganz erreicht hatten, trafen wir auf einen ausgestellten Beni-Lam-Posten, welcher seinem Scheik meldete, daß sich nichts Neues ereignet habe und die Grube bereit zur Aufnahme der Leichen sei. Was für eine Grube und was für Leichen gemeint seien, das sahen wir zu unserem Grausen, als wir den Platz erreichten, auf welchem der Zweikampf zwischen uns und den Beni Khalid stattgefunden hatte.
Dieser Platz war von über dreihundert Beni Lam belebt, von denen, wie wir sahen, eine ziemliche Anzahl verwundet war. Sie empfingen uns still, was wohl eine Folge der Tätigkeit war, welche sie hier zu verrichten gehabt hatten. Nämlich der Felsen, welcher den Platz im Norden begrenzte, derselbe, den wir mit dem Münedschi erstiegen hatten, besaß eine nicht sehr breite, aber tief einschneidende Bucht, welche von dem Winde fast bis oben mit den leichtesten Teilen des Sandes, also mit Flugsand, vollgeweht worden war. Das hatten wir früher wohl gesehen, aber nicht zu beachten gehabt. Dieser Sand nun war herausgeschafft und vor dem Felsen für einstweilen aufgehäuft worden. Man hatte auch noch den Boden möglichst tief ausgeworfen, so daß eine ganz bedeutende Grube entstanden war, weiche an drei Seiten von den aufragenden Felswänden eingeschlossen wurde. Vor dieser Spalte, dieser Grube lagen die aus dem ganzen Umkreise, soweit der Kampf gewütet hatte, zusammengetragenen Leichen der Gefallenen. Die erschreckend große Zahl dieser Toten bewies, daß das Wort »gewütet« keine Übertreibung war. Nun erst erfuhren wir, wie es sich zugetragen hatte.
Als wir, vom Süden zurückkehrend, um dem Perser nachzureiten und ihn zu retten, am Brunnen vorübergewesen waren, hatten die Beni Lam den Platz besetzt und, hinter den Felsen Stellung nehmend, auf die Beni Khalid gewartet. Diese waren zwar ziemlich vorsichtig herangekommen, weil es doch in der Möglichkeit gelegen hatte, daß wir hiergeblieben waren, doch daß auch andere Feinde, und zwar in solcher Zahl, hier stecken könnten, dieser Gedanke war ihnen gar nicht in den Sinn gekommen. Sie hatten auf dem Brunnenplatze einen kurzen Halt gemacht, und da war es gewesen, wo von allen Seiten her die Schüsse ganz unerwartet gekracht hatten und die Beni Lam auf sie eingedrungen waren. Scheik Abd el Idrak hatte zu uns ganz richtig gesagt: »Nur kurze Zeit; in wenigen Minuten war es aus!« Ja, es war ausgewesen, und wie mochte es dann auch ausgesehen haben! Der Boden sah noch jetzt so rot vom Blut aus, daß es fast keine anders gefärbte Stelle gab. Jetzt lagen die erbeuteten Kamele da. Auch sahen wir einen ganzen Haufen ebenso erbeuteter Waffen und allerlei Gegenstände liegen, welche den Toten aus den Taschen genommen worden waren. Die nicht oder nur leicht verwundeten Beni Khalid waren schon nach kurzer, aber um so blutiger Gegenwehr in wilder Flucht davongejagt; viele hatten sich nur zu Fuß retten können! Voraussichtlich hatten nun lange, lange Jahre zu vergehen, ehe sie daran denken konnten, für diese Niederlage Rache zu nehmen.
Die Leichen zu zählen, das unternahmen wir gar nicht, denn schon der ,bloße Anblick tat ja wehe! Sie lagen in einem großen, weiten Halbkreise um die Felsengrube. Da, wo wir standen, sahen wir auch einen nur zu bekannten liegen, nämlich den speerwerfenden »Vater der Selbstverständlichkeit«. Er war »natürlich« auch mit gefallen; seine Armmuskeln hatten ihn nicht retten können.
Da zeigte Abd el Idrak nach der anderen Seite.
»Kennt ihr den?« fragte er.
Da sahen wir, sitzend aufgerichtet und mit dem Rücken an den Felsen gelehnt, den Scheik Tawil Ben Schahid! Er hatte mitten in sein schon von Halefs Peitsche gezeichnetes Gesicht einen Kolbenhieb bekommen, der ihn fast unkenntlich machte; den Tod aber hatte ihm eine Brustwunde gebracht. Er war während des Hauptkampfes nicht zugegen gewesen, sondern dann später ebenso abgefangen worden wie die vierzig Mann, die er in zwei Abteilungen zurückgeschickt hatte, um den Kanz el A'da für sich allein zu haben. Ohne diese Selbstsucht hätte er sich mit seinem Truppe vielleicht retten können.
»Das Grab, das Grab zwischen uns und ihm!« sagte Halef, indem er erst auf ihn und dann auf die Grube deutete. »Sind dir die Worte, welche er sagte, noch gegenwärtig, Effendi?«
»Ja«, antwortete ich.
»Wie lauteten sie doch?«
»Von diesem Augenblicke an gähnt zwischen uns ein Grab. Wen es aufzunehmen hat, mich oder euch, das mögen die entscheiden, bei denen ich geschworen habe – – – oder mag es auch die Liebe entscheiden, die eure angebetete Götzin ist. Ich habe nichts dagegen!«
»Ja, sie hat entschieden, und er kann nun freilich nichts dagegen haben! Ist es nicht sonderbar, daß uns jetzt solche Reden schon wiederholt ganz genau, fast wörtlich, in Erfüllung gegangen sind?!«
»Es ist das mehr als sonderbar. Es ist mir das einige Male mit meinen eigenen Worten passiert; es möchte mir fast vor mir selber grauen. Ich sage nichts mehr derartiges! Komm, wir wollen gehen. Dieser Anblick tut mir sogar körperlich wehe!«
Wir gingen nach dem Brunnen, wo man den Münedschi hingesetzt hatte. Er war nicht allein. Der Ghani befand sich bei ihm. Dieser war damit beschäftigt, drei Kamele zu tränken, nämlich das seinige, das des Blinden und auch dasjenige, welches die Leiche seines Sohnes hierhergetragen hatte; er war nur für die Nacht mit ihr zusammengebunden und dann früh, kurz bevor wir aufbrachen, von ihr befreit worden.
»Es scheint ganz so, als ob er den Toten mit sich nehmen will«, sagte Halef zu mir.
»Und den Münedschi wohl auch!«
»Dulden wir das?«
»Hm! Eigentlich gehört der Blinde nicht zu uns, sondern zu ihm.«
»Jetzt nicht mehr, denn der Ghani hat sich als ein Mensch erwiesen, dem so ein armer Mann unmöglich anvertraut bleiben darf. Bist du einverstanden, daß wir uns seiner annehmen?«
»Sehr gern sogar!«
»Gut; ich werde sofort mit dem Blinden sprechen!«
Dieser war grad jetzt bei voller Besinnung. Wir traten zu ihm und Halef fragte:
»Weißt du, o Münedschi, wo du bist?«
»Ja; mein Beschützer hat es mir gesagt.«
»Dein Beschützer? Hältst du ihn auch jetzt noch dafür?«
»Er wird es bleiben, so lange ich lebe. Ich weiß, daß unsere Gefährten erschossen worden sind; aber ich bleibe bei ihm und reite mit ihm heim nach Mekka.«
»Das ist dein Ernst?«
»Ja!«
»Bist du vollständig wach und munter?«
»Ich bin im Besitze meiner vollsten Selbständigkeit. Deiner Stimme nach bist du der Scheik Hadschi Halef?«
»Ja, der bin ich.«
»Wo ist der Effendi aus dem Wadi Draha?«
»Er steht hier neben mir.«
»So muß ich ihm ein Wort sagen! Effendi, ich weiß, daß ich dich verkannt habe und bitte dich um Verzeihung. Wirst du sie einem alten, blinden Manne versagen?«
»Nein. Ich habe dir überhaupt nicht gezürnt«, antwortete ich. »Das kann ich dir durch die Mitteilung beweisen, daß wir uns entschlossen haben, dich mit uns nach Mekka zu nehmen.«
»Ich danke euch für diese Güte, kann sie aber nicht annehmen.«
»Warum?«
»Weil ich bei dem Ghani, meinem Beschützer, bleibe.«
»Bei diesem – – –«
»Sag nichts weiter!« unterbrach er mich.
»Wenn du wüßtest, wie wehe du mir damit tust, würdest du ganz gewiß gern schweigen. Mein Herz hängt an ihm. Sei gut mit mir, und dränge nicht in mich, ihn zu verlassen!«
»Du bist also überzeugt, dich ihm auch ferner anvertrauen zu dürfen?«
»Vollständig! Wenn ihr mich mit Gewalt von ihm nehmen wolltet, müßte ich mich so nach ihm grämen, daß ich mein Unglück mehr als doppelt fühlen würde!«
»Wenn du so sprichst, dürfen wir nicht weiter in dich dringen. Wann will er fort?«
»Wenn die Kamele getrunken haben. Laßt uns nicht hungern; gebt uns Essen mit, und auch Tabak für mich!«
»Das sollst du haben. Wir reiten hinter euch drein, und ich denke, daß wir uns sehr bald wiedersehen. Wehe dann ihm, wenn wir erfahren, daß er dich leiden läßt!«
Während dieses Gespräches hatte der Ghani getan, als ob er sich gar nicht um uns bekümmerte. Jetzt drehte er sich nach uns um und rief uns mit einer Stimme, welche vor innerm Ingrimm heiser klang, zu:
»Ich rufe auch ein Wehe über euch, schon jetzt! Ja, du hast recht; wir sehen uns wieder. Aber dann – – – dann – – – dann – –«
Er fletschte die Zähne und schüttelte drohend die Fäuste. Wir erwiderten hierauf nichts und entfernten uns. Er rief uns noch nach:
»Drei Kamele kann ich bloß mitnehmen. Bezahlt mir die andern drei, ihr Hunde!«
Abd el Idrak stand in der Nähe. Er hörte das, zuckte die Achsel und meinte:
»Abu Kurban könnte ihm alle sechs nehmen, als Ersatz für die geraubten, die in El Kasab verkauft worden sind. Hört nicht mehr auf diesen Menschen!«
Wir befolgten diesen Rat, doch als ich nach einiger Zeit sah, daß der Blinde von seinem »Beschützer« auf das Kamel gesetzt und dort festgebunden wurde, ging ich doch noch einmal zu ihm, um ihm für voraussichtlich kurze Zeit Lebewohl zu sagen. Tabak und Proviant hatte ich ihm vorher geschickt. Sie
ritten miteinander und mit der Leiche auf dem dritten Kamele fort, ohne daß sich jemand um sie kümmerte, ausgenommen Halef, Hanneh, Kara und der Perser. Diese sahen ihnen noch nach, bis sie hinter dem nächsten Felsen verschwunden waren. Im stillen war mir um den Münedschi angst.
Die Toten wurden in die Grube, und dann, als diese voll war, noch immer weiter übereinander gelegt, bis sie alle waren und sich die Einbuchtung des Felsens von ihnen fast gefüllt hatte. Obenauf kamen die wenigen Gefallenen der Beni Lam zu liegen. Dann wurde der ausgeworfene Sand auf sie geschüttet, bis er eine hinreichende Decke über ihnen und an der offenen Seite herunter bildete. Dadurch wurde der Riß im Gestein so vollständig geschlossen, daß niemand außer dem Eingeweihten wissen konnte, was er enthielt. Der Scheik hatte vorher die Gebete des Todes gesprochen, und jetzt befahl er, daß fünfzig Krieger dreimal schießen sollten, ganz so, wie wir es über das Grab der Soldaten getan hatten. Dieser militärische Brauch hatte ihm imponiert.
Diese Bestattung hatte längere Zeit in Anspruch genommen, und dann gab es noch soviel zu verrichten, daß die Beni Lam gar nicht daran denken konnten, den Bir Hilu heute schon alle zu verlassen. Die Mehrzahl von ihnen mußte des Wassers wegen allerdings fort. Aus demselben Grunde hatten sie den Heimweg in verschiedenen Abteilungen über verschiedene Brunnen zu nehmen, um nicht Mangel leiden zu müssen. Der Scheik blieb bis zuletzt da, und da es bis zu unserm nächsten Ziele, der Ain Bahrid, eine ganze Tagesreise war und wir, auch schon der Spur des Ghani wegen, nicht des Nachts unterwegs sein wollten, so hatten wir uns entschlossen, diesen Weg erst morgen früh anzutreten.
Aber es kam anders, als wir uns vorgenommen hatten.
Da Abd el Idrak die Beschäftigungen seiner Leute nur überwachte und sich nicht auch daran beteiligte, so hatte er Zeit, bei uns zu sein, und das nützte er so reichlich aus, daß er sich fast keinen Augenblick von uns entfernte. Gesprächsstoffe waren überreich vorhanden. Am meisten natürlich wurde über sein und unser Zusammentreffen mit den Beni Khalid gesprochen, und das brachte uns wieder und immer wieder auf den Münedschi, auf Ben Nur und auf die von ihm oder, um ausführlicher zu sein, von ihnen erhaltenen Lehren zurück. Der Scheik gehörte zu den nicht sehr zahlreichen Menschen, denen die Religion Herzenssache, ja die wichtigste Sache ihres Lebens ist. Auch davon abgesehen, daß er sich zum Islam bekannte, war er noch nicht auf den eigentlichen Grund davon gekommen, warum es grad so sein muß und nicht anders sein soll oder doch sein sollte, und nun hatte er hier von Ben Nur einen so wichtigen Fingerzeig bekommen, der ihn auf diesen Grund aller Gründe, die Liebe, aufmerksam machte. Er hatte sogleich und mit Feuereifer zugegriffen und fühlte sich von der entdeckten Neuheit, die doch so uralt ist, weil sie von Anfang war, so begeistert, daß er hunderte von Fragen hatte, deren Beantwortung selbst für einen, der diesen Stoff beherrschte, eine Kunst zu nennen war. Diese seine Entzückung riß auch uns mit sich fort, und so fragten und antworteten wir uns immer mehr ineinander hinein, bis wir, als wir am späten Abend endlich doch aufhören mußten, bemerkten, daß wir uns herzlich liebgewonnen hatten. Nicht nur seine innern Vorzüge, auch sein Äußeres, sein Petrusgesicht, hatten es mir angetan. Er fühlte diesen Zug der Herzen ebenso wie wir und sagte, indem er glücklich lächelte:
»Es scheint ganz so zu sein, wie Hadschi Halef heut früh verkündigt hat: ,Die Achtung ist euch geworden, und die Liebe ist auch schon unterwegs!' Ja, die Liebe, sie hat sich wirklich eingefunden, wenigstens was mich betrifft! Ich möchte so gern weiter fortschreiten in ihr und bin so unbeholfen. Ich möchte sie gern so fest haben, daß sie mich nimmer wieder verlassen kann , ich möchte sie meinem ganzen Stamm verleihen und weiß doch nicht, wie ich das anzufangen habe; ich bin noch zu unerfahren und zu ungeschickt dazu. Ich brauche euch; ja, ja, ich brauche euch; ich muß euch noch haben, wenn auch nur für noch kurze Zeit! Und darum spreche ich die Bitte aus: Kommt für einige Tage mit uns! Seid unsere lieben, hochwillkommenen Gäste! Ich weiß, daß euch ein schnelles Nein auf den Lippen liegt; aber ich flehe euch an, es ja nicht auszusprechen! Ihr bringt Glück in unsere Zelte, und wer Glück spenden kann, der darf ja nicht unterlassen, es zu tun. Sagt also ja statt nein, ich bitte euch von Herzen!«
Wir sahen einander an, und während wir uns so anschauten, ließ jeder ein vergnügtes Lachen hören. Und in dieses Lachen hinein ertönte Hannehs Stimme:
»Wir nehmen die Einladung an; wir gehen mit, ich will die Frauenzelte der Beni Lam kennenlernen!«
Da war das große Wort ja schon gesprochen! Wir waren nicht abgeneigt, die Bitte des Scheikes zu erfüllen, und hätten es wahrscheinlich nach einigen Wiederholungen derselben getan, aber da es eine solche Fürsprache gab, lachte Halef noch lauter als vorher, sprang auf und rief:
»Oh, Hanneh, du Retterin aus der schwersten Not der Unentschlossenheit, gesegnet sei dein Wort! Nie schlage ich dir eine Bitte ab, auch diese nicht. Du sollst die Zelte kennenlernen, nach denen du dich sehnst!«
Da bat Abd el Idrak den Hadschi um die Erlaubnis, zu Hanneh gehen und ihre Hand küssen zu dürfen.
»Ja, küsse sie; sie hat's um dich verdient!« antwortete Halef. »Küsse ihr auch die andere! Und wenn du dann noch weiterküssen willst, so habe auch ich zwei Hände, und auch die andern haben jeder deren zwei! Dann legen wir uns schlafen, denn wenn wir mit dir ziehen, ist der Weg des morgenden Tages sehr weit, und wir müssen sehr früh zum Aufbruche fertig sein!«
So wendet sich der Weg des Menschen oft anders, als er denkt! Wir sollten später erfahren, daß dieser so rasch beschlossene Besuch bei den Beni Lam ein für uns nicht nur wichtiges, sondern, wie sich herausstellte, fast unvermeidliches Ereignis war. Und es kam noch etwas ganz Überraschendes dazu.
Nämlich, als wir am andern Morgen aufbrachen, schlugen wir natürlich nicht den Weg nach der Ain Bahrid ein, sondern den kürzesten, den es nach dem Gebiete der Beni Lam gab. Das war eine äußerst seiten von einem Wanderer benützte Richtung, wie uns der Scheik sagte, und darum wunderten wir uns, als wir um die Mittagszeit auf eine Spur trafen, welche quer über die unsrige ging und nach einer Gegend lief, wo es mehrere Tagereisen weit keinen Brunnen gab. Die Stapfen deuteten auf drei Kamele und auf die Zeit von gestern. Als wir eine Viertelstunde geritten waren, kehrte diese Spur zurück. Da blieb Abd el Idrak halten und sagte:
»Das ist auffällig! Wer so in die trockene Wüste reitet und so stracks wieder umkehrt, den kann nur ein ganz bestimmter Grund geführt haben. Und dieser Grund ist, daß es in der Einöde da einen verborgenen Brunnen gibt, den der, welcher ihn braucht, mit einem Fell und mit Sand bedeckt, damit ihn weiter niemand finde. So ein Wasser ist von größter Wichtigkeit, und ich schlage vor, wir reiten hin, um uns zu überzeugen. Weit fort von hier geht es ja nicht; das sieht man an den Spuren.«
Halef zeigte ein bedenkliches Gesicht; nach der Ursache gefragt, antwortete er:
»Mir will es nicht gefallen, daß es grad drei Kamele sind. Ich muß an den Ghani denken. Die Spur kommt aus der Gegend seines Weges. – Was sagst du dazu, Effendi?«
»Ich bin deiner Ansicht«, stimmte ich bei. »Wir folgen der Fährte und zwar schnell! Wer weiß, was er vorgehabt hat, wenn er es gewesen ist. Etwas Gutes jedenfalls nicht!«
Es ging nun also quer vom Wege ab, in die Wüste hinein, und zwar in viel schnellerem Tempo als bisher. Unsere Spannung wuchs, je weiter wir kamen. Es vergingen zwei Viertelstunden und auch fast noch die dritte; da sahen wir endlich einen Gegenstand, welcher mitten in der tiefsten Einsamkeit im Sande lag. Näher kommend, sahen wir, daß er sich bewegte, und als wir ihn erreichten, erscholl ein Schrei der Empörung aus alter Munde; es war ein Mensch; es war – – – der Blinde!
Er lag abseits von dem Ende der Fährte. Er war gebunden, und wir sahen, daß er sich in seiner Todesangst von ihr fortgewälzt und immer weitergewunden hatte bis hierher, wo er nun lag. Er hatte die Augen geschlossen, ein Zeichen, daß er in diesem Augenblicke geistesabwesend war. Seine Bewegungen, weiche wir gesehen hatten, schienen unwillkürlich gewesen zu sein. Jetzt lag er still.
Das war eine Tat von höchster Grausamkeit! Später erfuhren wir von ihm das Nähere. Der Ghani hatte ihn ausgefragt, wen er für den Dieb des Kanz el A'da hatte.
»Dich«, hatte er geantwortet. »Auch die Soldaten hast du mit gemordet. Aber ich bleibe trotzdem bei dir, denn du bist mein Wohltäter, den ich nicht verlassen darf.«
Das war am Brunnen geschehen, ehe ich mit Halef hinkam. Der Ghani sah also in dem Münedschi einen Zeugen seiner Verbrechen, der ihn in Mekka verraten konnte, und den er darum unschädlich zu machen beschloß. Für einen direkten Mord zu feig, beschloß er, ihn in der Wüste auszusetzen, und führte diesen gräßlichen Vorsatz, wie wir nun sahen, aus.
Wer hatte uns zu seiner Rettung hergeführt? Der Zufall? O nein! Oder der Weg, den wir ja doch zu reiten hatten? Auch nicht, denn der Scheik hatte über den Bir Nafad gewollt und erst gestern, als wir beschlossen, mit ihm zu gehen, sich für den heutigen, den kürzeren, wenn auch wasserlosen, entschlossen. Ich bin überzeugt, daß wir geführt worden waren!
Wir flößten dem beklagenswerten Manne Wasser ein, weiches ihn sichtlich erquickte, doch wachte er nicht dabei auf. Als wir ihn auf irgendwelche Verletzung untersuchten, fanden wir keine; er hatte einfach verschmachten sollen.
»In Mekka, in Mekka!« knirschte Halef. »Ghani, Ghani, für dich wäre es besser, du selbst wärest hier verhungert und verdurstet, als daß wir kommen, um dich in der heiligen Stadt in deinem Ruhm zu stören!«
In ganz derselben Weise sprachen sich auch die andern aus. Ich aber sagte nichts, gar nichts. Ich fühlte keinen solchen Zorn, keinen Grimm wie sie; ich fühlte nichts als eine tiefe, tiefe Traurigkeit. Auswurf der Menschheit und Gottes Ebenbild, welche Stufen gibt es zwischen dieser Tiefe und dieser Höhe! Welche von ihnen ist's, auf der wir selber stehen?
Der Blinde bekam das ruhigste Kamel und den besten Platz, den wir ihm schaffen konnten. Dann ritten wir zurück. Er bewegte sich nicht. Sein tief eingefallenes Gesicht war dasjenige eines Toten. Aber als wir die Stelle, an welcher wir abgebogen waren, erreichten und uns unserer ursprünglichen Richtung zukehrten, da hob er den Arm, deutete nach dort, wo wir ihn gefunden hatten und sagte in dem tiefen Tone Ben Nurs:
»Schaut noch einmal zurück, und merkt euch diese Stelle, denn ihr kommt wieder her, wenn abgerechnet wird! – – –«