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Grad als ich von meinem Gange zurückkehrte, kam auch Halef wieder. Als er mich sah, kam er auf mich zu und verhinderte mich dadurch, ganz bis zum Feuer zu gehen. Er schien mir also etwas mitteilen zu wollen, was für mich allein bestimmt war.
»Sihdi«, sagte er in geheimnisvollem Tone, »du hast mir zwar erlaubt, ganz allein und selbständig zu bestimmen, aber es liegt jetzt etwas vor, was ich doch nicht tun möchte, ohne dich vorher gefragt zu haben.«
»Was ist's?« erkundigte ich mich.
»Du kennst doch meine Hanneh, welche nicht nur die herrlichste unter allen Erdenblumen ist, sondern auch das klügste Köpfchen unter sämtlichen Köpfen aller Menschen hat. Das weißt du doch?«
»Allerdings.«
»Schön! Wenn du das noch nicht wüßtest, so würdest du es jetzt erfahren, erkennen, einsehen, zugeben und bestätigen müssen. In diesem ihrem gescheiten Köpfchen ist nämlich ein Plan entstanden, weicher der vortrefflichste Plan aller Pläne ist und mich geradezu begeistert hat. Du stehst so still da. Bist du nicht begierig, zu erfahren, was ich meine?«
»Ich bin still, weil ich es um so eher erfahre, je weniger ich selbst rede, sondern dich sprechen lasse.«
»Dieser Plan betrifft nämlich die gefangenen Soldaten. Wir haben uns von dem Versprechen, welches wir dem Scheik der Beni Khalid gaben, in jeder Beziehung unabhängig gemacht, nur aber nicht in Betreff dieser Soldaten, um deren Befreiung noch erst gekämpft werden muß. Dies wäre nicht nötig, wenn es uns gelänge, sie jetzt während der Nacht den Beni Khalid durch List zu entführen. Bist du nicht auch dieser Meinung?«
»Ich gebe dir recht. Ja, ich gestehe sogar, daß ich auch schon daran gedacht habe. Es gibt zwar eine sehr leichte Art und Weise, sie loszumachen, nämlich indem wir sie gegen den Häuptling umtauschen, worauf die Beni Khalid ja gezwungen wären, einzugehen; aber da er schon einmal umgetauscht worden ist, so kommt mir diese Manipulation keineswegs sehr geistreich vor, und ich –«
Da fiel er mir rasch in die Rede:
»Geistreich, geistreich! Ja, das ist das richtige Wort, Sihdi. Wir wollen und wir müssen geistreich sein, und ich sage dir, daß wir es gar nicht zu sein brauchen, weil Hanneh, die pfiffigste alter irdischen Pfiffigkeiten, schon geistreich für uns gewesen ist. Wir haben es gar nicht nötig, unsere hehren Seelenkräfte anzustrengen, weil diese doch immerhin belästigende Arbeit uns von dem herrlichsten Gegenstande meiner Liebe und Verehrung, welcher Hanneh heißt, abgenommen worden ist. Ich ging vorhin zu ihr, um ihr den Bericht zu erstatten, den ich als der Mann ihres Herzens ihr schuldig bin. So erfuhr sie, daß wir die Soldaten noch nicht freigemacht haben und also um sie kämpfen müssen. Sie ist mutig, tapfer, kühn und verwegen, sowohl im Frieden wie auch im Streite; sie weiß, daß wir uns nicht besiegen lassen würden, und hat also nicht eine Spur von Sorge oder gar Angst um uns; aber als kluge Frau ist sie doch der ganz richtigen Ansicht, daß man, wenn man die Wahl besitzt, ganz denselben Erfolg durch List oder durch Gewalt zu erreichen, der List den Vorzug geben soll. Und kaum hatte sie diesen Gedanken ausgesprochen, so war auch schon der Plan zur Ausführung in ihrem lieben Köpfchen fertig. Du wirst staunen, staunen, wenn du ihn erfährst!«
»Hoffentlich teilst du ihn mir noch im Verlaufe dieses Jahrhunderts mit?«
»Spotte nicht! Bist du nicht gespannt darauf?«
»Sehr!«
»Ich war es auch, außerordentlich sogar! Und ich sage dir: Als sie ihn mir klargelegt hatte, wußte ich, daß ein solcher Entwurf nur aus einem weiblichen Kopfe kommen könne, und zwar aus dem weiblichen Kopfe meiner Hanneh, deren Scharfsinn über alle andern Scharfsinnigkeiten hoch erhaben ist!«
»So bitte ich dich, mich an deinem Entzücken doch baldigst teilnehmen zu lassen!«
»Das sollst du auch, Effendi. Gestatte mir nur erst die Frage: Vor wem sind die Beni Khalid vorhin ausgerissen?«
»Vor dem Münedschi, weil sie ihn für ein Gespenst hielten.«
»Wie nun, wenn ihnen dieser Geist jetzt wieder erschiene, ganz plötzlich erschiene?«
»Hm!«
»Du Hmst dazu? Ich dachte, du würdest ganz entzückt davon sein!«
»Ist dies der Gedanke deiner Hanneh?«
»Ja. Wie findest du ihn?«
»Hm!«
»Hmse nicht, sondern sage es offen!«
»Er ist echt weiblich.«
»Nicht wahr? Echt weiblich! Großartig ausgedacht und ungemein praktisch. Der Erfolg kann gar nicht ausbleiben; sie reißen alle, alle aus!«
»Meinst du das wirklich?«
»Bloß meinen? Ich bin überzeugt, vollständig überzeugt davon. Also du stimmst bei. Es wird gemacht!«
»Langsam, langsam, lieber Halef! Wer hat gesagt, daß ich beistimme? Ich nicht!«
»Du hast das Gegenteil nicht getan und also beigestimmt. Wir werden darum den köstlichen Gedanken meiner Hanneh sofort zur Ausführung bringen!«
Schon hob er den Fuß, um fortzugehen; da hielt ich ihn fest und sagte:
»Nicht so schnell, Halef! Erlaube, daß ich deine Begeisterung ein wenig abkühle! Wie nun, wenn die Beni Khalid nicht ausreißen?«
»Sie reißen aus!« behauptete er. »Hanneh hat es gesagt, und folglich tun sie es! Ich weiß zwar, daß du ein vollständig nüchterner Mensch bist, aber so viel Phantasie besitzest du doch wohl, dir ausmalen zu können, welcher Schreck sie erfaßt, wenn der Geist plötzlich abermals bei ihnen erscheint, und zwar mitten unter ihnen und mit brennenden Fackeln in den Händen!«
»Mit Fackeln?«
»Ja, mit Fackeln, aus Lef und Katran gefertigt. Du weißt doch, daß wir welche mitgenommen haben, um unterwegs, wenn es nötig werden sollte, das Lager hell zu erleuchten!«
»Das weiß ich wohl! Also mit Fackeln soll er erscheinen, und ausreißen werden sie? Wenn sie nun da die Soldaten mitnehmen.«
»Mitnehmen? Fällt ihnen gar nicht ein! Ihr Schreck wird so groß sein, daß sie augenblicklich fortrennen, ohne sich um sie zu bekümmern.«
»Und dann?«
»Dann machen wir die Soldaten schnell frei und gehen mit ihnen fort, ehe die Beni Khalid zurückkehren.«
»Dazu brauchen wir sehr lange Zeit!«
»Nein; das geht sehr rasch!«
»Bedenke, daß wir doch auch die Waffen, die Kamele und alles, was den Soldaten gehört, haben müssen!«
»Das dauert trotzdem nicht lange, denn wir nehmen soviel Haddedihn mit, wie wir brauchen; die bleiben natürlich im Dunkel der Nacht, hinter dem Münedschi, bis der geeignete Augenblick gekommen ist.«
»Aber der Münedschi ist blind! Er kann nicht geführt werden, da sie zunächst nur ihn sehen dürfen!«
»Wir stellen ihn so, daß er nur geradeaus zu gehen hat. Das ist doch nicht schwer.«
»Wird er sich zu diesem Coup brauchen lassen?«
»Warum nicht? Wir sagen ihm, um was es sich handelt.«
»Das dürfen wir nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil wir noch nicht wissen, wie er sich von jetzt an zu den Mekkanern, ,seinen bisherigen Freunden, stellen wird. Hat er etwa alles gehört, was du Hanneh erzählt hast?«
»Nein, gar nichts, denn er befand sich wieder in seinem schlafähnlichen Zustande, aus welchem er infolge seiner Schwäche und Ermüdung nur zuweilen und für kurze Minuten kommt. In diesem Halbschlafe ist er, als er zu uns, beinahe an das Feuer, kam, plötzlich aufgesprungen und so schnell fortgelaufen, daß ihn Hanneh gar nicht hat hatten können, aber ebenso rasch wiedergekommen, um sich niederzusetzen und weiterzuschlafen. Er weiß also gar nicht, wo wir sind und was hier geschehen ist.«
»Wir wollen es ihm auch nicht sagen, um zu vermeiden, daß er im Gefühle seiner Zugehörigkeit zu den Mekkanern vielleicht etwas sagt und tut, was uns hinderlich ist. In seinem jetzigen Zustande ist er zur Ausführung von Hannehs Plan unmöglich zu verwenden.«
»So warten wir, bis er erwacht!«
»Womit willst du ihn dann dazu bringen, den fackeltragenden Geist zu spielen?«
»Sihdi, das laß nur Hannehs Sorge sein! Sie weiß jeder Sache einen Grund zu geben, und wenn dieser nicht ausreicht, sogar mehrere und viele Gründe, und wird also auch hier zur rechten Zeit den richtigen Gedanken finden; darauf kannst du dich verlassen! Und nun sag: Stimmst du endlich bei?«
»Noch nicht.«
»Aber warum nicht?«
»Weil mir die Sache vorkommt, als ob Kinder spielten; sie ist kindlich, sogar kindisch und nicht so tapferen Kriegern angemessen, wie unsere Haddedihn doch jedenfalls sind. Wir können unseren Zweck ja doch auf ganz andere, uns würdigere Weise erreichen.«
»Das gebe ich zu, Sihdi; aber diese andere Weise würde mir nicht gefallen, weil sie nicht der Klugheitstiefe meiner Hanneh entsprungen ist. Ich bitte dich, doch einmal in den Brunnen ihrer Gedanken hinabzusteigen! Sie hat einen so köstlichen Plan ersonnen, und nun soll er nicht ausgeführt werden! Daß du diesen Plan kindisch genannt hast, das darf sie nie im Leben erfahren, weil dies eine Kränkung für sie wäre, welche ihr Herz wohl gar, nicht überstehen könnte. Du mußt also schon um ihretwillen deine Genehmigung erteilen, ohne daß ich dich darauf aufmerksam zu machen brauche, daß nach deinem eigenen Willen jetzt ich allein zu bestimmen habe, was geschehen soll. Ja, das hast du gesagt! Und nun willst du dich meiner Anordnung doch nicht fügen! Ist das recht? Ist das gut und schön von dir?«
Da seine Appellation sich auf diese, seiner Meinung nach gewichtigen Gründe stützte, beeilte ich mich, zu antworten:
»Lieber Halef, ich bleibe zwar bei meiner Ansicht, will dich aber nicht hindern, den Versuch zu machen, ob der großartige Plan deiner guten Hanneh ausgeführt werden kann.«
»Ich danke dir, Sihdi! Wie wird sie sich freuen, wenn sie erfährt, daß du eingewilligt hast! Ich werde alles Nötige sogleich mit ihr besprechen und mich dann beeilen, es auszuführen.«
»Alles Nötige? Was verstehst du darunter?«
»Was? Das will ich eben mit ihr beraten.«
»Lieber Hadschi, der Plan ist ihrem Köpfchen entsprungen, die Ausführung desselben aber laß Männersache sein! Über das dabei Nötige ist unser Urteil wohl nicht weniger genügend als das ihrige. Ich werde natürlich auch mit dabei sein. Wir müssen zunächst vor allen Dingen wissen, wo die Beni Khalid sind und in welcher Weise sie sich gelagert haben. Ich gehe sofort, dies zu erforschen, und du wirst mich begleiten. Komm!«
»Jetzt gleich?« fragte er enttäuscht.
»Ja.«
»Du willst mithelfen?«
»Natürlich!«
»Aber, Effendi, es war uns ja eben darum zu tun, diese Sache ohne deinen Beistand auszuführen!«
»Das kann ich nicht zugeben. Du sollst zwar bestimmen, was zu geschehen hat, aber daß ich von der Erfüllung deiner Befehle ausgeschlossen sein soll, davon habe ich nichts gesagt. Der Streich, den du den Beni Khalid spielen willst, hat große Ähnlichkeit mit einem Knabenscherze, kann aber sehr ernste und beklagenswerte Folgen für uns haben. Wenn ich trotzdem darauf eingehe, so tue ich das nur unter der Voraussetzung, daß die Ausführung unter meinen Augen geschieht. Wenn du es nicht willst, so verzichten wir ganz darauf und tauschen die Soldaten gegen den Scheik aus. Jetzt entscheide!«
»Sihdi, du nimmst da meiner Hanneh die Butter von der Milch herunter, aber da ich einsehe, daß ich dich nicht anders zu stimmen vermag, so sollst du deinen Willen haben. Komm also jetzt; ich gehe mit!«
Er war jetzt unzufrieden mit mir, doch durfte mich das nicht beirren.
Glücklich zwar ist der Mensch, dem es gelungen ist, seinen kindlichen Sinn mit herüber in die ernsten Jahre zu retten, aber der Ernst soll sich ihm nicht unterzuordnen haben.
Wir gingen miteinander nach der Richtung, in weicher wir die Beni Khalid wußten. Ich nahm an, daß sie die Gegend gewählt hatten, wo ich sie gegen Abend ihre Fantasia hatte reiten sehen, und es stellte sich heraus, daß diese Vermutung richtig war. Sie hatten dort wohl noch Brennmaterial liegen gehabt, denn es brannten zwei Feuer, zwar nur klein und nicht heil leuchtend, aber sie genügten für uns doch, uns leichter zu orientieren, als wir es ohne sie gekonnt hätten.
Der Platz war von einigen Felsen flankiert, welche unsere unbemerkte Annäherung ermöglichten. Indem wir einen von ihnen als Deckung benutzten und von ihm aus unsere Beobachtungen machten, gewannen wir folgendes Resultat: Es war zwar nicht hell genug, die Beduinen einzeln unterscheiden und also zählen zu können, aber die Figuren ihrer Gruppen konnten wir erkennen. Gleich vor unserem Felsen lagerten die Kamele, deren Sättel und Gepäckstücke unweit davon mehrere wohlgeordnete Reihen bildeten. Eine besondere, kleine Abteilung von Kamelen war nicht zu sehen, woraus wir schlossen, daß die Tiere der Soldaten bei den andren untergebracht worden waren. Das mußte es uns leider fast unmöglich machen, sie so schnell, wie dies nötig war, herauszufinden. Links davon bildeten die an der Erde liegenden Beduinen zwei halbmondförmige Gruppen, deren Sichelspitzen gegeneinander gerichtet waren. Dadurch hatte sich zwischen ihnen ein freier, länglich schmaler Platz ergeben, an dessen Enden die Feuer brannten, während in der Mitte die Soldaten lagen, welche gefesselt zu sein schienen. Sehen konnten wir das nicht genau. Daß die Beduinen ihre Waffen bei sich hatten, verstand sich von selbst; aber wo sich diejenigen der »bezahlten Krieger des Sultans« befanden, das konnten wir nicht entdecken. Es stand mit ihnen also gerade so wie mit den betreffenden Kamelen: Bei der Schnelligkeit, mit welcher unser Streich auszuführen war, fehlte es uns wahrscheinlich an der nötigen Zeit, nach ihnen zu suchen und sie mitzunehmen. Als ich Halef diesen meinen Gedanken mitteilte, antwortete er:
»Ich finde keinen Grund, unseren Vorsatz nicht dennoch auszuführen. Die Hauptsache ist die Befreiung der Soldaten. Der Scheik der Beni Khalid pocht darauf, daß sie gefangen sind, und ich freue mich schon jetzt auf sein enttäuschtes Gesicht, welches er uns zeigen wird, wenn er sieht, daß sie im besten Wohlbefinden zu ihm kommen, um ihm den höflichen Besuch der hochachtungsvollen Zuneigung zu machen! Ihre Waffen und Kamele und was ihnen sonst noch alles gehört, das muß man ihnen später doch herausgeben, weil wir sonst den Scheik nicht freilassen würden. Ich bin vollständig überzeugt, daß du das einsiehst!«
»Und ich bin dir außerordentlich dankbar, daß du mir den nötigen Scharfsinn zutraust, der zu dieser Einsicht erforderlich ist!«
»Oh, bitte, bitte! Du machst mich stolz mit dieser deiner Dankbarkeit! Bleiben wir vielleicht noch länger hier?«
»Nein; wir sind fertig. Komm!«
Wir kehrten nach unserem Lagerplatz zurück und gingen da sogleich zu Hanneh hinüber, weiche mit Spannung auf das Ergebnis ihres Vorschlags gewartet hatte.
»Der Effendi ist einverstanden«, berichtete ihr Halef, »vollständig einverstanden! Er war ganz entzückt, als ich ihm den köstlichen Gedanken mitteilte, welche der fruchtbaren Tiefe deines geistigen Vermögens entsprossen ist. Wir sind sofort gegangen, um das Lager der Beni Khalid zu erspähen, und kehren, nachdem uns dies gelungen ist, zu dir zurück, um dich um weitere Erleuchtung zu ersuchen.«
Während er in dieser Weise meine widerstrebende Ansicht in eine begeistert zustimmende verwandelte, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den Münedschi, von dessen Verhalten das Gelingen unseres Planes abhing. Ich konnte hier in dieser Dunkelheit sein Gesicht nicht deutlich erkennen, aber seine im Sitzen gerade Haltung und die Art und Weise, wie er den Worten Halefs zuhörte, sagten mir, daß er wach und geistig munter sei. Dieses bestätigte sich durch die Worte, welche er, als Halef gesprochen hatte, an diesen richtete:
»Ich höre an deiner Stimme, daß du Hadschi Halef bist, der Scheik der Haddedihn, und ich habe erfahren, daß ich mich hier bei Hanneh, deinem Weibe, befinde. Mein Ohr sagt mir, daß jemand mit dir gekommen ist. Wer ist das?«
»Es ist Hadschi Akil Schatir, der Effendi aus dem Wadi Draha«, antwortete Halef.
»So nimm meinen Gruß, Hadschi Akil Schatir Effendi! Du hast Worte der Freundschaft, der Liebe und Barmherzigkeit mit mir gesprochen, bevor und nachdem ich Marrya, deinen Schutzengel, sah. Ihr seid gut und hilfreich zu mir gewesen, dem armen, verlassenen Blinden in der Wüste, und So werde ich tun, was ihr verlangt, und nicht nach dem Grunde dieses eures Wunsches fragen.«
»Welchen Wunsch meinst du?« erkundigte ich mich.
»Hanneh bat mich, in jede Hand eine brennende Fackel zu nehmen und langsamen Schrittes, ohne ein Wort zu sagen, vorwärts zu gehen. Sie versprach mir, daß ich die Ursache dieses Verlangens dann später erfahren werde; jetzt dürfe man es mir nicht mitteilen, weil sonst die dabei gehegte Absicht sehr leicht zu verfehlen sei. Ich tue nie etwas, ohne zu wissen, warum ich es tue; in diesem Falle aber will ich gegen diesen Grundsatz handeln, weil ich weiß, wie sehr ich euch zur Dankbarkeit verpflichtet bin.«
In diesen seinen Worten lag die indirekte Mitteilung, daß Hanneh in ihrem weiblichen Scharfsinne so vorsichtig gewesen war, ihm über die Vorgänge der letzten Stunden nichts mitzuteilen. Das war gut. Ebenso hätte es mich befriedigt, wenn sie das Verlangen, von welchem er sprach, noch nicht an ihn gestellt, sondern gewartet hätte, bis sie unseres Einverständnisses sicher gewesen wäre. Sie war um eine Erklärung ihres Wunsches verlegen gewesen, hatte keine gefunden und sich so allein auf seinen guten Willen verlassen müssen. Das war mir nicht lieb, konnte aber nun nicht geändert werden. Jetzt sagte sie zu mir:
»Du hörst, Effendi, daß ich alles wohl vorbereitet und eingeleitet habe, und da mir Halef sagt, daß auch ihr fertig seid, so brauchen wir mit dem Beginne wohl nicht länger zu warten.«
Indem ich mich nicht fragte, ob diese liebe Ungeduld des Ewig-Weiblichen etwa eine spezielle Eigenschaft nur der Orientalinnen sei, antwortete ich:
»Ja, wir können sofort die Probe machen, ob der Erfolg, den du erwartest, sich einstellen wird.«
»Ich zweifle nicht daran, Sihdi. Wir können also gehen?«
»Wir? Du meinst damit auch dich?«
»Ja. Der Plan ist von mir, und so möchte ich auch gern dabei sein, wenn meine Gedanken zur Wirklichkeit werden. Hast du etwas dagegen?«
»Eigentlich ja. Was wir vorhaben, ist nicht Frauensache. Aber ich will dich nicht um das Vergnügen bringen, auf weiches du dich freust, erwarte aber, daß du stets an meiner Seite bleibst!«
»Ich verspreche dir, dies zu tun!«
»So besorg die Fackeln, Halef! Zehn Haddedihn bleiben mit Kara Ben Halef hier, zur Bewachung derer, welche dort am Feuer liegen. Die anderen gehen mit uns; sie nehmen die Gewehre nicht mit, weit diese hinderlich sein würden, doch die Messer. Ich habe meinen Stutzen, welcher wohl genügen wird, etwaigen Andrang von uns fern zu halten. Ich mit dem Münedschi und du mit Hanneh, wir gehen voraus; die andern folgen hinter uns und tun nichts weiter als das, was wir ihnen sagen!«
Diese Weisungen gab ich deshalb, ohne die Mekkaner zu nennen, weil der Blinde noch nicht wissen durfte, daß sie sich, und gar als Gefangene, bei uns befanden. Kurze Zeit darauf waren wir unterwegs.
Halef führte seine Hanneh, ich den Münedschi am Arme; die Haddedihn folgten uns mit leisen Schritten. Es war ein eigentümliches Unternehmen; ich fühlte etwas wie Scham in mir. Die Anregung dazu hatte allerdings nur von einer Person kommen können, welche mit der Natur noch so direkt in Berührung stand, wie eben unsere Hanneh, und dabei doch so schlau berechnend war wie sie. Ihre Hoffnung stand auf dem Aberglauben der Beni Khalid, und da ich wußte, wie groß er bei den Beduinen im allgemeinen ist, so hatte ich keinen Grund, anzunehmen, daß er grad bei diesem Stamme kleiner sei.
Wir kamen, ohne von irgend etwas auf oder abgehalten zu werden, bei der Stelle an, von welcher aus ich vorhin mit Halef die Beduinen beobachtet hatte, und sahen, daß keine Veränderung inzwischen eingetreten war. Es bekam jeder seine Weisung in Betreff dessen, was von ihm gefordert wurde, und ich muß sagen, daß es unter den Haddedihn keinen gab, der die Sache als ernsthaft oder gar als gefährlich aufgenommen hätte, sie machte vielmehr ihnen allen Spaß. Sie stellten sich hinter uns im Dunkeln auf, den Augenblick erwartend, an welchem sie den Befehl zum Zuspringen erhalten würden. Vor ihnen stand der Münedschi, mit dem Gesichte nicht etwa ganz genau dahin, wohin er gehen sollte, sondern ein wenig nach rechts gerichtet. Warum das? Darum: Wer sich in einem wegelosen Wald verläuft und immer wieder an die Stelle kommt, von welcher er ausgegangen ist, der weiß wohl kaum, weshalb sein Weg einen Kreis bildete. Ganz dasselbe kann einem in der Wüste, in der Prärie, auf jeder pfadlosen Strecke begegnen, wenn die Sonne nicht scheint oder es keine Sterne gibt und man die Zeichen nicht kennt, aus denen die Himmelsrichtung zu ersehen ist. Die Kreislinie, welche man läuft, wird stets nach links gerichtet sein, und zwar deshalb, weil bei den meisten Menschen der Schritt des rechten Fußes oder Beines ein wenig länger als derjenige des linken ist. Dadurch wird der Körper mehr und mehr nach links gedreht, während man doch überzeugt ist, in schnurgerader Richtung zu gehen. Jeder Westmann, jeder Beduine, jeder mit der Wildnis vertraute Mensch weiß ganz gut, wie sehr schwer es ist, auch nur eine halbe Stunde lang einen genau linealen Weg zurückzulegen, wenn die natürlichen Richtungszeichen fehlen.
Der Münedschi sollte nach dem ersten Feuer der Beni Khalid gehen. Er war blind, und konnte es also nicht sehen. Folglich stellte ich ihn nicht front zum Feuer, sondern ein ganz wenig nach rechts gedreht. Die Folge zeigte dann, daß das ganz richtig gewesen war. Er behielt diese Stellung die kurze Zeit bei, während weicher ich mit Halef hinter den Felsen ging, um die beiden Fackeln anzuzünden, was sehr leicht und schnell geschah, weil sie oben ausgefasert waren. Sobald sie brannten, sprangen wir zu dem Münedschi zurück und gaben sie ihm mit der Weisung in die Hände, nun grad vorwärts zu gehen und sie schräg nach oben, damit kein Funke auf ihn fliege, weit von sich abzuhalten. Er tat das und setzte sich langsamen Schrittes in Bewegung.
Diese Übergabe der Fackeln war natürlich so rasch geschehen, daß der Vorgang vom Lager der Beni Khalid aus nicht anders als ein plötzliches Erscheinen zweier Lichter bemerkt werden konnte. Obgleich der Schein dieser beiden flackernden Flammen ein so beweglicher und darum ungewisser war, daß unsere Gestalten nicht von ihm fixiert werden konnten, waren wir doch so vorsichtig, uns niederzuducken, um die Möglichkeit, dennoch gesehen zu werden, gänzlich auszuschließen.
Zunächst hatte es den Anschein, als ob der Blinde viel zu weit nach rechts gehen werde, was Halef zu der besorgten Bemerkung veranlaßte:
»Sihdi, er wird zwischen den Leuten und den Kamelen hindurchgehen, und dies bringt uns um die Hälfte des Erfolges! Wenn alles so gelingen soll, wie wir wünschen, müssen die Beni Khalid ihn genau auf sich zukommen sehen, und dies ist leider nicht der Fall!«
»Diese Sorge ist unnötig«, antwortete ich. »Er wird sich allmählich nach links wenden. Paß nur auf!«
Und wie ich gesagt hatte, so geschah es: Die Linie, welche er ging, neigte sich, als ob unser Wunsch ihm Führer sei, nach und nach dem uns am nächsten liegenden Feuer der Beduinen zu. Ich hatte also ganz richtig gerechnet.
Was die Beni Khalid betrifft, so schienen ihnen die Flammen während der ersten Augenblicke des Brennens entgangen zu sein; aber noch hatte der Münedschi nicht zwanzig Schritte getan, so zeigte sich der Beginn der von uns erwarteten Wirkung. Wir hörten zunächst einige laute, aufmerksam machende Rufe und sahen dann, daß die Beduinen aufsprangen. Zwei so plötzlich in der Finsternis auftauchende Flammen! Was war das? Was hatte das zu bedeuten?! Sie mochten dabei wohl an uns, an die Mekkaner und ihren Scheik denken, aber aus welchem Grunde konnte es einem von den genannten Leuten einfallen, in dieser befremdenden Weise vom Brunnen hierher zu kommen! Sie standen still, erwartungsvoll und stumm. Je mehr der Blinde sich ihnen näherte, desto deutlicher wurde ihnen seine Gestalt. Seine hoch aufgerichtete Figur, seine langsamen, feierlichen Schritte verfehlten ihren Eindruck nicht. Sie wurden bestürzt. Sein ehrwürdiges Gesicht, sein langer, silberweiß glänzender Bart trat immer mehr hervor. Dazu seine wallende Kleidung, welche weit mehr als ein europäischer Anzug geeignet war, ihm ein geisterhaftes Aussehen zu verleihen, das bewegliche Flackern der Fackeln, deren düsterrot glühende Lichter mit hin und her huschenden Schatten wechselten, als ob er von tanzenden, springenden und schleichenden Dschinnen umgeben und begleitet werde – – -ihre Bestürzung wuchs und verwandelte sich in Furcht. Jetzt, jetzt erkannten sie sein Gesicht, und die Entscheidung, ob wir unsere Absicht erreichen würden oder nicht, war gekommen. Wenn sie ihre Angst bemeisterten und ihn festnahmen, hatten wir uns im höchsten Grade lächerlich gemacht und unsere Angelegenheit verschlimmert anstatt verbessert!
Aufrichtig gestanden, war ich beinahe überzeugt, daß wir einen Mißerfolg haben würden; nicht so aber die Haddedihn, welche vor Spannung kaum zu atmen wagten und bereit zum schnellen Vorwärtsspringen waren.
»Es gelingt, es gelingt vortrefflich!« raunte Halef seiner Hanneh und mir zu. »Sie haben solche Angst, daß es mir ist, als ob ich sie zittern sähe!«
»Ja, es gelingt!« stimmte sie bei. »Wie schön, daß ihr mich mitgenommen habt! Paßt auf! Nur noch einen Augenblick, so werden sie die Flucht ergreifen!«
Ich zweifelte noch immer; aber die »beste aller Frauen« sollte Recht bekommen; denn gerade jetzt ertönten von den Feuern her die Rufe:
»El Chajal, el Chajal – das Gespenst, das Gespenst! Allah beschütze uns! Reißt aus, reißt aus!«
Hierauf wurden alle vorhandenen Beine, die nicht gefesselt waren, so energisch in Bewegung gesetzt, daß wir nach nur einigen Sekunden keinen einzigen Ben Kahlid mehr sehen konnten. Nun schnellten die Haddedihn vorwärts, Halef an ihrer Spitze; ich folgte ihnen, allerdings etwas langsam. Hanneh sollte eigentlich stehenbleiben, war aber über das Gelingen ihres Planes so enthusiasmiert, daß sie, die gebotene weibliche Zurückhaltung ganz vergessend, sich auch in eilige Bewegung setzte, mir zurufend:
»Mach schnell, Effendi, mach schnell! Haltet den Münedschi auf, sonst läuft er grad in das Feuer hinein!«
Da diese Warnung nicht ganz unnötig war, folgte ich ihr und erreichte den Blinden so, daß er kaum noch zehn oder zwölf Schritte zu tun brauchte, um sein bis zur Erde herabreichendes Gewand in Flammen zu setzen. Als ich ihn angehalten hatte, war Hanneh auch schon da. Ich nahm ihm die Fackeln aus den Händen, übergab ihn ihr und bat sie:
»Führe ihn fort, dahin zurück, wo wir gestanden haben! Ihr dürft uns hier nicht im Wege sein!«
»Aber, Effendi, ich will doch zusehen!« entgegnete sie.
»Das ist unmöglich; das geht nicht so, wie du denkst! Schau, wie alle sich beeilen! Wir müssen schnell sein, denn wenn die Beni Kahlid sehen, was hier geschieht, so kehren sie zurück, und ihr beide könnt euch nicht so rasch entfernen, wie es notwendig ist. Fort, also, fort! Oder willst du uns zwingen, deinetwegen Blut zu vergießen?«
»Das nicht; nein; ich gehe schon!«
Sie nahm den Blinden bei der Hand und entfernte sich mit ihm. Ich hatte, während ich mit ihr sprach, die Fackeln, natürlich mit den Griffen nach unten, to daß sie weiterbrannten, in den Sand gesteckt und nahm den übergehängten vielschüssigen Stutzen vor, um die etwa zurückeilenden Beduinen durch ein ihnen unbegreifliches Schnellfeuer abzuschrecken; aber sie schienen so weit gelaufen zu sein, daß sie das, was jetzt hier vorging, wohl nicht genau sehen konnten.
Das erste, was unsere Haddedihn taten, war natürlich, die Soldaten zu befreien; diese sprangen, sobald sie nicht mehr gebunden waren, auf.
»Nun möchten wir eure Kamele haben«, sagte Halef zu ihnen; »die sind aber in der Dunkelheit nicht schnell genug herauszufinden!«
Es war ein Unteroffizier bei ihnen; dieser antwortete:
»Wir wissen, wo sie sind. Es ist die erste Reihe dort am Felsen. Die andern Reihen gehören den Beni Khalid.«
»Und eure Waffen?«
»Sie stecken mit allem, was man uns sonst noch abgenommen hat, in dem Felseneinschnitte am Brunnen, wohin wir gleich nach unserer Gefangennahme geschafft worden sind.«
Da erkundigte ich mich an Halefs Stelle:
»Seid ihr trotz der Dunkelheit imstande, diesen Ort zu finden?«
»Ja.«
»So nehmt jetzt schnell eure Kamele, und dann holt ihr auch diese Sachen! Hier sehe ich zwei Säcke mit Kameldünger zum Feuern liegen. Nehmt sie mit! Wir brauchen sie!«
Sie taten das und suchten dann ihre Kamele auf. Ich blieb mit Halef noch eine kleine Weile stehen, ohne daß sich ein zurückkehrender Ben Khalid sehen ließ; dann traten wir ihre Feuer aus, nahmen jeder eine der noch brennenden Fackeln und gingen zu Hanneh, weiche mit dem Münedschi wieder bei dem Felsen stand. Wir hatten nur ganz kurze Zeit zu warten, bis die Soldaten mit ihren Tieren bei uns waren. Der Unteroffizier mußte mir die Lage des Felseneinschnittes beschreiben, und da ich daraus entnahm, daß man vom Brunnen aus nicht dahin sehen konnte und uns also von dort aus niemand bemerken könne, brauchten wir die Fackeln nicht auszulöschen und zogen bei ihrem Scheine mit den Kamelen diesem Ziele zu.
Die Stelle lag auf der dem Brunnen entgegengesetzten Seite, nämlich nach Westen, er aber nach Osten. Ich sah, als wir dort ankamen, das Gestein auseinandertreten und eine ziemlich tiefe, aber nicht breite Kluft bilden, in weicher die Asaker mit den Fackeln verschwanden. Sie kamen bald mit ihren Sachen wieder, und ich wies sie an, sich an der Nordseite des Felsens zu lagern und zu warten, bis wir sie holen lassen würden, aber nach Süd und West je einen Posten aufzustellen, um, falls die Beni Khalid ja noch während der Nacht nachforschen sollten, vor einer Überraschung durch sie sicher zu sein. Ich wollte Tawil Ben Schahids wegen der Soldaten nicht gleich mit nach dem Brunnen nehmen, weil ich es für besser hielt, ihm ihre Befreiung jetzt noch zu verschweigen. Nach dieser Anordnung kehrten wir zu unserm Lager zurück, trennten uns aber vor demselben von Hanneh und dem Münedschi, welche im Dunkeln, und also von unseren Gefangenen ungesehen, nach ihrem Ruheplatz hinübergingen.
Der Perser war nicht mit uns gewesen. Er saß mit Kara Ben Halef beisammen und teilte uns mit, daß EI Ghani und Scheik Tawil sich während unserer Abwesenheit außerordentlich widerspenstig benommen hätten und er es für das Beste halte, ihre an Frechheit grenzende Zuversicht dadurch herunterzustimmen, daß wir uns jetzt gleich anschickten, in Beratung über die zu treffenden Strafen zu treten.
»Ja, das soll sofort geschehen«, sagte der kleine, schlagfertige Hadschi. »Je eher die Strafe kommt, desto länger wirkt sie, und je länger sie wirkt, desto inniger wird man mit ihr bekannt und desto mehr liebt man sie.«
Da fiel der Scheik der Beni Khalid schnell ein:
»Von einer Strafe kann bei mir nur in dem Sinne die Rede sein, daß ich euch bestrafe, aber nicht ihr mich!«
»Hast du schon vergessen, daß du jetzt nicht sprechen sollst?« wies Halef ihn zurecht. »Wenn du so herzlich wünschest, nicht bestraft zu werden, gut, so werden wir dir zu deinem Glücke nicht hinderlich sein, sondern dir diesen Wunsch sehr gern erfüllen. Du wirst also nicht bestraft, sondern belohnt werden, und zwar mit einer solchen Tracht von Prügeln, daß sie gar nicht auf einmal auf deine Haut zu bringen sind, sondern wir sie in mehrere Portionen teilen müssen! Und wenn du noch einmal redest, ohne um Erlaubnis zu fragen, so sorge ich dafür, daß dir diese Belohnung verdoppelt wird!«
Er schlug dabei in sehr energischer und bezeichnenderweise auf den Griff seiner Peitsche, und da hielt der Scheik es denn doch für geraten, still zu sein. Wir drei aber setzten uns zusammen, um die zwar sehr einfach scheinende, aber doch höchst schwierig zu erledigende Angelegenheit miteinander zu besprechen. Dies geschah selbstverständlich in der Weise, daß weder El Ghani noch der Scheik etwas davon hörten.
Darüber, daß der letztere straffrei ausgehen werde, waren wir gleich anfangs einig. Um so mehr Bedenken verursachte uns der erstere mit seinen Begleitern. Khutub Agha hatte sie nach Meschhed Ali bringen wollen, wo ihnen der Tod, und zwar kein gewöhnlicher, gewiß gewesen wäre. Das durften aber wir nicht zugeben, weil wir an unser dem Scheik gegebenes Versprechen gebunden waren. Er erklärte, daß er darauf verzichte, sie mitzunehmen, aber diesen Ort hier nicht eher verlassen werde, als bis die Beraubung des Heiligtums in der strengsten Weise an ihnen gerächt worden sei.
»Das ist ja eben das, was wir leider nicht zusammenbringen können«, klagte Halef. »Du verlangst die strengste Strafe, also eine Bestrafung am Leib oder gar am Leben, und das ist gegen dieses unser Versprechen. Hätte ich es doch nicht gegeben!«
»Beruhige dich, lieber Halef!« warf ich ein. »Dieser Fehler darf sich nicht über Einsamkeit beklagen; er befindet sich in guter Gesellschaft.«
»Soll das heißen, daß ich auch noch andere gemacht habe?«
»Ja.«
»Welchen zum Beispiel?«
»Als der Scheik der Beni Khalid zum erstenmal unser Gefangener war, hast du als Auslösung gegen ihn nur hier unsern Freund Khutub Agha verlangt; mir aber hätte er auch die Soldaten geben müssen.«
»Die haben wir nun auch!«
»Ja, nun! Das ist aber keine Entschuldigung! Doch lassen wir die Vorwürfe weg! Es handelt sich um eine strenge Bestrafung, aber am Leibe nicht und am Leben nicht. Etwa an Hab und Gut? Er hat ja nichts mit! An der Ehre? Er besitzt keine! Andere Strafarten, die ich vorschlagen könnte, erfordern Zeit, lange Zeit, und die steht uns nicht zu Gebote. Ich muß zu meiner Beschämung gestehen, daß ich keinen Rat weiß.«
»Ist das wahr, Sihdi?« fragte Halef schnell.
»Ja.«
»Du weißt keinen Rat, wirklich keinen?«
»Wirklich!«
»Allah! Allah! Mein Sihdi und Effendi weiß einmal keinen Rat! Jetzt können wir uns in die Teppiche des letzten Gebetes einnähen lassen, denn der letzte Tag bricht an!«
»Scherze nicht; mir ist die Sache ernst!« verwies ihn der Perser. »Wenn ich heimkehre, ohne die Diebe mitzubringen, so muß ich wenigstens sagen können, daß sie nach der Größe ihrer Missetat bestraft worden sind. Euer Versprechen macht mir dies aber unmöglich!«
»Zürne nicht!« bat Halef. »Es gibt bei jeder Verlegenheit einen Weg, ihr zu entgehen, also auch bei dieser. Es gehört zwar Klugheit dazu, aber glücklicherweise kenne ich den Ort, wo ich sie zu suchen habe. Was man im Selamitik nicht findet, das muß man im Harem suchen, und da mein Effendi keinen Rat weiß, werde ich zu Hanneh gehen!«
Er sprang so schnell auf, daß ich ihn nicht halten konnte, und eilte fort. Er war vollständig überzeugt, daß Hanneh helfen könne und auch helfen werde, und diese seine Überzeugung steckte mich an. Richtig! Als er schon nach kurzer Zeit zurückkehrte, nahm er seinen Sitz mit einem wonnevollen Lächeln wieder ein und sagte:
»Ich habe mich nicht geirrt, denn Hanneh, der schlaue Inbegriff sämtlicher Klugheiten, war augenblicklich mit einer Auskunft da.«
Er sah uns erwartungsvoll an, ob wir in Worte der Bewunderung ausbrechen würden, und als wir aber gar nichts sagten, fragte er mich:
»Willst du denn nicht wissen, was sie gesagt hat, Sihdi?«
»Jawohl will ich es wissen!«
»Du fragst mich aber doch nicht!«
»Gut, so frage ich dich jetzt. Welches Mittel hat sie geraten?«
»Ihr Mittel heißt Bastonade. Ist das nicht großartig?«
»Findest du es so?«
»Natürlich! Und du?«
»Nicht! Du kannst doch sicher sein, daß wir beide, nämlich Khutub Agha und ich, auch schon an die Bastonade gedacht haben!«
»Aber nicht in der richtigen Weise!«
»Wieso?«
»Ihr habt folgendermaßen gedacht: Die Mekkaner dürfen nicht an Leib und Leben gestraft werden; die Bastonade aber trifft den Leib und kann sogar, wenn der Hiebe zu viele fallen, tödlich wirken; folglich dürfen wir sie nicht in Anwendung bringen. Nicht wahr, so waren eure Gedanken?«
»Wenigstens die meinigen, ja.«
»Das ist aber falsch, vollständig falsch! Hanneh, die scharfsinnigste aller Frauen, macht das viel besser. Beantworte mir die Fragen, die ich an ihrer Stelle an dich richte! Wenn die Bastonade nicht tötet, ist sie da eine Strafe am Leben?«
»Nein.«
»Du ziehst die Pantoffel an die Füße; sind sie da eine Bekleidung für den Leib?«
»Eigentlich nicht.«
»Was eigentlich! Du kannst die Pantoffel nicht an den Leib ziehen und wirst sie auch nicht als Leibbinde anlegen. Sie gehören nur an die Füße. Weiter: Wohin bekommt man die Bastonade?«
»Auf die Fußsohlen.«
»Wird da der Leib bestraft?«
»Ja, denn die Füße sind ein Teil des Leibes.«
»Nein! Sie sind ein Teil des menschlichen Körpers, aber nicht des Leibes. Lautet aber unser Versprechen etwa so, daß die Mekkaner nicht an Körper und Leben bestraft werden sollen?«
»Nicht an Leib und Leben«, antwortete ich sehr ernsthaft, obgleich seine Art und Weise mich innerlich belustigte.
»Nun gut! Hanneh hat also vollständig recht, wenn sie sagt: Wenn ihr ihm die Bastonade in der Weise gebt, daß er nicht daran stirbt, so handelt ihr nicht gegen euer Versprechen, denn er bekommt sie nicht auf den Leib, sondern auf die Sohlen seiner Füße, welche zwar Teile des Körpers, aber nicht des Leibes sind. Nun, Effendi, was denkst du nun? Bewunderst du nicht die Folgerichtigkeit der unübertrefflichen weiblichen Gedanken, welche ich euch jetzt aus meinem Tachtirwan herübergeholt habe?«
»Ja, ich zolle ihnen meine Bewunderung.«
»Schön! Da aber Bewunderung zugleich Anerkennung bedeutet, so liegt in diesen Worten die Zustimmung, weiche wohl auch du, Khutub Agha, mir nicht verweigern wirst!«
Der Perser erteilte seine Einwilligung nur zu gern:
»Ich danke dir, Hadschi Halef, ich danke dir von ganzem Herzen! Erst schien es, als ob diese verruchten Diebe sich hohnlächelnd hinter eurem Versprechen verbergen könnten, und ich hatte schon den stillen Entschluß gefaßt, sie auf meine eigene Faust zu bestrafen, was mir niemand verbieten kann, weil ich mich durch kein Versprechen verpflichtet habe, ihnen nichts zu tun. Um so mehr freut es mich, daß die Blume deines Herzens uns diese schöne und hochwillkommene Erleuchtung gespendet hat, und es kann mir
gar nicht in den Sinn kommen, mit meiner Einwilligung auch nur einen Augenblick zu zögern. Diese diebischen Schänder des Heiligtums sind um sostrafbarer, als sie ihr Verbrechen als unsere Gäste und Abgesandte des Großscherifs begangen haben, und es versteht sich darum ganz von selbst, daß wir uns nicht etwa für einen milden Grad der Bastonade entscheiden!«
»Das fällt uns nicht ein!« stimmte Halef sehr gern bei. »So viel wie möglich, das ist der Grundsatz, weicher uns zu leiten hat, wenn wir die Zahl der Hiebe bestimmen.«
»Ganz recht; so viel wie möglich! Die meisten aber hat der Ghani zu bekommen, weil er der Urheber des Verbrechens und zugleich der boshafteste von ihnen allen ist. Da wir über diesen Punkt unter uns wohl sehr einig sind, bitte ich dich, Hadschi Halef, mir zu sagen, welches Quantum du für jeden einzelnen bestimmst.«
»Einzeln? Hm! Am liebsten wäre es mir, wenn jeder einzelne die ganze Summe bekäme, weil da jeder das, was er zuviel erhalten hat, den andern zurückgeben könnte, was eine unaufhörliche Bastonade zur Folge hätte. Die Bestimmung, weiche du von mir verlangst, ist schwer zu treffen. Möglichst viel, aber keiner darf daran sterben! Ich schlage also zunächst eine Probebastonade vor, durch welche wir erfahren, wieviel Hiebe jeder von ihnen aushalten kann. Wenn wir das dann wissen, ist die Zahl der Schläge leichter zu bestimmen.«
»Das ist wohl wahr«, lächelte der Perser. »Leider aber würde dieser Versuch uns um die eigentliche Vollstreckung bringen, weil wir zu lange auf die Heilung der Sohle warten müßten, und dazu haben wir ja keine Zeit!«
»So nehmen wir die Probe gleich als Vollziehung und beschäftigen uns mit jedem Paar der Sohlen so lange mit hingebender Aufmerksamkeit, bis wir sehen, daß seine Zufriedenheit den höchsten Grad erreicht hat.«
»Das ist das einzig Richtige; ich stimme bei!«
»Ich natürlich auch, da es doch mein eigener Vorschlag ist! Und du, Sihdi? Was sagst du dazu?«
»Ich gebe auch meine Einwilligung«, antwortete ich, da dieses Urteil mir ein Einschreiten immer offenließ.
»Ich danke dir!« nickte mir der Hadschi freundlich zu. »Schon dachte ich, du würdest in deiner bekannten, nur allzuoft geübten Milde deine Stimmt gegen diesen unsern ebenso gerechten wie weisen Beschluß erheben. Wir sind also einig, und nun fragt es sich nur noch, wann die Bestrafung vorgenommen werden soll. Ich stimme für jetzt gleich.«
»Ich auch«, erklärte der Basch Nazyr.
»Ich nicht«, sagte ich.
»Warum nicht?« fragte Halef.
»Weil jetzt der nötige Effekt fehlen würde. Ein Exempel muß am hellen Tage und vor den Augen sämtlicher Krieger der Beni Khalid statuiert werden.«
»Das ist richtig, ganz richtig, außerordentlich richtig!« belobte mich der Hadschi, ohne sich zu sagen, daß mich ein heimlicher Grund zu diesem Vorschlage veranlaßt haben könne. »Jetzt bist du so, genau so, wie ich mir meinen Effendi immer wünsche! Du bist zu meinem größten Leidwesen so oft der Meinung gewesen, daß man das Ebenbild Gottes' nicht durch Prügel schänden und beleidigen dürfe; ich aber sage dir, daß für einen Menschen, der sich dieses Ebenbildes entäußert hat, grad nur die Prügel die allein richtige Bestrafung bildet. Der Verbrecher ist und bleibt im allgemeinen ein Mensch, und so soll die Strafe menschlich sein; aber wenn zu seiner Tat sich noch besondere Unmenschlichkeiten gesellen, so ist der Stock die allein richtige Antwort darauf. Es kommt auch auf die Art und Weise an, in welcher gegen das Gesetz gehandelt wird, und ich bin überzeugt, daß viele, viele Roheiten, Frechheiten und Schamlosigkeiten unterbleiben würden, wenn die Betreffenden überzeugt wären, daß darauf die Prügel die unbedingte und unvermeidliche Folge sei. Ja, wir warten bis früh, weil da das den Mekkanern gereichte Gericht durch die vielen auf sie gerichteten Augen die verschönernde und verfeinernde Würze bekommt. Aber dagegen wirst du doch nichts haben, daß ich ihnen schon jetzt mitteile, wie freundlich wir für ihre Morgenunterhaltung sorgen werden? Ich setze sie durch diese zarte Rücksicht in den Stand, die lieblichen Wohlgeschmäcke der Bastonade schon jetzt in Gedanken mit Wonne vorauszugenießen!«
»Das magst du tun; ich will dich gar nicht hindern.«
»Da erhob er sich von seinem Sitze, was mir die Überzeugung gab, daß er beabsichtigte, seine Mitteilung in eine schöne, rhetorisch tadellose Form zu kleiden. Das war ja seine geliebte Spezialität. Sich an die Mekkaner wendend«, sprach er mit lauter Stimme, um auch von Hanneh drüben gehört und verstanden zu werden:
»Ihr habt den aus drei erlauchten Richtern bestehenden Ars odassi es Sahra jetzt hier vor euch versammelt gesehen. Diese edlen und erhabenen Rechtsgelehrten, vor denen es kein Ansehen der Personen und keinen nachträglichen Justizmord gibt, sind mit den Augen ihres Geistes und den Blicken ihres Scharfsinnes in die moralischen Tiefen des von euch begangenen Diebstahles eingedrungen. Sie haben die Vervorfenheit eurer Herzen, die Verwahrlosung eurer Seelen, die Unzulässigkeit eurer Absichten und die große Strafbarkeit der Ausführung so vollständig durchschaut und so vollkommen erkannt, daß eure Schuld in ihrem ganzen, zur Rache fordernden Umfange vor ihnen liegt. Da jede Schuld, also auch die eurige, gesühnt werden muß und dieser Gerichtshof dazu berufen ist, nicht nur die Art und Weise sondern auch die Höhe der durch euer Verbrechen herausgeforderten Strafe erst zu bestimmen und dann an euch vollziehen zu lassen, so neige ich mich in Freundlichkeit zu euch nieder, um euch den von uns gefällten Urteilsspruch zunächst vor die Füße und dann euch in die Herzen zu legen. Wir haben nämlich beschlossen, euch das Andenken an die Beraubung des Kanz el A'da so tief und unauslöschlich auf die Fußsohlen zu zeichnen, daß ihr euch nie darüber beklagen könnt, für euer späteres Dasein keine liebe Erinnerung daran von uns mitbekommen zu haben. Da diese Eingrabung der Denkzeichen bei Beginn des Morgens und im Beisein sämtlicher Krieger der Beni Khalid von unserer Seite gewiß mit dem größten Nachdrucke vorgenommen wird, so sind wir überzeugt, daß ihr sie dann von eurer Seite mit derjenigen Tiefe des Verständnisses und des Gefühles entgegennehmen werdet, welche unbedingt nötig ist, wenn unser dabei gehegter Wunsch in Erfüllung gehen soll, auch später in der Ferne mit euch und euern Gedanken in steter und ununterbrochen schöner geistiger Beziehung zu bleiben!«
Hierauf machte er ihnen eine liebenswürdige Verbeugung und setzte sich dann wieder nieder, vollständig überzeugt, daß er seine Sache gar nicht besser hätte machen können.
Die Mekkaner waren zunächst still; sie hatten den Eindruck des Gehörten erst zu überwinden. Nicht so aber der Scheik der Beni Khalid, welcher, ohne zu berücksichtigen, daß er in unsern Händen war, zornig aufbrauste:
»Was fällt euch ein! Ist etwa der Diebstahl, der euch nur als Vorwand zur Bereicherung dient, schon erwiesen? Und wäre dies der Fall, so seid ihr doch am allerwenigsten die Leute, welche das Recht besitzen, darüber abzuurteilen! Auch habt ihr euer Wort gegeben, daß meinen Gastfreunden, weiche unter meinem Schutze stehen, nichts an Leib und Leben geschehen soll, und wer sein Versprechen nicht hält, der ist ein Schurke. Die Bastonade ist auf alle Fälle unmöglich!«
Da antwortete Halef:
»Ich habe euch zwar verboten, unaufgefordert zu sprechen, will aber in gnädiger Nachsicht meine Peitsche jetzt noch stecken lassen. Wenn du von Schurken redest, so findest du sie nicht bei uns. Wir halten unser Wort, und zwar ganz genau so, wie es gelautet hat. Mehr kannst und darfst du nicht verlangen. Die Bastonade kommt auf die Fußsohle und wird nicht tödlich sein, hat also mit Leib und Leben nichts zu tun.«
»Das ist Lüge! Der Fuß gehört zum Leibe!«
»Wenn dein Leib Sohlen hat, so ist das eine Ausnahme, welche ich ganz gern achte; du wirst also die Bastonade nicht bekommen. Die Mekkaner aber werden wir sehr genau untersuchen. Finden wir, daß sie so wie gewöhnliche Menschen gebaut sind und die Sohlen also nicht am Leibe, sondern an den Füßen haben, so sind sie der ihnen bestimmten Strafe unbedingt verfallen!«
»Das sind Spitzfindigkeiten, die ich mir verbitten muß! Ich mache dich darauf aufmerksam, daß ich die Macht besitze, meine Gäste in Schutz zu nehmen!«
»Wieso?«
»Denke an meine Krieger!«
»Sehr gern! Grad jetzt denke ich an sie, nämlich daß sie gegen uns machtlos sind, weil wir dich als Geisel haben!«
»Und an die Soldaten! Ich lasse sie alle erschießen, sobald nur ein einziger meiner Gastfreunde Hiebe bekommt!«
Da bog sich Halef zu einem der in der Nähe sitzenden Haddedihn und gab ihm einen leisen Befehl. Da Halef mein Nachbar war, so hörte ich die Worte; der Mann sollte die Soldaten holen, weiche dann hier bei uns zu bleiben hatten. Zu gleicher Zeit sah ich einen der aufgestellten Posten kommen. Er meldete, daß ein Ben Khalid gekommen sei, um seinem Scheike eine wichtige Nachricht zu bringen. Er sprach vorsichtigerweise mit so unterdrückter Stimme, daß kein dazu Unberufener seine Worte hörte, Der Hadschi erteilte ihm die ebenso heimliche Weisung:
»Sag dem Ben Khalid, sein Scheik sei zornig darüber gewesen, daß er gestört werden solle; er wünsche, bis morgen früh in Ruhe gelassen zu werden; es sei hier alles in Ordnung, und der Bote möge also wieder gehen.«
Der Haddedihn entfernte sich. Inzwischen war den Mekkanern nun auch die Sprache gekommen. Sie wagten es, Halefs Peitsche wegen, zwar nicht, ihre Interjektionen direkt gegen uns zu richten, sondern warfen sie Scheik Tawil zu, aber bestimmt waren diese Worte doch, von uns gehört zu werden. Da plötzlich wurden sie still; sie richteten ihre Blicke nach der westlichen Felsenecke, um welche jetzt der fortgeschickte Haddedihn mit den Soldaten kam. Jeder von diesen hatte das Gewehr geschultert und führte sein Kamel an der Leine.
Jetzt war es köstlich, das Gesicht unseres kleinen Hadschi zu sehen, welcher mit kaum verhaltener Wonne den Eindruck beobachtete, den das Erscheinen der Asaker auf den Ben Khalid und die Mekkaner machte. Diese waren still, ganz still, und folgten mit vor Überraschung weit geöffneten Augen den Soldaten, welche nach der Stelle gingen, die ihnen als die ihrige zum Lagern angedeutet wurde.
»Nun?« fragte Halef endlich den Scheik. »Du wolltest sie doch erschießen. Da sind sie. Tue es!«
Da schrie ihn dieser im höchsten Grimme an:
»Jil'an daknak – verflucht sei dein Bart! Du bist ein Betrüger von innen und von außen. Ich mag mit dir nichts mehr zu schaffen haben!«
Wer die Vorliebe Halefs für seinen an Haaren allerdings sehr armen Bart kennt, der kann sich denken, wie sehr er sich durch diesen Zuruf beleidigt fühlte. Er riß seine Peitsche heraus, strich mit ihr pfeifend durch die Luft und antwortete zornig:
»Das glaube ich, daß du nichts mehr mit mir zu schaffen haben willst, denn du mußt nun trotz deiner bergeshohen Dummheit doch einsehen, daß du das Spiel jetzt ganz verloren hast. Was aber meinen Bart betrifft, so hat ihn mir noch niemand schänden dürfen; den deinigen jedoch werde ich bei deinem nächsten schmutzigen Worte dir mit der Kurbadsch so aus dem Gesichte holen, daß auch kein einziges Haar dort sitzenbleibt! Wir sind mit euch vollständig fertig bis zum Morgen. Ihr laßt kein Wort mehr vernehmen, sonst rede ich in der Sprache zu euch, die man nicht nur klatschen hört, sondern auch mit dem Verstande und mit der Haut zu gleicher Zeit versteht! Versucht jetzt zu schlafen! Nach dem Erwachen winkt euch der Morgengruß der Bastonade!«
Diese an die Gefangenen gerichteten Worte konnten wir auch auf uns beziehen, da es nun wirklich Zeit zum Schlafen war. Da galt es freilich, uns gegen die Beni Khalid sicherzustellen, und darum gab Halef in Beziehung auf den Wachtdienst, an welchem sich auch die Soldaten zu beteiligen hatten, so umfassende Befehle, daß wir eine Überrumpelung nicht zu befürchten hatten. Feuermaterial war, wenn sparsam damit umgegangen wurde, zur Genüge vorhanden, um wenigstens einigermaßen Licht zu haben beim Tränken der Kamele, welches, allerdings in Pausen für das Ansammeln des Wassers, während der ganzen Nacht fortgesetzt werden mußte.
Wir drei, Halef, Kara und ich, wollten nicht am Feuer bleiben, sondern wir holten unsere Pferde und führten sie zum Tachtirwan hinüber, um zum Schutze für Hanneh und den Münedschi uns dort niederzulegen. Der Perser kam uns nach, und wir hatten natürlich nichts dagegen, daß er bei uns blieb.
Selbstverständlich wurde das heutige Erlebnis erst noch gründlich durchgesprochen. Der Befriedigtste von uns allen war Khutub Agha. Noch vor kurzer Zeit ein Gefangener und mit geöffneten Adern dem Tode geweiht, war er jetzt frei, befand sich im Besitze der geraubten Gegenstände und hatte die Gewißheit, die Diebe streng bestraft zu sehen. Das Paket lag natürlich bei ihm, denn es wäre ihm nicht eingefallen, sich nur einen Augenblick davon zu trennen.
Zu erwähnen brauche ich wohl nicht, daß Hanneh teils ihres Planes, teils auch ihrer Bastonadenentscheidung wegen von Halef mit den wohlklingendsten Zensuren bedacht wurde. Sie nahm sie als ganz selbstverständlich, weil wohlverdient, entgegen und zog sich dann befriedigt hinter die Vorhänge ihrer Sänfte zurück. Der Münedschi saß mit dem Rücken an den Felsen gelehnt und schlief. Für die Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse hatte Hanneh während des Abends gern gesorgt. Speise war von ihm nur wenig, Wasser aber öfters genommen worden. Dann hatte er, den Fackelgang zu den Beni Khalid abgerechnet, die ganze Zeit in seinem eigentümlichen traumwachen Zustande und dabei fast immer rauchend, zugebracht. Wie uns Hanneh am nächsten Tage berichtete, war es für sie nicht bequem gewesen, ihm so oft Feuer zu geben. Tabak und Kibritat hatte sie allerdings für ihn genug gehabt; aber da das Aufleuchten der Hölzer nicht zu uns hinüberscheinen durfte, war sie gezwungen gewesen, das Anbrennen hinter der Sänfte vorzunehmen und da die ersten Züge immer selbst zu tun. Auf die Gefahr hin, indiskret zu erscheinen, will ich die hochverräterische Bemerkung machen, daß die Beduininnen im Anzünden eines Tschibuk nicht ganz unbewandert sind und man von Hanneh in keiner Beziehung sagen konnte, sie stehe ihren Stammesgenossinnen nach. Alt, sehr alt und ganz durchsogen freilich war die Pfeife des Blinden, doch weiß ein von Mitleid erfülltes Frauenherz selbst solche, sagen wir einmal, Malpropretäten zu überwinden.
Wie gewöhnlich vor dem Schlafengehen liebkoste ich meinen lieben Rappen, sagte ihm die gewohnte Sure ins Ohr und hüllte mich dann in den Haik, um einzuschlafen. Es sollte dieser Absicht jetzt noch nicht gelingen, von Erfolg zu sein, denn als der wohlbekannte und vielbesungene Effendi Morpheus eben um den Tachtirwan geschlichen kam, um mir die Augen zuzudrücken, begann der Münedschi sich zu regen, wobei er in eigentümlicher Weise vor sich hinsprach, ungefähr so – es gibt keinen besseren Vergleich wie man die Stimme eines träumenden Vogels hört. Diesen leisen, abgerissenen Lauten folgten die lauteren, besser zusammenhängenden Worte:
»Er ist da – – – ? Ja, ich gehorche dir – – – ich sage es ihm – ich gehe mit ihm – – – führe mich nur !«
Er rückte von dem Felsen ab, bewegte den Kopf wie suchend nach beiden Seiten und fragte:
»Ist Akil Schatir Effendi da?«
»Ja, hier liege ich«, antwortete ich.
»Du liegst? Willst du jetzt schlafen?«
»Ja.«
»Laß deine Seele jetzt nicht schlafen, sondern wach sein! Steigt ein Strahl des Himmels nieder, muß er dich gerüstet finden, ihm dein Inneres zu öffnen und ihn dankbar aufzunehmen!«
»Wie klang das? Das war gebundene Rede! Es war seine Stimme und schien doch nicht die seinige zu sein!«
»Steh auf«, fuhr er fort, »und hilf auch mir empor! Ich soll dich führen.«
»Wohin?« fragte ich, indem ich den Hai von mir warf und mich erhob.
»Das weiß ich nicht; frage nicht; du wirst es sehen!«
Ich gab ihm die Hand und richtete ihn auf.
»Komm, folge mir!«
Indem er diese Aufforderung aussprach, ließ er meine Hand wieder los und verließ den Platz, und zwar nicht mit seinen gewöhnlichen suchenden, sondern mit zwar leisen aber dabei festen, sicheren Schritten. Die andern waren auch wieder munter; sie standen auf.
»Sihdi, darf ich mit?« fragte Halef leise.
»Ja.«
»Kara auch?«
»Nein.«
»Aber ich?« fragte der Perser.
»Ich weiß es nicht; es ist so sonderbar; aber kommt ihr beide mit! Kara muß bei der Mutter bleiben.«
Der Münedschi ging uns voran, ohne daß ihn jemand führte, stracks von dem Platze fort und in die Wüste hinaus. Seine Haltung war aufrecht, jeder seiner Schritte gewiß und bestimmt, als ob es einen gebahnten, von Schranken eingefaßten Pfad gelte. Es war ganz so, als ob es nicht dunkle Nacht, sondern heller Tag und als ob er nicht blind, sondern sehend sei. Wir folgten ihm mit Staunen.
So ging es weiter und weiter in ungefähr nördlicher Richtung, grad auf die nächste Felseninsel zu, welche im leisen Scheine der Sterne tiefdunkel vor uns lag. Er wich ihr nicht aus und blieb auch nicht hatten, sondern stieg die Steilung langsam aber so sicher empor, wie ich, der Sehende, es wohl am hellen Tage auch nicht sicherer hätte tun können. Dabei brauchte er zum Balancieren nur die eine Hand; die andere hielt er unausgesetzt so, als ob jemand, den wir nicht sahen, neben ihm hergehe, und ihn an dieser Hand gefaßt halte, um ihn zu führen. Bei hohen Schritten schien es sogar so, als ob er gezogen werde. Das konnte ich deutlich sehen, weil ich mich gleich hinter ihm befand. Halef und der Perser folgten mir. Das Überraschendste war, daß wir drei in der Dunkelheit öfters strauchelten, der Blinde aber nicht. Es führte nicht etwa ein Weg, auch nichts dem Ähnliches, hinauf, denn wohl noch nie hatte der Fuß eines Menschen diese hohe Felsengruppe berührt. Es gab Stellen, an denen ich die Hände zu Hilfe nehmen und mich festhalten mußte, ebenso meine beiden Begleiter; der Münedschi tat es nicht. Es war mir unbegreiflich!
Oben angekommen, blieben wir zunächst stehen, um den vom Steigen schneller gehenden Atem sich beruhigen zu lassen; er nicht. Er kniete nieder und betete leise; dies geschah nicht in der den Muhammedanern bei jedem Gebete vorgeschriebenen Richtung nach Mekka, sondern mit nach Süden gewendetem Gesicht, von ihm als Moslem eigentlich eine schwere Unterlassungssünde. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, deutete er auf eine kleine, vor uns liegende Felsenerhöhung und sagte:
»Setze dich auf diesen Stein! Ich werde stehen bleiben, denn nur der Leib ermüdet, der Geist aber kennt keine Verringerung seiner Kraft, und nicht mein Körper, sondern meine Seele ist's, die du jetzt zu dir sprechen hören wirst.«
Ich folgte dieser Aufforderung, und Halef und der Basch Nazyr ließen sich auch, und zwar eng neben mir, nieder. Hierauf stand er eine ganze Weile hoch aufgerichtet und unbeweglich da, den Kopf ein wenig zur Seite, als ob er in die Ferne lausche. Wir befanden uns in einer ganz ungewöhnlichen Spannung, der wir aber keine Worte gaben, denn in der ganzen Situation und wohl auch in uns selbst lag Etwas, was uns das Sprechen verbot. Da begann er: »Seid mir gegrüßt, ihr Pilger dieser Erde, gegrüßt in der Sprache dieser eurer Welt! Wenn ich zu euch in unserer Weise spräche, ihr würdet nichts vernehmen, denn euer Ohr hat nur Empfängnis für den Schall, durch Schwingungen der Luft zu euch getragen; wir aber sprechen nicht durch dieses Mittel, und unser Wort ist kein Geräusch, ist Tat!«
Wir horchten höchst verwundert auf, denn das war nicht die Stimme des Münedschi, sondern eine ganz andere. Ich habe Verwandlungskünstler und Stimmenimitatoren gesehen und gehört, deren Leistungen gewiß vortrefflich waren, aber wohl keiner von ihnen hätte es fertiggebracht, nicht nur seine Stimme, sondern auch den Ausdruck derselben so vollständig zu verändern, wie es hiervon dem Münedschi geschah. Hätte ich ihn nicht da vor mir stehen sehen, ich wäre überzeugt gewesen, daß wir von einer ganz andern Person, angesprochen würden, Er fuhr fort:
»Richtet eure Blicke empor zum Himmelszelt! Über und hinter euch stehen die Sterne des Herkules, rechts der Adler und Delphin, links die Schlange und vor euch der Schlangenträger mit dem Ras Alhagua und hunderten von Welten, von denen ihr nur wenige als kleine Punkte erkennt. Darüber hin zieht sich die Saman oghrisi, bestehend aus noch nie gezählten Himmeln, deren jeder wieder in andre neue Himmel führt. So schaut ihr von euch aus nach allen Seiten hinaus und hinein in Millionen und Milliarden Ewigkeiten und haltet eure kleine, ach wie beschränkte irdische Weisheit doch für klug genug, den Herrn und Schöpfer dieser Welten und Äonen im letzten, höchsten, herrlichsten der Himmel zu entdecken. Ich sage euch: es gibt keinen Himmel, weicher der höchste, der letzte ist. Wie diese Himmel alle doch nur einen einzigen bilden, so ist der Herr auch nur in diesem einen, nicht in einem besonderen zu suchen, und wenn ihr ihn nicht im Mittelpunkte eures irdischen Firmamentes findet, also hier bei euch selbst, so werdet ihr ihn dort in jenen Himmeln auch vergeblich suchen. Ihr findet ihn weder hier noch dort, weil ihr die falschen Augen öffnet, die richtigen aber fest geschlossen haltet. Ihr sucht ihn so, wie ihr nach der Erkenntnis irdischer Dinge trachtet, nämlich mit den Augen eurer Wissenschaft, die doch schon, um nur Irdisches zu sehen, der Brille bedarf. Die Augen des Glaubens aber, welche nie eines Glases bedürfen und bedürfen werden, haltet ihr geschlossen.«
Er machte eine kurze Pause, Bisher hatte er laut, mit voller Stimme gesprochen; nun fuhr er, wie wenn man so recht eindringlich und vertraulich reden will, in unterdrücktem Tone fort:
»Ich habe euch etwas Himmlisch-Wichtiges zu sagen; schenkt mir die Aufmerksamkeit nicht nur eures Geistes, sondern auch eures Herzens! Ihr unterscheidet am Menschen Leib, Seele und Geist; ihr sprecht von Kopf und Herz, vom Verstehen, Fühlen, Erkennen und Wollen, von Vernunft, Verstand und Gefühl. Könntet ihr euch sehen, wie ich euch sehe, indem mein Auge jede innerste Faser eures Körpers und die verborgenste Regung eures Geistes, eurer Seele durchschaut, so würde euch klar werden, wie falsch alle diese Unterscheidungen sind. Der geistige Mensch kann nicht zergliedert werden wie der Körper; er ist nicht mit verschiedenen Kräften und Vermögen tätig, wie der Körper es bald mit den Armen, den Beinen, bald mit den Augen oder den Ohren ist. Selbst wenn ihr diese Tätigkeit nach ihren verschiedenen Weisen und Richtungen bezeichnet, bedient ihr euch falscher Namen. Wie es keine Grenze zwischen Gottes Allmacht, Allweisheit und Alliebe gibt, denn Gott ist Eins, so sind auch bei seinem Ebenbilde, dem Menschen, das Denken, das Fühlen, das Wollen nicht voneinander zu trennen, denn der geistige Mensch ist auch Eins. Doch muß ich mich eurer Weise anbequemen, weit ihr mich sonst nicht verstehen würdet. Hört und merkt euch genau, was ich euch jetzt sage! – – – : Der Mensch ward ein Pilger auf Erden, um ein Bürger des Himmels zu werden. Er hat hier zu säen, um dort ernten zu können. Er hat hier die Augen zu öffnen, um dort sehend zu sein. Er hat hier zu lernen, um dort zu bestehen. Nach seiner Arbeit hier richtet sich dort sein Lohn, denn seine Werke folgen ihm ins Jenseits nach, die guten sowohl wie auch die bösen, und wer hier seiner Trägheit frönt und nicht rastlos und unausgesetzt für den Himmel wirkt, der tritt in jenes Leben mit leeren Händen ein und wird zurückgewiesen werden. Sprecht ja nicht in eurer Bequemlichkeit: Ich hüte mich ja, Böses zu tun und muß also selig werden!' Wer so sich nur hütet, von der Arbeit nicht beschmutzt zu werden, wer so hier nur von Gottes Gnade lebt wie ein fauler Sohn vom Reichtume seines Vaters, der erwirbt nichts für die Ewigkeit und tritt dereinst als Bettler vor Gottes Thron. Am Jenseits aber wird der Bettler abgewiesen, denn wer das Mitleid Gottes hier verbrauchte, dem bleibt nichts davon für den Himmel übrig! So ist also das Erdenleben eine Vorbereitung auf das große, einstige Examen. Das Zeit, weiches du als Pilger hier aufschlägst, es sei dir ein Kalyb des Hauses, welches dich in jenem Leben erwartet! Du darfst nicht nur, nein, du sollst sogar dir dieses Zelt so fest und sicher wie möglich bauen; du sollst es schmücken und verschönern mit den Gaben, welche dir verliehen sind. Du sollst die Erde mit allem, was sie trägt und bietet, kennenlernen; du sollst die Kräfte, mit denen, und die Gesetze, nach denen Gott hier waltet, wohl mit Fleiß studieren; du sollst die Erscheinungen der irdischen Natur und die Entwickelung des Menschengeschlechtes mit steter Aufmerksamkeit verfolgen und ja nicht versäumen, auch deinen Teil für den auf das Glück dieses Geschlechtes gerichteten Fortschritt beizutragen, aber du darfst dabei nie vergessen, daß du hier eben nur in einem Zelte wohnst, welches Gott, der Herr. von Augenblick zu Augenblick abbrechen kann, um dich hinauf ins ewig feste Haus, ins Vaterhaus, zu rufen!«
Er machte hier wieder eine Pause, während weicher er leise vor sich hinflüsterte, als ob er mit jemand spreche, den wir nicht sehen und nicht hören konnten. Dann sagte er wieder laut:
»So ist also deine Tätigkeit geteilt zwischen hier und dort, du hast nach irdischer Erkenntnis und nach himmlischer zu trachten; die irdische brauchst du für nur kurze Zeit, die himmlische aber für die Ewigkeit, diese letztere ist also unendlich wichtiger als die erstere. Ihr aber handelt in trauriger Verblendung grad umgekehrt! Ihr arbeitet, als ob die Erde und euer hiesiges Leben mit ihr von ewiger Dauer, das Jenseits aber nur der vergängliche, trügerische Traum eines kurzen Schlummers sei. Und wer oder was ist schuld daran? Nur diese eure Verblendung, weiche euch verhindert, einzusehen, daß es zweierlei Erkenntnis gibt. Zur Erkenntnis des Irdischen führt euch die Wissenschaft; die Erkenntnis des Jenseits bietet euch nur der Glaube. Jeder einzelne Gelehrte ist stolz auf seine kleine, irdische Wissenschaft, und der Stolz aller Gelehrten, die es gab und gibt, zusammengenommen, lieferte das Material zu einer Mauer der Einbildung und Überhebung, mit welcher ihr euch umgeben und eingeschlossen habt. Hinter dieser Mauer sitzt ihr als Gefangene eurer Wissenschaft und könnt nun nicht mehr über sie, die immer höher steigt, hinweg und hinaus ins Weite blicken. Das kleine, runde Stück Himmel, welches ihr über euch noch sehen könnt, imponiert euch nicht, weil es eurer Gelehrsamkeit ja so leicht wird, die Luft da oben in Stick und Sauerstoff, und das darin flutende Licht mit einem Stückchen Glas in Farben zu zerlegen. Seht doch ein, daß dies auch noch zur irdischen Erkenntnis gehört und mit der himmlischen nicht im geringsten in Beziehung steht! Und wenn es euch gelänge, die Sonne und alle Planeten, welche sie umkreisen, bis auf ihre Mittelpunkte zu erforschen, so würde das noch kein einziger Schritt zur Erkenntnis des Jenseits sein. Steigt mit eurer Wissenschaft noch über die Bahn der Sonne hinaus, um noch fernere Sonnen, fernere Welten zu berechnen; es wird euch wohl auch das gelingen; aber ihr habt es doch nur immer mit Stoff und Kraft zu tun; die Seele bleibt euch unerforscht. Vor dem Jenseits sinkt eure Wissenschaft, eure Gelehrsamkeit in sich zusammen, denn hier handelt es sich nicht um die irdische, sondern um die himmlische Erkenntnis, zu welcher nur der Glaube führt. Wißt ihr, was Glaube ist?«
Er sprach diese Frage in verstärktem, aufforderndem Tone aus und richtete das Gesicht zu uns nieder, als ob er eine Antwort erwarte. Ich sagte darum, obgleich ich nicht wußte, ob ich ihn unterbrechen dürfe oder nicht:
»Der Glaube ist das geistliche Sehen dessen, was das körperliche Auge nicht sieht.«
Er gab weder eine Zustimmung noch einen Widerspruch, sondern sprach, als ob er meine Worte nicht gehört habe, weiter:
»Dieses Wort hat bei euch nicht die volle Bedeutung des Begriffes, den es ausdrücken soll. Für das, was der Glaube ist, hat keine Erdensprache das richtige, den ganzen Sinn umfassende Wort. Das Wort Glaube bezeichnet bei euch eine Zuversicht ohne den tatsächlichen Beweis; aber bei denen, die nicht in irdischen Leibern wohnen, bedeutet der Glaube eine jeden Irrtum ausschließende Überzeugung, welche auf der innigsten Vereinigung des Glaubenden mit dem Gegenstande des Glaubens beruht und darum nicht das Ergebnis eines auch nur eine Erdensekunde langen oder gar Jahrhunderte in Anspruch nehmenden Forschens ist. Darum steht der Glaube so unendlich hoch über der Wissenschaft. Könnte ich euch ein Beispiel geben, euch dies zu erklären! Hier sitzest du, Hadschi Halef Omar, vor mir. Die Geliebte deines Herzens, Hanneh, ist dein Weib. Glaubst du das?«
Der kleine Hadschi war so ganz Ohr, daß er sich zusammenraffen mußte, um zu antworten:
»Natürlich ist sie es!«
»Sie wohnt bei dir; sie ißt und trinkt mit dir; sie sorgt für dich; sie reitet jetzt mit dir durch die Wüste. Ist sie wirklich dein Weib?«
»Alla l'Allah! Wehe dem, der mir das nicht glauben wollte, wenn ich es ihm sagte!«
»Du glaubst es; das heißt, du weißt es. Keine Wirklichkeit steht für dich so sicher, so untrüglich bewiesen da wie diese. Da aber kommt der Kadi und fordert von dir Beweise. Du mußt ihm nachweisen, wann und wo ihr geboren seid, wer eure Eltern waren, weichem Glauben ihr angehört, wessen Untertanen ihr euch nennt und an weichem Orte, zu welcher Zeit und vor weichen Zeugen ihr euch zu diesem Bunde vereinigt habt.«
»Er soll nur wagen, zu kommen! Er muß glauben, daß – –«
»Sprich nicht vom Glauben bei ihm!« unterbrach ihn der Münedschi. »Das Überzeugtsein nach solchen Beweisen ist nicht Glaube zu nennen und hat vor dir keinen Wert. Deine Hanneh war das Beispiel, weiches ich euch zeigen wollte. Du bist der Glaube; der Kadi ist die Wissenschaft. Der Gläubige ist in inniger Liebe mit Gott verbunden; er kennt ihn; er lebt in ihm; er wirkt durch ihn und mit ihm. Die Wissenschaft verlangt von Gott einen ausführlichen Urkundenbeweis; sie sieht ihn nicht; sie hört ihn nicht, sie fühlt ihn nicht, weil sie über das Irdische nicht hinüber kann, und dringt über die Mauer ja einmal ein Hauch des Himmels herein, dessen Ursprung der Gelehrte nicht zu erkennen vermag, so spricht er in seiner Verlegenheit von einer Wissenschaft des Verborgenen. Aber was ihm verborgen ist, das ist dem Gläubigen offenbar, denn mag die Wissenschaft behaupten, sie allein könne sehen, es gibt noch ganz andere Augen als die ihrigen, klare, helle, scharfe Augen, die nie und nimmer altern, die ohne Brille im kleinen Sonnenstäubchen und ohne Fernrohr in den unmeßbaren Welten das beglückende Wort der Offenbarung Gottes lesen. Wieviel solche Augen aber gibt es unter den Millionen Menschen, welche auf Erden wandeln? Es sind seit dem Dasein eures Geschlechtes tausend Generationen gekommen und wieder gegangen; der Glaube war für sie das Wort, welches er noch heut bei euch ist. Verschwindend nur ist die Zahl derer, für die er das ist, was er sein soll. Er wurde nicht geübt. Das Organ aber, welches man nicht übt, wird schwächer und immer schwächer; in dieser Schwachheit vererbt und dann noch weniger beachtet, verschwindet es mehr und mehr, und endlich kommt ein Geschlecht, dem es gänzlich mangelt und fehlt. Die Wissenschaft, die Erkenntnis des Irdischen, wurde bevorzugt seit uralten Zeiten. Darum entwickelte sie sich mehr und mehr. Unzählig sind die, welche ihr dienten, weiche sie nährten und pflegten in unausgesetzter Arbeit bei Tag und bei Nacht. So wuchs sie empor zur Riesin, welche hinaufgreift sogar nach den Sternen. Nun wird sie, die trotz dieser Größe von Mauern Umgebene, von ihren Jüngern noch höher gehalten als Gott! Die Erkenntnis des Himmlischen fand nicht dieselbe Pflege, denn zu üben, was sie verlangte, das hielt man für zu schwer. Ja, Kinder Gottes gab es in Scharen; aber die sich so nannten, die waren es nicht. Zuweilen wohl tauchte, hier oder dort, der lebendige Glaube auf; dann ging auch sogleich eine Kraft von ihm aus, weiche Ströme von Segen spendete. Doch kaum war er mächtig geworden, so machte man ihn wieder zum Worte, zum Wahlspruch für irdische Zwecke, zur blutigen Fahnendevise, die man von Schlacht zu Schlacht schleppte, bis er zusammenbrach. Der Wissenschaft gönnte man Frieden, obwohl sie dem Menschen die Werkzeuge des Kampfes verfertigte; den Glauben aber, den friedlichen Sohn des Himmels, der die Liebe, die Versöhnung predigte, verwandelte man in das Zerrbild seiner selbst, kleidete ihn in das Gewand des Hasses und nahm ihn zum Vorwand des Kampfes bis auf den heutigen Tag. So hat man aus dem Worte Glaube', allerdings nicht aus ihm selbst, das Gegenteil gemacht von dem, was er ist und für die Menschheit sein soll, und schüttelt höhnisch lächelnd den Kopf, wenn jemand sich unterfängt, zu behaupten, er führe zur höchsten Erkenntnis und sei der einzige Weg zur Wahrheit. Aber der Allweise gab ewige Gesetze, die stetig bestehen und wirken, die nimmer aufhören, auch eure verehrten Kräfte und Stoffe zu lenken und zu beherrschen, und diese Gesetze verbürgen dem Glauben den einstigen Sieg. Nehmt euch nur seiner an, wie ihr euch der Wissenschaft angenommen habt! Widmet ihm denselben Fleiß, dieselbe Arbeit und Tatkraft, die von jeher auf sie verwendet wurden, und ihr werdet sehr bald erkennen, daß er stärker und mächtiger ist als sie. Denn die Wissenschaft ist das Ergebnis nur menschlichen Strebens, der Glaube aber ist göttlichen Geschlechtes; sie belehrt euch über das Wesen und die Wechselwirkungen der Stoffe; er aber läßt euch Gott schauen und führt euch zur Gemeinschaft mit ihm. Denkt ja nicht, sie beherrsche mehr Gebiete als er! Im unendlichen Reiche des Glaubens gibt es mehr Provinzen als in ihrem vergänglichen Bezirke; nur liegen die ihrigen dem irdischen Sinne näher als die seinigen; die ihrigen stehen in euern Büchern schon verzeichnet; die seinigen sind noch zu entdecken. Wenn ihr an der Erforschung dieser himmlischen Gebiete in treuer Begeisterung arbeitet, so schärft ihr die seelischen Augen, weiche bisher geschlossen waren; es wächst ihre Übung im Erkennen, und bald werden sie dann schauen, was jetzt für sie noch im Verborgenen liegt. Die Menschheit ist wohlgeübt in irdischen Dingen, aber in himmlischen nicht. Bindet einen eurer Füße herauf, fest an den Körper, und bewegt euch hinfort auf dem andern; der gefesselte wird nach und nach steif, wird verdorren und euch schließlich seinen Dienst, wenn ihr ihn braucht, versagen. So humpelt und springt der Mensch jetzt einbeinig durchs Leben; nur für den irdischen Wandel gerüstet, fehlt ihm für den Pfad zum Jenseits der Fuß. Darum übt euch im Gehen auf diesem himmlischen Wege; er ist nicht so schwierig und eintönig, wie ihr meint! Führt er auch anfangs über rauhe, steinige Strecken, so kommt ihr doch bald durch Gefilde, wie sie euch so herrlich der andere niemals kann bieten, und aufgehen wird euch dann weiter und mehr die erhabene, strahlende Pracht, die jenseits des Zweifels dem gläubigen Blick sich erschließt. Ihr sollt euch ja freuen über das auf der Erde für die Erde Errungene, denn der Kampf mit dem Leben und der Erfolg geistigen Forschens stählen auch die seelische Kraft. Doch bietet der Weg nach dem Jenseits euch noch höhere Freuden, die sich dann am Ziele vergrößern zur seligen, ewigen Wonne. Zwei Pflichten also sind es, zu deren Erfüllung euch der Herr berufen hat: Ihr sollt mit allen euch gegebenen Kräften für das Diesseits und für das Jenseits wirken. Doch sind diese Pflichten eigentlich nicht zwei, sondern nur eine: Ihr sollt im Diesseits für das Jenseits wirken. Und wie wenig ist das doch bisher geschehen! Das Diesseits nahm die Tätigkeit des Menschen so für sich gefangen, daß er jetzt, nach einer Reihe von Jahrtausenden, noch am Beginne des Himmelspfades steht und nicht einmal Es Setschme, den Ort der Sichtung, kennt, der zwischen dem Augenblicke des Sterbens und dem Tore der Himmel sich befindet. Ich schaue in eure Herzen und sehe in ihnen das Verlangen nach dem Lichte jener Welt. Zwar darf ich euch nicht jene Sphären zeigen, in denen Gott mit seinen Seligen wohnt, denn vor dem Glanz der Herrlichkeit dort oben würde euer Auge gleich bei dem ersten Blick erblinden; aber nach diesem Ort der Sichtung, nach diesem Vorhof kann ich eure Seelen führen. Ihr sollt euch meiner Führung anvertrauen und eine kleine Erdenstunde lang am offenen Jenseits stehen. Was ihr dort seht, merkt's euch fürs ganze Leben! Ich tue es, um euch eine Ahnung dessen zu geben, was der Glaube, den ich meine und für den ihr nicht das rechte Wort besitzt, zu sehen und zu erreichen vermag, während selbst eurer höchsten Gelehrsamkeit dort der Zutritt streng und für ewig verboten ist. Denn, sage ich euch, am Tage des Gerichtes, welcher für die Verstorbenen eher beginnt und länger währt, als ihr hier unten denkt, wird niemand über den Reichtum seines Geistes, sondern ein jeder nur über die Schätze seines Herzens Rechenschaft abzulegen haben. Es wird nicht zwischen gebildet oder ungebildet, sondern nur zwischen gut oder bös, zwischen Liebe und Lieblosigkeit unterschieden. Ich werde jetzt meinem Freund, durch den ich zu euch spreche, zeigen, was ihr wissen sollt; er sagt es euch, und wenn ihr etwas nicht versteht, so dürft ihr fragen; doch Erkundigungen irdischer Neugierde werden unbeantwortet bleiben.«
Es ist unmöglich, die Stimmung zu beschreiben, in welcher ich mich jetzt befand. Über uns der mit einem nicht eigentlich sicht aber doch wahrnehmbaren Schleier bedeckte Himmel, an weichem nur die Sterne bis mit vierter Größe zu sehen waren, um uns die im unzureichenden Scheine dieser Sterne liegende Wüste mit ihrer geheimnisvollen Verschwiegenheit, vor uns der rätselhafte Mann, der für das Diesseits blind war, aber für das Jenseits sehend zu sein behauptete, und in uns die Ahnung der Enthüllung und Beleuchtung einer bisher unerforschten Dunkelheit! Aber wo lag dieser »Ort der Sichtung«, von welchem wir gehört hatten? Wirklich und wahrhaftig im Jenseits, oder in der Einbildung eines phantastischen, vielleicht gar geisteskranken Menschen? Worauf würden wir die versprochene Aufklärung zu beziehen haben? Auf einen der höchsten und wichtigsten unserer Glaubenssätze oder auf die Träumereien und Truggebilde eines hirn- und nervenleidenden Muhammedaners? Ich war im höchsten Grade gespannt, und Halef und der Perser waren dies nicht weniger als ich, denn ihnen als Orientalen war für solche Situationen wohl mehr Empfänglichkeit gegeben als mir, dem weniger glühend fühlenden und kälter denkenden Europäer.
»So komm! Ich führe dich!« hörten wir jetzt den Münedschi mit der bisherigen, fremdartigen Stimme sagen und mit seiner eigenen, ganz anders klingenden, antwortete er hierauf: »Ich folge dir, Ben Nur, der du ein Engel Allahs und der Lehrer meiner Seele bist!«
Es sei mir, um das nun Folgende leichter verständlich zu machen, erlaubt, diesen von mir nur in der Einbildung existierend gehaltenen Ben Nur von dem Münedschi zu unterscheiden. Zwar war es natürlich nur der Blinde, weicher sprach, aber das, was wir hörten, war ein Gespräch zwischen zwei Personen, deren Stimmen so verschieden klangen, daß wir bei geschlossenen Augen auf die Anwesenheit zweier Menschen außer uns geschworen hätten, wenn die Gewißheit nicht dagewesen wäre, daß es nur allein der Münedschi sei.
Es verging eine Zeit, während welcher wir, um das sich vor uns Entwickelnde ja durch keinen Hauch zu stören, nur leise zu atmen wagten. Einmal hörten wir den Blinden mit seiner eigenen, ängstlich klingenden Stimme »Halte mich, oh, halte mich!« sagen; dann war es wieder still. Er stand, wie von Anfang an, hoch aufgerichtet da, die eine Hand nach der Seite erhoben, als ob er an ihr geleitet werde. Da ließ er sie sinken, als ob niemand mehr sie halte, strich sich mit der andern über das Gesicht und bewegte den Kopf, wie jemand, der staunend um sich blickt.
»Wir sind angekommen. Nun bleib an meiner Seite stehen, und sag, was du erblickst! Fürchte dich vor nichts, denn ich bin bei dir, und niemand darf sich uns nahen!«
Das sagte der Blinde mit Ben Nurs Stimme, worauf er mit seiner eigenen erwiderte:
»Ich fürchte mich nicht, denn du hast mir schon oft Furchtbares gezeigt, ohne daß es mir schadete. Ich weiß also, daß ich bei dir sicher bin.«
Er schaute wieder mit zwar geschlossenen Augen aber sehr lebhaften Kopfbewegungen um sich und sagte dann:
»Welch ein Wunder! Wohin hast du mich geführt! Ich sehe Gegenstände und Menschen, die doch keine Gegenstände und Menschen sind. Es ist alles so gestaltet, und es bewegt sich alles so, wie auf der Erde, und doch bin ich der vollen Überzeugung, daß nichts hier irdisch ist!«
»Sag nur, was du siehst, dann werde ich es dir erklären!« gebot die andere Stimme, also der sogenannte Ben Nur.
Hierauf erhob der Münedschi die Arme, um alles, was wir nun hörten, mit verdeutlichenden Bewegungen derselben zu begleiten, und fuhr fort:
»Ich stehe auf einem hohen, breiten Steine, ganz allein mit dir«, sagte er. »Hinter uns dehnt sich eine Mauer, deren Höhe und deren Enden ich nicht erkennen kann. Sie hat viele, viele enge, niedrige Öffnungen, durch weiche immerfort Menschen erscheinen und auf uns zukommen, um sich vor uns zu einem breiten Heereszuge zu vereinen.«
»Das ist El Widah, die Mauer, an deren andern Seite das Erdenleben endet, indem es zu einer dieser Türen führt, vor denen kein Sterblicher stehenbleiben oder gar umkehren kann, außer Gott erlaubt es ihm. Sprich weiter!«
»Es liegt ein weites, ebenes, ödes Land vor mir«, folgte der Blinde dieser Aufforderung, »von einem tief und schwarz gähnenden Abgrund begrenzt, über den eine Brücke hinüberführt, deren Breite kaum die Schärfe eines Rasiermessers beträgt.«
»Das ist Es Ssiret, die Brücke des Todes«, erklärte Ben Nur. »Sie geht über El Halahk, den Abgrund des Unterganges, des Verderbens. Erkennst du, wo sie endet?«
»Ja, ich sehe es, doch nicht so deutlich, wie ich möchte. Es ist ein Tor, weiches ich wohl bestimmter sehen würde, wenn nicht darüber die Flammeninschrift leuchtete Zur Seligkeit!' Auch die Fortsetzungen seiner Seiten, welche sich aus dem Abgrunde erheben, sind mir dunkel; darüber aber leuchtet eine Klarheit, weiche von keinem irdischen und von keinem Sonnenlichte stammen kann. Indem ich sie erblicke, steigt eine unbeschreibliche Wonne und Sehnsucht in mir auf, die mich emporheben und hinübertragen will; aber mein Fuß klebt fest an diesem Steine; ich kann nicht fort; ich bin zu schwer!«
»Du bist so schwer, weil du noch zur Erde gehörst, auf der das Gesetz der Schwere gilt, welches ich für dich für diese kurze Stunde überwand. Ich sage Stunde, denn hier, wo wir uns befinden, gibt es noch Zeit. Die Ewigkeit beginnt dort an der Brücke. Du stehst hier am Jenseits, nicht in demselben; das ist der äußerste Punkt, wohin ich deine unsterbliche Seele führen durfte, weil sie noch das irdische Gewand zu tragen hat. Du siehst dich hier also zwischen Zeit und Ewigkeit, nicht vor dem Tode und nicht nach dem Tode, sondern mitten in demselben, und alles, was du hier erblickst, geschieht mit der Seele während der Zeit des Sterbens. Was siehst du noch?«
»Ich sehe die Scharen der Seelen, welche durch die stille, unheimlich lautlose Öde des Todes nach der Brücke wallen. Allah, Allah, beschütze und bewahre mich!«
Diesen letzten Satz schrie er laut auf, als ob eine plötzliche, große Gefahr über ihn hereingebrochen sei. Dabei breitete er, wie nach einem Halte suchend, ängstlich beide Arme aus. Hierauf ließ er sie beruhigt wieder sinken und antwortete dann sich selbst mit der Stimme Ben Nurs:
»Sei getrost; ich halte dich! Du nanntest die Zeit des Sterbens, in welcher du dich befindest, still und lautlos. Jetzt erfährst du, daß es auch ein anderes als still ergebenes Scheiden gibt. Sprich!«
»Es erhob sich ein Sturm, in welchem mein Felsen zitterte; finstere Wolkenschwaden wurden über mich hingepeitscht; Donner rollte; Blitze zuckten. Ich hörte Schlachtengeschrei und das Krachen der Schüsse. Nun ist alles vorbei, jetzt sind die grauenvollen Schatten gewichen – doch noch breiten sich düstere Schemen in meiner Seele aus. Ich sehe zwar nichts mehr; aber ich höre die Stimmen der Sterbenden. Mütter jammern um ihre Kinder; Frauen winseln nach ihren Männern; Geizige schreien nach den Reichtümern, die sie verlassen müssen, Herrscher nach ihren Thronen, Ehrsüchtige nach ihrem Ruhme. Es ist ein Brüllen, Zetern, Klagen und Weinen um mich her, weiches mich selbst zum Sterben bringen wird, wenn ich es noch länger hören muß! . . , Allah sei Dank! Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!' rief die Stimme eines gläubig sich Ergebenden, und sofort ward alles still. Die Nebel weichen, und ich sehe die Scharen wieder ohne Laut und ruhig wallen. Auf der Mitte des Weges sehe ich einen Steg, zu dessen Seiten lichte Engel stehen. Er ist beweglich und so schmal, daß man ihn nur einzeln betreten kann; aber keiner darf ihm ausweichen; alle müssen darüber!«
»Das ist El Mizan, die entscheidende Waage der Gerechtigkeit. Sie mißt jede Tat, jedes Wort und jeden einzelnen Gedanken. Lege das leiseste, kürzeste deiner Gefühle darauf, so wird sie dir sagen, wie schwer es vor dem allwissenden Erforscher deines Innern wiegt! Siehst du, was die Engel an diesem Stege, an dieser Waage, tun?«
»Soeben tritt einer aus ihren Reihen hervor und nimmt die über die Waage gegangene Seele an der Hand, um sie nach der Brücke zu leiten.«
»Nicht nur nach der Brücke, sondern über sie hinüber! Diese Seele ist gewogen und der Gnade Gottes wert befunden worden. Darum wird sie an der Hand ihres lichten Führers glücklich über Es Ssiret gelangen. Aber die zu leicht Gefundenen, welche hier auf Erden stolz auf ihre Vorzüge pochten oder, ihrer Trägheit frönend, sich nur auf ihre vermeintliche Sündlosigkeit verließen und darum versäumten, wirkliche Arbeit zu vollbringen, anstatt in bequemer Sorglosigkeit kommen zu lassen, was da kommen werde, diese finden hier keinen Beschützer, sondern bleiben auch hier ihrem gewohnten Selbstvertrauen überlassen. Ei Halahk, der Abgrund des Verderbens, steht für sie offen; denn schon hier, in der Stunde des Todes, nicht erst im, sondern bereits am Jenseits, tritt das große Gesetz der ewigen Gerechtigkeit in Kraft, daß der Mensch genau mit dem bestraft wird, womit er auf Erden sündigte. Trau ja den friedlichen, still lächelnden Zügen einer Leiche nicht! Sie ist ein abgelegtes Gewand, dem du nicht anzusehen vermagst, unter welchen Qualen die Besitzerin, die Seele, von ihm schied. Der Tod tritt nicht mit dem letzten Worte ein, welches der Sterbende spricht, auch nicht mit der letzten Bewegung, die man an ihm bemerkt, und kein Irdischer vermag zu ergründen, was zwischen diesem Worte oder dieser Bewegung und dem wirklichen Schritte hinüber für eine Folterpein zu überstehen ist! Nun richte deine Augen auf die vorübergehenden Scharen selbst! Du siehst, wie sie sich zusammenfinden und sich ordnen, um, zueinander passend, in Gruppen den Entscheidungsweg zurückzulegen. Sag mir, was du erblickst! Was du nicht weißt, das werde ich dir erklären.«
Der Münedschi berichtete:
»Es versammelt sich soeben eine große, große Menge von Leuten, welche fromm die Hände falten und still ergeben ihre Köpfe senken. Ihre Lippen bewegen sich im Gebete. Ihnen vorangetragen wird eine Standarte, auf weicher das Wort Dijanet zu lesen ist. Das sind gute Menschen, welche gewiß glücklich über die Brücke hinüberkommen!«
»Du irrst. Du lässest dich von ihrer zur Schau getragenen Frömmigkeit ebenso täuschen, wie die Genossen ihres Erdenlebens von ihnen betrogen worden sind. Das sind die Gewohnheitsbesucher der Kirchen und Moscheen. Sie versäumten keinen Gottesdienst und saßen da auf ihren mit Geld bezahlten, wohlnummerierten Plätzen, auf welche sich ja kein anderer setzen durfte, wenn er nicht zu seiner öffentlichen Beschämung von ihnen hinweggestoßen werden wollte. Sie gingen zur bestimmten Zeit und in dem dazu bestimmten Rocke nach dem Gotteshause, gesenkten Blickes, wie auch jetzt, und die Fatha oder das Gesangbuch von den Händen innig umschlungen. Dabei aber blickten sie verstohlen nach rechts und links, ob man sie denn auch gehen sehe. Sie sprachen ihre Gebete oder sangen die vorgeschriebenen Lieder, sie hörten die Worte des Predigers, und wurde ihnen das zu langweilig, so ließen sie sich andachtsvoll in das süße Schläfchen des Bewußtseins fallen, daß sie das alles wohl schon tausendmal gehört hätten und es also ebensogut wüßten, wie der Mann dort auf der Kanzel. Dann gingen sie erhobenen Hauptes heim, denn sie hatten jetzt für diese Woche ihre Pflicht getan und dadurch Gott gezwungen, ihnen nun auch eine Woche lang dafür dankbar zu sein. Sie forderten von diesem Gotte, daß die Nummer des Platzes, den sie für sich gelöst und nur höchst seiten leer gelassen hatten, in das Buch des Lebens eingetragen werde, weil nur ihnen, und ja keinem andern, das wohlerworbene Recht zustehe, auf ganz derselben Nummer der Seligkeit auch im Himmel zu sitzen. Dieser Himmel aber ist unnummeriert und hat also nicht den auf der Erde bezahlten Platz für sie; sie werden alle, alle von der Brücke in den Abgrund stürzen. Weiter!«
»Ich sehe freundliche Menschen sich um ein Banner scharen, welches das Wort Kerem trägt. Auf ihren Gesichtern glänzt das Lächeln der Sanftmut, der Milde, der Güte, der Weichherzigkeit. Sie sind in Liebe vereint; sie drücken sich die Hände und scheinen so froh darüber zu sein, daß sie sich hier zusammengefunden haben. Die leitet ein Engel hinüber, ganz gewiß!«
»Nein! Das sind die sogenannten guten Menschen, die Sanften, die Angenehmen, die stets Friedlichen, die Wohltäter, die Barmherzigen, die wegen ihrer Menschenfreundlichkeit so oft und viel Gepriesenen. Du nennst ihr Lächeln sanft und mild; aber die Waage dort wird es als Selbstgefälligkeit bezeichnen. Diese edlen Menschen waren nur freundlich, um gerühmt zu werden. Ihre Nächstenliebe, ihre Sanftmut besaß einen verborgenen Skorpionenstachel. Es war ihnen eine Lust, bei dem freundlichsten Gesichte und während der gütigsten Rede ein tief und schwerverletzendes Wort in die Seele ihres Nächsten zu bohren und dadurch sein Leben zu vergiften. Sie wußten, daß der Glanz ihrer Wohltaten auf sie selbst zurückfallen werde; sie erwiesen sie also nicht andern, sondern sich selbst. Ihre stete, rücksichtsvolle Höflichkeit war nur Schein, war berechnet, denn sie wußten, daß man einer solchen Liebenswürdigkeit nicht leicht einen Wunsch abschlagen könne. Diese stets nach außen strahlende Huld- und Leutseligkeit war innerlich ein Vampyr, welcher die von dieser Huld Getäuschten möglichst auszusaugen wußte. Siehst du, wie ihre Schar sich mehr und mehr vergrößert? Wundere dich ja nicht darüber, denn zu ihnen gehören alle jene guten Freunde und Freundinnen, deren gleißende Anhänglichkeit nichts als Selbstsucht war. Sie benutzten dich selbst und deinen Einfluß, deine Güter, sie forschten mit Begierde nach allen deinen Schwächen und Fehlern, um sie sich dienstbar zu machen oder sie mit ihresgleichen zu belachen. Sie nisten sich bei dir ein wie Flöhe der Wüste, deren Stich erst ein wohltuendes Jucken, dann aber schmerzende und gefährliche Geschwüre erzeugt. Sie freuten sich lauter als du, wenn du dich freutest, barsten dabei aber heimlich fast vor Neid; sie nahmen scheinbar tief betrübt an deiner Trauer teil, fühlten sich aber im Herzen glücklich darüber. Sie gaben dir in inniger Teilnahme und scheinbar gut meinend, einen schlechten Rat, und kamst du durch die Befolgung desselben zu Schaden, so wußten sie die Schuld auf dich zu schieben und höhnten dich innerlich aus. Schau jetzt hinüber zu ihnen! Ja, sie drücken sich innig die Hände, und ihre Gesichter glänzen in Freundschaftswonne; aber dabei denkt ein jeder in seinem Innern, daß er hinüberkomme, die andern aber nicht. Denen, welche unter dem Zeichen Kerem stehen, ist der Himmel verschlossen! Sprich weiter!«
»Es naht eine unabsehbare Menge, welcher ein Panier mit dem Worte Hakk vorangetragen wird. In ihr scheinen alle Stände vertreten zu sein, denn ich sehe unter ihnen Hoch und Niedrig, Reich und Arm, Gelehrt und Ungelehrt, Fürsten, Beamte, Krieger, Kaufleute, Bauern, Handwerker und sogar auch Bettler. Sie kommen getrost und wohlgemut heran, mit festen, sicheren Schritten und unbeirrten Blicken. Die Gewißheit, daß sie die Brücke in kräftigem Marsche überschreiten werden, ist ihnen allen anzusehen.«
»Warte, bis sie an die Waage kommen, wie sie da so ganz anders blicken und angstvoll weiterschleichen werden«, sagte die Stimme Ben Nurs. »Sie folgen dem Banner ihrer venneintlichen Rechte; aber sie meinen damit nicht die Menschenrechte, die ihnen von Gott für die Erde verliehen waren, sondern die von ihnen selbst erfundenen. Sie sind nicht das, wofür sie sich ausgeben, sondern das genaue Gegenteil davon, nämlich Aufrührer und Empörer. Mit diesem Worte Aufruhr meine ich nicht die Verschwörung gegen irdische Herrscherthrone, sondern die Auflehnung gegen göttliche und von Gott geheiligte menschliche Gesetze. Es geht über die Erde eine ununterbrochene Revolution gegen diese Gebote, hier in stillwühlender Verborgenheit, da in sichtbarer, immer weitergreifender Gärung und dort in offener, gewalttätiger Angriffsweise. Die Menschen haben verlernt, zu gehorchen; sie wollen alle befehlen. Der Reiche verlangt von Goldes Gnaden und der Bettler auf Befehl der Mildtätigkeit Gehorsam. Der Arbeitgeber stützt sich auf das Recht seines Unternehmergeistes, seines kaufmännischen Talentes, und der Arbeiter auf den Wert seiner Geschicktheit und seiner Fäuste. Die Großen der Erde betonen die Vorrechte der Geburt, und die andern heben dagegen ihre persönlichen Errungenschaften hoch empor. Hier dieser fordert in seinem eigenen Interesse Gehorsam für im Laufe von Jahrhunderten bewährte Einrichtungen, und dort jener verlangt aus demselben Grunde, daß man den Anforderungen der Neuzeit folgsam sei. Es werden neue Rechte und neue Pflichten angefertigt, denen man wohlklingende Namen gibt. Da wird von einem Rechte auf Gleichheit in den verschiedensten Beziehungen gesprochen, von einem Rechte des freien Denkens, der Arbeit, des Lohnes, der Verbindung und Verbrüderung. Jeder stellt sich kampfbereit, um grad das Recht, weiches er für das seinige hält, zu verteidigen, und erkennt dabei nicht, daß in dieser Verteidigung schon der Angriff gegen andere Rechte liegt. So wirkt einer gegen den andern, und die eigentliche, wirkliche Wahrheit ist doch, daß sie alle unrecht haben. Denn nach Gottes Ratschluß besitzt der Mensch nur ein einziges Recht und nur eine einzige Pflicht, nämlich das Recht und die Pflicht der Liebe. Wie aber steht es bei euch damit im Erden[eben? Gibt es einen einzigen Menschen, welcher auf dieses Recht der Liebe verzichtet? Und wie viele aber sind es, welche, wie Gott es doch gebietet, ihr ganzes Leben der Pflicht der Liebe weihen? Schau sie an, die da vorüberziehen. Sie alle haben nach Gerechtigkeit geschrieen, aber keine Gerechtigkeit gegeben, weil sie keine Liebe besaßen. Sie haben gesprochen und geschrieben, gestritten und gebrüllt für ihre einander widerstreitenden, einander aufhebenden Rechte; sie haben gehadert gegen die Menschen und gegen Gott, von welchem sie mit erhöhter Stimme Gerechtigkeit verlangten, wobei sie sogar hier mit derselben Forderung herangeschritten: Sie verlangen die Seligkeit als ihr Recht; sie bringen das große Ausrufungszeichen nach Gottes Gerechtigkeit getragen und ahnen nicht, daß sie dort an der Waage nach der ihrigen gewogen werden. Sie haben sich gegen sein großes Gesetz der Liebe empört, ihm den Gehorsam verweigert, ihm den Glauben versagt, ihn verleugnet und aus ihrem Leben gestrichen, und nun übt er dasselbe Recht wie bisher sie, nämlich, sie ebenso nicht zu kennen, wie sie ihn nicht gekannt haben. Sie sind vorüber. Wer kommt jetzt?«
»Ich sehe die schöne Inschrift Muhabba. Die, welche hinter ihr schreiten, sind sicher für die Seligkeit bestimmt; denn du hast ja soeben Liebe gefordert. Ich unterscheide – – –«
»Schweig! Schweig von ihnen!« unterbrach ihn Ben Nur streng. »Die,welche jetzt an dir vorüberziehen, sind entweder Abgötter oder Götzendiener gewesen, eins von beiden, weiter nichts! Das sind die Väter, die Mütter, welche nur einen einzigen Gegenstand für ihre Liebe, ihren Sohn oder ihre Tochter, kannten. Das sind die Männer, welche ihre Frauen vergötterten, und die Frauen, welche ihre Manner anbeteten. Die Liebe, welche nur auf eine einzige Person gerichtet ist, ist keine Liebe, sondern das häßliche, abstoßende Narrbild derselben. Schau die Mütter, weiche als Sklavinnen vor den Füßen ihrer Töchter knieen, und die Gatten, weiche sich von den heißgeliebten, angebeteten Füßen in den Staub treten lassen! Der nichtigste Wunsch der vergötterten Lippen setzt sie in Galopp, während sie zur Erfüllung göttlicher Gebote oder für das Wohl ihres Nächsten kaum einen langsamen Schritt übrig haben. Wie sie auf jedes Wörtchen lauschen und sich bei der geringsten Trennung sehnen! Wie sie arbeiten und sich sorgen, sich ganz hingeben, sich aufopfern, bis sie am Charakter vollständig zum Schatten geworden sind! Für den aber, dem sie alles, alles verdanken, was ihnen gegeben worden ist, und dem sie dafür gehören für Zeit und Ewigkeit, für den haben sie keine Handreichung! Und wenn er dann in seinem heiligen Zorne, um diesem Götzendienste ein Ende zu machen, den Gegenstand dieser Narretei aus dem Leben nimmt, welch ein Stöhnen und Jammern ist da zu hören und welche Verzweiflung, die sich selbst Vernichtung wünscht, zu sehen! Wer in dieser Weise einen Menschen höher setzt als Gott, der wird sich dort an der Waage und dann an der Brücke auch nur auf diesen Menschen, nicht aber auf Gott zu verlassen haben; das ist die unerschütterliche Gerechtigkeit, welche den Gegenstand der Sünde zum Mittel der Bestrafung macht! Nun schau auch zu den so heiß angebeteten Idolen. Sie wurden so lange verehrt und bedient, bis ihnen das als ganz selbstverständlich vorkam, und so ließen sie sich in dem Bewußtsein, ganz erstaunliche Vorzüge zu besitzen, weiter bedienen und weiter bewundern. So wurden sie zum Hochmute und zur Selbstüberhebung geführt. Da sie nichts zu tun hatten, als sich lieben und anbeten zu lassen, wurden sie körperlich und geistig träge, und waren je länger desto weniger imstande, ihre irdischen Pflichten zu erfüllen und sich gar noch mit Gedanken über das Jenseits zu befassen. Sie wurden geistig totgeliebt und geistig totgepflegt; ihre Kräfte schwanden immer mehr und mehr, bis von ihnen nichts übrig blieb als nur auch ein Schatten ihrer selbst, der aber immer noch angebetet sein wollte und jetzt in der stolzen Überzeugung hier vorüberschreitet, daß ihm ein Sitz ersten Ranges im Himmel sicher sei. Sie haben aber ihr Gutes schon auf Erden genossen, und Götzenbilder kennt das Jenseits nicht! Weiter!«
Der Blinde fuhr fort:
»Es kommt ein stolzer Zug daher, dem die Inschrift Hanahhn!' hoch und weithin sichtbar vorangetragen wird. Diese Leute gehen stolz, mit majestätischen Schritten und sieghaften Mienen. Über ihre Gesichter breitet sich das Bewußtsein der Würde und Erhabenheit. Auch sie scheinen verschiedenen Ständen anzugehören, und obwohl sie langsam schreiten, sehe ich doch, daß jeder von ihnen bemüht ist, den andern voranzukommen. Das müssen hohe Herren sein, die sicher nicht erwarten, zu leicht befunden zu werden.«
»Ja, sie waren Herrscher auf Erden, Herrscher auf verschiedenen Gebieten, haben sich aber auf dem Wege zur Waage der Gerechtigkeit zusammenfinden müssen. Da sind Fürsten, welche über Länder und Völker regierten, aber nicht einmal sich selbst beherrschen konnten. Da sind allerlei Würdenträger, weiche der ihnen von Gott anvertrauten Würde nicht würdig waren. Da sind hohe Gelehrte, Koryphäen der Wissenschaft, welche sich für Erb und Gerichtsherren der Weisheit hielten und sich gegen die Einsicht sträubten, daß alles irdische Wissen und Erkennen Stückwerk ist und nur der Glaube zur Wahrheit und Vollkommenheit führt. Da sind die Paschas und Sultane des Mammons, welche von ihren protzenden Thronen aus die Unbemittelten knechteten und in Fesseln schlugen, ohne zu ahnen, daß sie selbst die Fesseln der niedrigsten Knechtschaft trugen, die es auf Erden gibt: die aus Goldbarren geschmiedeten Handschellen, die erwürgenden Zugstricke des Geldsackes. Da sind die Genies, welche ihre herrlichen Geistesgaben nur brauchten, um gegen den zu kämpfen, der sie ihnen lieh, auch die Künstler, denen die Mahnung, daß die wahre, echte Kunst himmelan zu streben hat, nur lächerlich war. Da sind die Herren der Feder, der Literatur, die Zeitungsmonarchen, welche unter ihrer sechsten Weltmacht die Macht ihres eigenen Einflusses, die Wirkungskraft nur ihrer Zwecke verstanden. Da sind die Helden der Phrase, die Redner des Volkes, die Sprecher der Parlamente, die ihre Schlagworte wie platzende Bomben, das Göttliche verneinend, zerstörend in die Versammlungen warfen, unbekümmert darum, daß sie dafür dereinst das zermalmende Richterwort treffen werde, von welchem geschrieben steht: denn das Wort Gottes ist wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert!' Sie alle, alle, die ich dir jetzt bezeichnete, haben ihre eigene, zufällige oder angemaßte Macht an die Stelle der Macht der Liebe gesetzt und werden nun dort an der Waage zu ihrem Schrecken erfahren, daß alle diese von ihnen mißbrauchte Gewalt nicht imstande ist, die ewige Gerechtigkeit auch nur um das Tausendstel eines Haares breit zu ihren Gunsten zu neigen. Fahre fort in deinem Berichte!«
»Die jetzt kommen, folgen einem Banner, auf welchem Schatahra zu lesen ist.«
»Sprich nicht weiter von ihnen; ich sehe sie! Das sind die irdisch Klugen, welche sich hüteten, mit ihrem Glauben offen hervorzutreten; ihr Vorteil verbot ihnen dies. Auch sind die Schamvollen dabei, weiche befürchteten, sich lächerlich zu machen. Ich sage dir, es gibt sogar Menschen, weiche wohl beten möchten, aber dies nicht fertigbringen, weil sie sich dabei nicht nur vor sich selbst, sondern sogar vor Gott genieren. Sie sahen den Säemann der göttlichen Liebe über die Felder schreiten, und sie sahen, daß die Krähendes Unglaubens hinter ihm den Samen wegfraßen; sie sind untätig nebenhergegangen; sie ließen ihn ungestört säen, und sie hinderten die Vögel nicht, diese Arbeit der Liebe um den Erfolg zu bringen. Die einen haben sich vor Gott versteckt; die andern sind weder für noch gegen ihn gewesen; nur werden die ersteren ihn jetzt auch nicht sehen, und die letzteren erwartet ganz dieselbe Gleichgültigkeit. Sie mögen sehen, wie sie hinüberkommen. Weiter!«
»Es kommen jetzt weißgekleidete, fleckenlose Gestalten, an deren Spitze ich den Wahlspruch Nadahfa! lese. Ihr Gang ist sehr vorsichtig, damit ihr Fuß nichts Unsauberes berühre, und ihre Hände sind unausgesetzt bemüht, die Stäubchen zu entfernen, welche ihren Gewändern angeflogen sind.«
»Ja, das sind die Reinen, die Unbefleckten, deren einziges Bestreben war, auch nicht die allergeringste Unsauberkeit an sich sehen zu lassen. Sie gingen in Beziehung auf ihren äußerlich moralischen Lebenswandel auf den Zehenspitzen, um ihre Füße ja nicht zu beschmutzen; sie taten die lächerlichsten Schritte und Sprünge, um sich die sittlich trockenen Stellen auszusuchen; sie hielten sich stets allein, und setzte sich ja einmal ein anderer neben sie, so rückten sie erschrocken von ihm ab. Sie kamen niemals mit der Polizei, niemals mit einem Paragraphen des Strafgesetzes in Berührung, sie hüteten sich auch vor jeder andern Sünde, die nicht von diesem Gesetz getroffen wird. Schon der Gedanke, daß etwas von ihnen falsch gedeutet werden könne, versetzte sie in Schreck, denn der gute Leumund war ihr allerhöchstes Gut im Leben und im Sterben. So war ihr ganzes Bestreben nur auf ein gutes Aussehen nach außen, auf ihren Ruf bei den Mitmenschen gerichtet; an ihrer innern Reinheit aber arbeiteten sie nicht. So ein Fleckenloser war gewiß keines Diebstahls fähig, aber dem Herrgott hat er den größten Teil seines Lebens abgestohlen! Eines strafbaren Betruges machte er sich niemals schuldig, aber sein Weib hat er um das Lebensglück und seine Kinder um den frohen, schönen Glanz ihrer Jugend gebracht! Ein Mörder, ein Totschläger, ein Unmensch war er nie, aber für seine Wissenschaft konnte er Tausenden von Pferden, Hunden, Katzen und andern armen, tief beklagenswerten Tieren die entsetzlichsten Martern und den qualvollsten Tod bereiten! Ein Hochverrat, eine Majestätsbeleidigung wäre ihm unmöglich gewesen, aber die himmlische Majestät Gottes hat er in seinem Innern unzähligemal geschändet! Meineid und Fahnenflucht verachtete er, aber vom Militär hat er sich lossimuliert! Raub und Erpressung hielt er für die schändlichsten der Taten, aber Bücher hat er unter anderm Titel und unter vorsichtiger Veränderung der Namen nachgedruckt und seine Arbeiter gezwungen, sich für ihn für geringeren Lohn zu schinden, weil sie nur von ihm abhängig waren! Falschmünzerei oder falsches Gewicht war bei ihm nicht zu finden, aber die .Geschäftsgeheimnisse seines Mitbewerbers hat er ausgespürt, und seinen Kunden verkaufte er Wasser in der Milch und das Fleisch verendeter oder krank gewesener Tiere! Bestechung gab es nicht in seinem Amte, doch die Stelle, welche er zu vergeben hatte, bekam der Schützling seines Freundes, aber nicht der ihrer Würdige! So waren diese alle äußerlich rein, aber innerlich voll Schmutz. Nun mißt die Waage dort nicht den äußern, sondern den innern Menschen. Denkst du auch jetzt noch, daß diese Reinen glücklich über die Brücke kommen werden?«
Der Münedschi antwortete:
»Mir ist das Herz zum Brechen schwer! So viele, viele, viele ich bisher gesehen habe, es war kein einziger unter ihnen, den du der Gnade Allahs für wert gehalten hast. Soll denn der Abgrund alle, alle verschlingen? Soll ich mich denn nicht wenigstens über einen, nur einen einzigen freuen, der drüben an das Tor der Seligkeit gelangt?«
»Sie waren der Gnade Gottes nicht würdig, weil sie nicht nach ihr gestrebt haben. Wer auf seine vermeintlichen Verdienste pocht und dafür den verdienten Lohn, aber keine Gnade fordert, der wird auch keine finden. Aber ich bemerke, daß dein Wunsch in Erfüllung geht. Sag mir, was du jetzt siehst!«
»Es kommen zwei Frauen, ganz allein, nebeneinander; die eine ist sehr schön, die andere sehr einfach gekleidet. Dann eine Strecke hinter ihnen folgt eine unabsehbare Schar von Männern und Frauen, denen aber kein Panier vorausgetragen wird. Es sind auch viele, viele Kinder dabei. Und nun flammt es plötzlich dort drüben über dem Tore der Seligkeit hell leuchtend auf, so daß hier bei uns die bisherige Düsterkeit wie ein heller, schöner Tag erscheint. Ich sehe, daß die Engel diesem Zuge in freudiger Erwartung entgegenblicken. Sollte er aus Glücklichen bestehen, denen es beschieden ist, den Himmel zu erreichen!«
»Ja; ihnen ist er bestimmt! Du hast gehört, daß du dich hier mitten in der Zeit des Sterbens befindest. Das helle Licht des Jenseits dringt plötzlich zu uns herüber; die Todesstunde derer, die jetzt kommen, ist eine glückverheißende; sie wird von der Morgenröte des ewigen HimmeIstages überflutet. Die, weiche sich Standarten vorantragen ließen, stellten Forderungen an Gott; sie verlangen hier den himmlischen Lohn für ihre eingebildeten irdischen Vorzüge und Tugenden. Die aber jetzt erscheinen, sind solcher Selbsttäuschung und Überhebung fern. In der Erkenntnis. ihrer Mangelhaftigkeit nähern sie sich in zagender Demut der Waage der Gerechtigkeit, und den Demütigen gibt Gott Gnade. Für sie ist die ihnen entgegenleuchtende Freude der Engel schon im Sterben der Beginn der Seligkeit.«
»Wer sind die beiden Frauen?« fragte der Blinde.
»Es sind Heidinnen des Herzeleides, des Duldens. Eine Fürstin und eine Arbeiterin, standen sie, die eine auf der höchsten und die andere auf der niedrigsten Stufe des Erdenlebens, einander so fern, daß keine die andere kannte; aber so verschieden die Arten und die Wege des Lebens sind, sie führen alle vor der großen Entscheidung der Todesstunde zusammen. Die Fürstin war ein liebes, heiteres Kind, welches mit frohen Augen in die verheißungsvolle Zukunft blickte; es waren ja alle Vorbedingungen irdischen Glückes vorhanden. Da aber griff die Staatskunst mit eiserner Faust in ihr bisher holdes Geschick. Man entriß sie den liebenden Eltern und Geschwistern und brachte sie, die sich vergeblich Sträubende, in ein fernes Land, zu einem fremden Volke, an die Seite eines Herrschers, dem nie ihr Herz gehören konnte. Ihr goldener Jugendtag war dahin; die Sonne des irdischen Glückes verschwand. Kalte Pflichten begannen, mit furchtbarer Last auf ihr warmes Herz, ihr weiches Gemüt zu drücken; nur schwer fand sie Atem für ihre nach Verständnis und Liebe verlangende Seele. In diesem Gefühl des Erstickens schrie sie zu Gott, und er sandte ihr den Engel des Glaubens als reitenden Boten. Aus den Höhen des Himmels floß ihr die Kraft, den Pflichten der Erde zu leben; darum strebte dieses Leben auch wieder zu ihm empor. Sie legte ihr einstiges Sehnen nach Glück in die Hände der ewigen Liebe und erhielt es als Erhörung für das ihr anvertraute, fremde Volk zurück. Sie teilte, obgleich selbst ungeliebt, diese Liebe aus vom Gletschereise ihrer Höhe herab nach allen Seiten. Für sich auf alles gleißende Erdengut verzichtend, wurd sie in schlichter Anspruchslosigkeit eine Spenderin der Güte, die im Verborgenen wirkt. Als Fürstin angefeindet und in frostige Einsamkeit geschoben, war heimlich sie die Barmherzigkeit und Segen spendende Mutter der Bedürftigen. Ein jeder ohne stille Wohltat vollbrachter Tag erschien ihr als verloren. So gingen ihre Jahre hin, und nun sie von der Erde scheidet, umstrahlt kein fürstlicher Pomp ihr einsames, gemiedenes Sterbelager. Nur eine einzige, treue Dienerin kniet unter herzbrechendem Schluchzen dort und betet, betet laut und erschütternd, obgleich ihr bei jedem Worte die Stimme versagen will. Sie allein hat die sterbende Fürstin verstanden und geliebt; sie war die vertraute Zeugin ihrer Leiden, die verschwiegene Botin ihrer Wohltätigkeit. Nur sie weiß es, was die geliebte Herrin ihrem Volke war, nur sie! Doch nein, nicht nur sie! Es gibt außer ihr noch Einen, der alles sieht und kennt, den allwissenden Erforscher der Herzen und Gedanken. In Seinem Buche stehen all die zahllosen Bitterkeiten, die sie auf dem schweren Pfade der Entsagung hinabzukämpfen hatte, alle Angriffe, die sie in gottergebenem Verzicht auf Gegenwehr erduldete, aber auch die ganze Fülle der Liebe, welche sie über die Armen und Bedrängten ausgegossen hat, für alle Ewigkeit verzeichnet. Jetzt, im Augenblicke des Abschiedes, klingt das Schluchzen der neben ihr Betenden aus immer weiterer Ferne in ihr Ohr, und so verschwindet vor ihr auch die Zeit des Duldens und des unverschuldeten Leidens. Zu ihren Seiten tauchen die schönen, goldenen Jugendtage wieder auf und vor ihr die in himmlischer Liebe lächelnden Engel, welche ihr dort an der Waage der Gerechtigkeit entgegenwinken. Ich sage dir, der irdische Thron war ihr ein Marterstuhl, wie er es so vielen um ihn Beneideten ist, aber was sind alle diese Qualen gegen die Herrlichkeit jenseits des Tores da drüben, wo aus jedem Augenblicke des einstigen Herzeleides und aus einer jeden einzelnen ihrer Liebestaten ihr ein unerschöpflicher Bronn der Seligkeit entgegenfließen wird! Vom allwissenden Vater im Himmel wird keine Sekunde des Leides und keine noch so heimlich geweinte Träne seiner Kinder vergessen!«
Da rief der Münedschi freudig aus:
»Ich sehe, du hast recht! Jetzt sieht sie die Engel winken; sie breitet die Arme nach ihnen aus und beflügelt ihre Schritte. Die andere auch, die mit ihr geht!«
»Diese war eine Tochter der ärmsten Dürftigkeit«, erklärte Ben Nur. »Ihre Kindheit war Hunger, Verachtung und Arbeit. Sie hat nie das Auge einer liebenden Mutter gesehen und vom harten Vater nur die unbarmherzig schlagende Hand gefühlt. Unter fremde Leute geworfen, diente sie treu und ehrlich, doch stets nur bei herzlosen Menschen, und als sie glaubte, ein Herz gefunden zu haben, dem sie sich anvertrauen dürfe, und sich ihm zu eigen gab, da war es ein roher, ein gefühlloser Mann. Er frönte dem Spiel, dem Trunk und andern Lastern; er haßte die Ordnung, die Arbeit und jede ihn bindende Pflicht. Sie mußte schaffen und sorgen für ihn und die zahlreichen Kinder, und tat es still und ergeben, als sei's ihr nicht anders beschieden. Doch, was sie mit eigener Entbehrung durch rastlose Arbeit errang, das floß bei ihm durch die Gurgel, fiel im Spiele andern zu. Sie sah keine Frucht ihres Fleißes und hielt doch nicht auf, sich zu mühen, denn sie glaubte, es seien die Kinder ein Segen des Himmels, dem sie durch treue, mütterliche Pflege sich würdig zu erweisen habe. Da starb der Mann. Sie begrub ihn; sie weinte an seinem Grabe; sie trauerte um ihn, ohne ihm einen Vorwurf in die Grube nachzusenden. Dann aber schienen sich ihre Kräfte für die Kinder zu verdoppeln. Sie nährte sie besser als vorher; sie schickte sie in die Schule; sie gab sie in die Lehre; sie sorgte für ihr Fortkommen und hatte kein Wort der Klage über die Nächte, in denen sie bei der stillen Lampe saß, um viel, viel mehr zu tun als ihre Pflicht. Die Söhne nahmen sich Frauen, die Töchter Männer; die Mutter arbeitete weiter. Es stellten sich Enkel ein; da gab es noch viel mehr zu sorgen. Was sie da alles tat, tat sie nicht für sich selbst, doch niemand dankte ihr. Man nahm es nicht nur als selbstverständlich hin, sondern es wurde für noch viel zuwenig gehalten. Kein Kind hatte einen Platz, die Mutter zu sich zu nehmen; ein dürftiger Raum unter dem Dache, ein Tischchen, ein Stuhl und eine ärmliche Lagerstätte, das war das Schaffensfeld unendlicher Muttertreue, die keine Ruhepause kannte und sich selbst vollständig vergaß. Sie wurde auch vergessen in der Stadt. Niemand kam zu ihr, auch nicht ihre Kinder und Enkel; diese verlangten, daß sie komme, und zürnten, anstatt zu danken, wenn die zitternden Hände der Greisin nicht mehr soviel brachten wie früher. Nun liegt sie endlich im Sterben; kein Mensch, kein Kind ist bei ihr, um ihr die guten, stets so wachen Augen zur endlichen Ruhe liebend zuzudrücken! Sie lebte jenes Heldentum des Duldens, dem niemand anmerkt, daß es Dulden ist, und wie sie es lebte, so stirbt sie es jetzt. Das Erdenleben versagte ihr jedes Glück, jede Freude, jeden Sonnenstrahl. Erst jetzt, in ihrer Todesstunde, lernt sie den Glanz des Lichtes kennen. Zwar kommt er spät, nun da ihr Auge bricht, aber er ist kein irdischer und wird darum nie wieder von ihr scheiden. Das Diesseits hat sie um den Lohn ihrer Arbeit betrogen; das Jenseits wird ihr diesen Verlust tausendfach ersetzen!«
»Und ihr Mann? Wird sie den dort sehen?« fragte der Blinde.
»Frag nicht nach ihm! Er gehörte zu den Hetzern, zu den Schreiern, weiche in Versammlungen mit glühender Begeisterung für ihre Menschenrechte Streiter sammeln, daheim aber ihre Gatten, ihre Vaterpflichten verleugnen. Er ist nicht über Es Ssiret, die Brücke des Todes, hinübergekommen! Schau lieber auf die dichten Scharen, welche jetzt vorüberwallen!«
»Ja das sind liebe, stille, gottergebene Menschen, denen anzusehen ist, daß sie keine irdischen Ansprüche bei sich tragen, obwohl ich sehr vornehme Personen unter ihnen bemerke. Und der Glanz aus dem Jenseits herüber wird immer heller! Ist er es, den ich wie Glorienschein um ihre Häupter liegen und aufwärts und hinüberstreben sehe?«
»Nein. Was du im Jenseits leuchten siehst, das ist die ewige Liebe, von weicher jedem Menschen ein Strahl mit auf die Erde gegeben wird. Pflegt er dieses himmlische Feuer, so bleibt es bei ihm, leuchtet ihm durch das Leben und strebt mit ihm in der Todesstunde nach dem Jenseits hinüber, nach seinem Urquell hin. Während der Erdentage brannte es auf den Altären der Herzen als das unverlöschliche heilige Licht des Glaubens; jetzt, wo der Glaube in das Schauen überfließt, fließt auch dieser Strahl dahin zurück, woher er kam, und legt sich als Erkennungszeichen um die Stirnen derer, denen er die Überwindung der Brücke und des Abgrundes verbürgt. Wie gerne würde ich dir hier von jedem Einzelnen sagen, warum gerade er diese Aureole trägt! Aber es sind ihrer zu viele, und es ist dir hier an diesem Orte nur eine ganz bestimmte kurze Zeit gegeben, welche fast vorüber ist. Du gehörst ja noch dem Diesseits an; hier aber geht dieses in das Jenseits über; bleibst du zu lange hier, so würde die Auflösung auch dich ergreifen, und das muß ich verhindern. Ich als dein Schutzengel bin verpflichtet, dafür zu sorgen, daß dein Erdenlauf nicht um einen Augenblick gekürzt werde, denn er ist die Vorbereitung für El Mizan, die Waage der Gerechtigkeit, welche auch du zu überschreiten hast, und jede Sekunde des Diesseits ist von unersetzbarer Kostbarkeit, weil eine einzige genügen kann, eine verlorene Seele dem Himmel zurückzugewinnen! Doch einige darf ich dir noch kurz zeigen. – Ich sehe unter ihnen viele, die gegen die staatlichen Gesetze gesündigt haben und dafür bestraft worden sind. Es ist im Himmel ja mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über Neunundneunzig, welche glauben, der Buße nicht zu bedürfen, weil sie sich für gerecht halten! Es sind unter ihnen Gefallene aller Art, denen die erbarmende Liebe Kraft verlieh, wieder aufzustehen. Es sind Regenten und Feldherren dabei, die man des Massenmordes der Schlachten anklagte, an dem sie aber unschuldig waren, weil er ihnen aufgezwungen wurde. Ich sehe da berühmte Träger der Wissenschaft, die aber über ihrer Gelehrsamkeit nicht den Glauben und die Liebe vergaßen. Ihr Ruhm wird im Himmel doppelt leuchten! Ich sehe Reiche, welche die Hungrigen speisten, die Durstigen tränkten und die Nackenden kleideten. Sie haben ihren Reichtum auf Erden lassen müssen, sich aber himmlische Schätze gesammelt, welche dort an der Waage bis auf das Gewicht einer Tauperie für sie eingetragen werden! Ich sehe Priester, welche nicht bloß Lehrer des Wortes, sondern Verkündiger und Täter des Geistes im Worte, wirkliche Prediger der Liebe waren. Ihnen ist es gegeben, das Lob des Herrn erklingen zu lassen in alle Ewigkeit! Ich sehe Gewaltige der Erde, weiche gütige Väter, weise Erzieher und freundliche Beglücker ihrer Völker waren. Wahrlich, ich sage dir, im Jenseits werden sie über mehr gesetzt werden, als sie diesseits beherrschten! Ich sehe den Millionär, weicher der Barmherzigkeit sein Vermögen widmete, und den Bettler, der mit dem Straßenhunde sein letztes Stück Brot teilte. Ich sehe die Gründer großer Armen und Waisenhäuser und den kleinen Knaben, welcher dem dürstenden Vöglein Wasser gab. Ich sehe Fürstinnen und Prinzessinnen, weiche, von der Glorie irdischer Erhabenheit umgeben, aus ihrem hohen Kreise heraustraten, um herniederzusteigen und als Huldspenderinnen der Liebe zu walten. Glaube nur, der Herr aller Himmel wird ebenso herabsteigen wie sie und ihnen diese Güte tausendfältig lohnen! Ich sehe edle Frauen, welche sich nicht schämten, die Hütten der Armen, der Kranken, der Witwen und Waisen zu besuchen und den Verachteten zu zeigen, daß auch sie Brüder und Schwestern in der großen, die ganze Menschheit umfassenden Familie des Allvaters seien. Du darfst überzeugt sein, daß sie nun dort an der Waage für würdig befunden werden, zur Familie der Seligen zu gehören! Ich sehe Seelen, deren bloße Anwesenheit die Wirkung hatte, als ob ein warmer, tröstender und beruhigender Sonnenstrahl mit ihnen hereingekommen sei. Es ist ein Himmelsglück, daß es solche Menschen gibt; sie werden im Jenseits noch viel heller strahlen als während ihrer diesseitigen Pilgerzeit! Ich sehe Richter, weiche selbst in dem ärgsten Verbrecher noch den Menschen suchten, um so mild wie möglich sein zu dürfen, Betrogene, Bestohlene, Beleidigte, weiche nicht nur vergeben, sondern sogar vergessen konnten. Gott wird auch ihnen ein milder Richter sein und ganz so vergeben und vergessen, wie sie es taten! Ich sehe unter dieser Schar auch Künstler, deren Streben es war, in ihren Werken die wahre Natur, die Übermacht des Guten und Schönen über das Böse und Häßliche, also die Offenbarung Gottes im Menschen, des Himmlischen im Irdischen nachzuweisen. Sie wühlten nicht wie andere mit Wollust im Schmutze; sie machten nicht unter dem irrigen Vorgeben, wahr sein zu müssen, die Roheit und das Laster zur Staffel ihres Ruhmes, denn sie wußten, daß die Sünde nicht die Wahrheit, sondern ihre abstoßende Verneinung ist. Die Kunst ist nur dann wirklich Kunst, wenn sie nach dem Edlen auch auf edlem Wege strebt. Wer da glaubt, er könne dem Hohen durch die Darstellung des Niedrigen dienen, der versteht die Aufgabe nicht, die ihm von Gott, dem Urquell des höchsten Könnens und also auch aller Kunst, geworden ist! Ich sehe ferner Freunde, weiche wahre, ehrliche Freunde waren. Sie hielten, wenn es nötig war, nicht mit der bitteren, heilsamen Wahrheit zurück, standen aber auch mit ihrem ganzen Haben und Können für die Freundschaft ein! Ich sehe Väter, welche die Schwäche nicht mit der Liebe verwechselten, sondern ihrer Pflicht mit wohlabgewogener Gerechtigkeit walteten, obwohl dies ihrem Herzen oft nicht leicht geworden ist. So ein Vater hat seinen Sohn nicht moralisch totgelobt oder durch nachsichtige Schwachheit selbst zum Schwächling gemacht und seine Tochter nicht zu einem Weibe erzogen, weiches für seinen Beruf verloren ist! Und ich sehe Mütter, denen die Kinder nicht als herausgeputzte Gegenstände eitlen Stolzes und überhebender Prahlsucht dienten, sondern denen sie das waren, was sie jeder Mutter sein sollen: Seelenblumen, von Gott dem Elternhause anvertraut um, von des Vaters Hand begossen und von dem Mutterauge bestrahlt, zum Himmel emporzuwachsen. Sei versichert, daß solche Eltern an solchen Kindern nicht nur im Diesseits Freude erleben, denn bei solcher aufwärts strebender Pflege steigen Vater und Mutter selbst mit himmelan!«
Nach diesen Worten trat wieder, wie schon einmal, eine Pause ein, während weicher der Münedschi leise, für uns unverständliche Worte vor sich hin murmelte. Dann hörten wir die Stimme Ben Nurs wieder laut sagen:
»Nein, du darfst nicht länger hier verweilen; die Zeit ist abgelaufen. Komm!«
Ich behielt den Blinden aufmerksam im Auge. Er griff mit der Rechten zu, als ob er eine Hand erfasse, und ahmte mit der Linken leise die Bewegung des Schwebens nach. Dann hob er erst den einen und hierauf den andern Fuß, trat fest auf und sprach:
»Das ist die Erde wieder; ich fühle es. Nun führe mich zu dem Orte zurück, von weichem du mich holtest!«
Er begann jetzt, ohne sich um uns zu bekümmern, den Felsen wieder hinabzusteigen. Dies geschah ganz in der für uns so unerklärlichen Weise, wie er heraufgeführt worden war. Er hielt sich nicht an und kam doch, ohne zu straucheln, hinunter, während wir uns Mühe geben mußten, nicht auszugleiten und zu fallen. Es war wirklich wunderbar! Es drängte sich mir wieder der Gedanke auf, daß er trotz allem doch wohl sehend sei; aber ich mußte ihn von mir abweisen, weil ein solcher Betrug einfach unmöglich war.
Unten angekommen, gingen wir wieder still hinter ihm her. Er schritt ganz genau auf dem Wege zurück, den wir gekommen waren, ohne nur ein einziges Mal zu zögern. Auch setzte er sich, als wir unsern Platz erreicht hatten, ebenso genau auf derselben Stelle nieder, auf weicher er vorher gesessen hatte.
»Ich danke dir, Ben Nur, du treuer, lichter Begleiter meiner Seele!« sagte er mit halblauter Stimme; dann lehnte er den Oberkörper an den Felsen zurück, und nach kurzer Zeit hörten wir an seinen leisen, regelmäßigen Atemzügen, daß er schlief.
Kara Ben Halef war munter; er wagte aber nicht, zu fragen, wo wir gewesen seien. Wir verhielten uns zunächst ebenso still wie er, weil das, was wir gesehen und gehört hatten, das Denken und Fühlen jedes von uns für sich selbst in Anspruch nahm. Ich ging mein ganzes bisheriges Leben durch, um in demselben vielleicht einen Wink für die Erklärung dieser eigentümlichen nächtlichen Szene zu finden; doch vergebens!
Ich weiß ja wohl ebensogut wie mancher andere, daß den sogenannten Naturvölkern eine – ich will sagen, Hinneigung zum geheimnisvollen innewohnt, für weiche das Wort Aberglaube doch nicht ganz treffend ist. Die reizlose, oft ärmliche Kost, die der gestaltenden Phantasie so günstige Wüste oder Savanne, das magische Halblicht des lautlosen, unergründlichen Urwaldes jenseits des Mississippi, das sind Faktoren, welche in Verbindung mit ererbter psychischer Disposition gewiß imstande sind, den Menschen für das empfänglich zu machen, was der bekannte Ausspruch als »zwischen Himmel und Erde« liegend bezeichnet. Daher der reiche Märchenschatz des Orients und die Stimmung der Steppen und Wüstenvölker für das Übersinnliche. Man glaubt gar nicht, was für eine ausgiebige Gestaltungskraft dem Beduinen in diesem Sinne innewohnt! Je weniger Lebewesen die ungeheuren Strecken seiner Heimat bevölkern, desto schöpferischer wird seine Einbildungskraft. Er ersetzt ihnen überreich an imaginären Bewohnern, was ihnen an wirklichen fehlt, und weiß zuletzt selbst nicht mehr, wo die Tatsache aufhört und die Erfindung beginnt. Ebenso und doch auch wieder anders ist es bei den Indianern. Auch sie sind phantastisch tätig, doch fehlt ihnen die Sonne des Südens und die Unerbitttlichkeit ihres traurigen Geschickes vertieft die Schatten, in denen ihre Bilder sich bewegen. Es ist ein ernstes, sehr ernstes Reich, welches man betritt, wenn am verglimmenden Lagerfeuer ein alter, auch am Verlöschen des Lebens stehender Indsman beginnt, zu erzählen, was längst verstorbene, berühmte Krieger auf der schlafenden Prärie, in den Schluchten des Gebirges, in den Tiefen der Cañons und zwischen den Riesenstämmen des Urwaldes gesehen haben. Das sind keine Märchen wie jene des Orients, sondern Berichte über nächtlich auferstandene Tote, weiche an dem blutigen Geschicke ihrer Rasse sterben mußten und doch ' nicht ruhen konnten, weil der Mord noch ferner rücksichtslos auf ihren Gräbern tanzt. Das sind Menschen, die wirklich gelebt haben, die man einst kannte und einst sah. Und wenn es nicht wahr ist, was man von ihnen erzählt, daß man sie nach ihrem Tode noch oft gesehen habe, so sind sie dennoch wieder lebend geworden, aus der Erde gekratzt von den Klagegeistern einer dem Untergange, dem gewaltsamen Untergange geweihten Nation. Winnetou, der nüchternste, der hell und scharfdenkendste aller roten Männer, war gewiß kein Phantast, aber zuweilen, wenn wir miteinander im nächtlichen Dunkel lagen, rings von Gefahr umgeben, da geschah es, daß er die Hand hob, um grüßend rundum zu winken, und als ich ihn einst fragte, warum er das tue, antwortete er:
»Mein weißer Bruder frage nicht. Wir sind beschützt, das mag dir genügen!«
Und ehe ihn die tödliche Kugel traf, war er von einer ganz bestimmten Todesahnung ergriffen, die leider auch in Erfüllung ging. Ahnung sage ich, denn er sprach sich nicht deutlich aus; aber später fiel mir ein Abend ein, an weichem wir ganz allein hoch oben in der Einsamkeit des Flintpasses saßen, ernste Gedanken austauschend, und dabei auch das Übersinnliche berührend. Ich hatte das Gebet erwähnt; da sagte er:
»Ja, der große, gute Manitou verlangt, daß man mit ihm rede, denn jedes Kind soll doch mit seinem Vater sprechen. Wenn man in Gefahr ist und ihn um Hilfe bittet, so sendet er seine Krieger herab, die für uns kämpfen. Mein weißer Bruder nennt diese Freunde Engel; ich sage Krieger, denn das Leben ist ja stets nur Kampf. Du hast auch zuweilen nicht Engel, sondern Schutzengel gesagt und nur von einem gesprochen; ich aber weiß, daß mehrere bei mir sind, sooft ihr Beistand nötig ist.«
»Woher weißt du das?« fragte ich.
»Wenn ich sie sehe, grüße ich sie; also weiß ich es, denn was man sieht, das ist gewiß! Ich werde auch wissen, wenn ich sterbe; sie sagen es mir.«
»Winnetou!« fuhr ich betroffen auf, denn ich wußte, daß er im Ernste sprach. Er scherzte nur seiten und in solchen Sachen nie.
»Ja, sie werden es mir sagen!« behauptete er. »Du wirst dich wohl schon oft gewundert haben, daß ich in Gefahren etwas ganz Unerwartetes tat, was keinen Grund zu haben schien und uns doch errettete. Du schriebst es meiner Klugheit zu, aber ich handelte nur nach dem Willen derer, die du Schutzengel nennst. Vielleicht kommt die Zeit, daß ich dir mehr über sie sage. Jetzt muß ich selbst noch lernen und erfahren, denn es ist nicht leicht, sie zu verstehen, und sehr oft irre ich mich noch. Es könnte jeder Mensch empfinden, was der große Manitou ihm durch die Engel sagt, wenn er mehr auf sich und ihre Stimme achtete und sich befleißigte, sie nicht dadurch zu betrüben und von sich fortzustoßen, daß er Böses tut.«
An dieses Gespräch mußte ich jetzt hier am Bir Hilu denken. Hatte Winnetou sich getäuscht? Waren diese »Krieger des großen, guten Manitou« Phantasiegestalten, Gebilde seiner eigenen Anima? Das konnte ich bei seiner beispiellos scharfen Beobachtungsgabe doch wohl kaum annehmen! Und selbst wenn ich seinen Worten vollen Glauben schenkte, so war damit noch nichts für die Erklärung des heutigen Vorganges, des Schlafsprechens und gar der Wesenszweiheit des Münedschi getan.
Auch während der tiefsinnigen Reden meiner alten, hochehrwürdigen Marah Durimeh war manches Wort gefallen, welches über das Diesseits hinüberzeigte, doch aber keines, an welches ich mich jetzt hätte halten können. Ganz selbstverständlich lag mir vor allen Dingen die Frage nahe, welche Stellung ich als gläubiger Christ zu dem, was ich gesehen und gehört hatte, einnehmen sollte. Da konnte ich denn in allem, was der angebliche Ben Nur gesagt hatte oder, anders ausgedrückt, in allen Reden, welche ihm zugeschrieben werden sollten, nichts entdecken, was ich als glaubensfeindlich zu bezeichnen hätte. Es bezog sich alles nur auf die Sterbestunde, nicht auf den Himmel selbst, denn wir hatten uns ja vorzustellen gehabt, daß der Blinde nicht im, sondern am Jenseits stehe. Bedenklich waren mir nicht seine Worte, sondern war mir nur er selbst, und wenn wir es da mit einem Nervenkranken, einem Somnambulen oder Noctambulus zu tun hatten, so war das eine rein ärztliche, aber keine theologische Angelegenheit. Übrigens hatte er so manche, wenn auch nicht landläufige Idee ausgesprochen, die schon längst die meinige auch war.
Freilich war der Eindruck, den die Stunde dort auf dem Felsen auf mich gemacht hatte, kein gewöhnlicher. Das Vorhergeschehene, die Örtlichkeit, die Person des Blinden, seine tief ergreifende Ausdrucksweise, das hatte sich zur Hervorbringung einer Wirkung vereinigt, weiche ebenso tief wie nachhaltig war. Was hätte ich nicht für die Berechtigung gegeben, annehmen zu dürfen, daß dieser Ben Nur, dieser »Sohn des Lichtes« kein Phantom sei!
Ich war so in Sinnen und Grübeln versunken, daß ich, um darauf eingehen zu können, mich zusammennehmen mußte, als Halef nach längerer Zeit endlich fragte:
»Sihdi, geht es dir auch so wie mir? Ich will einschlafen und kann doch nicht. Was ich gehört habe, wird zur Tat; die Worte verwandeln sich in Gestatten. Ich stehe an der Pforte des Jenseits, inmitten der Todesstunde, und sehe die Scharen der Unseligen und Seligen nach El Mizan, der Waage der Gerechtigkeit, an mir vorüberziehen. Wie werde ich von jetzt an flehend beten, dereinst nicht zu denen zu gehören, weiche in den Abgrund des Verderbens stürzen! Und weiche Mühe werde ich mir geben, so zu leben, daß einer der Engel, welche an der Waage stehen, meine Hand fasse und mich glücklich über Es Ssiret, die Brücke des Todes, nach dem Tore der Seligkeit bringe! Wahrlich, ich sage dir, dieser Ben Nur, von dessen Dasein ich bis heut gar nichts wußte, hat einen ganz, ganz andern Menschen aus mir gemacht! Ich sage nichts, und ich verspreche nichts, aber du wirst es sehen und beobachten!«
Es war eine heilige Begeisterung, welche aus ihm sprach, und mit ganz demselben Enthusiasmus ließ auch der Basch Nazyr seine Worte folgen:
»Ja, Effendi, ich stimme Hadschi Halef vollständig bei. Was bin ich doch bisher für ein armer, sündhafter, unnützer Mensch gewesen! Wie viele, viele Worte Ben Nurs klangen so, als ob sie nur für mich gesprochen worden seien! Höre, was ich dir sagen werde! Oder errätst du es vielleicht schon?«
»Nein«, antwortete ich.
»Die Liebe, die Liebe, die hat es mir angetan, die hat mich so tief ergriffen. Die Milde, die Barmherzigkeit, die Versöhnlichkeit und das Vergeben! Wer hier nicht vergibt, dem wird dort auch nicht vergeben werden! Mir ist himmelangst geworden. Es bangt mir vor EI Mizan, der fürchterlichen Waage der Gerechtigkeit! Wir haben die Mekkaner zur Bastonade verurteilt; aber wenn es auf mich ankommt, so werden sie keinen Schlag erhalten, keinen einzigen Schlag. Allah behüte! Mir soll diese Bastonade nicht im Jenseits angerechnet werden! Du wirst einverstanden sein; aber was sagt Hadschi Halef Omar dazu?«
Jetzt war ich gespannt auf die Antwort meines kleinen Halef. Er, der an seiner Kurbadsch mit so großer Liebe hing und nicht gern eine Gelegenheit, sie in Bewegung zu setzen, vorübergehen ließ, sagte:
»Ich stimme bei. Ich haue sie nicht und lasse sie auch nicht hauen. Sie mögen unbestraft weiterziehen, bis nach Mekka und dann hinauf zur Brücke der Gerechtigkeit. Dort oben wird ihnen dann gewißlich werden, was sie verdienen; ich rühre keine Hand. Ihr habt gehört, was Ben Nur von den Richtern sagte: Sie werden im Jenseits so gerichtet, wie sie hier im Diesseits gerichtet haben. Ich richte nicht! Habe ich recht, Sihdi?«
»Ja und auch nein. Der Unberufene soll nicht richten. Der Richter aber hat das Gesetz zu vertreten und muß nach den Vorschriften desselben sein Urteil fällen. Jene strenge Waage der Gerechtigkeit verlangt nicht, daß der Missetäter unbestraft bleibe; aber da wir das Gestohlene wiedererlangt haben und Khutub Agha sowohl Richter als auch Vertreter des Kanz el A'da ist, so bin auch ich der Meinung, daß wir den Dieben die allerdings verdiente Strafe erlassen, die sie wohl auch ohne dem nicht erhalten hätten, wenigstens nicht in der Weise oder in dem Maße, wie ihr es euch vorgenommen hattet.«
»Was ich da höre! Du hattest also schon wieder deine Humanität im Nacken?«
»Dieses Mal war es weniger sie, als vielmehr die Klugheit. Wir werden sie höchst wahrscheinlich in Mekka wieder treffen, und so meinte ich, daß wir ihre Rache nicht bis auf den höchsten Grad steigern dürften. Darum freut es mich, daß ihr beide auf ihre Bestrafung ganz verzichtet habt. Wenn noch eine gute Ader in ihnen ist, wird diese Güte auf ihre Besserung wirken; wenn aber nicht, so habt ihr nach dem Willen der ewigen Liebe gehandelt, von welcher Ben Nur gesprochen hat, und die Genugtuung darüber wird euch willig machen, ihr auch fernerhin gehorsam zu sein.«
»Das ist wahr! Ich fühle es, daß diese Kraft schon in mir rege wird. Darum habe ich eine Bitte, von welcher ich hoffe, daß du sie mir erfüllen wirst, Sihdi:«
»Welche?«
»Du weißt doch, daß das Wort Kutub zwischen dir und mir verabredet worden ist?«
»Natürlich weiß ich das.«
»Ich wünsche, daß noch ein Wort hinzukomme.«
»Welches?«
»El Mizan, die Waage.«
»Warum?«
»Kutub bezieht sich nur auf das Sprechen; ich will aber auch in Hinsicht auf das, was ich tue, gewarnt sein. Ich meine, die Tat wiegt schwerer als das Wort, und da ist die zweite Warnung nötiger als die erste. Du weißt, daß ich die Angst nicht kenne; ich gehe jedem Feinde, selbst dem Löwen, ja sogar dem schwarzen Panther, ohne Furcht entgegen; heut aber habe ich noch viel mehr als die Furcht, nämlich das Entsetzen, kennen gelernt. Als eine Schar der Sterbenden nach der anderen kam, wohlgemut und mit vorangetragenem Panier, und Ben Nur immer und immer wieder sagte, daß ihnen allen der Abgrund beschieden sei, da packte mich ein Grauen, für welches es keine Worte gibt. Sihdi, mir soll dereinst keine stolze Standarte vorangetragen werden, sondern ich will in Demut nach der Waage wandern; denn ich habe mir das Wort gemerkt, daß Allah den Demütigen Gnade gibt. Darum bitte ich dich: Wenn mich der Hochmut und der Stolz wieder einmal, was sie doch so oft tun, bei meinem Zorne packen, und wenn ich überhaupt im Begriffe stehe, etwas zu tun, was gegen die uns heute verkündigte Liebe ist, so rufe mir ja schnell, El Mizan, die Waage!' zu; dann wirst du sehen, daß ich sofort in mich gehe, um meinem Zorne die Bastonade zu geben, welche die Mekkaner nun nicht bekommen werden! Willst du das tun?«
»Sehr gern!«
»Ich wollte, ich könnte so einen Warner auch stets bei mir haben!« sagte der Perser. »Ich habe bisher nur mich geliebt, keinen andern Menschen; von heute an aber soll es anders werden! Sag', Effendi, spricht euer Christentum auch von der Liebe?«
»Nur von ihr!« antwortete ich.
»Nur? Wirklich? Ich habe aber bei den Christen, welche ich bisher traf, keine gefunden!«
»So will ich dir jetzt eine Sure unseres heiligen Buches sagen. Höre!«
Ich zitierte das dreizehnte Kapitel des ersten Briefes Pauli an die Korinther. Er hörte andächtig zu und rief, als ich zu Ende war, aus:
»Das ist ja ganz so, als ob Ben Nur diese Sure auch so auswendig könnte wie du! Welch ein Wunder! Er hat immer ganz nach diesen herrlichen Worten gesprochen, und doch hat unser Kuran eine solche Sure nicht! Darum also, darum dieser Haß, dieser Kampf und Streit bei uns! Darum der gegenseitige Abscheu zwischen den Schiiten und Sunniten, und bei diesen wieder die ununterbrochene Feindschaft zwischen den Schafe'iten, den Hanefiten, den Hanbaliten und den Malekiten! Es fehlt die Liebe, nur allein die Liebe; Allah bessere es! Wie herrlich wäre es auf Erden, wem die Liebe wirklich und allein die Regierung hätte! Aber, Effendi – – –«
Er stockte, überlegend, ob er weitersprechen solle; dann fuhr er fort:
»Habt ihr eine große einige, eine ganze Christenheit?«
»Leider nicht!«
»Ja, ich weiß es; ich wollte nur hören, ob du es aufrichtig eingestehen werdest. Es gibt bei euch Katulikijihn, Rum, rum Katulikijihn, Ingilijihn, Mawarne, Protestanijihn und noch viele andere Spaltungen, deren Namen ich nicht kenne. Ich will dich nicht betrüben; aber beim Islam ist die Zwietracht kein Wunder, weil der Kuran keine solche Sure der Liebe kennt; ihr jedoch habt sie in eurem heiligen Buche stehen und kämpft trotzdem in noch mehr Heerlagern gegeneinander als wir! Ist da diese Sure in eure Herzen oder nur in euer Buch geschrieben? Seid ihr da nicht noch schärfer anzuklagen und nicht noch viel mehr zu bedauern als wir?«
Ich hätte mich wirklich in größter Verlegenheit befunden, was ich auf diese nur zu wohlbegründeten Vorwürfe antworten sollte, wenn mir nicht, dies ahnend, der wackere Hadschi schnell beigesprungen wäre:
»Was fällt dir ein, meinen Effendi so schwer zu beleidigen! Kann er dafür und trägt etwa er die Schuld daran, daß diese Sure bei so vielen Christen nicht da wohnt, wo sie wohnen soll? Ich sage dir, er schreibt Bücher, weiche gedruckt und dann von vielen Tausenden gelesen werden. Er braucht nur ein einziges Mal die Bitte hineinzubringen, daß sie einig sein und sich einander lieben sollen, so tun sie es sofort und auch von ganzem Herzen gern! Ich weiß das so gewiß, wie ich überzeugt bin, daß diese Liebe ihn und mich verbindet!«
Er hielt inne, uni den Eindruck seiner Verteidigung zu beobachten. Was aber dachte ich? Ich war still, sehr still!
Lieber Halef! Und wenn ich auch mit Engetszungen redete und meine Bücher mit einer Engelsfeder schriebe, meine Worte würden doch erfolglos verklingen, bis die Zeit kommt, welche kommen wird und kommen muß, weil sie die Zeit der Verheißung ist. Es wird dann nur ein Hirte und eine Herde sein! Aber wann? Sollen wir die Hände wartend in den Schoß legen und Gott allein walten lassen? Können wir denn nichts, gar nichts tun, diese Einigung herbeizuführen?!
Der Perser antwortete nichts. Er sah wohl ein, daß sein Vorwurf mich persönlich hatte treffen müssen, obwohl das nicht von ihm beabsichtigt gewesen war, darum fuhr der Hadschi in zwar milderem aber doch nachdenklichem Tone fort:
»Was verstehst du überhaupt vom Christentum! Kennst du das Kitab el mukaddas der Christen?«
»Nein«, gestand der Oberaufseher.
»Hast du es gelesen und studiert?«
»Wenn ich das hätte, würde ich es doch kennen!«
»So kannst du also auch nicht über die Christen sprechen. Den Kuran kennst du; also ist es dir erlaubt, von der gegenseitigen Feindschaft seiner Bekenner zu reden, und die ist so groß, daß du dich gar nicht um die Christen zu bekümmern brauchst!«
Da klang es hinter den Vorhängen des Tachtirwan hervor:
»El Mizan, el Mizan, die Waage der Gerechtigkeit!«
Hanneh schlief also auch noch nicht. Sie hatte alles gehört und rief ihrem »Gebieter« jetzt das Mahnwort zu.
»Was ist's mit El Mizan?« fragte er.
»Hast du den Effendi nicht gebeten, dich mit diesem Worte zu warnen, wenn du zornig wirst?«
»Ja, das habe ich allerdings.«
»Darum habe ich es dir zugerufen, denn du bist jetzt gegen Khutub Agha, den Basch Nazyr von Meschhed Ali, unwillig gewesen!«
Da antwortete er in seinem freundlichsten Tone:
»O Hanneh, du anmutigste der schönen Lieblichkeiten,' nimm meinen Dank für die Aufmerksamkeit, welche du deinem Halef erweisest! Doch bitte ich dich um die Erlaubnis, dir mitzuteilen, daß du nicht der Effendi bist. Er allein ist's, der mich warnen soll; das ist ein Recht für ihn, welches du ihm nicht nehmen darfst. Wenn zwei Personen an meinem Zorne rütteln, so wird er größer anstatt kleiner. Und außerdem war es gar kein Zorn, sondern die Liebe und Freundschaft, weiche mir gebieten, mich dessen anzunehmen, dem in Gemeinschaft mit dir und unserm Sohne mein ganzes Herz gehört. Und nun versuch', zu schlafen, du Liebling meiner Seele! Das ist für dich und mich ja stets das beste, was du tun kannst, wenn du mich für zornig hältst, Leletak mubaraka – es sei deine Nacht gesegnet. Amin – amen!«
Sie entgegnete nichts, sondern antwortete nur mit einem kurzen, lustigen Lachen, welches er so gerne von ihr hörte. Dann sagte er leise zu uns:
»Horcht! Sie lacht! Wie hübsch und gut das klingt, wenn eine brave, liebende Frau fröhlich ist! Es gibt Weiber, welche stets die Gesichter des sauren Essigs machen. Genau so wie ihr Äußeres ist bei ihnen auch ihr Inneres, das einem verfinsterten Zelte gleicht, in welchem man nicht findet, was man sucht; sie verwandeln den Tag ihres Lebens für sich und andere in Nacht. Das Gemüt einer heitern Frau aber ist der Quell des lichten, warmen Sonnenscheins für ihren Mann, für ihre Kinder und auch für alle, mit denen sie in Berührung kommt. So einen Quell des Frohsinns und des Glückes habe ich in meinem Frauenzelte. Allah segne Hanneh, deren Herz der Ursprung ist, aus welchem er fließt! Sie wird nun schlafen. Wollen wir das nicht auch tun, Sihdi? Die Nacht ist kurz, und wer weiß, weiche Anstrengungen uns der morgige Tag bringt!«
Er hatte recht, obgleich er ebenso wenig wie wir ahnte, daß dieser Tag ein viel bewegterer für uns werden sollte, als wir jetzt dachten. Wir versuchten, die durch Ben Nur in uns erweckten, lebhaften Vorstellungen zur Ruhe zu bringen, was uns schließlich auch gelang, wir schliefen ein. Aber die Sorge weckte mich schon wieder auf, als der Morgen sich im Osten durch seinen immer heller werdenden Schein verkündete. Halef, Hanneh, Kara, der Münedschi und der Perser schliefen noch. Ich weckte sie nicht, stand auf und entfernte mich mit leisen Schritten, um zunächst die Kette unserer Posten abzugehen. Da erfuhr ich, daß die Nacht ohne jedwede Störung vergangen war; es hatte sich kein Ben Khalid sehen oder hören lassen. Hierauf ging ich nach dem Brunnenplatze und erfuhr zu meiner Genugtuung, daß unsere Kamele und Pferde alle getränkt worden waren. Das Wasser war nicht schlecht, wie ja schon der Name des Brunnens sagte Bir Hilu bedeutet »süßer Brunnen« – und so konnten wir ihnen heut einen ausgiebigen Ritt zumuten. Der Scheik der Beni Khalid und die Mekkaner hatten nicht geschlafen, was allerdings auch ganz erklärlich war. Die letzteren verhielten sich still, doch war ihnen der Grimm über ihre Lage sehr deutlich anzusehen, und aus den Augen EI Ghanis blickte mir ein Haß entgegen, welcher mich sofort getötet hätte, wenn es wirkliche und nicht bloß seelische Blitze gewesen wären. Tawil Ben Schahid aber war dieser Schweigsamkeit nicht fähig. Kaum sah er mich herantreten, so herrschte er mich an
»Binde mich augenblicklich los! Ich hoffe, du hast während der Nacht eingesehen, daß euer gewalttätiges Verhalten die schlimmsten Folgen für euch nach sich ziehen muß!«
»Nein, das habe ich nicht eingesehen«, antwortete ich.
»So hat Allah, um euch zu verderben, dich so geblendet, daß du die Folgen nicht zu erkennen vermagst! Sagst du dir denn nicht, daß meine Krieger nun kommen werden?«
»Das werden sie allerdings«, lächelte ich.
»Sie werden sehen, daß ich gefangen bin!«
»Ja, vielleicht!«
»Sie werden, sie müssen es ja sehen!«
»Wenn wir ihnen erlauben, hierherzukommen, ja.«
»Wenn ihr es ihnen nicht erlaubt, werden sie es erzwingen. Dann befreien sie mich und fallen über euch her!«
»So? Wirklich? Mir scheint, nicht mich, sondern dich hat Allah geblendet. Wenn nur ein einziger deiner Krieger es wagen sollte, sich feindlich gegen uns zu verhalten, so wird er an dir zum Mörder, denn ich jage dir in diesem Falle eine Kugel in den Kopf!«
»Das wagst du nicht, ganz gewiß nicht, denn mein Tod könnte euch nicht retten, sondern er würde das über euch hereinbrechende Verderben nur beschleunigen!«
»Das wollen wir ruhig abwarten. Zunächst scheinen sie noch zu schlafen, was leider kein Beweis dafür ist, daß sie mit so großer Treue an dir hängen, wie du mich glauben machen willst. Wenn sie dich wirklich liebten und nur eine Spur des gewöhnlichsten Scharfsinnes besäßen, hätten sie sich schon längst sagen müssen, daß es hier nicht ganz sicher um dich steht. Sie mögen also kommen; wir fürchten uns nicht vor ihnen!«
Er hatte in seinem Zorne so überlaut gesprochen, daß seine Stimme über den Platz hinübertönte und Halef aufweckte. Er sah mich hier bei den Gefangenen stehen, stand auf und kam herüber. Dadurch wurden die Blicke der Gefangenen auf ihn und nach der Stelle gezogen, wo wir gelegen hatten, und da es inzwischen hell genug dazu geworden war, so sahen sie den Blinden, weicher in seiner sitzenden Stellung mit dem Oberkörper noch schlafend an dem Felsen lehnte. Ich bemerkte dies und war gespannt darauf, wie sie sich nun verhalten würden.
Der »Liebling des Großscherifs« riß seine Augen so weit wie möglich auf und rief mit dem Ausdrucke der größten Überraschung:
»Wer – wer – – – wer ist das? Wer liegt dort an der Felsenwand?«
Sein Sohn war ebenso betroffen. Förmlich aufschreiend, antwortete er:
»Maschallah! Welch ein Wunder ist geschehen! Das ist ja der Münedschi, der gestorben ist!«
»Nicht nur gestorben ist er, sondern sogar auch begraben worden!« fügte der Vater hinzu. »Diese – – diese Hunde der Haddedihn haben sein Grab geschändet und ihn herausgenommen!«
Halef hatte mich inzwischen erreicht. Als er das Wort Hunde hörte, wendete er sich schnell um; er wollte wieder fort.
»Wohin, Halef?« fragte ich.
»Wieder hinüber«, antwortete er. »Ich habe meine Kurbadsch da drüben liegen lassen. Dieser Kerl hat uns Hunde genannt!«
»El Mizan, el Mizan, Halef! Denke an die Waage der Gerechtigkeit!«
Da drehte er sich mir wieder zu und sprach in gelassenem Tone:
»Ganz richtig, Sihdi! Ich dachte nicht daran. Der Schlaf hat mich um den Zusammenhang mit der gestrigen Stunde des Todes gebracht; du aber weckst in mir die Erinnerung an meine Vorsätze.«
Hierauf wendete er sich an El Ghani und sagte in ironischer Weise:
»Ja, wir haben ihn ausgegraben und seine Leiche mit uns geschleppt! Diese ist dann gestern abend von dort drüben zu euch herübergelaufen und hat nicht nur die Arme und die Beine bewegt, sondern sogar zu euch und uns gesprochen! Ihr seid ja außerordentlich kluge Menschen!«
Da sah der Mekkaner seine Gedankenlosigkeit ein und rief, mit allerdings nicht weniger Erstaunen:
»So ist er gar nicht gestorben, gar nicht tot gewesen! Allah, Allah, Allah!«
»Ja! Aber ihr seid so dumm, so hirnverbrannt gewesen, ihn lebendig zu begraben. Ihr habt über einen Lebenden die heiligen Gebete des Todes gesprochen!«
»Dafür konnten wir nicht! Er war starr; wir mußten ihn für tot halten!«
»Warum haben aber wir diesen Fehler nicht gemacht? Wir bemerkten sofort, daß er noch lebte!«
»Weil er wahrscheinlich grad in dem Augenblicke, als ihr zu ihm kamt, wieder erwachte; du hast mit deinen Vorwürfen zu schweigen!«
»Du willst mir verbieten, zu sagen, was mir beliebt? Mache dich doch nicht lächerlich! Ihr wußtet, daß seine Seele ihn zuweilen verläßt, und hättet also auf ihre Rückkehr warten sollen. Wir wußten das nicht und haben ihn dennoch aus dem Grabe genommen. Ihr habt euch als seine Mörder zu betrachten, obgleich wir ihm das Leben gerettet haben!«
Da richtete El Ghani einen besorgt forschenden Blick auf Halef und fragte:
»Hat er mit euch gesprochen?«
»Ja.«
»Gleich am Grabe?«
»Ja.«
»Dann später auch?«
»Auch.«
»War er dabei wach oder abwesend?«
»Beides.«
»Hat er von mir gesprochen?«
»Sehr viel.«
»Was hat er gesagt?«
»Das hat er zu uns gesagt und nicht zu dir. Wir behalten es also für uns.«
»Ich will und muß es aber wissen!«
»Und wir müssen, wollen und werden aber darüber schweigen!«
»Ich werde euch zwingen, zu reden, wenn die Beni Khalid gekommen sind!«
»Versuche das; ich habe nichts dagegen. Da ich aber grad guter Laune bin, will ich dir folgendes sagen: Viel Gutes kann kein Mensch von dir berichten, er also auch nicht!«
»So hat er euch angelogen. Er gehört zu uns. Bringt ihn zu uns herüber!«
»Das wollen wir uns doch erst überlegen. So viel wir wissen, ist er nicht dein Sklave, sondern sein eigener Herr, der tun kann, was er will.«
»So weckt ihn auf, und sagt ihm, daß ich ihn hier bei mir haben will!«
»Mensch, denke ja nicht, daß du nur zu befehlen brauchest, so müsse es geschehen l Er verdankt uns das Leben und gehört nun also zu uns, aber nicht zu euch!«
Die Besorgnis des Mekkaners schien zu wachsen. Es klang, als stehe er im Begriffe, ganz außer sich zu geraten, so aufgeregt rief er aus:
»Zu mir, zu mir gehört er! Ich habe ihm tausendfältige Wohltaten erwiesen, für die er mir die größte Dankbarkeit und Anhänglichkeit schuldet. Ich kann nicht dulden, daß er bei fremden Leuten ist. Er muß unbedingt herüber!«
»Wirklich unbedingt?«
»Ja, unbedingt und augenblicklich! Er darf keine Minute mehr bei euch sein!«
»Keine Minute? So! Du hast wahrscheinlich sehr große Angst vor uns?«
»Angst? Warum? Wieso?«
»Weil das, was wir von ihm hören können, vielleicht gefährlich für dich ist.«
»Gefährlich?« lachte er höhnisch auf, doch klang dieses Lachen sehr gezwungen.
»Jawohl, gefährlich!« nickte Halef. »Dein Gewissen ist jedenfalls nicht rein!«
»Bekümmere dich um die Reinheit des deinigen! Schickst du ihn herüber?«
»Nein.«
»So wirst du gleich sehen, was ich tue. Ich wecke ihn. Da kommt er jedenfalls!«
Er schrie mit aller Stärke seiner Stimme den Namen des Blinden über den Platz hinüber. Der Gerufene wachte auf und richtete sich horchend empor.
»Schweig augenblicklich! Kein Wort weiter!« befahl da Halef, indem er sein Messer zog und es gegen den Ghani zückte. »Rufst du noch ein einziges Mal, so schweigt dein Mund für immer!«
Diese Drohung klang so energisch und überzeugend, daß sie ihren Zweck erreichte; der Mekkaner sank in sich zurück und war nun still. Halef gab so, daß dieser es hörte, den strengen Befehl, ihn augenblicklich zu erstechen, wenn er wieder rufe. Dann wendete er sich zu mir:
»Hanneh ist wach geworden. Sie wird uns den Kaffee bereiten. Komm!«
Auch ich sah, daß die »schönste Besitzerin der Frauenzelte« ihre Sänfte verlassen hatte und sich mit dem Kochgeschirr beschäftigte. Einige kaffeedürstende Haddedihn waren schnell bereit, ihr Brennmaterial zu bringen und ein Feuer anzuzünden. Indem wir langsam zu ihr hinübergingen und uns also niemand hörte, fragte der kleine Hadschi:
»Habe ich das jetzt recht gemacht, Sihdi?«
»Hm!« machte ich.
»Brumme nicht, sondern sprich deutlich! Bist du etwa im Zweifel?«
»Ja.«
»Warum?«
»Du hältst es wohl gar nicht für möglich, daß der Münedschi wieder zu seinen Gefährten will? Ich schließe das nämlich aus deinem Verhalten.«
»Aus meinem Verhalten? Das verstehe ich nicht. Wie meinst du das?«
»Du hast den Ghani glauben lassen, daß der Münedschi uns von ihm Mitteilungen gemacht habe, die er nicht hätte machen sollen.«
»Was schadet das? Ich wollte ihn ärgern, und das ist mir gelungen.«
»Das ist ein Erfolg, dessen du dich gar nicht rühmen solltest, Halef!«
»Nicht? Aus welchem Grunde?«
»Erstens ist es nicht edel, Menschen zu ärgern. Und zweitens hast du damit unserm Schützlinge, dem Münedschi, keinen guten Dienst erwiesen. Das Mißtrauen, welches du zwischen ihm und dem Ghani gestreut hast, kann diesem armen Blinden schlimme Früchte bringen, wenn er darauf besteht, sich seinen früheren Gefährten wieder zuzugesellen. Ich meine, daß du das nicht hättest tun sollen!«
»Hm – – -hm – ! Du hörst, daß jetzt ich es bin, der brummt, und zwar brumme ich nicht über dich, sondern über mich, denn ich sehe ein, daß ich dir diesen deinen Vorwurf nicht widerlegen kann. Ich bin nicht nur unedel, sondern auch unvorsichtig gewesen. Warum hast du mich nicht mit dem vereinbarten Wort gewarnt?«
»Weil ich das gleich einen Augenblick vorher schon getan hatte.«
»Ja, das war aber nur wegen der Peitsche, nicht des Sprechens wegen!«
»So, so! Es würde dir also nicht lästig sein, von mir in einer Minute nochmal gewarnt zu werden?«
»O doch, sogar sehr! Ich sehe ein, daß ich mich noch viel, viel mehr zusammenzunehmen habe, als ich dachte. Weißt du, Sihdi, der Mensch ist doch ein außerordentlich schwaches Geschöpf, und ich, dein alter, unvorsichtiger Halef, gehöre wohl zur allerschwächsten Sorte. Nicht?«
»Diese Frage ist unnütz, denn da du es selbst einsiehst, brauchst du ja meine Antwort nicht. Komm zu Hanneh! Sie hat dir gewinkt.«
Er eilte mir voraus, um diesem Winke zu folgen. Sie hatte mit ihm zu sprechen, da sie natürlich wissen wollte, wo wir gestern noch so spät gewesen waren und was wir getan hatten. Kara gesellte sich ihnen zu; ich aber ging zu dem Perser, der auch vom Schlafe erwacht war und in der Nähe des Münedschi saß. Als ich mich bei ihnen niedergelassen hatte und mit dem Basch Nazyr sprach, erkannte mich der Blinde an der Stimme und fragte:
»Irre ich mich, wenn ich denke, daß der Effendi aus dem Wadi Draha bei mir ist?«
»Nein, du irrst dich nicht«, antwortete ich ihm. »Ich bin es.«
»Wer ist noch da?«
»Ein Freund von dir und mir, welcher zu unserer Schar gehört.«
»Besitzt er dein Vertrauen?«
»Ja.«
»So darf er vernehmen, was ich dir zu sagen habe?«
»Ich weiß zwar noch nicht, was du mir sagen willst, habe aber ganz und gar keinen Grund, ihm mein Vertrauen zu verweigern.«
»Welche Tageszeit haben wir jetzt? Es scheint heil zu sein.«
»Ja; es ist frühmorgens. Die Sonne wird in kurzer Zeit erscheinen.«
»Wann war es, als ihr mich fandet?«
»Gestern.«
»Nicht länger? So betrifft also das, was ich dir sagen will, unser gestriges Gespräch. Ich sollte vielleicht lieber schweigen, aber es liegt ein mir wohlbekannter Trieb in mir, zu dir zu reden. Dieser Drang ist mir stets der Beweis, daß Ben Nur, der Sohn des Lichtes, es will. Dieser Name ist dir doch bekannt?«
»Ja.«
»Und du weißt, daß er meine Seele oft nach Orten führt, welche nicht hier auf der Erde liegen?«
»Ich weiß es.«
»So will ich dir mitteilen, daß er in der vergangenen Nacht auch wieder bei mir; gewesen ist, und daß ich die Erde mit ihm verlassen habe.«
»Wo warst du mit ihm?«
»In der Todesstunde.«
»Das ist doch eine Zeit, aber kein Ort.«
»Das habe ich bisher auch gedacht; nun aber weiß ich es besser. In dieser Nacht war sie für mich ein Ort, an welchem ich mit Ben Nur auf einem hohen Steine stand, um die Seelen der Sterbenden an mir voruberziehen zu sehen. Ich sehe ihn noch jetzt so deutlich vor mir, daß ich ihn dir ganz genau beschreiben kann.«
Er tat dies, und seine Schilderung stimmte ganz genau mit dem überein, was wir gestern auf dem Felsen gehört hatten. Uns, seine Begleiter, erwähnte er gar nicht. Darum fragte ich:
»Warst du ganz allein an dieser sonderbaren Stelle?«
»Ich und Ben Nur.«
»Niemand weiter?«
»Nein.«
»Von wo hat er dich abgeholt?«
»Natürlich von hier, wo ich jetzt sitze.«
»Hast du die Erde direkt von hier aus verlassen, oder bist du erst an einem andern Orte gewesen?«
»Direkt von hier aus. Willst du vielleicht hören, was und wen ich alles durch die Türen der Mauer habe kommen sehen?«
»Ja; ich bitte dich darum, es uns zu erzählen.«
Er wußte also nicht, wer bei ihm gewesen war, und daß wir ihn hinaus nach dem Felsen begleitet hatten, der von ihm und uns erstiegen worden war. Und nun begann er seinen Bericht. Er beschrieb uns die einzelnen Scharen der Seelen ganz in derselben Reihenfolge und in derselben Weise, wie Ben Nur sie ihm gestern gezeigt hatte. Nur war alles viel kürzer, nicht so ausführlich; er wußte zwar den Sinn, aber die Worte nicht, welche von dem »Sohn des Lichtes« gesprochen worden waren. Als er zu Ende gekommen war, fragte ich ihn:
»Bist du überzeugt, daß dies ein wirkliches Gesicht gewesen ist?«
»Ja, vollständig überzeugt«, antwortete er.
»Kein Traum?«
»Kein Traum?! Ich träume zwar manchmal auch, weiß aber meine Träume so genau von meinen Gesichtern zu unterscheiden, daß ein Irrtum gar nicht möglich ist.«
»Ist die Grenze oder der Unterschied zwischen Traum und Gesicht so scharf, so bemerkbar, daß du beide wirklich nicht verwechseln kannst?«
»Ja. Ich kann sogar zwischen Traum und Traum unterscheiden. Es gibt Träume, weiche einfach nur die Fortsetzung der letzten Gedanken sind, mit denen man sich vor dem wirklichen Einschlafen beschäftigt; diese haben nichts zu bedeuten. Und es gibt noch andere, weiche eingegeben worden sind. Wenn Ben Nur mir etwas sagen will, was er mir in keiner andern Weise mitteilen kann, so sagt er es mir im Traume. Nach dem Erwachen weiß ich dann, daß ich nicht mit ihm fortgewesen bin, sondern nur geträumt habe, daß aber dieser Traum sein beabsichtigtes Werk und keine Folge meiner Gedanken war. Und ebenso täusche ich mich nie, wenn ich weiß, daß meine Seele den Körper verlassen hat und wo sie dann gewesen ist. Ja, in der ersten Zeit, als ich es noch nicht gewöhnt war und keine Übung in der Unterscheidung hatte, da kam zuweilen ein Irrtum vor, jetzt aber nie mehr.«
»Du glaubst also an alles, was du bei solchen Führungen siehst?«
»Ja.«
»Auch an alles, was du da hörst?«
»Ja, obgleich mir dieser Glaube oft schwer wird.«
»Glaubst du, was Ben Nur dir heute in der Nacht gesagt hat?«
»Auch das! Und doch ist es mir wohl noch niemals so schwer wie grad dieses Mal geworden, ihm Glauben zu schenken.«
»Warum?«
»Weil es so viele, viele waren, von denen er sagte, daß sie über den Abgrund des Verderbens gelangen würden.«
»Wie kann dich die Frage, ob es viele oder wenige waren, stören?«
»Weil ich selbst in meinem ganzen, langen Leben nur einen einzigen Menschen gefunden habe, von dem ich unbedingt überzeugt bin, daß die Pforte der Seligkeit ihm geöffnet sein wird. Was für eine große. reiche Fülle von Liebe, Güte und Barmherzigkeit muß von allen denen hier im Leben ausgeflossen sein, welche Ben Nur mir als für den Himmel Bestimmte bezeichnete! Und ich habe nie, nie Liebe gefunden, dieses eine, einzige Mal nur ausgenommen!«
»Aber du hattest doch Eltern?!«
»Sie liebten mich nicht!«
»Geschwister?«
»Sie haßten mich!«
»Freunde?«
»Sie nannten sich so, waren es aber nicht!«
»Ein Weib?«
»Sie war eine Heuchlerin!«
»Kinder?«
»Die hatte ich nicht; Allah sei tausend, tausendmal Dank dafür! Denn wenn ich auch Kinder gehabt hätte und von ihnen ebenso betrogen worden wäre wie von den andern, die mich haßten und hintergingen, so lebte ich schon längst nicht mehr und wäre infolge der Rache, die ich genommen hätte, von der Brücke des Todes in den Abgrund des Verderbens gestürzt! Glaubst du, daß ich nach allem, was ich erlebt und erduldet habe, noch der Liebe fähig sein kann?«
»Ja.«
»Allah segne deinen guten Glauben, denn während du nur an mich zu glauben meinst, glaubst du an die Menschheit! Ja, ich halte die Liebe noch im Herzen fest, dieses Einen, Einen wegen, bei dem ich Liebe gefunden habe. Er nahm sich in seiner selbstlosen Barmherzigkeit meiner an und hat mich dadurch von der Verzweiflung, von dem diesseitigen und dem jenseitigen Verderben gerettet! Seine Liebe ist es, die mir das bereits verlorene Vertrauen zur Menschheit und den Glauben an sie wiedergegeben hat. Frage mich nicht, warum ich grad gegen dich so aufrichtig bin! Es liegt in mir; es treibt mich, dir das zu sagen, obwohl ich weiß, daß auch du die Weit und mein Geschick nicht anders machen kannst. Ich habe nach Liebe vergeblich gesucht, so lange ich denken kann. Ich habe sie gesucht bei Gott, bei den Menschen, im Leben, in der Kirche – – –«
»In der Kirche?« fragte ich.
»Ja, in der Kirche. Ich will es dir nicht verschweigen, daß ich Christ gewesen bin. Dir als Moslem ist es ja ganz gleich, ob ich dem Islam seit meiner Kindheit oder erst seit kurzem angehöre.«
»Was hat dich veranlaßt, aus der christlichen Kirche zu treten?«
»Eben mein vergebliches Suchen nach Liebe. Lerne sie nur kennen, diese Christen! Wie sie sich getrennt haben in Sekten, Konfessionen und viele anders genannte Abteilungen, von denen jede behauptet, daß ihre Angehörigen allein selig werden! Wie sie sich hassen, sich anfeinden, sich verleumden und verfolgen! Wie sie sich gegenseitig nach den Fehlern spüren, um einander so viel wie möglich herabsetzen und in Schaden bringen zu können! Weiche Freude, welchen Hohn, weiche Selbstherrlichkeit gibt es da, wenn wieder einmal ein Fehler entdeckt worden ist! Dazu kam die Traurigkeit meiner persönlichen Erfahrungen, meines eigenen Schicksales. Ich mochte nichts mehr wissen von einem Glauben, welcher Liebe lehrt, während seine Bekenner die – lieblosesten Menschen des ganzen Erdballes sind. Die Bibel der Christen sagt, daß man den Menschen an seinen Werken erkenne, und aber ich sagte, daß auch der Glaube an seinen Früchten, an seinen Werken zu erkennen sei, und da diese Früchte nichts als Haß, Streit, Neid und Egoismus waren, so war es kein großer, kein schwerer Entschluß von mir, in der Moschee zu suchen, was ich in der Kirche nicht fand.«
»Und hast du es da gefunden?« fragte ich.
Wie gern, wie so sehr gern hätte ich ihn noch ganz anders gefragt und ihn einmal so recht fest zwischen meine Hände genommen! Aber ich mußte mich auf diese eine kurze Frage beschränken, denn zu weiten Auseinandersetzungen war jetzt keine Zeit, und da ich zu verschweigen hatte, daß ich ein Christ war, so mußte ich darauf bedacht sein, mein Herz nicht mit dem Verstande durchgehen zu lassen. Er war ein Überläufer, und man weiß ja, daß der Fanatismus bei den Renegaten am größten und gefährlichsten ist. Er antwortete nicht gleich, sondern erst nach einer Weile:
»Ich habe dieses Gespräch mit dir nicht begonnen, um das Christentum mit dem Islam zu vergleichen. Du hast ja bereits gehört, daß ich nur einen einzigen Menschen gefunden habe, der mir das entgegenbrachte, was ich suchte – – –Liebe. Diesem Manne habe ich es zu verdanken, daß ich überhaupt noch existiere; er hat mich materiell, geistig und seelisch neu geschaffen, und so habe ich mich ihm ergeben, mit allem was ich bin und was ich habe, mit meinem Körper, meinen Herzen, meiner Seele, meinem ganzen Leben!«
»Und wer ist dieser Mann?«
»Abadilah.«
»Der Schech ei Harah von Mekka, den man El Ghani nennt?«
»Ja. Ich will dich etwas fragen. Darf ich?«
»Ja.«
»Wirst du mir die Wahrheit sagen?«
»Ich lüge nicht.«
»Versprich es mir!«
»Ich gebe dir hiermit mein Wort!«
Ich gab ihm dieses Versprechen, obwohl ich vermutete, daß er beabsichtige, nach dem Ghani zu fragen. Wie unendlich leid tat mir dieser arme, alte, blinde Mann! Daß er vom Christentum zum Islam übergetreten war, hielt ich natürlich für die größte Sünde seines ganzen Lebens, aber ich war es nicht, der darüber zu rechten und zu richten hatte. Vor mir saß er hier und jetzt nicht als Renegat, sondern als unglücklicher Mensch, und da mußte ich ein unbeschreibliches Mitleid mit ihm fühlen. Der, dem er sich, wie er selbst sagte, mit seinem Körper, seinem Herzen, seiner Seele, seinem ganzen Leben ergeben hatte, war ein Schurke, ein Halunke, von dem er in einer Weise ausgebeutet wurde, für weiche das Wort abscheulich noch viel zu mild, zu rücksichtsvoll klang! Durfte ich ihm sagen, was geschehen war und was wir von dem, den er so liebte und verehrte, wußten? Mußte ich ihn nicht schonen? Konnte ihn diese letzte, größte aller Täuschungen nicht sofort in den Abgrund werfen, den Ben Nur ihm gestern gezeigt hatte?
»Ich habe vorhin die Stimme meines Beschützers, meines Wohltäters, meines einzigen Freundes gehört«, fuhr er fort. »Sag, ist er hier?«
»Ja«, antwortete ich.
»Hier am Bir Hilu?«
»Ja.«
»Hat er mich gesehen?«
»Erst vorhin, als er dich rief.«
»Warum kommt er nicht her zu mir?«
»Er und seine Begleiter hielten dich für tot; sie haben dich begraben und sind hierhergeritten. Sie erschraken, als sie dich so plötzlich sahen; sie hielten dich für einen Geist.«
Während ich mit diesen Worten hin und her lavierte, suchte ich nach einer Weise, ihm die Wahrheit so schonend wie möglich, und zwar allmählich, mitzuteilen. Der Perser rückte auf seinem Platze ungeduldig hin und her. Er dachte jetzt nicht an die Pflicht gegen den Blinden, sondern nur an den Diebstahl und an die Behandlung, die ihm geworden war. Ich bat ihn durch einen Blick, sich zu beherrschen, fand aber leider keine Erhörung.
»Ich bin kein Geist, kein Gespenst«, sagte der Alte. »Ich will ihn bei mir haben, ihn, seinen Sohn und auch die andern. Ruft sie her!«
Da brach der Basch Nazyr los:
»Her zu uns? Das fällt uns gar nicht ein!«
Ich sah ihm die Entschlossenheit, ohne Beschönigung zu reden, an und hielt es für das beste, jetzt still zu sein.
»Nicht? Warum nicht?« fragte der Münedschi.
»Ehrliche Leute sitzen nicht mit Schurken zusammen!«
»Schurken? Wen meinst du mit diesem Worte?«
»Den Ghani und seine ganze Diebesbande.«
»Die – – -bes – – – ban – – – – de? Habe ich richtig gehört?«
»Du hast ganz richtig gehört.«
»Ein Schurke soll er sein? Ein Dieb?! Entweder treibst du einen grausamen Scherz mit mir, oder du befindest dich in einem Irrtum, wie es größer gar keinen geben kann!«
»Ich treibe weder Scherz, noch irre ich mich. Ich spreche im Ernste, und was ich sage, das ist die volle Wahrheit!«
»Nein, die Wahrheit kann es nicht sein!«
»Die ist es, denn wir haben die Beweise in den Händen!«
»Welche Beweise?«
»Die Sachen, welche er gestohlen hat und ihm von uns wieder abgenommen worden sind.«
»Wo – – -und was – – was soll er gestohlen haben?«
»Er hat den Kanz el A'da in Meschhed Ali beraubt. Ich, der Basch Nazyr dieses Schatzes, bin euch mit meinen Soldaten bis hierher nachgeritten und habe die Diebe und die Gegenstände alle hier erwischt!«
Da war der Blinde still. Seine Finger bewegten sich krampfhaft, als ob sich zwischen ihnen etwas befinde, was bis auf die kleinste Faser zerrissen und zerzaust werden müsse. Erst nach längerer Zeit wendete er mir das Gesicht zu, öffnete die strahlend scheinenden Augen und sagte:
»Effendi, bist du noch da?«
»Ja.«
»Ich will mit dir reden, nur mit dir, mit diesem andern nicht, kein Wort mehr! Ich beschwöre dich bei Allah, bei dem Khalifen, bei dem Kuran, bei allem überhaupt, was dir heilig ist! Wirst du mir die Wahrheit sagen?«
»Ja.«
»So sprich! Befinden sich meine Begleiter wirklich als ertappte Diebe bei euch?«
»Leider, ja.«
»Erzähle mir, wie das gekommen ist! Aber füge ja nichts hinzu, und laß auch nichts weg!«
Ich folgte dieser Aufforderung in der Weise, wie es die Rücksicht auf ihn mit sich brachte. Er hörte mir zu, ohne mich mit einem Worte zu unterbrechen, und saß dann, nachdem ich geendet hatte, wieder eine ganze Weile still da. Ich sah, daß nicht nur seine Hände, sondern alle seine Glieder leise zitterten. Er war innerlich furchtbar aufgeregt. Ich wartete mit mehr als bloßer Spannung darauf, was für einen Entschluß er fassen werde. Da endlich sagte er:
»Effendi, wirst du tun, um was ich dich jetzt bitte?«
»Das kann ich doch nicht wissen!«
»Ich werde um nichts bitten, was du mir nicht erfüllen kannst. Es ist sogar sehr leicht für euch.«
»Sage es!«
»Der Ghani ist euer Gefangener?«
»Ja.«
»Erlaube, daß ich zu ihm gehe und auch gefangen bin!«
Ich hatte dies und nichts anderes erwartet. Durfte ich ihm diesen Wunsch erfüllen? Durfte ich es ihm verweigern? Als ich mit meinem Bescheide zögerte, fuhr er fort:
»Ich gebe dir mein Wort, ja meinen Schwur, daß ich tun werde, was ich will, obgleich ich blind bin und den Ghani nicht sehen kann. Ihr könnt mich nur dadurch hindern, daß ihr mir Fesseln anlegt. Tut ihr das aber nicht, so gehe ich zu ihm. Ihr braucht ihn mir nicht zu zeigen. Ich rufe, und wenn er antwortet, wird mich seine Stimme zu ihm führen. Nun sag also, was du beschlossen hast!«
Da trat Halef herbei, welcher während des letzten Teiles des Gespräches von Hanneh zu uns gekommen war und den Wunsch des Alten gehört hatte. Er antwortete an meiner Stelle:
»Ich, Hadschi Halef, werde dir sagen, was geschehen soll. Sie sind gefangen, weil sie gestohlen haben; du aber bist ein ehrlicher Mann und also frei. Wir dürfen dich nicht hindern, zu tun, was dir beliebt. Willst du wirklich und auch jetzt noch hinüber zum Ghani?«
»Ja, ich will; unbedingt will ich!«
»So steh auf, und gib mir deine Hand! Mögest du nicht bereuen, was du jetzt tust! Ich werde dich hinüberführen.«
Ich sah ihnen nicht nach, sondern stand auf und ging zu Hanneh, weiche den Teppich zum Kaffeetrinken ausgebreitet hatte. Der Perser wurde natürlich eingeladen, mitzutrinken. Als Halef wiederkam, setzte er sich an meine Seite und fragte mich, wie gewöhnlich, wenn er irgend etwas aus eigenem Entschlusse ausgeführt hatte:
»Habe ich es recht gemacht, Sihdi?«
»Ja«, antwortete ich.
»Es freut mich, daß ich deine Zustimmung erhalte; über die Sache selbst freue ich mich nicht. Wir konnten nicht anders, denn der Blinde ist sein eigener Herr, und wir haben kein Recht, gegen seinen Willen über ihn zu verfügen. Was hätten wir mit ihm machen können, wenn er gezwungen gewesen wäre, bei uns zu bleiben?«
»Ihn mit nach Mekka nehmen.«
»Und dort?«
»Ich zweifelte gar nicht daran, daß es uns dort gelingen würde, ihn besser unterzubringen, als er jetzt untergebracht ist.«
»Das denke ich auch. Und hätten wir keinen geeigneten guten Platz für ihn gefunden, nun, so gibt es unter den Zelten der Haddedihn genug Raum für einen blinden Mann, dessen Anwesenheit gar keine Opfer fordert. Dieser Münedschi wird nicht lange mehr ]eben; er steht dem Jenseits näher als der Erde. Seine Seele war ja bereits fast an der Brücke. Und was alles hätten wir von ihm noch erfahren können?«
»Bist du neugierig geworden?«
»Nicht neu, sondern wißbegierig.«
»Und glaubst du, daß dieses Wissen dir und deinem Stamme Nutzen bringen würde?«
»Ja, Wenn das Erdenleben eine Vorbereitung für den Himmel ist, so ist es ja Pflicht, jede Gelegenheit zu ergreifen, etwas über das Jenseits zu erfahren.«
»Du meinst, etwas Wahres!«
»Hältst du das, was wir gestern gehört haben, für Täuschung?«
»Ich kann mir darüber heute noch kein Urteil erlauben. Wenn der Blinde zu uns anstatt zu seinem vermeintlichen Wohltäter gehalten hätte, wäre uns wahrscheinlich mehr Stoff zu einem Urteile geboten worden, als wir jetzt besitzen. Wir wollen also den Gedanken an das Jenseits jetzt nicht weiter verfolgen und uns lieber mit dem Diesseits befassen.«
»Ja, das ist für den Augenblick wohl ebenso nötig. Was denkst du, daß zunächst geschehen soll?«
»Wir sind gewillt, die Diebe nicht zu bestrafen, werden sie also freigeben, selbstverständlich den Scheik der Beni Khalid auch. Doch darf das nicht so ohne weiteres geschehen. Wir haben uns sicherzustellen, daß, wenigstens solange wir uns hier befinden, nichts gegen uns unternommen wird. Später dann können wir anderweit für uns sorgen.«
»So schlage ich vor, daß wir den Scheik erst dann loslassen, wenn er geschworen hat, hier nichts gegen uns zu unternehmen.«
»Das werden wir allerdings tun.«
»Sag, Sihdi, gibt es für uns keine andere, keine bessere Gewähr als nur seinen Schwur?«
»Nein; wenigstens ich weiß keine. Du etwa?«
»Nein.«
»Oder Khutub Agha?«
»Auch ich weiß nichts anderes«, antwortete dieser. »Ihr habt mich zu eurem Freund gemacht, und meine Dankbarkeit gehört euch, solange ich lebe. Darum kann es mir nicht gleichgültig sein, ob euch noch fernere Gefahren von seiten der Beni Khalid drohen. Sonst aber wäre ich mit meiner Angelegenheit hier zu Ende. Die gestohlenen Glieder habe ich hier zurückbekommen, und meine Asaker sind auch wieder frei, Wir brauchen also nur aufzusitzen und heimzukehren.«
»Wann wirst du das tun?«
»Wenn auch ihr fortreitet; eher natürlich nicht.«
»Nun, und wir, Sihdi? Wann reiten wir?«
»Wenn die Beni Khalid fort sind«, antwortete ich.
»Früher nicht?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Du scheinst mich nicht mehr zu kennen, Halef!«
»Was? Wie? Ich dich nicht mehr kennen? Oh, Effendi, was treibst du dafür Allotria! Du weißt doch ganz genau, daß ich dich besser kenne als mich selbst!«
»Nach deiner letzten Frage muß ich das aber bezweifeln, denn du hast einen Brauch vergessen, der so zu mir gehört, wie der Griff zum Säbel.«
»Welchen Brauch?«
»Mich stets und so viel wie möglich rückenfrei zu machen. Dieser Gewohnheit haben wir so viele Erfolge zu verdanken, lieber Halef, daß es mir gar nicht einfallen kann, grad hier, in dieser gefährlichen Wüste, von ihm abzuweichen.«
»Rückenfrei? In Beziehung auf die Beni Khalid?«
»Ja. Wenn wir eher fortreiten als sie, haben wir sie im Rücken und wissen nicht, was sie hinter uns vornehmen. Sind sie aber vor uns, so können wir sie, solange dies nötig ist, derart im Auge behalten, daß es ihnen unmöglich wird, uns ernsthaft zu belästigen. Das siehst du wohl ein?«
»Welche Frage! Wenn ich das nicht einsähe, so wäre ich ein Fluß ohne Wasser, ein Pferd ohne Beine oder eine Feder ohne Tinte und meinetwegen auch eine Hanneh ohne Halef! Nur weiß ich nicht, ob die Beni Khalid darauf eingehen werden.«
»Sie müssen!«
»Wie willst du sie zwingen?«
»Dadurch, daß wir sie nicht an den Brunnen lassen. Wenn sie überzeugt sind, für ihre Kamele kein Wasser zu bekommen, so müssen sie sich beeilen, nach einem anderen Brunnen zu kommen.«
»Wo sie uns aber das Wasser wegnehmen, so daß wir dann, wenn wir hinkommen, keines finden!«
»Das ist meine geringste Sorge. Erstens ist es doch noch gar nicht bestimmt, wohin sie sich und wir uns wenden werden. Die Gegend vor uns ist wasserreicher als die nun hinter uns liegende; wir haben es also sehr wahrscheinlich nicht nötig, grad denjenigen Weg einzuschlagen, den die Beni Khalid reiten. Und zweitens verweise ich dich auf den Bir Hilu hier. Die Beni Khalid waren ja auch vor uns da, und wir haben nicht nur trotzdem Wasser bekommen, sondern wir sind sogar jetzt in der Wüste Herren des Brunnens, daß unsere Gegner ohne unsere Erlaubnis gar nicht herankommen dürfen. Bist du nun zufriedengestellt?«
»Ja, vollständig, Sihdi! Doch, schau hin zu den Mekkanern, wie der Ghani so eifrig in den Blinden hineinspricht! Er wird ihm alles ganz anders erzählen, als es sich zugetragen hat. Wir werden da dem Münedschi in einem Lichte erscheinen, auf welches wir, wenn es die Wahrheit wäre, nichts weniger als stolz sein könnten. Doch sieh, da kommt ein Posten mit einem Ben Khalid. Der Anfang des Endes wird also beginnen!«
Der Haddedihn, welcher den Boten zu uns brachte, sagte, daß die ganze Schar der Beni Khalid im Anrücken sei, um nach dem Brunnen zu gehen. Es hatte Überredung gekostet, sie anzuhalten und zu bewegen, auf die Antwort ihres Scheiks zu warten.
»Was habt ihr als Grund angegeben, daß sie nicht her dürfen?« erkundigte sich Halef.
»Den Willen ihres Scheiks«, lautete die Antwort. »Sie haben also diesen Boten geschickt, der mit ihm sprechen soll.«
»Das war richtig. Wir werden diese Angelegenheit sofort in Ordnung bringen. Gehen wir hinüber zum Scheik?«
Diese Frage war an mich gerichtet; ich antwortete, indem ich aufstand. Der Perser tat dasselbe, und dann schritten wir, gefolgt von dem Ben Khalid, nach dem Brunnen, wo er seinen Scheik gefesselt liegen sah. Dieser rief ihm, noch ehe wir ihn erreicht hatten, zornig entgegen:
»Da kommt nun endlich einmal einer! Konntet ihr euch nicht eher um mich bekümmern?«
Der Mann war sichtlich erstaunt, den Führer seines Stammes als Gefangenen zu finden, sah sich mit unsicheren Blicken um und antwortete:
»Du hast es so gewollt!«
»Das war kein Befehl, sondern nur eine Mitteilung von mir. Diesen Unterschied müßt ihr beherzigen. Wo habt ihr diese Nacht gelagert?«
»Auf dem Platze der Fatasia.«
Wir hatten keinen Grund, den Scheik in seinen Erkundungen zu stören, und hörten mit Vergnügen zu.
»Mit den Soldaten?« fragte er weiter.
»Ja.«
»Wo habt ihr sie?«
Seine Augen funkelten bei dieser Erkundigung. Der Bote schlug die Augen nieder und erwiderte höchst verlegen:
»Sie sind fort.«
»Wohin?«
»Das wußten wir nicht; jetzt aber sehe ich, daß sie hier sind.«
»Natürlich sind sie hier, wenn ihr sie entwischen laßt! Ich hielt sie, als ich sie in der Nacht kommen sah, für Geister verstorbener Asaker, denn daß es die unserigen seien, mit ihren Waffen und Kamelen noch dazu, das mußte ich doch für ganz unmöglich halten! Der Scheitan scheint euch blind und taub gemacht zu haben, denn auf eine andere Weise konnte es gar nicht geschehen, daß zwanzig Gefangene einer ihnen so vielfach überlegenen Wächterschar entrinnen. Ihr hattet sie doch gefesselt?«
»Ja.«
»Aber nicht gut bewacht!«
»Sogar sehr scharf! Sie lagen in unserer Mitte. Wir haben keine Vorsicht oder Pflicht versäumt!«
»Das ist nicht wahr! Ohne große Fehler von euch hätten sie nicht entkommen können. Ich werde diesen Fall genau untersuchen und die Schuldigen heim zu den alten Weibern schicken, mit denen sie Pantoffeln machen können, denn zu weiter sind sie ja nichts nütze!«
Da begann der Ben Khalid nun auch einen andern Ton anzuschlagen:
»Wir sind weder alte Weiber noch gehören wir zu ihnen. Ich bin ein Ben Khalid, ein freier Beduine, und nur dem untertan, dem ich gehorchen will! An dem Entkommen der Asaker ist kein einziger von uns schuld, sondern nur die Dschinn, welche in großen Massen kamen.«
»In Massen? Was für Dschinn waren es?«
»Dunkle Gestalten, welche wie Schatten aussahen, aber, wie wir dann wohl bemerkten, keine Schatten waren; ihnen voran kam das gestrige Gespenst.«
»Welches?«
»Der Geist, der hierher kam und sprach.«
»Allah!« rief der Scheik, indem er seine Aufmerksamkeit verdoppelte. »Dieser, derselbe Geist war es?«
»Ja.«
»Und ihr seid natürlich sofort ausgerissen!«
»Nein. Aber er hielt zwei flammende Irrlichter in Händen, aus denen lauter Köpfe lebendiger Teufel hervorsprühten. Wir sind Gläubige des Kuran und fromme Bekenner des Propheten; aber mit Geistern und Teufeln zu kämpfen, das darf uns niemand zumuten!«
»Ich werde bald erfahren, was für flammende Irrlichter das gewesen sind. Hattet ihr denn ein Feuer brennen?«
»Sogar zwei. Erst als der Geist sich dem ersten so weit genähert hatte, daß wir sahen, es sei wirklich dieser Geist, entfernten wir uns, eher nicht.«
»Und ließet die Asaker liegen?!«
»Allerdings. Was hätten wir sonst machen sollen? Dann sahen wir aus der Ferne viele, viele dunkle, schattenhafte Gestalten über den Platz huschen, und als sie fort waren und wir zurückkehrten, fanden wir die Asaker nicht mehr vor; auch ihre Kamele waren weg. Sie sind von den Geistern entführt worden!«
»Ich will dir den größten dieser Geister zeigen. Schau dorthin! Wer sitzt da bei Abadilah, unserm Gaste?«
Der Bote hatte den Münedschi noch nicht bemerkt. Als er ihn nun erblickte, rief er aus:
»Allah behüte mich vor dem neunmal gesteinigten Teufel! Da sitzt er ja! Das ist er! Das ist er!«
»Schau ihn an! Ist das ein Teufel, ein Gespenst oder ein Mensch?«
»Sollte – sollte – ist – – – sollte – ist?«
Der Mann war ganz perplex. Der Scheik schrie ihn an:
»Wenn du jetzt, am hellen Tage, noch nicht weißt, woran du bist, so brauch ich mich allerdings nicht darüber zu wundern, daß ihr in der dunkeln Nacht vor Angst fast den Verstand verloren habt! Er war es gewiß; er muß es unbedingt gewesen sein. Wer weiß, was für Flammen er in den Händen gehabt hat. Abadilah, mein Freund, ich bitte dich, ihn doch einmal zu fragen!«
Der Ghani kam diesem Wunsche nach, indem er sich bei dem neben ihm sitzenden Blinden erkundigte:
»Hast du gehört, was jetzt gesprochen wurde?«
»Ja, jedes Wort«, antwortete der Gefragte, weicher vollständig wach und munter war.
»Weißt du, daß du gestern am Abende hier hüben bei uns am Brunnen gewesen bist?«
»Nein.«
»Daß du da gesprochen hast?«
»Nein.«
»Aber daß du an einem andern Orte warst, das weißt du wohl?«
»Ja.«
»Wo?«
»Den Ort kenne ich nicht. Ich wurde geführt und bekam dann zwei brennende Fackeln in die Hände.«
»Von wem?«
»Von dem Scheik der Haddedihn und dem Effendi aus dem Wadi Draha. Ich bin darauf eingegangen, weil das Weib sagte, es geschehe nur zu meinem Wohle.«
»Hast du gewußt, um was es sich handelt?«
»Nein. Es wurde mir nicht mitgeteilt. Dieser Dieb deines Verzeichnisses und seine Hehler haben mich betrogen und mich schmachvoll hintergangen. Wenn sie aufrichtig gewesen wären, hätte ich es um keinen Preis getan. Allah wird sie strafen!«
»Kannst du dir vielleicht denken, was für Schatten das gewesen sind, welche bei dir gewesen sein sollen?«
»Wahrscheinlich waren es die Verbündeten der Betrüger, die Krieger der Haddedihn, denn auf dem Wege, den ich gehen mußte, hörte ich neben und hinter mir die Schritte vieler Menschen, welche mich begleiteten. Und auf dem Rückwege sagte mir mein Ohr, daß sich Kamele hinter mir befanden. Ich bin zur Ausführung einer Schlechtigkeit benützt worden, von der ich keine Ahnung hatte; aber Allah ist gerecht; er läßt keine Tat ohne Lohn oder ohne Strafe, und ich weiß, daß diese Diebe und Betrüger einst nicht über Es Sfiret,
die Brücke des Todes, hinüberkommen,. sondern in den Abgrund des Verderbens stürzen werden!«
»so ist also jetzt alles erklärt!« zürnte der Scheik. »Das Licht der Fackeln hat eure Phantasie erhitzt und euch Teufelsköpfe vorgeflackert, wo gar keine waren. Die Haddedihn habt ihr für Geister gehalten und seid, vor ihnen ausgerissen, anstatt sie einfach niederzuschießen. Dadurch wurde die Befreiung der Gefangenen möglich, mit denen ich mir hier den Sieg erzwingen wollte und auch erzwungen hätte. Ich werde mit euch abrechnen. Diesen alten, blinden, kindischen und unvorsichtigen Menschen werden wir unschädlich machen müssen, damit wir nicht noch Ärgeres erleben, als schon bisher geschehen ist! Der unerfahrenste Knabe muß meinen Grimm begreifen, daß ich mich dieser Fehler wegen ganz unfähig zum Widerstande in den Händen derer befinde, über die wir hätten lachen können, wenn meine Absichten ausgeführt worden wären. Aber ich schwöre zu Allah und dem Propheten, daß ich ganz gewiß alles nachholen werde, was versäumt worden ist!«
Diese seine Drohung war nicht nur unschädlich für uns, sondern ein abermaliger Fehler, den er beging, denn wenn wir nicht schon entschlossen gewesen wären, uns möglichst sicherzustellen, so hätte nun sie uns zur Vorsicht mahnen müssen. Viel mehr als sie beschäftigte mich die Bemerkung, daß es El Ghani gelungen war, den Blinden von seiner Unschuld und infolgedessen von unserer Bosheit, von unsern schlechten Absichten zu überzeugen. Der Münedschi befand sich schon nach so kurzer Zeit wieder ganz unter dem Einflusse dieses Schurken, den er nicht nur für seinen Wohltäter, sondern überhaupt für den besten Menschen hielt.
Halef hatte der letzten Ausführung des Scheikes mit wohlgefältigem Lächeln zugehört. Jetzt ergriff er das Wort und sagte zu ihm:
»Es freut mich, daß du zur Einsicht gekommen bist und so aufrichtig deine Ohnmacht eingestehst. Wir könnten sie in einer Weise ausnützen, welche dich für alle Zeit an uns denken lassen würde; aber in unserer weithin bekannten und berühmten Güte haben wir den Beschluß gefaßt, mit euch so glimpflich zu verfahren, wie uns die Liebe gebietet, die wir zu allen Menschen und sogar zu unsern Feinden haben.«
»Ich mag eure Liebe nicht!« brauste Tawil Ben Schahid auf.
»Du wirst sie nehmen müssen und ihr nicht widerstehen können, ganz gleichgültig, ob du willst oder nicht!« »Und daß ich meine Ohnmacht eingestanden habe, davon weiß ich nichts. Noch habe ich meine Krieger, die euch vielfach überlegen sind!«
»Die fürchten wir nicht! Zunächst sind wir in der Überlegenheit und werden dafür sorgen, daß wir sie auch behalten.«
»Ich verlange, augenblicklich freigelassen zu werden. Wenn ihr euch weigert, dies zu tun, so schicke ich diesen meinen Ben Khalid, den sie jetzt zu mir gesandt haben, mit dem Befehle zu ihnen zurück, sofort gegen euch zu den Waffen zu greifen!«
»Versuche es doch, ihn fortzuschicken! Wenn er es wagen wollte, diesen Platz ohne unsere Erlaubnis zu verlassen, würden wir ihn durch eine Kugel für immer hier festhalten!«
»Allah zerschmettere dich!« zischte der Scheik, der ja doch wußte, wie recht der kleine Hadschi hatte.
Dieser nahm keine Notiz von dieser Verwünschung und fuhr fort:
»Ich werde dir jetzt sagen, was unsere Nachsicht und Milde über euchbeschlossen hat. Khutub Agha, unser Freund, hat die Einbrecher in den Kanz el A'da von Meschhed Ali verfolgt, um sie zu ergreifen und nach der heiligen Stadt der Schiiten zu bringen, wo sie keine andere Strafe als nur diejenige des Todes erwarten würde. Nun aber hat er sich entschlossen, davon abzusehen. Er wird sie also nicht mitnehmen, sondern laufen lassen, wie man häßliches Gewürm laufen läßt, mit dem man sich nicht besudeln mag. Wir hatten über
sie die Bastonade beschlossen, sehen aber auch hiervon ab, eben weil wir gar nicht weiter mit dem Schmutze, in welchem sie starren, in Berührung kommen wollen. Hast du alles gehört, was ich jetzt sagte?«
»Sprich nur immer weiter!« forderte ihn der Scheik auf. »Ich werde dir dann, wenn du fertig bist, sagen, was ich dir zu sagen habe.«
»Schön! Ich gehorche dir, du mächtiger Gebieter dieses Lagers! Die Diebe sind also abgetan für uns; nun kommt die Reihe an dich. Auch dich werden wir freilassen. Bist du damit einverstanden?«
»Weiter!«
»Ist dir das noch nicht genug?«
»Es ist nicht nur genug, sondern mehr als genug, nämlich der Arglist und Verschlagenheit, die euch ja schon von Anbeginn dieser ganzen Angelegenheit gekennzeichnet hat! Wie schön und wie ergreifend du von eurer Güte und eurer Milde doch zu sprechen weißt! Aber ich kenne den Abgrund der Verworfenheit, welcher hinter dieser angeblichen Nachsicht gähnt! Ihr seht von der Bestrafung der Diebe ab, weil ihr nur zu gut wißt, daß sie nicht gestohlen haben, sondern vollständig unschuldig sind. Erst wurde ihnen das Verzeichnis entwendet, und nun es euch gelungen ist, auch die Gegenstände selbst an euch zu raffen, wollt ihr mit ihnen verschwinden und euch mit der vorgegebenen Milde den Rückzug decken, So ist's, ihr Schurken; anders nicht!«
Ein höhnisches Lachen folgte diesen Worten, die so viel Unverschämtheiten enthielten, daß Halef rasch zu mir sich wendete und mit zornblitzenden Augen fragte:
»Sihdi, jetzt kann es doch keine Sünde sein, ihm mit der überzeugenden Entgegnung meiner Peitsche zu antworten!«
»Wir schlagen nicht, Halef!« erwiderte ich.
»Gut! So will ich meinen Grimm beherrschen!«
»Sprich nicht von Grimm!« lachte der Ben Khalid wieder. »Du weißt ganz genau, daß ihr die Diebe seid, und kannst also unmöglich zornig sein. Was du Grimm nennst, ist nur der Ärger darüber, daß ich euch durchschaue, und die versteckte Scham, der du nicht erlaubst, deine Wangen vor meinen Augen rot zu machen.' Dazu kommt die Feigheit, die verächtliche Angst vor unserer bekannten, wohlbewährten Tapferkeit!«
»Feigheit? Angst?« fragte Halef in größtem Erstaunen.
»Ja, Furcht habt ihr, Furcht, vom Herzen herab bis in die Spitzen eurer Füße!«
»Vor wem?«
»Vor uns. Das sagte ich so eben!«
»Furcht? Angst? Feigheit? Allah w' Allah!«
»Mensch, ich fordere dich auf, mir diese freche Behauptung zu beweisen!«
»Der Beweis liegt darin, daß ihr unsere Freunde, die Mekkaner, freigeben wollt.«
»Das tun wir doch aus Güte, nicht aus Angst!«
»Leugne nicht! Du weißt doch nur zu gut, was ausgemacht worden war: Es sollte um sie gekämpft werden! Jetzt gebt ihr sie ohne Kampf frei. Ist das nicht Feigheit?!«
Der Hadschi konnte seinen Zorn kaum bemeistern. Er mußte sich die größte Mühe geben, möglichst ruhig zu antworten:
»Das ist eine Verdrehung der Tatsachen, weiche du dir ausgesonnen hast, um prahlen zu können!«
»Ich habe nicht geprahlt, sondern die Wahrheit gesagt!«
»Nein, sondern die Lüge! Es ist nicht beschlossen worden, um die Freigebung der Diebe zu kämpfen, sondern der Kampfpreis war der Besitz ihrer Personen. Sie befanden sich bei euch, und wir wollten sie haben. Darum wurde festgestellt, daß sie dem Sieger gehören sollten. Jetzt aber handelt es sich nicht um ihre Personen, denn die haben wir ja, sondern um ihre Freilassung. Eigentlich könnten nun wir, nämlich wir, wir, auch verlangen, daß um ihre Freiheit gekämpft werde, aber sie sind unsere Gastfreunde nicht, und so haben wir nicht wie du die Pflicht, sie zu beschützen. Wenn wir sie unbestraft entkommen lassen, tun wir das also aus Barmherzigkeit, nicht aus Angst. Das ist doch so klar, daß man darüber kein Wort zu verlieren braucht.«
»Du ereiferst dich ohne Erfolg! Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe: Es sollte um sie gekämpft werden, und weil ihr Angst vor unserer Tapferkeit hattet, so versuchtet ihr, sie durch feige Hinterlist in eure Gewalt zu bringen; was euch leider auch gelungen ist. Und nun ihr euch wohl sagen müßt, daß ich sie, und sei es mit Hilfe der Gewalt, von euch zurückfordern werde, gebt ihr sie uns freiwillig wieder, aber das Eigentum des Ghani wollt ihr behalten!«
Wie ich meinen kleinen, mutigen Hadschi kannte, dem Feigheit das Allererbärmlichste auf Erden war, stand jetzt eine Übereilung von ihm zu befürchten, darum wollte ich schnell das Wort ergreifen; aber er sah das und forderte mich auf:
»Du bist jetzt still, Effendi; ich bitte dich! Einen solchen Vorwurf läßt kein Krieger der Haddedihn auf sich sitzen!«
Da klang es hinter uns:
»Auch keine Frau der Haddedihn!«
Ich drehte mich um. Da stand Hanneh mit blitzenden Augen und dunkel geröteten Wangen. Die erregte Verhandlung war so laut geführt worden, daß sie drüben an der andern Seite des Brunnenplatzes alles gehört hatte. Nun war sie eilends herübergekommen, um auch ihrerseits die beschimpfende Anschuldigung energisch zurückzuweisen, ein Vorgang, dessen Ungewöhnlichkeit eine augenblickliche Stille hervorbrachte. Tawil Ben Schahid war der erste, der sie unterbrach.
»Ein Weib, ein Weib!« höhnte er. »Das beweist die Wahrheit dessen, was ich gesagt habe, denn wir hören nun ja, daß bei den Haddedihn die Frauen mutiger als die Männer sind!«
Da ergriff Hanneh des Hadschi Arm, zog ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich heran und sagte:
»Halef, weißt du, was ich jetzt von dir verlange?«
»Ja«, antwortete er.
»Wirst du es tun?«
»Man soll mich fortan den feigsten Hund der Erde nennen, wenn ich es nicht tue!«
»Und weißt du, weiche drei ich meine?«
»Natürlich uns, die wir zum Kampf bestimmt gewesen sind!«
»Ja, ich bin Hanneh, die Tochter der Atheibeh, die Frau des obersten Scheiks der Haddedihn vom Stamme der Schammar. Man hat uns den Vorwurf der Furchtsamkeit in das Gesicht geschleudert, obgleich dieser großsprecherische Scheik der Beni Khalid von meinem Knaben zur Erde geworfen und überwältigt worden ist wie ein kraftloser Greis, dessen Schwachheit die einzige Eigenschaft ist, die ihm das Leben gelassen hat. Wir werden diese Niederträchtigkeit zurückweisen und bestrafen, und ich will haben, daß außer Omar Ben Sadek mein Gatte und mein Sohn es sind, in deren Hände man diese Aufgabe legt! Wir wollen nichts, gar nichts von diesen Menschen. Wir leisten Verzicht auf alles, was wir bisher errungen haben, sogar auf die gestohlenen und wiedererlangten Glieder. Wir kämpfen um sie; aber wer uns nach unserm Siege noch als Diebe bezeichnet, den geben wir den Hyänen und Schakalen zu fressen. Ich, das Weib, habe gesprochen; nun mögen die Männer handeln!«
Sie trat zurück, um nun nur noch zuzuhören. Die Wirkung ihres unerwarteten Auftretens und ihrer, ich möchte sagen, flammenden Worte war eine tiefe, eine durchschlagende. Es war für einige Zeit rundum so still wie in einer Moschee, welche soeben erst geöffnet wird. Auch ich konnte mich diesem Einflusse nicht entziehen. Im Grunde war ich allerdings ganz und gar nicht damit einverstanden, daß alles, was wir bis jetzt erreicht hatten, wieder auf das Spiel, oder richtiger gesagt, auf die Entscheidung der Waffe gesetzt werden sollte; aber es war für uns, die Männer, gradezu unmöglich, uns zu dieser mutigen, ehrliebenden und entschlossenen Frau in Widerspruch zu stellen, die nicht an ihre Gatten und nicht an ihre Mutterliebe dachte, und sodann kannte ich ja die drei Personen, um weiche es sich auf unserer Seite handelte, so genau, daß es mir nicht einfiel, Angst zu haben. Halef stellte seinen Mann wie selten einer, das wußte ich; Omar Ben Sadek hatte sich so oft bewährt, warum sollte dies nicht auch jetzt wieder geschehen? Seine körperliche und geistige Spannkraft war noch ganz dieselbe. Und Kara Ben Halef? Nun, er war zwar noch jung und konnte also keine so reiche Erfahrung hinter sich haben wie wir; aber er hatte in seinem Vater den besten Lehrmeister gehabt, den es für ihn geben konnte, und sooft ich bei den Haddedihn gewesen war, hatte auch ich ihn täglich und mit Fleiß vorgenommen und mich über seine Gelehrigkeit, Geschicklichkeit, Kraft und Ausdauer nicht nur stets zu freuen, sondern oft sogar zu wundern gehabt. Er hatte viele jener Griffe, Kniffe und Schlauheiten von mir gelernt, welche auch im ehrlichsten Kampfe erlaubt sind und die eigentliche Übermacht über einen sonst ganz ebenbürtigen Gegner verleihen. Sein Vater war schon zu alt, als daß ich ihm diese Vorteile hätte beibringen können; ein desto geeigneterer Erbe war der Sohn geworden, und so hatte ich also auch keine Veranlassung, um Kara bange zu sein.
Niemandem konnte der Vorschlag Hannehs so willkommen sein wie dem Scheik der Beni Khalid, dem er die Hoffnung wiedergab, in den Besitz der kostbaren Gliedernachbildungen zu gelangen. Er wartete auch nicht, bis Halef, dem dies doch nun eigentlich zukam, das Wort wieder ergriff, sondern kam ihm zuvor:
»Also doch noch Kampf! Die Frau gibt den Männern den Mut! Und nicht nur um die Mekkaner soll es gehen, sondern auch um den Schatz der Glieder! Wahrscheinlich aber fehlt euch der Mut, ihn gegen uns einzusetzen!«
Es war, als ob Halef jetzt plötzlich ein ganz anderer geworden sei. Seine zornige Aufregung hatte nun, da es einen festen Entschluß und eine sichere Entscheidung für ihn gab, jener kalten Ruhe Platz gemacht, welche gegen den nicht so kalten Widersacher den Sieg verleiht. Es war ein selbstbewußtes, überlegenes Lächeln, welches um seine Lippen spielte, als er in beinahe gleichgültigem Tone antwortete:
»Ja, wir kämpfen auch um den Schatz der Glieder, und du sollst die Bedingungen vernehmen, von denen wir auf keinen Fall abgehen werden. Bis du mit ihnen einverstanden, so liegt es in euern Händen und an eurer Tapferkeit, uns wieder abzunehmen, was wir jetzt besitzen. Nimmst du sie aber nicht an, so bleibt es, wie es jetzt ist!«
»Dann heraus mit ihnen! Ich will sie hören!«
»Zuerst verlange ich, daß, die Entscheidung mag fallen wie sie will, alle Schimpf und andere beleidigende Reden vermieden werden. Wir sind, nämlich ihr sowohl wie wir, Männer, aber keine Knaben, welche im Bewußtsein ihrer Ohnmacht Worte an die Stelle der Taten setzen.«
»Ich stimme bei!«
»Sodann findet der Kampf auf der da draußen liegenden Sandebene statt, wo kein Felsen deine Beni Khalid und meine Haddedihn hindert, zuzuschauen. Beide Stämme stehen einander gegenüber; die Zweikämpfe gehen in der Mitte vor sich. Diese finden einzeln statt, zwischen drei Beni Khalid und drei Haddedihn. Gewonnen hat der Stamm, auf dessen Seite die Mehrzahl der Sieger ist. Ihm gehört der Schatz der Glieder, welcher bis dahin in unserer Verwahrung bleibt. Die Besiegten haben den Brunnen sofort zu verlassen und also ihre Reise fortzusetzen. Als Zeit stellen wir euch die nächsten drei Stunden zur Verfügung; wenn sie vorüber sind, muß auch die Sache ausgetragen sein. Ist dir das recht?«
»Ja; da setze ich aber voraus, daß ich jetzt freigelassen werde!«
»Habe keine Sorge um deinen geliebten Körper! Wir können ihn nicht brauchen und geben ihn dir zurück. Doch mußt du vorher die zwischen euch und uns getroffene Vereinbarung auf dein Hamail beschwören.«
»Ich bin bereit dazu!«
»In diesem Schwur ist vor allen Dingen eingeschlossen, daß beide Parteien für den ganzen heutigen Tag auf Hintergedanken verzichten!«
»Für später aber nicht?« fragte der Scheik schnell.
»Nein. Wir fürchten uns ja nicht.«
»So bin ich auch hiermit einverstanden. Aber ich hoffe, daß dieser Kampf keine Spielerei sein, sondern um das Leben gehen soll!«
»Natürlich! Macht nur ihr Ernst; dann ist es ja sehr gleichgültig, ob wir nur zu spielen brauchen oder nicht!«
»Mit welchen Waffen soll er geführt werden?«
Da antwortete mein kleiner, in solchen Dingen gradezu einziger Halef in unendlich gleichgültigem, nachsichtigem Tone:
»Das ist uns einerlei, wirklich ganz und gar einerlei! Wir überlassen also diese Bestimmung euch. Suche die drei tüchtigsten Beni Khalid heraus, und jeder von ihnen mag diejenige Kampfesart bestimmen, in weicher er am geschicktesten ist. Wir sind es nicht gewöhnt, uns über solche Nebensachen die Köpfe zu zerbrechen!«
»Stelle dich nicht so stolz und siegesgewiß! Der Schakal, welcher am ärgsten bellt, wird am ehesten von dem Geier zerrissen! Ich bin bereit, zu schwören!«
Halef zeigte sich in seiner Noblesse sofort bereit, doch ergriff nun auch ich einmal das Wort, um in Hinsicht auf die Ehrlichkeit des Kampfes und unsere Sicherheit noch einige Bedingungen zu stellen, auf welche Tawil Ben Schahid einging, um seiner Fesseln so schnell wie möglich entledigt zu sein. Als dann alles so lückenlos verabredet worden war, daß für uns auch die geringste Überbevorteilung seitens der Beni Khalid ausgeschlossen erschien, banden wir ihn los. Halef setzte sich ihm gegenüber. Der Kuran wurde zwischen sie gelegt, und dann schworen sie, die Hände darauf haltend, jeder für sich und die Seinen, die eingegangenen Bedingungen ehrlich und treu zu halten. Dann hing sich der Scheik sein Hamai wieder um den Hals und stand auf, um sich zu entfernen. Ehe er das aber tat, wendete er sich noch einmal nach uns um und sagte:
»Ich habe noch nie mein Wort gebrochen und werde es auch heut halten; aber wehe euch, wenn ihr dem eurigen nicht treu bleibt! Ich werde schon in kurzer Zeit einen Boten senden, um euch mitteilen zu lassen, welche Waffen gewählt worden sind. Aber daß ihr es mit den drei Siegessichersten meiner Krieger zu tun haben werdet, das kann ich euch schon jetzt sagen. Ich gebe euch den Rat, immer schon jetzt drei Gruben zu machen, in die unsere Gegner zu liegen kommen, ohne eine Kijahma, eine Auferstehung von den Toten, zu erleben wie der Münedschi gestern!«
Nun ging er und nahm den Boten seiner Leute mit.
Es versteht sich ganz von selbst, daß sich aller Haddedihn eine sehr gespannte, erwartungsvolle Stimmung bemächtigt hatte. Ein Zweikampf auf Tod oder Leben, und zwar ein dreifacher, welch ein Ereignis für jeden Beduinen! Am wenigsten einverstanden mit dieser Wendung der Sache war der Perser, und das konnte man ihm auch gar nicht übelnehmen. Er hatte sich schon vollständig am Ziele befunden und sah sich nun gezwungen, die bereits erlangten Vorteile wieder aufzugeben und von dem Erfolge der Waffen abhängig zu machen. Ich nahm mich seiner Sorge möglichst an, und es gelang mir auch, ihn soweit zu beruhigen, daß er darauf verzichtete, gegen den Kampf um den Inhalt des Gebetsteppichs zu protestieren.