Karl May
Auf fremden Pfaden
Karl May

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In Kaïrwan

Nach dem bisher Erzählten war längere Zeit vergangen, und ich befand mich in Tunesien. Ich hatte meinen Freund Ali en Nurabi, den Scheik der Uëlad Sebira-Beduinen besucht, war zwei Wochen bei ihm gewesen und wollte nun wieder an das Meer, aber nicht in der Richtung nach der Hauptstadt Tunis, sondern ich zog es vor, ostwärts nach Hammamet zu reiten, um die Ortschaften Testur und Saghuan kennen zu lernen.

Bis nach Testur gab mir Ali en Nurabi mit einigen seiner Leute das Geleit; aber weiter konnte er mich nicht begleiten, weil mein Weg mich von da aus durch das Gebiet von Stämmen führte, welche mit dem seinigen in Feindschaft lebten; er hätte sein Leben gewagt. Ich ritt also nun allein und zwar zunächst von Testur aus südlich, wo ich im Wadi Silian von den Uëlad Riahh leidlich gut aufgenommen wurde. Dann wendete ich mich westlich nach dem See el Kursia, der im Gebiete der Uëlad Trabersi liegt. Von da aus ging es auf das Wadi Melah zu, von welchem Saghuan nur zwanzig Kilometer ostwärts liegt.

Bis hierher war alles zu meiner Zufriedenheit gegangen; aber noch hatte ich das Wadi Melah nicht erreicht, da wendete sich das Glück, welches mich so weit begleitet hatte, plötzlich von mir.

Nach der Ebene, in welcher der See el Kursia liegt, wird die Gegend plötzlich bergig. Man hat steil empor zu reiten und sieht dann, oben angelangt, die Höhen sanft nach Osten abfallen. Hier giebt es einige Wasserläufe und infolgedessen Vegetation. Ich traf ein Wäldchen von Korkeichen, bei welchem ich anhielt, um mein Pferd ausruhen zu lassen. Ich selbst streckte mich auch im Grase aus und schloß die Augen, welche mir von der Glut und dem grellen Lichte der Sonne wehe thaten.

Da hörte ich den Schrei eines Geiers und blickte wieder auf. Wenn ein Geier so schreit wie dieser, so giebt es Fraß für ihn. Zwei dieser Vögel schwebten hinter mir über dem Walde. Sie zogen enge Kreise, gar nicht sehr hoch, senkten sich aber nicht herab. Ihre Beute war entweder noch nicht tot oder der Art, daß sie sich nicht an sie getrauten.

Ich stand auf und durchschritt das Wäldchen, um zu sehen, was es war. Am jenseitigen Rande desselben sah ich es liegen. Es war kein Tier, sondern ein – Mensch, ein Beduine. Er lag in einer Blutlache auf dem Rücken und hatte mehrere Messerstiche in der Brust; das Messer steckte noch darin. Hier war ein Mord geschehen, und zwar kein Raubmord, sondern ein Mord infolge der Blutrache; sonst hätte der Mörder das Messer nicht stecken lassen.

Die That konnte erst vor kurzem geschehen sein, denn die Lache war noch nicht geronnen. Ich zog das Messer aus der Wunde, wischte es im Grase ab und steckte es in meinen Gürtel, um es den Bewohnern des Wadi mit der Meldung von der Auffindung der Leiche zu übergeben.

Der Anblick derselben hatte mir die Lust, hier auszuruhen, genommen; ich kehrte zu meinem Pferde zurück, stieg auf und ritt weiter. Ich brauchte ungefähr eine Stunde, um hinab in das Wadi Melah zu kommen.

Ich mochte vielleicht die Hälfte dieses Weges zurückgelegt haben, als ich Pferdeschritte hinter mir hörte. Ich wendete mich um und sah eine Schar von vielleicht zwanzig Beduinen, welche in scharfem Trabe hinter mir herkamen. Dem Brauche nach hielt ich an und drehte mein Pferd um, ihnen entgegensehend.

Als sie mich erreichten, umringten sie mich im Nu; da dies bei diesen Leuten so Brauch ist, machte es mich nicht besorgt; ich grüßte also freundlich:

»Sallam aaleïkum! Könnt ihr mir sagen, welcher Stamm jetzt da unten im Wadi Melah liegt?«

»Das sollst du bald erfahren, du Hund,« antwortete der Anführer. »Nehmt ihn fest!«

Vierzig Hände streckten sich nach mir aus. Ich hätte mich wehren können, denn ich war ausgezeichnet bewaffnet und fürchtete mich nicht; aber da hätte ich Blut vergießen müssen, und das wollte ich nicht. Ich wurde im Nu festgehalten, entwaffnet und auf das Pferd gebunden.

»Was fällt euch ein!« rief ich. »Ich bin ein friedlicher Wanderer und habe euch nichts gethan.«

»Uns nicht, aber einem andern,« antwortete der Anführer, indem er meine Waffen untersuchte. Dabei nahm er auch das Messer des Toten in die Hand.

»Hier, hier klebt noch Blut!« sagte er. »Er ist's, er ist's; wir haben den Mörder. Ed d'em Wed d'em – Blut um Blut. Er muß sterben! Sag' uns, Hund, von welchem Stamme du bist.«

»Von keinem. Ich bin ein Fremdling hier und gehöre zum Volke der Alman

»Lüg' nicht! Wir sind Uëlad Siminscha, und der, den du ermordet hast, ist ein Bruder von uns.«

»Hat Allah dir keine Augen gegeben? Siehst du nicht, daß ich zwei Messer bei mir hatte? Wer aber trägt zwei Messer herum? Das eine gehört mir; das andere habe ich aus der Brust des Toten gezogen, um es unten im Wadi vorzuzeigen. Wenn ihr lesen könnt, will ich euch beweisen, daß ich ein Almani bin.«

»Schweig'! Wir brauchen nicht lesen zu können, um zu wissen, daß du der Mörder bist. Sieh, dort bringen sie dein Opfer! Wir sahen deine Spur und sind schnell vorausgeritten, um dich einzuholen.«

»Hätte ich mich einholen lassen und hier auf euch gewartet, wenn ich der Mörder wäre?«

»Das hast du gethan, um uns zu täuschen!«

»Ihr müßt aber doch einsehen, daß es sich um eine Blutrache handelt, denn das Messer steckte noch in der Wunde!«

»Es steckte nicht in der Wunde, sondern in deinem Gürtel.«

»Wo lagert euer Stamm?«

»Unten im Wadi.«

»Wohin ich ritt? Reitet ein Mörder zu denen, deren Bruder er getötet hat?«

»Wir werden dir nicht hier antworten, sondern unten im Lager, wenn wir dort angekommen sind und die Dschemma über dich gerichtet hat. Jetzt vorwärts, Leute! Einer mag vorausreiten, um die Unserigen zu benachrichtigen.«

Dies geschah, und es läßt sich leicht denken, wie wir bei unserer Ankunft empfangen wurden. Das war ein Gebrüll, ein Heulen und Schreien, wie ich es kaum jemals gehört hatte. Hätten mich die Krieger nicht in ihrer Mitte gehalten, ich wäre von den Weibern in Stücke gerissen worden.

Das Duar war ein stark besetztes Lager; es standen über sechzig Zelte da; draußen weideten zahlreiche Pferde, Kamele und Schafe. Ich wurde vom Pferde genommen und mit ausgestreckten Armen und Beinen an zwei kreuzweise übereinander gelegte Zeltpfähle gebunden; das verursachte mir nicht geringe Schmerzen. Drei Krieger hielten bei mir Wache, nicht etwa, weil man geglaubt hätte, daß ich fliehen könne, sondern um zu verhindern, daß sich die aufgeregte Menge schon vor dem Urteilsspruche über mich hermache.

jede Beschäftigung war aufgegeben worden. Man dachte nur an den Mord, den Mörder und die Rache. Die »Alten« kamen zusammen; ich sah, daß sie sich niedersetzten, um über mich zu richten. Ich verlangte, zu ihnen geschafft zu werden, um mich verteidigen zu können, um zu erzählen, wie die Sache sich zugetragen hatte. Die Wächter lachten mich aus.

Die Frauen kamen herbei, verfluchten mich und ließen alle möglichen Schand- und Schimpfwörter über mich los; die Kinder warfen mit Steinen nach mir; einige, die sich ganz heranwagten, spieen mich an; das wurde nicht verhindert.

Unglücklicherweise war der Vater des Ermordeten ein wohlhabender und deshalb einflußreicher Mann. Wie ich später hörte, bot er alles auf, um die Strafe, welche natürlich nur in dem Tode bestehen konnte, möglichst schwer werden zu lassen. Es wurde sehr viel gesprochen und geschrieen; man hielt lange Reden, aber wohl keine einzige zu meiner Verteidigung, und endlich, als dies wohl zwei Stunden gedauert hatte, war man zum Resultate gekommen. Die Teilnehmer der Dschemma standen auf und kamen herbei. Sie bildeten einen Kreis um mich, und der Scheik als der Vorsitzende machte mich mit dem Urteile bekannt:

»Das Gesetz der Wüste lautet: Blut um Blut, Leben um Leben. Du hast ein Leben vernichtet, also wird dir das deinige genommen werden. Man wird jetzt das Grab graben, und wenn das Abendgebet vorüber ist, wirst du mit dem Toten in dasselbe gelegt und begraben werden.«

»Lebendig?« fragte ich.

»Ja.«

»Ich fordere von euch, meine Verteidigung anzuhören!«

»Du hast nichts zu fordern. Schweig' lieber, und bereite dich im stillen vor, denn es sind nur noch zwei Stunden, so wirst du über die Brücke des Todes hinab in die Hölle fahren!«

»Aber ihr wißt noch nicht einmal, wer ich bin! Man verurteilt doch keinen Menschen, ohne seinen Namen zu kennen und wer und was er ist!«

»Wir wollen nichts wissen; wir wissen, daß du der Mörder bist; das ist genug.«

Dabei blieb dieser Mann. Ich konnte sagen, was ich wollte, man verlachte mich. Jedes Wort, welches ich zu hören bekam, war Gift, und jeder Blick ein Pfeil des Hasses und der Rache. Die Alten entfernten sich und ließen mir die Gewißheit zurück, daß ich unrettbar verloren sei.

jetzt bedauerte ich es freilich, daß ich mich nicht gewehrt hatte. Mit meinem fünfundzwanzigschüssigen Henrystutzen hatte ich noch ganz andere Leute von mir abgehalten, als diese Uëlad Siminscha waren! Ich sah, daß sie draußen vor den Zelten eine tiefe Grube machten – – für zwei Menschen, einen toten und einen lebenden.

Gab es denn wirklich keine Rettung? Hm! Wie oft hatte ich mich in wirklich verzweifelten Lagen befunden und mich doch befreit. Warum nicht auch hier? Ich sann und sann, fand aber keinen Retttungsweg. Ja, wenn man mich angehört hätte! Es war nur eine einzige, ganz geringe Hoffnung möglich. In der Lage, in welcher ich mich jetzt befand, mit so weit ausgespreizten Armen und Beinen konnte man mich nicht begraben; man war also gezwungen, mich von den Zeltstangen loszubinden, und wenn man das that, bekam ich wenigstens für einige Augenblicke meine Glieder frei. Diese Augenblicke mußte ich benutzen; aber wie, das konnte ich vorher nicht wissen, sondern das mußte der Augenblick ergeben.

Eben als ich mit diesem Gedanken fertig geworden war, bemerkte ich, daß die Aufmerksamkeit der Beduinen sich auf etwas richtete, was außerhalb des Lagers vorging. Ich hörte el Bija, el Bija rufen. Es schien also ein Handelsmann zu kommen. Ein Handelsmann aber kann kein Beduine sein. Vielleicht war er ein Maure, ein Jude, ein Levantiner. Wenn die Uëlad Siminscha ihm erlaubten, mit mir zu reden, so brachte er sie vielleicht dahin, daß sie nachträglich doch noch meine Verteidigung anhörten, und wenn sie das thaten, so war doch noch nicht alles verloren.

jetzt sah ich ihn kommen, mit ihm zwei Gehilfen, welche seine Packpferde zu beaufsichtigen hatten. Seine Ankunft mußte den Beduinen lieb sein; das sah und hörte ich aus der Art und Weise, wie sie ihn bewillkommten. Er stieg vom Pferde und schüttelte dem Scheik die Hand. Sie sprachen miteinander. Der Scheik führte ihn zur Leiche des Ermordeten und blieb dort erzählend mit ihm stehen; dann zeigte er zu mir herüber. Der Händler drehte sich herum, sah mich liegen und kam herbei. Der Scheik folgte ihm.

»Was sagtest du, von welchem Volke will er sein?« fragte er den Scheik.

»Einen Almani hat er sich genannt. Er wollte uns betrügen. Wenn ich die Sprache der Alman verstände, würde ich versuchen, ob er da zu antworten vermag.«

»Ich verstehe sie auch nicht; aber wenn er wirklich ein Almani ist, so muß er wenigstens einige Worte der Fransawiji verstehen. Soll ich es einmal versuchen?«

»Thue es! Es wird aber nichts nützen.«

Da fragte mich der Händler in fließendem Französisch:

»Sie wollen ein Deutscher sein? Können Sie mich verstehen?«

»Sehr gut verstehe ich Sie,« antwortete ich in derselben Sprache. »Sie sind ein Handelsmann? Woher?«

»Mon dieu! Sollten Sie wirklich ein Europäer, ein Deutscher sein?«

»Das bin ich allerdings.«

»Woher?«

»Ich bin ein Sachse. Man hat mich unschuldig verurteilt und hört mich nicht an. Ich soll lebendig eingegraben werden.«

»Das wird nicht geschehen. Ich bin Franzose, mein Herr, liebe es aber aus gewissen Gründen, für einen Eingeborenen zu gelten. Verraten Sie dies nicht! Sie werden sofort frei sein.«

Er wendete sich an den Scheik:

»Dieser Mann ist wirklich ein Almani und hat dich nicht belogen.«

»Nicht? Aber der Mörder ist er doch!«

»Nein.«

»Das behauptest du?«

»Ja. Ein Almani ist kein Mörder.«

»Das Messer, mit dem der Mord geschah, ist sein.«

»Nein!« rief ich dazwischen. »Ich zog es der Leiche aus der Brust.«

»Schweig', Hund! Wenn du noch ein Wort – –«

Der Händler unterbrach ihn mit einer Handbewegung und sagte:

»Ich habe mir bis jetzt nur erzählen lassen und selbst noch nichts sagen können; jetzt will ich reden: ich weiß, wer der Mörder ist.«

»Wer? Etwa nicht dieser Fremde?«

»Nein. Ich komme vom Bah Saghuan herunter; da begegnete uns ein einzelner Reiter, der mich fragte, wohin ich wolle. Ich sagte es ihm; da lachte er und sprach:

»Wenn du zu den Uëlad Siminscha kommst, so sag' ihnen, daß oberhalb des Wadi Melah ein Toter liegt, in dessen Herz mein Messer steckt.«

»Allah!« rief der Scheik. »Wer war dieser Mann?«

»Steht ihr mit den Uëlad Selass in Blutfehde?«

»Ja.«

»So stimmt es. Ich habe mit dem Mörder gesprochen.«

Er nannte den Namen des Uëlad Selass, der ihm begegnet war, und kaum hatte der Scheik ihn gehört, so bückte er sich zu mir nieder, durchschnitt meine Fesseln und sagte:

»Du bist unschuldig. Steh auf! Du bist frei!«

Natürlich sprang ich auf, und wie schnell!

»Sag' Allah Dank, daß dieser Händler gekommen ist!« fuhr der Scheik fort. »Wir hätten dich mit dem Toten begraben.«

»Und danke auch du Allah,« erwiderte ich, »daß du nicht zum Mörder an mir geworden bist! Ich habe noch niemals einen Ben Arab gesehen, der so leichtsinnig mit dem Leben eines Menschen umgegangen ist, wie du! ja, ich will Allah danken; euch aber bin ich etwas ganz andres schuldig als Dank!«

»Du wirst uns verzeihen und so lange als unser Gast bei uns bleiben, wie es dir gefällt.«

»Keine Stunde länger, als ich muß! Gebt mir wieder, was ihr mir abgenommen habt; dann reite ich fort.«

»Das würde eine Schande für unser ganzes Lager sein. Warte nur eine kleine Weile, dann wirst du hören, wie wir dich doch bewegen, hier zu bleiben.«

Er rief die Dschemma wieder zusammen, sprach einige Worte mit den »Alten« und dann kam die ganze Versammlung, die mich ungehört verurteilt hatte, um mich um Verzeihung zu bitten. Was wollte ich thun? Der Franzose bat auch; ich und mein Pferd bedurften der Ruhe, und so erklärte ich schließlich, der Gast des Stammes sein zu wollen, worauf der Scheik den Befehl gab, mehrere Hämmel zu schlachten.

Das erste war nun, für die Verfolgung des Mörders zu sorgen. Nach kurzer Zeit ritt eine Anzahl auserlesener Männer auf den besten Pferden fort, um zu versuchen, ihn einzuholen. Ich war überzeugt, daß ihnen dies nicht gelingen würde.

Während die Hämmel geschlachtet und gebraten wurden, ließ der Händler durch seine beiden Gehilfen die Waren auspacken, die er mitgebracht hatte. Er tauschte sie, wie ich erfuhr, nur gegen Teppiche ein, welche von den Beduinenfrauen gefertigt werden. Während er die Abwickelung dieses Geschäftes seinen Leuten überließ, saß er bei mir und ließ sich erzählen, wie und warum ich nach Tunesien gekommen war.

»Was?« sagte er. »Den Scheik Ali en Nurabi vom Stamme der Sebira haben Sie besucht? Waren Sie schon früher bei ihm?«

»Ja.«

»Sind Sie damals mit ihm nach den drei Schotts hinabgeritten, um den berüchtigten Khrumir zu verfolgen?«

»Ja.«

»So sind Sie wohl gar Kara Ben Nemsi Effendi?«

»So werde ich genannt.«

»Dann heiße ich die Stunde eine glückliche, die mich hierhergeführt hat! Sie sind der Mann, den ich brauche, der mir einen guten Rat geben wird.«

»Sie haben mir das Leben gerettet! Sie dürfen nicht nur auf meinen Rat, sondern auch auf meine That rechnen.«

»Pah! Leben gerettet! Der reine Zufall und ganz ohne mein Dazuthun! Nach allem, was ich von Ihnen gehört habe, sind Sie vielleicht der einzige Mann, der mir einen schweren, tiefen Kummer mildern oder gar heben kann, den ich nun schon zwei Jahre lang mit mir herumtrage. Ich heiße nämlich Girard und bin nicht um des Erwerbes willen Händler geworden, sondern um unter diesem Deckmantel unbemerkt Nachforschungen anzustellen nach einem Kinde, einem Knaben, der mir entführt worden ist.«

»Herrgott! Ein Kind ist Ihnen abhanden gekommen?«

»Mein einziges Kind, ein vierjähriger Knabe.«

»Wann?« »Vor zwei Jahren.«

»Und wo?«

»In Sfaks, wenn Ihnen die Stadt bekannt ist.«

»Ich kenne sie, bin schon dreimal dort gewesen. Wollen Sie mir sagen, in welcher Weise die Entführung vor sich gegangen ist?«

»Sie wissen jedenfalls, daß Sfaks zu jener Zeit von der französischen Flotte bombardiert und eingenommen worden ist. Die dort wohnenden Europäer zogen sich aus ihr ein Stück in das Innere des Landes zurück, ich auch mit Weib und Kind, meinem kleinen Armand. Wir gingen bis zum Bah feitun Lakhderi, wo wir uns sicher wußten. Dort wollten wir die Belagerung abwarten. Wir blieben von den dort wohnenden Uëlad Metelit und Saleith unbelästigt und bekamen nur einen einzigen Beduinen zu sehen, der zufälligerweise zu uns kam und uns um Wasser bat. Es war gegen Abend, und er und sein Pferd waren ermüdet. Er bat um die Erlaubnis, in unserer Nähe an dem Wasser bis früh bleiben zu dürfen, und wir erlaubten es ihm. Was konnte uns ein einzelner Beduine thun? Er war noch jung und sah so harmlos aus. Er lagerte sich bescheiden fern von uns. Wir schliefen ohne Sorge ein; aber als wir erwachten, bemerkten wir zu unserm großen Entsetzen, daß unser Armand fehlte. Er war fort und alles Suchen vergeblich.«

»Wie kamen Sie auf die Idee, daß er entführt worden sei?«

»Der Beduine war auch fort, und wir sahen, daß er unser Zelt hinten aufgeschnitten hatte, um in das Innere zu dem Knaben zu gelangen. Was hat er mit ihm gewollt? Das Kind konnte ihm doch nur lästig werden! Von Zigeunern hat man gehört, daß sie Kinder rauben, von Beduinen aber nicht.«

»Hm!«

»Sie können sich unser Entsetzen denken! Wir gaben uns alle, alle Mühe, den Verlorenen zu entdecken, doch ohne Erfolg. Als alles vergeblich war, kam ich auf die Idee, als Händler im Lande umherzuziehen und nachzuforschen; auch dies hat bisher nichts geholfen.«

»Weil man einem verhaßten Franzosen keine richtige Auskunft erteilt.«

»O, man hält mich für einen Eingeborenen; ich bin der Sprache genugsam mächtig und verrate nirgends, daß ich ein Franke bin. So ritt ich zwei Jahre lang von Stamm zu Stamm, von Lager zu Lager, habe aber bis jetzt keine Spur gefunden.«

»Und Ihre Gemahlin?«

»Die lebt unterdessen bei ihrem Bruder, einem Kaufmann in Tunis. Sie sieht mich stets mit banger Hoffnung fortziehen und empfängt mich bei meiner Rückkehr mit den Thränen der Enttäuschung. Der Gram nagt an ihrem Leben. Wann wird das aufhören, wann wird das ein Ende nehmen!«

Er schlug die Hände vor das Gesicht und schwieg. Ich wartete eine Weile und erkundigte mich dann:

»Haben Sie denn keine Ahnung, zu welchem Stamme der Knabenräuber gehörte?«

»Zu den Uëlad Mahad.«

»Alle Wetter!« rief ich überrascht aus. »Nannte er seinen Namen?«

»Ja; er hieß Ben Nefad.«

»Aha! Meine Vermutung!«

»Wie? Was? Sie haben eine Vermutung?«

»Ja.«

»Welche, Monsieur?«

»Sagen Sie mir zunächst, ob Sie wissen, was das Wort Mahad bedeutet.«

»Das weiß ich nicht.«

»Und Nefad?«

»Auch nicht. Es sind eben Namen, bei denen man sich nichts zu denken braucht.«

»O nein. Diese Worte haben ihre Bedeutung. Mahad heißt ›niemand‹ und Nefad bedeutet das Gelingen.«

»Ich denke, niemand heißt la ahad, und das Gelingen heißt negah!«

»Provinzialismus, Monsieur. Diese Leute wählen in solchen Fällen von zwei gleichbedeutenden Ausdrücken den weniger gebräuchlichen aus. Uëlad Mahad bedeutet niemandes Stamm‹, giebt es also nicht; der Mann hat Sie getäuscht. Und Ben Nefad heißt Sohn des Gelingens. Das sagt genug. Er hat seinen Stamm verschwiegen und ist auf ein Unternehmen ausgeritten, dessen gewünschten Ausgang er nach hiesiger Sitte mit dem dabei angenommenen Namen bezeichnet.«

»Ah, so ist es! Endlich, endlich doch wenigstens ein Schein, wenn auch nur ein ganz leiser Schein der Möglichkeit, zum Ziele zu kommen! Darum also wurde überall gelächelt, wenn ich nach dem Aufenthalte der Uëlad Mahad fragte!«

»Sie sprechen von einem leisen Scheine, Monsieur. Wie nun, wenn ich Ihnen mehr als das, wenn ich Ihnen ein helles Licht geben könnte?«

Da fragte er schnell, in freudiger Bestürzung:

»Können Sie das, Monsieur, können Sie das?«

»Ja.«

»Mein Gott, wenn das möglich wäre! Aber es muß möglich sein, denn Sie sind Kara Ben Nemsi Effendi, und als ich dies vorhin entdeckt, war es mir sofort gewiß, daß ich an den richtigen Mann gekommen sei. Was denken Sie, Monsieur, was denken Sie?«

»Ihr Knabe Armand ist in Kaïrwan.«

»In Kaïrwan? Meinen Sie?«

»Ich meine es nicht nur, sondern ich möchte sogar darauf schwören, wenn ich überhaupt die Gewohnheit zu schwören hätte.«

»Was soll er aber in Kaïrwan?«

»Seinem Räuber zur Seligkeit verhelfen.«

»Zur Seligkeit? Wie das?«

»Zufälligerweise kenne ich das. Ich bin nämlich schon einmal in Kaïrwan gewesen, welches kein Christ betreten darf, wenn er nicht sein Leben verlieren will, und damals nur mit Mühe dem Tode entgangen. Der Kommandant der dortigen Militärtruppe hielt mich für einen Muhammedaner, für einen Offizier, und sprach sehr viel über die dortigen Verhältnisse zu mir. Kaïrwan ist selbst eine heilige Pilgerstadt und liegt weit von Mekka entfernt, wohin jeder Moslem wenigstens einmal im Leben pilgern soll. Wer dies nicht thun kann, erkauft sich seine Seligkeit, das Paradies Muhammeds, dadurch, daß er dem Islam die Seele eines Kindes ungläubiger Eltern zuführt. Haben Sie noch nicht gehört, wie viel Knaben zum Beispiel von Juden verschwinden, wieviel Knaben den Bewohnern der nördlichen Sahara geraubt werden?«

»Nein.«

»Diese Knaben kommen in die Schule der berühmten Okba-Moschee, wo sie im Islam unterrichtet und meist zu Moscheedienern ausgebildet werden. Jeder, der dieser Schule einen solchen Knaben bringt, hat Allah eine verlorene Seele geschenkt und dafür die seinige gerettet.«

»Und Sie denken – – – Sie denken, daß mein Armand auch dorthin geschafft worden ist?«

»Ich bin sogar überzeugt davon.«

»Haben Sie einen gewissen Anhalt dazu?«

»Ja. Es hat sich da der Brauch eingebürgert, daß jeder, der auf einen solchen Knabenraub ausgeht, natürlich seinen eigentlichen Namen und seinen Stamm verschweigt, sich Ben Nefad, den ›Sohn des Gelingens‹, nennt und angiebt, daß er zum Stamme Uëlad Mahad, zum Stamme Niemand, gehöre. Da dies bei Ihrem Sohne ganz wörtlich auch der Fall gewesen ist, so bin ich überzeugt, daß er sich bei der Okba-Moschee von Kaïrwan befindet.«

Da ergriff der Händler meine beiden Hände und rief entzückt aus:

»Monsieur, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Das ist allerdings kein leiser Schein, sondern eine helle Sonne, die Sie mir da geben. Ja, Sie waren der richtige Mann. Ich muß nach Kaïrwan, sofort nach Kaïrwan!«

»Sachte, sachte, Monsieur! Das geht nicht so, wie Sie meinen. Sie haben keine Ahnung von der Gefahr, in welche Sie sich begeben!«

»O, ich weiß, daß ich mein Leben wage; aber ich thue es, ich thue es gern!«

»Sie werden Ihren Sohn doch nicht befreien!«

»Nicht?«

»Nein. Kennen Sie die Stadt und ihre Verhältnisse?«

»Nein.«

»So sind Sie verloren, sobald Sie hinkommen. Es gehört nicht nur ein großer Wagemut, sondern auch ein bedeutendes Quantum List dazu, das auszuführen, was Sie vorhaben.«

»Mein Gott!« rief er enttäuscht. »Sie meinen also, daß ich es nicht fertig bringe?«

»Allein gewiß nicht.«

»Allein nicht? Wen soll ich denn mitnehmen? Wer soll mir helfen?«

»Ich.«

»Sie, Monsieur? Sie wollten mit?«

»Ja.«

»Ist das Ihr Ernst? Ist das die Möglichkeit?«

»Ich gehe sehr gern mit. Sie haben mir vorhin das Leben gerettet; Sie sollen Ihren Sohn wieder haben.«

»Das kann ich nicht glauben; das kann ich nicht verlangen!«

»Bedenken Sie, daß ich der einzige Christ bin, der in Kaïrwan gewesen ist, also der einzige Mensch, der das Gelingen Ihres Vorhabens ermöglichen kann!«

»Aber gerade weil Sie schon dort waren, wagen Sie doppelt! Man hat Sie damals erkannt. Wenn man Sie jetzt wiedererkennt, sind Sie verloren.«

»Je mehr man wagt, desto sicherer ist man, Monsieur. Nehmen Sie mich mit?«

»Wie gern, o wie so gern! Denn wenn Sie mitgehen, erscheint mir das Gelingen sicher.«

»Gut, das ist also abgemacht. Hier meine Hand!«

»Haben Sie denn Zeit?«

»Zu so einem Streiche habe ich immer Zeit. Schlagen Sie getrost ein!«

Wir drückten einander die Hände; dann fragte er:

»Wann geht es denn fort von hier? Wann brechen wir auf? Noch heut?«

»Nein, morgen früh.«

»Erst!«

»Nur nichts übereilen! Unsere Pferde müssen ausruhen. Sind zwei Jahre vergangen, so kommt es nun auf wenige Stunden mehr auch nicht an.«

»Wie fangen wir es an, um in die Stadt zu kommen?«

»Wir thun, als wären wir Pilger. Sind Ihre beiden Diener treu?«

»Ja.«

»So bleibt einer hier bei Ihren Sachen, und der andere reitet mit uns. In der Gegend von Kaïrwan übergeben wir ihm unsere Pferde und Waffen; er muß auf unsere Rückkehr warten, und wir ziehen zu Fuß und unbewaffnet als arme Pilger in Kaïrwan ein.«

»Unbewaffnet?«

»Wenigstens scheinbar. Meine Revolver nehme ich mit; die sieht man nicht. Sind Sie mit diesem Plane einverstanden?«

»Natürlich! Was könnte ich dagegen haben, ich, der ich die Verhältnisse gar nicht kenne, während Sie nicht nur in diesem Falle, sondern überhaupt in solchen Dingen erfahren sind?«

»So bleibt es dabei. Morgen früh reiten wir von hier fort. Doch sagen Sie keinem Menschen, um was es sich handelt. Diese Leute sind alle Muhammedaner, denen Kaïrwan für heilig gilt; sie können uns leicht einen bösen Streich spielen.«


Vier Tage später, um die Mittagszeit, hielten wir in der Nähe des Karawanenweges an, welcher von Kaïrwan nach dem Dschebel Abd el Fadelun führt. Wir mußten den Diener hier zurücklassen. Er bekam alles, was wir bei uns hatten, außer meinen Revolvern; einiges Geld behielten wir natürlich auch. Ich zeigte ihm die Stelle, an welcher wir wieder mit ihm zusammentreffen wollten; dann wanderten wir der heiligen Stadt zu.

Ob wir sie wohl glücklich wieder verlassen würden?

Diese sehr ernste Frage legte ich mir natürlich vor. Diejenigen Bewohner von Kaïrwan, die mich bei meiner ersten Anwesenheit gesehen hatten, brauchte ich nicht zu fürchten. Damals trug ich einen dichten Vollbart, jetzt nur den kurzgeschnittenen Schnurrbart und auch ganz andere Kleider. Sie erkannten mich gewiß nicht. Aber der Kaïrwaner, der in Kairo unter dem Bab Zuweileh zu dem Kutb gebetet hatte, der machte mir Bedenken. Er war zwar von mir beschenkt worden, hatte aber gesagt, daß wir nun quitt seien. Wir mußten unbedingt in die Moschee, und er war Diener an derselben. Welche Vorsicht war da anzuwenden, daß er uns nicht zu sehen bekam!

Außerdem fragte ich mich, wie wir den Knaben ausfindig machen wollten. Am besten wohl durch den Besuch der Schule, falls dieser erlaubt war. Doch, das fand sich schon; das mußten die Verhältnisse ergeben.

Was Girard, den Händler, betrifft, so war er jetzt sehr schweigsam geworden. Er wußte, daß wir einer Gefahr entgegengingen; ihre volle Größe hatte er aber nicht gekannt; nun jedoch, als wir uns unserm Ziele näherten, mochte es ihm doch anders um das Herz werden als bisher.

Da sahen wir den nördlichen Stadtteil vor uns liegen und durchschritten ihn auf denselben Gassen, durch welche ich damals auch gegangen war. Uns ein Unterkommen zu suchen, das hoben wir für später auf; wir begaben uns direkt nach der Moschee, welche sehr besucht war. Wir knieten wie die andern nieder, scheinbar um unser Gebet zu verrichten; anstatt dessen aber flog mein Blick von Person zu Person, um mich zu orientieren. Girard gestand mir später, daß er wirklich gebetet hatte um das Gelingen unseres kühnen Planes.

Darauf gingen wir, wie es eben fremde Pilger thun, langsam durch die Säulenhallen, um die wunderbare Architektur zu betrachten. Als uns da ein Moscheebediensteter begegnete, fragte ich ihn nach der Schule der Knaben und er machte sehr bereitwillig den Führer.

Sie machte sich schon von weitem durch die Kinderstimmen kenntlich, welche Koranverse plärrten. Wir durften in den Raum treten; es waren viele Zuhörer da. Wir fanden lauter ältere Knaben; die jüngeren hatten später Unterricht. Wir gingen also einstweilen wieder fort.

Eben als wir aus der Thür traten, wollte jemand hinein, und dieser jemand war – – der bittende Soldat vom Thore Zuweileh. Wir erkannten einander augenblicklich.

»Maschallah!« rief er aus. »Effendi, du! Du abermals!«

Ich ging ruhig weiter, als ob seine Worte mich gar nichts angingen. Er kam mir nach, faßte mich am Arm und sagte:

»Effendi, was wagst du wieder! Es ist – – –«

»Was willst du von mir?« unterbrach ich ihn streng im Dialekte der westlichen Sahara.

»Wer bist du, Herr?« fragte er, irre geworden.

»Ich bin ein Beni Schugara vom Ufer des Hamam.«

Ich hatte meine Stimme verstellt, und der fremde Dialekt dazu, das wirkte.

»Verzeih, o Herr; ich verkannte dich!« sagte er und ging; aber ich bemerkte, daß er uns heimlich folgte.

»Wer war der Mann?« fragte der Franzose.

Ich sagte es ihm.

»So sind wir verloren!« klagte er.

»Nein.«

»Gehen wir fort!«

»Auch nein! Das würde ihn in seinem Verdachte bestärken. Wir bleiben nun erst recht.«

Gegen Abend wurden die Lampen angebrannt, und das Innere der Moschee erglänzte feenhaft in einem Meer von Licht. Der Unterricht der Kleinen begann. Es waren wohl an die Hundert erwachsene Zuhörer da. Wir gesellten uns zu ihnen. Da kamen die Knaben und setzten sich nieder. Der Lehrer war noch nicht da; sie warteten. Aber mehrere

Moscheediener standen am Eingange. Es herrschte tiefe Stille; da plötzlich rief eine helle jubelnde Kinderstimme:

»Mein Vater, O Allah, mein Vater!«

Ein hübscher, etwa sechsjähriger Knabe sprang auf und kam mit ausgestreckten Ärmchen auf uns zugesprungen.

»Mein Sohn, mein liebes, liebes, geraubtes Kind!« schrie der Vater unvorsichtig. Er bückte sich nieder und hob den Knaben an seine Brust.

Ich hätte entspringen können, wollte Girard aber nicht verlassen. Einen Augenblick lang tiefe Stille, dann schrie einer der Diener:

»Das sind Christen – zwei verfluchte Christen! Tötet sie!«

Wir waren sofort umringt. Man wollte uns niederreißen. Ließ ich es dazu kommen, so wurden wir gewiß zertreten. Ich stemmte mich also fest, wehrte die Wütenden nach Kräften von mir ab und rief:

»EI Adala, el Adala – Gerechtigkeit, Gerechtigkeit! Man soll erst untersuchen, ob wir Christen sind!«

»Ja,« ertönte eine Stimme. »Im Namen dieser hohen Moschee des heiligen Okba Ben Nafi! Wir arretieren diese beiden Fremden; laßt sie los, ihr Gläubigen! Das Gericht der Medsched wird sie verhören. Macht Platz, macht Platz!«

Es war der Moscheediener aus Kairo. Er kam mit acht oder zehn Kollegen zu uns und drängte die Menge von uns ab. Sie umringten uns und schafften uns fort, durch einen Seitengang, wo niemand uns belästigte, und einige & andere schmale, dunkle Gänge in ein Gewölbe, in welches wir eingeschlossen wurden.

Girard hatte seinen Knaben noch in den Armen. Niemand war auf den Gedanken gekommen, ihm denselben zu nehmen.

»Verloren, alles verloren!« klagte er. »Endlich, endlich habe ich mein Kind gefunden und nun soll ich sterben!«

»Still!« bat ich. »Ich habe Hoffnung.«

»Jetzt noch Hoffnung?«

»Ja.«

»Woher können Sie dieselbe schöpfen?«

»Ich hoffe auf den Tempeldiener, welcher uns arretiert hat.«

»Der ist ja der schlimmste, sonst hätte er uns nicht arretiert.«

»O nein. Er hat uns verhaftet, um uns den hundert Händen zu entreißen, welche sich ausstreckten, um uns zu vernichten.«

»Sie sind wirklich ein seltener Mann, Monsieur! Ich glaube, Sie stehen noch im Grabe einmal auf und sagen, daß Sie lebend sind!«

»Der Mensch darf sich nie verloren geben. Sie haben Ihren Armand. Seien Sie einstweilen zufrieden und verzweifeln Sie nicht. Für den schlimmsten Fall habe ich meine Revolver. Zwölf Schüsse sind etwas wert, wenn sie im richtigen Augenblicke fallen.«

Er setzte sich nieder, ließ den Knaben, der ihn nach zwei Jahren wiedererkannt hatte, nicht von seinem Herzen und sprach in den zärtlichsten Tönen auf ihn ein. Da wurde die Thür geöffnet. Draußen stand der, auf den ich hoffte.

»Kommt!« sagte er.

»Wohin?« fragte ich.

»Du wirst es erfahren. Schnell, schnell!«

Wir gingen hinaus. Er schob den schweren Riegel wieder vor und führte uns durch mehrere dunkle, leere Gänge und Gewölbe, bis wir plötzlich im Freien standen. Kein Mensch war zu sehen.

»Effendi, wo habt ihr euer Quartier?« fragte er.

»Wir haben keins. Wir waren erst angekommen.«

»Eure Pferde?«

»Draußen vor der Stadt.«

»So geht; aber eilt nicht wie Fliehende, sondern lauft langsam wie Leute, welche gerechte Sache haben. Ihr habt Zeit. Der Oberste der Moschee war nicht zu finden. Aber wage nicht zum drittenmal, nach Kaïrwan zu kommen, denn ich könnte dich wahrlich nicht so leicht retten, wie heut.«

»Warum lässest du uns überhaupt entkommen?«

»Aus Dankbarkeit, Effendi.«

»Du sagtest doch in Kairo zu mir, daß wir quitt seien!«

»Damals dachte ich es. Dann aber las ich das heilige Buch der Christen, welches du mir geschenkt hast, und je mehr ich in demselben las, desto mehr sah ich ein, daß wir nicht quitt sind, sondern daß ich dir dieses Geschenk niemals vergelten kann. Es ist mehr, mehr wert als alles, was ich sonst habe; es ist – – ist – – ist sogar mehr wert als diese große, herrliche Moschee des heiligen Okba Ben Nafi, die du nun zum zweitenmal geschändet hast.«

Da legte ich ihm die Hand auf die Schulter und fragte:

»Schändest du sie nicht auch? ja, schändest du sie nicht täglich und stündlich?«

»Ich? Wieso?« fragte er erstaunt.

»Sie ist dir weniger wert als das Buch, welches ich dir gegeben habe. Du glaubst an das, was in diesem heiligen Buche steht; du bist also in deinem Herzen ein Ungläubiger, ein Giaur geworden und betrittst doch täglich die Moschee als Diener an derselben!«

Er blickte vor sich nieder, hob dann die Augen zu mir, sah mir lange in das Gesicht, reichte mir die Hand und sagte:

»Effendi, ich schweige; aber ich danke dir!«

»Hast du die Deinen bei deiner Rückkehr gesund und wohl gefunden?«

»Ja, Effendi. Ich habe ihnen von dir erzählt und daß sie mich ohne deine Güte nie wiedergesehen hätten. Ich lese ihnen täglich aus deinem heiligen Buche vor, und ihnen ist, so wie mir, Jesus, der Sohn Gottes, lieber, tausendmal lieber geworden als Muhammed, der Menschensohn. Nun aber geht, und kommt niemals wieder!«

»Höre,« lächelte ich ihn an; »o, sag' mir einmal aufrichtig, ob du mich nicht auch zum drittenmal retten würdest, wenn ich wiederkäme!«

»Effendi, du bist mein Wohlthäter und ein Christ; ja, ich würde dich wieder retten, denn – – – wir sind noch lange, lange nicht quitt; ich kann meine Schuld gegen dich niemals abtragen. Lebt wohl!«

Er wendete sich zurück und verschwand hinter der Thür.

Wir spazierten langsam zur Stadt hinaus und gelangten glücklich zu unsern Pferden. Wie unerwartet schnell war das gegangen! Und mit welchen ganz anderen Gefühlen ritt Girard nun nach Norden, als er vorher nach Kaïrwan geritten war!

In Hammamet trafen wir ein Schiff, mit welchem wir nach Tunis fuhren.

Das Entzücken der Mutter beim Wiedersehen ihres entführten Kindes ist nicht zu beschreiben! – –


 << zurück weiter >>