Karl May
Und Friede auf Erden!
Karl May

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Shen-Ta-Shi

Die bisherigen Abschnitte des vorliegenden Buches sind, wenn auch in etwas anderer Fassung, bereits einmal im Druck erschienen, und zwar unter dem Titel »Et in terra pax«. Das war vor einigen Jahren, kurz nach der Rückkehr von meiner letzten großen, fast zwei Jahre dauernden Reise, die mich zuerst nach Afrika und dann durch das ganze südliche bis hinter nach dem östlichen Asien führte. Die hierbei gemachten Studien werden mehrere Bande füllen, deren erster hier mit »Und Friede auf Erden« beginnt.

Damals frug ein rühmlichst bekannter, inzwischen verstorbener Bibliograph bei mir an, ob ich ihm ebenso wie zu früheren Unternehmungen nun auch zu einem großen Sammelwerk über China einen erzählenden Beitrag liefern könne. Diese Anfrage geschah telegraphisch, weil ihm die Sache eilte. Ich zögerte nicht, ihm ebenso telegraphisch eine bejahende Antwort zu senden, denn ich hatte vor kurzem »Und Friede auf Erden« zu schreiben begonnen, hoffte, es schnell zu beenden, und kannte diesen Herrn als einen Mann, dem ich diese eine, gelegentliche Ausgabe meiner Erzählung ganz gut und gern überlassen könne. Freilich, hätte er mir mitgeteilt, daß er mit diesem Sammelwerke eine ganz besondere, ausgesprochen »abendländische« Tendenz verfolge, so wäre ihm anstatt des Ja ganz unbedingt ein kurzes Nein geworden.

Da mir nichts Gegenteiliges gesagt wurde, nahm ich als ganz selbstverständlich an, daß es sich um ein gewiß unbefangenes, rein geographisches Unternehmen handle, welches nicht von mir verlange, anstatt bisher nur für die Liebe und den Frieden, nun plötzlich für den Haß, den Krieg zu schreiben. So erzählte ich denn ganz unbesorgt, was ich zu erzählen hatte, bis mit einem Male ein Schrei des Entsetzens zu mir drang, der über mich, das literarische enfant terrible, ausgestoßen wurde. Ich hatte etwas geradezu Haarsträubendes geleistet, allerdings ganz ahnungslos: Das Werk war nämlich der »patriotischen« Verherrlichung des »Sieges« über China gewidmet, und während ganz Europa unter dem Donner der begeisterten Hipp, Hipp, Hurra und Vivat erzitterte, hatte ich mein armes, kleines, dünnes Stimmchen erhoben und voller Angst gebettelt: »Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein!« Das war lächerlich; ja, das war mehr als lächerlich, das war albern. Ich hatte mich und das ganze Buch blamiert, und mir wurde bedeutet, einzulenken. Ich tat dies aber nicht, sondern ich schloß ab, und zwar sofort, mit vollstem Rechte. Mit dieser Art von Gong habe ich nichts zu tun!

Nun ist es heute an der Zeit, den damals ausgelassenen Schluß hinzuzufügen. Das ist eine Arbeit, die mir Freude bereitet, eine Arbeit, die mir jeden Werktag zum Feiertag machen würde. Und es ist doch heut nicht Wochentag, sondern Sonntag. Die Fenster sind geöffnet, und auch meine Balkontür steht offen, grad so gegen Süden wie damals die Fenstertür im Kratong zu Kota Radscha, als der malaiische Priester von uns Abschied nahm. Es ist ein ebenso heller, sonniger Morgen wie der damals auf Sumatra. Der Altan tragt ungezählte, blühende Pelargonien; auf den Tischen stehen herrlich duftende Reseden und Nelken, denn meine Frau, die immer engelsähnliche, weiß ganz genau, wie lieb mir Blumen sind. Von unten herauf steigen die köstlichen Grüße der Marschall Niel-, La france- und Kaiserin Augusta Viktoria-Rosen. Die Blätter der Oelweide flüstern leise. Im leicht geaserten Baumschlag des Ahorn flötet ein Kehlchen. Das Rankengefieder der chinesischen Glycinen steigt hoch am Hause und zu seiten meiner Fenster bis an das Dach empor, mit genau solchen Ferndurchblicken wie von meiner Wohnung aus auf der großen Sundainsel. Es ist mir, als ob ich mich heut in dieser Wohnung befände. Ich denke mich in sie zurück. Das Zimmer Raffleys nebenan steht offen. Ich trete hinein. Er sitzt mit dem Onkel und dem alten Heidenpriester am Tische. Der letztere ist gekommen, um uns Ade zu sagen – – –

Da ertönen die Glocken; es wird geläutet. Ich rufe mich aus Sumatra zurück, um mich zu besinnen, daß ich mich körperlich in Radebeul befinde. Ich wohne da in unmittelbarer Nähe der Kirche. Man läutet zum ersten Male. In einer halben Stunde erklingen die Glocken zum zweiten Male, zum Zeichen, daß der Gottesdienst beginne. Da sehe ich die allsonntäglichen Kirchenbesucher an meinem Hause vorübergehen. Gehe auch ich? Ich greife zur Bibel, um nachzusehen, über welche Stelle heut gepredigt wird. Es ist der Text Matthäus 5, Vers 20 bis 26. Da heißt es:

»Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich eingehen. – Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder saget: Raka, der ist des Rates schuldig; und wer zu ihm sagt: du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig. Daher, wenn du deine Gabe nach dem Altar bringst und wirst da eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß deine Gabe vor dem Altar dort, und geh zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe. – Besänftige deinen Widersacher, so lange du mit ihm noch auf dem Wege bist, auf daß der Widersacher dich nicht einst dem Richter übergebe und der Richter dich dem Diener überantworte und du in den Kerker geworfen werdest. Wahrlich, ich sage dir, du wirst von da nicht herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlt hast!«

Das war der heutige Predigttext! So stand da, genau so, in der Heiligen Schrift! Christus hat es gesagt, und da wir Christen sind, haben wir es wörtlich zu befolgen! Also, schon wer mit seinem Nächsten zürnet und ihn mit Worten beleidigt, der ist dem Mörder gleich, ist des Gerichtes, des Rates und des höllischen Feuers schuldig! Der Christ soll sich nie zum Gottesdienste wagen, wenn er sich nicht zuvor mit seinen Widersachern ausgesöhnt hat! Und er soll niemals und keinen Augenblick zögern, Verzeihung zu erlangen, denn es wird ihm von seiner Schuld an seinem Nächsten kein einziges Jota und kein einziger Heller abgelassen werden! Soll ich heut in die Kirche gehen? Oder vielmehr, darf ich? So frage ich meine Widersacher! Wo ist der Christ, der nach diesem Worte seines Heilandes noch würdig ist, die Kirche zu betreten? Wie viele Menschen, die ihren Brüdern zürnen, die ihre Brüder beleidigten, die ihre Brüder hassen, die also des Gerichtes, des Rates und des höllischen Feuers schuldig sind, werden heut in die Kirchen gehen und die Predigt über diesen Text nicht im geringsten auf sich selbst beziehen! – »Du sollst nicht töten!« Wenn schon die Beleidigung dem Morde gleich zu achten ist, was soll man da erst über die Arten und Abarten des wirklichen Mordes sagen! Mir wird angst!

Es läutet zwar jetzt zum zweiten Male, aber ich gehe nicht; ich bleibe daheim! Ich will, während die ersten Töne der Orgel zu mir herüberklingen, das Buch über die Heldentaten der christlichen Krieger auf den chinesischen Schlachtfeldern lesen und dann hierauf den Schluß meiner friedlichen Geschichte erzählen. Ich brauche viel Sonnenschein dazu, viel Liebe und viel Versöhnlichkeit, und das ist nirgends so wie hier bei mir in meinem Heim zu finden.

Ich denke mich also wieder hin nach Kota Radscha, wo ich schon vorhin war, und höre den alten, ehrwürdigen malaiischen Priester zu John Raffley sagen:

»Und steigt in meines Lebens Abendröte von Westen her ein lieber Gruß empor, umsäumt vom goldenen Lichte dessen, was ich wünsche, so ist es kein Abschied gewesen, den wir jetzt hier nehmen, sondern Ihr seid bei mir geblieben in Eurer Liebe, wie ich Euch begleitet habe mit der meinigen. Vergeßt nicht diese meine Worte, und laßt den Gruß mir steigen! Ich möchte ihn so gern noch sehen, bevor mein Abendrot zur Morgenröte wird!«

Indem ich diese seine Worte zum zweiten Male niederschreibe, hier im Abendlande, im Westen, von wo aus er sich einen lieben Gruß ersehnt, bevor sein Geist im Morgenland zur Abendröte steigt, klingt aus der Kirche die Responsorie zu mir herüber: »Der Herr sei mit euch!« singt der Pfarrer. »Und mit deinem Geiste!« antwortet die Gemeinde. Ja, wüßte dieser Geist den Weg von hier nach dort! Ich wollte ihn bitten, unsere Grüße dem Osten zuzutragen, heute, bald, so lange es noch am Tag des Schaffens ist! Ich wollte ihm sagen, daß auf den fernen Atjeh-Bergen ein liebes, klares Augenpaar allabendlich in die niedersteigende Sonne schaut, ob nicht ein kleines, goldumsäumtes Wölklein sich am Himmel zeige, um den Durst des Morgenlandes zu stillen, wie einst jenes lang ersehnte, handgroße aber dunkle Wölkchen des Elias auf dem Berge Karmel. Und ich wollte ihm alle, alle Liebe mitgeben, die ich in meinem Herzen für die Menschheit trage, damit alle dort Aufschauenden erfahren möchten, daß wir unsere Augen nicht vor ihnen niederzuschlagen haben. Aber nein; das ist ja doch nicht möglich! Warum? Die Grüße, welche wir ihnen senden, riechen nach Pulver. Aus den Wolken, die von uns zu ihnen gehen, brüllt der Donner der Geschütze. Und das ganze, große Reich der Liebe, welches wir bei ihnen gegründet zu haben behaupten, ist in – – – christliche »Interessen«-Sphären eingeteilt!

Wie begann doch gleich das Gedicht des alten Malaiien? »O komm, sei wieder Gast auf Erden, du gottgesandter Menschheitschrist!« Dieser Ruf der gelben Rasse blieb nicht unerhört: Der Christ ist gekommen, in kaukasischer Gestalt und Farbe. Hat er ihnen gebracht, was die Engel bei Christi Geburt der Menschheit verhießen? Den Frieden auf Erden? Damals kamen die Könige und Weisen des Morgenlandes, um dem Erlöser Anbetung, Gold und Weihrauch darzubieten, freiwillig, unaufgefordert; es war ihnen nichts so köstlich, daß sie es ihm nicht gern geopfert hätten! Gegenwärtig aber gibt es Leute, welche behaupten: »Das war damals, vor zweitausend Jahren, als »der Christ« noch in den Windeln und in der Krippe lag; da mußte man ihm Alles bringen. Jetzt aber ist er Mann geworden. Da wartet er nicht, bis man zu ihm kommt, sondern er geht, um selbst zu holen, was ihm gebührt: Gold, Gold, Gold! Und den Weihrauch? Auch den streut er sich dann selbst; das ganze Abendland durftet nach diesem ihm doch eigentlich ganz fremden Harze!«

Enthalten diese Behauptungen Wahrheit oder Lüge? Es ist nicht meine Aufgabe, zu antworten, sondern zu erzählen. Und indem ich nun damit beginne, erklingt da drüben in der Kirche die Orgel von neuem. Der Kantor spielt das »Große Halleluja« von Handel. Ich höre es bis zu Ende. Dann aber ist es, als ob jemand hinter mir stehe, wie auf Seite 389 hinter dem Governor. Lind weht es um mich her, und eine leise Stimme spricht in mir:

»Der Habsucht sei das Gold beschieden,
Der Weihrauch dem, der Weihrauch liebt,
Uns Armen aber gib den Frieden,
Den uns kein Fürst, kein Weiser gibt!«

Die letzten Worte meiner Erzählung waren: Mehr hörte ich nicht, denn ich schlich mich hinaus, schloß möglichst unhörbar die Tür und entfernte mich. Wenn England China in so aufrichtiger und reuevoller Weise segnet, ist Deutschlands Unterstützung überflüssig.

Wohin ich ging, das war mir gleich, nur nicht nach meinem Zimmer, weil dies ja neben dem des »Uncle« lag. Ich hatte den Korridor noch nicht zur Hälfte durchschritten, da kam mir Raffley entgegen, so schnell, als ob er Eile habe. Als er mich seh, fragte er:

»Ihr seid es, Charley? Habt Ihr vielleicht meine Yin gesehen?«

»Ja, soeben,« antwortete ich.

»Wo?«

»Sie ist beim Governor.«

Er schien erschrecken zu wollen, wechselte aber rasch den Ausdruck seines Gesichtes, über welches nun ein warmes, frohes Lächeln ging.

»Welche Kühnheit von ihr!« sagte er. »Sie hat mich gar nicht erst gefragt. Aber wenn eine solche Frau dem eigenen Herzen folgt, so darf man ihr sehr gern vertrauen. Es ist also gut, da es nun einmal nicht so geschehen soll, wie ich die erste Zusammenkunft zwischen diesen beiden beabsichtigt hatte! Gott lasse es gelingen! Und ich wiederhole: Der Frauen Gefühl ist so unerforschlich richtig, und meine Yin muß immer, immer siegen! Kommt, Charley! Will Euch den Garten zeigen. Mir ahnt, daß sie den »uncle« dann herunterbringt. Sie hat da einen Lieblingsplatz. Da ist sie Blume unter lauter Blumen, und wenn sie fühlt, daß es in ihr zu blühen hat, zur Freude irgend eines anderen Menschen, so führt sie ihn dorthin. Im übrigen aber ist dieses Haus mit seinem Gebiet ihr zwar recht wohl bekannt, doch innerlich fremd. Ihre Heimat ist ja unser Raffley-Castle.«

»Raffley-Castle?« fragte ich, indem wir miteinander weitergingen, der Treppe nach dem Garten zu. »So gibt es hier eine Kopie dieses Stammsitzes Eures Geschlechtes?«

»Das Wort Kopie ist eigentlich falsch, denn mein neues, hiesiges Schloß ist jedenfalls originaler als das alte drüben in der Heimat. Na, Ihr werdet es ja kennen lernen!«

Jetzt traten wir aus dem hintern Tor des Gebäudes in den Garten hinaus. Er war groß, außerordentlich wohlgepflegt und ging in einen Park über, der sich auf der andern Seite den ganzen Berg hinunterzog. Da sah man die hinterasiatische Baum- und Blumenflora in den herrlichsten Exemplaren, aber er war nicht spezifisch chinesisch angelegt, sondern in einem Stile, in welchem auch der europäische Geschmack zur Geltung kam. Sauber gehaltene Wege führten zwischen den verschiedenen Gruppen dahin. Indem wir diesen Wegen folgten, fuhr Raffley fort, zu sprechen. Er wiederholte in kurzem, was er mir bereits von seiner Yin erzählt hatte, und fügte nun eine Menge erläuternder Bemerkungen bei, welche vom größten persönlichen Interesse waren. Dabei kamen wir nach der westlichen Seite der Bergkuppe, von wo aus wir den Meeresarm überblicken konnten, welcher die Insel von dem Festlande trennte.

Er war ungefähr zwei Seemeilen breit und von allerlei vielgestaltigen, hin und her gehenden Booten belebt. Da der eigentliche Hafen hier bei uns an der Insel lag, gab es jenseits drüben nur einen Landeplatz, der nicht sehr breit war, aber außerordentlich geschützt lag und so tief das Land eindrang, daß er weit mehr Schiffe fassen und weit mehr größeren Baulichkeiten Raum geben konnte, als der Hafen selbst.

»Herrliche Lage für ein Zukunftsprojekt,« erklärte mir Raffley. »Ihr werdet überhaupt sehen, daß wir nur für die Zukunft arbeiten. Vergangenes muß uns nützen, wenn es kann, aber es fast anzubeten, wie Ihr Euer Griechenland und Rom, das tun wir nicht. Jede Zeit besitzt ihre eigenen Ideale, denen sie nachzustreben hat. Ob sie erreicht werden oder nicht, es entwickeln sich unaufhörlich neue, andere aus ihnen, welche dieselben Rechte erlangen, der Gegenwart als Muster zu dienen. Wer seine Ideale aus alten, vergangenen Zeiten holt, der hat sie mit häßlicher Gewaltsamkeit herüberzuzerren und setzt dem Menschengeiste Ruinen, anstatt ihm brauchbare Wohnungen zu bauen. Sprechen wir Europäer ja nicht von »Heiden«! Wir nennen uns Christen, ja, aber wir herbergen und schlafen doch allgesamt in den Ruinen der alten heidnischen Götter und Göttinnen, deren Mono- und Biographien wir Wort für Wort auswendig lernen müssen, während wir an ganz denselben Schulen über den wahren Gott und Herrn meist nur in der Weise unterrichtet werden, daß wir fast lieber an ihm zweifeln, als an ihn glauben möchten!«

Als er so sprach, schaute ich ihn verwundert an. Er sah es, lächelte ein wenig und fuhr fort:

»Jawohl, ich bin nicht mehr der Alte. Ich schwieg. Warum? Aus Stolz, dachte ich. Es war aber nicht berechtigter Stolz, sondern Dummheit. Nun ich sehend geworden bin, habe ich auch gelernt, mich auszudrücken, in Wort und in Taten. Die Worte könnt Ihr allezeit hören; ich bin bereit, einem Jeden zu sagen, was ich denke. Und die Taten liegen da drüben, jenseits des Wassers. Schaut hinüber! Was Ihr dort liegen seht, das ist ein heidnisches, ein vollständig heidnisches Land. Denn, glaubt es mir: Kein Einziger von Allen, die da wohnen, hat jemals aus dem Munde eines Christen die Worte gehört, daß sein Glaube, also der Glaube dieses Landes, ein falscher sei! Als ich mit meinem Freunde Fu diese Gegend durchzog, um sie kennen zu lernen, sah ich alle Vorzüge und alle Schattenseiten der chinesischen Kultur. Der Vorzüge waren viele, der Fehler nur wenige. Ein Lügner wäre ich gewesen, wenn ich behauptet hätte, daß diese Kultur eine falsche sei! Ich gab ihr das volle Recht, welches ihr gebührt, und ließ sie dann nach meiner Vereinigung mit Fu sich unter meiner Hand still fortentwickeln. Nun reiht sich Wiese an Wiese und Feld an Feld. Ihr geht auf Wegen und Straßen immerfort zwischen Fruchtbäumen dahin. Der Draht des Telephon und Telegraph begleitet Euch. Ihr kommt an Wagen, Reitern, Sänften, Fußgängern vorüber, und jede dieser Begegnungen ist eine freundliche, ich möchte sagen, herzliche. Teilt sich der Weg, so geht es links nach der Stadt, rechts aber hoch hinauf nach Raffley-Castle. Sähet Ihr nicht an der Kleidung der Menschen, daß Ihr Euch in China befindet, so würdet Ihr annehmen können, in Old England oder Deutschland zu sein. Weit draußen, am fernsten Horizont, ragen Berge, gewaltige Phönolithmassen aus der Tertiärzeit. Auch der Berg, auf dem wir uns jetzt befinden, gehört zu dieser Gruppe, zu deren Füßen die ewig arbeitende See eine unendlich fruchtbare, allmählich ansteigende Ebene abgelagert hat. Auf halber Höhe liegt mein Raffley-Castle, mein Paradies, geschützt vor kalten Winden. Wie freue ich mich: heut abend bin ich dort!«

»Heut abend schon?« fragte ich.

»Ja, selbstverständlich. Die Pflichten der Gastlichkeit veranlassen uns, Ocama fast noch gleich in dieser Stunde zu verlassen, damit wir Euch morgen, wenn Ihr zu uns kommt, ohne Mangel an Vorbereitung empfangen können. Yin bittet mich, es Euch anzuvertrauen, daß wir uns ohne alles Aufsehen, also fast heimlich, entfernen werden. Die Andern kommen dann bereits morgen zu uns nach, weil Fang und Tsi ihren Patienten nicht länger, als unbedingt nötig ist, hier an der Küste bleiben lassen wollen.«

Während er dies sagte, machten wir eine Wendung, um die Stelle, an welcher wir standen, zu verlassen. Da sahen wir zwei Personen aus dem Haus kommen und nach dem Garten gehen – – – der Governor und Yin. Sie schauten nicht nach unserer Seite her und gingen also von weitem vorüber, ohne uns zu bemerken.

»Habt Ihr es gesehen?« fragte John. »Sie hatte bei ihm eingehängt! Was habe ich gesagt? Als auf der Jacht der »uncle« so Arm in Arm mit Tsi verschwand?! Da sagte ich zu Euch: Ich bin überzeugt, daß er schon in den nächsten Tagen auch mit meiner herrlichen Yin genau so Arm in Arm promenieren gehen wird. Und nun ist es geschehen! Stören wir sie nicht! Ich gehe hinab in den Hafen, um unsere Flucht still vorzubereiten. Lebt wohl!«

Wir reichten uns die Hände. Er ging durch das Haus nach vorn, ich aber hinauf nach meinem Zimmer, wo ich den Sejjid beschäftigt fand, meine Habseligkeiten in und unter die verschiedenen Möbel zu verteilen.

»Sihdi,« redete er mich an, »nun sind wir endlich und wirklich in China angekommen! Wie freue ich mich, daß ich nun nur noch chinesisch mit dir reden darf!«

Das hatte er arabisch gesagt; ich antwortete ebenso:

»Wer hat dir verboten, arabisch oder deutsch mit mir zu reden?«

»Ich selbst, Sihdi. Denn schau, was ich dir zeigen werde!«

Er zog aus der tiefen Tasche seines Kaftans ein Paket hervor und schlug es auseinander. Es war eine ganze Anzahl engbeschriebener Papierbogen.

»Hier steht die ganze chinesische Sprache,« erklärte er mir. »Ich habe sie mir aufgeschrieben. Es sind über vierhundert Worte, die etwas sind, und beinahe fünfhundert Worte, die etwas tun. Auf den hintersten Seiten stehen dann die Worte, die nichts sind und auch nichts tun. Ich werde sie dir vorlesen, alle zusammen! Ihr lest von links nach rechts, wir lesen von rechts nach links, und die Chinesen lesen von oben nach unten. Wie soll ich anfangen? Oben oder unten? Hinten oder vorn?«

»Fang an, wo du willst, aber nur nicht jetzt!« lachte ich. »Uebrigens, sprich mit mir, in welcher Sprache du willst, aber nur vernünftig!«

Da nickte er schnell vor sich hin und meinte:

»Das ist mir lieb, denn ich habe dir Etwas zu sagen, was sehr vernünftig ist.«

»Was?«

»Darf ich reden, ohne daß du es mir übel nimmst?«

»Ja.«

Da legte er die braunen Hände zusammen, schaute mir mit seinen dunklen, ehrlichen Augen in das Gesicht, lächelte ein wenig verlegen dazu und sprach:

»Ich habe in der letzten Zeit viel, sehr viel nachgedacht, erstens über dich und zweitens über mich.«

»Nun, hast du da etwas gefunden?«

»Ja.«

»Was?«

»Du bist nicht das, was du bist, und ich bin nicht das, was ich bin, sondern du bist das, was ich bin, und ich bin das, was du bist.«

»So? Das klingt allerdings sehr schön und ist jedenfalls noch viel schöner, als es klingt; aber sag mir vorerst einmal: Wer bist denn eigentlich ich, und wer bin denn nachher du?«

»Du scherzest, Sihdi, mir aber ist es ernst! Höre, was ich meine! Ich bin kein Moslem, und du bist kein Christ.«

»Oho!«

»Ja, so ist es! Sondern du bist der Moslem, und der Christ bin ich! Ich bitte dich, Sihdi, werde nicht darüber zornig, und lache mich aber auch nicht aus. Es ist so, wie ich sage, wenn auch Etwas anders. Es gibt etwas dabei, was ich noch nicht begreife. Denn wenn ich mir ganz Dasselbe auf die andere Seite hinüberdenke, so bist du immer noch der wirkliche Christ, und ich bin immer noch der wirkliche Anhänger des Propheten. Aber es gibt noch eine dritte Seite, welche diese Sache noch viel verwickelter macht. Denn wenn ich uns von ihr aus betrachte, so sind wir weder Christen noch Muhammedaner, sondern Heiden.«

»Das klingt sehr schlimm, Omar!«

»Laß es klingen wie es will; schlimm ist es nicht, denn – – –« er hielt nachdenklich inne und fuhr dann fort: »Wie war das nur, was sie zu mir sagte? Das war kurz, ehe sie ging.«

»Wer?«

»Sie, die – die – – ach, das weißt du ja noch nicht! Nämlich ich war in meiner Stube da vorn und hatte die Tür offen. Da wollte etwas Weißes an mir vorüber. Als es mich sah, blieb es stehen und kam dann näher, herein in meine Stube, um mich anzusehen. Ich wußte nicht, was es war.«

»Natürlich eine Frau!«

»Ja, ein Mann war es nicht, ob aber eine Frau oder ein Mädchen, das war nicht gleich so gewiß, wie du zu denken scheinst. Ich sah einen Schmuck von Rosen und Veilchen und ein ganz unbeschreibliches Angesicht ; das hatte den Anschein, wie gar nicht von der Erde. Und da sprach es zu mir. Ich aber stand mit offenen Augen und mit offenem Munde und antwortete nicht, denn ich hörte die Worte nicht, weil ich nur auf den köstlichen Klang der Stimme achtete. Es war, als ob ein Bulbul sänge, im Schatten einer unter Palmen stehenden Moschee, ganz absonderlich, beinahe heilig! Ich weiß, daß es bei den Christen heilige Frauen gibt, die gestorben sind und als Seele manchmal wieder auf die Erde kommen. War das, was so da vor mir stand, eine solche Seele oder gar ein Engel? Natürlich wollte ich diese Frage bloß nur denken; aber ich habe sie wirklich angesprochen, denn ich weiß noch, daß ich über den Klang meiner Stimme erschrak, der gegen den der ihrigen ganz unaussprechlich häßlich war. Ich kann mich auch nicht erinnern, in welcher Sprache ich es gesagt habe; aber ich bin ganz gut verstanden worden, denn es kam ein Lächeln, als ob es plötzlich lauter Sonnenschein und Fröhlichkeit auf Erden gebe, und dann die Worte, die ich meine. Ich könnte sie dir höchstwahrscheinlich ganz genau sagen, wenn ich mich eben auf die Sprache besinnen könnte, in welcher dieser Engel oder diese Seele zu mir geredet hat. Es war kürzer, viel, viel kürzer, aber es wird ungefähr so gewesen sein: die Rassen und Religionen sind verschieden, die Menschenherzen aber sind alle eins und einig. Ich weiß nicht, ob du mich nun verstehst, mich und die Seele, die zu mir in meine Stube kam.«

»Ich verstehe euch, dich und sie. Weißt du denn nun, wer es war?«

»Ich denke es mir. Sie ging von mir nach dem Zimmer des Governor, aus welchem du dann kamst. Nach einiger Zeit verließ sie es mit ihm; da ging ich hierher, um mich in deiner Wohnung einzurichten. Sie ist der Marmorkopf auf unserer Jacht, und sie ist das stets mit Blumen geschmückte Bild in der Kajüte. Und sie ist aber auch wieder keines von beiden, sondern sie alle drei zusammen sind – – –« wieder hielt er inne, machte eine Bewegung, als ob ihm ein überraschender Gedanke gekommen sei, und fuhr dann fort: »Sihdi, ich habe etwas entdeckt. Nämlich diese drei sind genau so Eines wie wir drei.«

»Deutlicher Sejjid! Sprich deutlicher, sonst verstehst du dich schließlich selbst nicht mehr!«

»Ich meine: Dieses weißgekleidete Wesen, das Bild in der Kajüte und der Marmorkopf müssen zusammengerechnet werden. Und der Christ, der Muhammedaner und der Heide müssen auch zusammengerechnet werden. Da kommt hier Etwas und dort Etwas heraus, was du vergleichen mußt. Vielleicht ist es Einunddasselbe, vielleicht ist es nicht Einunddasselbe, aber etwas Aehnliches – – – Ich gehe!«

Er drehte sich um, entfernte sich und machte die Tür so schnell hinter sich zu, daß ich gar keine Zeit fand, ihn mit einem Worte, einer Frage zurückzuhalten. Das war so seine Art, wenn er etwas getan oder gesprochen hatte, was er für klug, vielleicht gar für geistreich hielt. Da ließ er mich so schnell wie möglich allein, damit ich Zeit und Raum gewinnen möge, ihn ungestört zu bewundern.

Was hatte er mir sagen wollen, und was hatte er mir gesagt? In seiner eigenartigen, so außerordentlich ernsten und doch fast komischen Weise? Das Mittel ziehen aus einer Frau und ihren beiden künstlerischen Werken! Einen Christen, einen Moslem und einen Heiden addieren und die Summe mit drei dividieren! Wie heißt der Quotient? Das war eine Aufgabe, die mir ein Araber, ein Eselsjunge aus Kairo vorgelegt hatte! Er hatte sich etwas ganz Bestimmtes dabei gedacht, gleichgültig, ob ich ihn begriff oder nicht. Er, der nicht das Allergeringste von Kunst verstand, hatte mir in Beziehung auf die Yin einen geradezu bewundernswerten Wink gegeben. Und er, der sich stets mit so großem Stolze als Sejjid, also als Nachkomme Muhammeds bezeichnet hatte und dem es geradezu gräßlich gewesen war, einen Heiden auch nur anzurühren; er wollte jetzt nicht nur sich, sondern dazu auch mich mit allen möglichen Andersgläubigen zusammenwerfen und hinterher noch dividieren lassen! Warum, wozu? Weil er endlich, endlich zu ahnen begann, daß sein sogenannter »wahrer« Glaube auch nichts Anderes als eben nur eine Art des Glaubens ist.

Eine ganze Fülle von Gedanken stürmte auf mich ein, und ich setzte mich ins Freie hinaus, auf den hohen Söller. Das weit vorspringende Dach beschattete ihn. Vor mir lag beinahe der ganze Ort, der Hafen und der Meeresarm. Jenseits desselben die Küste des Festlandes und der Landeplatz, hinter diesem die weiten, langsam ansteigenden Fluren und Felder, welche den bereits erwähnten dunkeln, sonderbar zacklinigen Bergen zustrebten, auf denen ich Raffley-Castle zu suchen hatte.

Eben als ich mich draußen niedergesetzt hatte und mein Auge hinunter nach dem überaus belebten Hafen richtete, kam Sejjid Omar aus dem Hause und wendete sich nach dem bergabwärtsführenden Wege. Er hatte nichts zu tun und ging darum spazieren, um den interessanten Ort, an dem wir uns befanden, kennen zu lernen. Von unten kam ein Chinese herauf, langsamen Schrittes, wie einer, der auch nur spazierengeht. Sie grüßten einander. Der Chinese blieb stehen und sprach auf Omar. Dieser antwortete. Es entwickelte sich zwischen ihnen ein Gespräch, infolge dessen der Chinese die bisherige Richtung seines Spazierganges aufgab; er drehte sich um und schritt mit Omar den Berg hinab. Aus seinen Handbewegungen schloß ich, daß er dem Araber die umliegende Gegend zeigte und erklärte. Weiter hatte dieser Mann für mich kein Interesse – – – notabene für jetzt. Er sollte mir wichtiger werden, als ich dachte! Es fiel mir an ihm auf, daß er einen ganz eigenartig geformten Hut trug und daß kein Zopf bei ihm zu sehen war.

Nach einiger Zeit hörte ich meine Tür drin gehen.

»Charley!« rief die Stimme des Governor.

»Hier bin ich, auf dem Balkon,« antwortete ich.

Er kam heraus.

»Da sitzt Ihr also, da!« sagte er. »In aller Seelenruhe! Während ich in meiner Seele ein ganzes Schock von Seestürmen zu erleben habe, alle zu gleicher Zeit, ganz auf einmal!«

»Und dabei so außerordentlich gutes Wetter im Gesicht,« warf ich ein. »Ihr steht ja förmlich in Strahlen wie die Sonne!«

»So? Wirklich?« fragte er, indem er sich niedersetzte. »Hab auch allen Grund dazu, daß ich strahle! Bin begeistert, bin elektrisiert, bin entzückt, bin berauscht, bezaubert, fasziniert, bin einfach weg, weg, weg!«

»Hm!« machte ich.

»Was, hm?« fuhr er auf. »Ist etwa Etwas nicht richtig, Sir?«

»Hm!« wiederholte ich.

Da stand er auf, breitete die Arme aus, dehnte und reckte sich nach allen Richtungen, holte tief, tief Atem, setzte sich wieder nieder und sagte dann:

»So! Jetzt will ich mir Mühe geben; aber nun brummt mir auch nicht mehr! Uebrigens, Ihr habt recht, vollständig recht: diese Ausdrücke waren nicht am Platz. Es gibt Gefühls- und Erkenntnissphären, in denen Redensarten wie »entzückt«, »begeistert«, »wundervoll« u. s. w. nicht nur lächerlich, sondern geradezu verbrecherisch sind. Das war mir bisher fremd; nun aber sehe ich es ein. Ich habe mich von jetzt an mit solchen tief da unten liegenden Dingen nicht mehr zu befassen, denn ich bin gehoben worden, hoch, hoch emporgehoben. Schaut mich einmal an, Charley! Was meint Ihr wohl, wer ich bin?«

»Doch wohl der, der Ihr bis jetzt gewesen seid!«

»Nein! Sondern ein ganz Anderer! Alles, Alles, was ich mir einbildete, ist weg, vollständig weg! Ich war nichts, gar nichts! Erst heut bin ich Mensch geworden, ein wirklicher Mensch! Und erst heut wurde ich geadelt, erst heut! Ich war ein ganz gewöhnlicher Mann. Blaues Blut, na ja, meinetwegen! Aber das Edle, das Edle, das wirklich und vollkommen Edle, für das es keine Werte und keine Beschreibung gibt, das ist erst heute in mir aufgewacht, ganz plötzlich und mit aller Gewalt, als diese unbeschreibliche Yin bei mir erschien und vor mir niederkniete! Ich zähle über sechzig Jahre, habe aber nicht mehr als nur zwei wirklich bedeutende Augenblicke erlebt – – – innerlich bedeutend meine ich. Das war in Kota Radscha, als mein Freund, der Heidenpriester, unsere Mary Waller segnete. Und das war vorhin hier in Ocama, als von der Chinesin eine Segensfülle auf mich überging, die ich sogar auch äußerlich empfand, so ähnlich wie den Strom eines magnetischen Apparates.«

Er hielt inne, schaute in das Weite, über die See hinüber, und setzte dann seine Rede fort, nicht wie an mich gerichtet, sondern als ob er alles nur sich selbst zu sagen habe. Er hatte sich halb von mir abgewendet und sah mich auch nicht an.

»Sonderbar, höchst sonderbar! Es war einmal ein indischer Brahmane bei mir, mit dem ich viel über ernste Dinge sprach; der erzählte mir Folgendes: Der Mann wurde in Indien erschaffen, das Weib aber in Persien. Da lag zwischen hohen Bergen der »heilige See« und gleich daneben der sumpfige »See der sündigen Gewässer«. Der heilige See trug nur eine einzige, rein weiße, fleckenlose Lotosblume. Keine Fliege und kein anderes Insekt wagte sich in ihre Nähe. In dem Sumpfe aber gab es Blumen in Hülle und Fülle. Sie prangten in allen Farben und schienen schöner zu sein als selbst die Lotos in der klaren, lauteren Flut. Aber sie dufteten wie nach Aas, und dieser Gestank, den sie verbreiteten, zog allerlei unreines Getier in großen Mengen zu ihnen hin. Da kam Ormuzd, der Gute, im Vollmondschein gegangen, bis an den heiligen See, und sah die Lotosblume. »Das ist die Blüte, die aus meinem Himmel stammt,« sagte er bei sieh. »Ich werde sie dem Menschen bringen, den ich heute schuf, daß sie an seinem Herzen blühe und ihre reine Seele ihn aufwärts leite nach der Seligkeit.« Er winkte ihr; sie kam herbeigeschwommen, und als sie an das Ufer sdeg, besaß sie menschliche Gestalt und war – – – das erste Weib! – – – – – – Kaum hatte sich der Herr mit ihr entfernt, so kam auch Ahriman, der Fürst des Bösen. Er ging zum See der sündigen Gewässer und sprach mit arger List: »Das sind die Blüten, die aus meiner Hölle stammen. Ich werde sie den Menschen bringen, die nun von heute an geboren werden, damit man sie für Lotosblumen halte und darum Gottes Himmel meiden lerne. Verflucht sei fortan Jedermann, der diese Reine liebt, die ich dort gehen sah!« Er winkte. Da kamen sie herbei geschwommen, die bunten Blumen aus dem Wasser des Gestankes, und als sie an das Ufer stiegen, besaßen sie die menschliche Gestalt und waren Frauen, viel schöner noch als jenes Weib! – – – – – – Wißt Ihr, Charley, wo Ihr die Seele jener Lotosblume, jener von Ormuzd geschaffenen Frau zu suchen habt?«

»In unserer Yin?«

»Ja. Aber warum sagt Ihr es? Ich selbst wollte es doch sagen! Ich habe es entdeckt, aber doch nicht Ihr! – Ich bin heut klein, unendlich klein geworden, und doch auch wieder groß, unendlich groß. Ich habe Euch viel, sehr viel zu sagen. Der Eindruck, den Yin auf mich gemacht hat, ist ganz unbeschreiblich. Es gibt keine Worte, mit denen ich das sagen – – –«

Er unterbrach sich abermals. Es gab ein Geräusch unter unsern Balken. Hinabschauend sah ich, daß man einen Palankin aus dem Hause brachte und vor dem Tor niedersetzte. Dann erschien Yin. Da sprang der Governor sehr schnell von seinem Stuhl auf und sagte:

»Da ist sie ja! Schon jetzt! Sie will fort! Ich muß augenblicklich hinab, um Abschied von ihr zu nehmen.«

»Wo will sie hin?« fragte ich.

»Nach Raffley-Castle hinüber. Aber davon wißt Ihr ja gar nichts. Mir jedoch hat sie es vertraulich mitgeteilt. Seht, da steigt sie eben ein! Ich muß rasch noch hinab, sonst trägt man sie mir davon, ehe ich ihr noch einmal die kleine, unendlich schöne Hand habe küssen dürfen. Wartet! Ich gehe nur hinab zu ihr, sonst weiter nirgendwo hin. Ich bin gleich wieder da bei Euch, und dann – – –«

Was »dann« geschehen sollte, das hörte ich nicht, denn grad bei diesem Worte machte er meine Tür von draußen hinter sich zu. Ich sah, daß er trotz dieser seiner Eile zu spät kommen werde, denn Yin war in die Sänfte gestiegen, welche nun jetzt von den beiden Kulis aufgehoben und mit jener schnellen Art von Schritten fortgetragen wurde, welche den chinesischen Sänftenträgern zur Gewohnheit geworden ist, nämlich ein ausgiebiger, schnell vorwärtsbringender Trab. Als der Governor unten aus dem Hause kam, waren sie schon eine ziemliche Strecke mit ihr den Berg hinunter. Da rannte er hinter ihnen drein und rief dabei zu mir herauf:

»Ich hole sie ein; ich hole sie ein, Charley! Kommt mir nach, in die Stadt, nach dem Hafen! Es gibt vor heut abend nichts zu essen hier oben!«

Das klang sonderbar. Wie kam er auf diese letzteren Worte? Und als ich nun sah, mit welcher Eile er, der vornehmste und bedachtsamste aller Gentlemen, hinter dem Palankin drein rannte und welche Schritte er dabei machte, da brach ich in ein lautes, herzliches Lachen aus. Ich glaubte, mir das gestatten zu können, denn ich war ja allein; aber da hörte ich hinter mir ein Echo klingen. Ich drehte mich um und sah Tsi. Er war in meine Stube gekommen, ohne daß ich es gehört hatte. Nun stand er da an der offenen Balkontür, sah den »uncle« laufen und lachte grad ebenso herzlich wie ich selbst. Daß er die letzten Worte des Governor gehört hatte, bewies er mir, indem er sagte:

»Nichts zu essen heute abend? Da hat er mich nicht richtig verstanden! Er eilte gar zu schnell an mir vorüber! Wir gönnen unsern lieben Gästen ihre eigene Zeit und bitten sie darum erst für heut abend in den Speisesaal. Das sagte ich ihm, als er an mir vorüberging. Für außerdem hängt neben jeder Tür die Speisekarte . Er hat es auf die Sänfte abgesehen. Wer sitzt darin? Vielleicht Yin?«

»Ja, Raffley ist schon voran nach dem Hafen. Sie wollen nämlich – – – aber das darf ich ja vielleicht gar nicht sagen!«

»Warum nicht? Nur immer heraus damit! Sie wollen hinüber nach Raffley-Castle, nicht? Er hat es auch mir mitgeteilt und meinem Vater ebenso, im Vertrauen natürlich! Und Yin hat es meiner Schwester gesagt, meiner Mutter und meiner Großmutter, ebenso nur im Vertrauen! Sie sehen, das Leben beginnt bereits sich chinesisch zu gestalten: Man behandelt die Vorkommnisse des Familienlebens nicht öffentlich, sondern vertraulich. Uebrigens, wenn Sie speisen wollen, so geben Sie das Zeichen mit dem Gong, und sagen Sie dem Diener, was Sie wünschen! Das war es, worauf ich Sie aufmerksam machen wollte. Sonst aber sind Sie Ihr eigener Herr.«

Als er fort war, schaute ich draußen nach. Da hing neben jeder Tür ein kleiner Gong und über ihm ein Verzeichnis der Speisen und Getränke, welche man sich auf das Zimmer wünschen konnte. Das war eine Aufmerksamkeit, die ich sonst noch nirgends gefunden hatte. Ich hatte jetzt weder ein Bedürfnis noch einen Wunsch, sondern nur die Pflicht, dem Governor nach der Stadt zu folgen, da er das sehr wahrscheinlich von mir erwartete. Ich spazierte also ganz denselben Weg wie er, wenn auch bedeutend langsamer, den Berg hinunter, um zu versuchen, ihn dann irgendwo zu treffen.

Aber ich ging nicht allein, sondern ich wurde begleitet. Nämlich als ich zur Treppe hinunterkam, wurde eine der im Parterre liegenden Türen geöffnet, und es trat ein Chinese heraus, der ganz augenscheinlich nicht von gewöhnlichem Stande war. Er wollte auch hinunter nach der Stadt, blieb aber stehen und verbeugte sich sehr höflich, um mich an sich vorüberzulassen. Als ich ebenso höflich zögerte, dies zu tun, sagte er in einem sehr guten Englisch, er vermute, daß ich ein Gast dieses Hauses sei, und als solcher stehe mir der Vortritt vor ihm zu. Da ich das nicht annehmen wollte, entspann sich ein kleines, wohlwollendes Wortgeplänkel, welches zu dem heiteren Ergebnis führte, daß wir Einer dem Andern erlaubten, neben ihm herzulaufen. Dieser Mann war der Pu-Schang von Ocama. Er war bei dem »hohen Herrn« gewesen, womit er natürlich Fu meinte, um ihm Meldung zu machen und sich Verhaltensmaßregeln zu erbitten. Ich war noch kaum hundert Schritt mit ihm gegangen, so fühlte ich mich überzeugt, daß er ein sehr gewandter und sehr energischer Herr sei, doch lernte ich später auch noch manche andere, rein menschliche Tugend von ihm schätzen.

Es war jetzt ungefähr drei Uhr nachmittags. Ich sah das am Stande der Sonne und zog, während wir im Gehen miteinander sprachen, meine Uhr aus der Tasche, um ihre Zeit mit der der Sonne zu vergleichen. Als er das sah, schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er schaute auch nach seiner Uhr, hielt seine Schritte bei einer am Wege stehenden Bank an und sagte:

»Es ist drei Uhr nach europäischer Zeit. Wenn Ihr nicht große Eile habt, so bitte ich, hier einige Augenblicke zu warten. Es wird sich etwas zeigen, was Jeden, der es noch nicht gesehen hat, im höchsten Grade überrascht.«

»Was und wo?« erkundigte ich mich, indem wir uns miteinander niedersetzten.

»Da drüben an den Bergen,« antwortete er.

»Wo Raffley-Castle liegt?«

»Ja; eben dieses Castle meine ich. Ihr könnt es nicht sehen, denn es ist zu weit entfernt und liegt im Schatten des vorstehenden, hohen Berges. Dieser Schatten verdunkelt es grad einige Stunden vor und nach der Mittagszeit; sonst aber ist es immer hell zu sehen. Nur noch kurze Zeit, so wird es uns erscheinen.«

Indem er dies sagte, hielt er seine Uhr noch in der Hand. An ihrer Schleife hing eine Betelnuß, auf welcher das eingegrabene und vergoldete Wörtchen »Shen« ganz deutlich zu lesen war. Ein noch dabei stehendes kleineres Zeichen konnte ich nicht erkennen. Ich vermutete also wohl mit vollem Rechte, daß dieser Pu-Schang ein Mitglied des großen, von Fu gegründeten Bruderbundes sei, und ich gestehe, daß diese Vermutung genügte, ihm sofort meine Sympathie zu erwerben.

Er bemerkte nicht, daß mein Blick auf seiner Uhr ruhte, anstatt auf der Gegend, nach welcher er mit ausgestrecktem Arme deutete. Da stieß er einen lauten Ruf aus, der mich veranlaßte, aufzuschauen. Ich stimmte sofort und ganz erstaunt in diesen seinen Ruf ein, denn auf dem dunkeln Grunde der dort im West und Nordwest von uns liegenden Berge flammte jetzt ganz plötzlich das Zeichen eines Kreuzes auf, welches aus lauter strahlenden Diamanten zu bestehen schien und, wenn ich die Entfernung in Erwägung zog, von ganz außerordentlichen Dimensionen war.

»Ein Kreuz, ein Kreuz, das Zeichen des Christentums!« rief ich aus. »So Etwas habe ich noch nie gesehen!«

»Und hier sieht man es tagtäglich, nicht nur das Zeichen, sondern das Christentum auch selbst!« antwortete er. Dieses Kreuz ist ganz von selbst entstanden, ohne alle Berechnung derer, die es errichtet haben. Und so kam auch das wahre Christentum ins Land. Kein Mensch kann sich rühmen, es uns gebracht zu haben, denn es kam ganz von selbst; es kam – – mit unserer »Shen«. Gott läßt sich nicht durch Sterbliche verpflichten; das sollte man doch endlich einmal wissen!«

Es entstand eine Pause, während welcher ich den Anblick der ganz eigenartigen Erscheinung versunken war. Dann fuhr er mit leiserer, fast andächtig klingender Stimme fort:

»Ihr seid hier fremd, ein Europäer. Ich weiß nicht, ob Ihr so wie wir in Uebung seid, Euch das Aeußerliche nur mit Hilfe des Innerlichen zu erklären. Wo innen nichts ist, bleibt alles Aeußere Schein, denn es ist leer. Wo aber der Glaube innerlich im Menschen lebt und darum tief im Volke mächtig wird, da bricht er sich bald auch nach außen seine Bahn und zwingt sogar, wie hier, die scheinbar toten Berge, ihn durch sein Flammenbild dem Lande kundzugeben!«

»Und das ist Raffley-Castle, wirklich Raffley-Castle?« fragte ich, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten.

»Ja, das ist es,« sagte er. »Der alte, drüben in der Heimat aufragende Burg- und Schloßbau der Raffleys wurde aus Quadern von allerschwerstem Grampiangranit errichtet. Er ist der Leib, dessen Seele Sir John herüberholte, um sie hier in leuchtenden Pai-tang-schi-tou zu kleiden. Der Urbau dort hatte nur dem Interesse der Familie, des Klan zu dienen. Er war der aufwärts ragende Stamm, der sich von diesen Interessen nicht zu lösen vermochte. Sir John und seine Yin aber machten die Seele hier von diesem Zwange frei, indem sie ihr die Flügel gaben, die sich im Dienst unserer »Shen« nach beiden Seiten regen. Das sind die Gebäude, die sich rechts und links vom Stamme zweigen und ganz ausschließlich nur humanen Zwecken dienen. Hierdurch entstand das Kreuz, denn wo der Einzelne oder die Familie beginnt, sich der hilfsbedürftigen Brüder anzunehmen, da steht das Tor zum Himmelreiche offen, von welchem alle unsere Weisen sprachen, bis Christus kam, um diese Worte in Taten zu verwandeln.«

Wie erstaunt war ich, solche Worte, solche Ausdrücke aus dem Munde dieses Chinesen zu vernehmen! Wo hatte er diese Gedanken, diese inneren Anschauungen her? So wie er konnte doch nur Jemand sprechen, dem geistige Gebiete wie Aesthetik, Psychologie und Metaphysik nicht nur bekannt, sondern vertraut geworden sind! Mein Gesicht schien ihm das, was ich soeben dachte, zu verraten, denn er lächelte ein wenig vor sich hin, deutete hinaus nach der Stelle, wo das Kreuz erglänzte, und erklärte mir:

»Dieser Bau ist allerdings noch nicht ganz vollendet, weil Raffley so lange Zeit abwesend war. Aber vorbereitet ist Alles, und was dort jetzt noch fehlt, das ist in Shen-Fu angelegt, um später nach dem Schloß versetzt zu werden, besonders auch die Schule, der ich es verdanke, daß ich in dieser Weise mit Euch reden kann. Der oberste Professor ist der alte, liebe Pfarrer Heartman von Raffley-Castle drüben, den man eines jüngeren Geistlichen wegen dort pensioniert hatte. Als Sir John dies erfuhr, nahm er sich, ohne seine Verwandten davon zu benachrichtigen, dieses hochehrwürdigen Dieners der christlichen Kirche an, indem er ihn hierher zu uns, also in das Land der sogenannten »Heiden« rief, doch nicht als Missionar, sondern als Leiter der Unterrichtsanstalten unserer »Shen«. Ich war sein erster Schüler und lerne noch heut von ihm. Nie hat ein Andersgläubiger ein widersprechendes, verwerfendes oder gar verdammendes Wort aus seinem Munde gehört. Er findet an jedem Glauben so viel Verwandtschaft mit seiner eigenen Religion und weiß das in so außerordentlich gewinnender und überzeugender Weise zu sagen. Und es geht Jedermann genau so wie mir: Je länger man mit diesem herrlichen Gottesmann spricht und verkehrt, desto mehr sieht man ein, daß Christus das wirklich war, als was er sich bezeichnete, nämlich der Weg, die Wahrheit und das Leben. Wir glauben hier alle an ihn!«

»Shen-Fu ist die Stadt, nach welcher die Straße von dem Wege nach Raffley-Castle da draußen links abgeht?« erkundigte ich mich.

»Ja,« nickte er. »Der Name bedeutet, wie Ihr wissen werdet, Hauptstadt der »Shen«. Unser großer Mandarin und Sir John haben das Gebiet, auf welchem wir wohnen, zwar Ki-tsching genannt, beliebter und gebräuchlicher aber ist das Wort Shen-Kuo, was »Land der Shen« bedeutet. Unsere Verbrüderung geht über Länder, in denen über siebenhundert Millionen Menschen wohnen, und wir wünschen, daß sie immer weitergreifen möge, hoffentlich auch bis in das Abendland hinüber; aber ihre Wurzeln schlägt sie nur in diese kleine Strecke, für welche dort vom Bergesdunkel das Kreuz der Nächstenliebe leuchtet. Doch, seht, da geht die Wolke über unsern Himmel, und Raffley-Castle ist nicht mehr zu sehen. Setzen wir also den Weg zum Hafen fort!«

Während wir weitergingen, fragte er mich, ob ich Ocama wohl schon kenne. Ich verneinte das, und so machte er mich unterwegs auf alles Wissenswerte aufmerksam , was uns am Wege lag. Ganz auffallend war die Menge der Areka- oder Betelnüsse, die es hier gab. Ich sah große Prauen gefüllt mit ihnen; sie waren in jedem Laden zu verkaufen, und in Kisten lagen sie hoch aufgeschichtet am Ufer, um nach allen Orten, wo es Mitglieder der »Shen« gab, versandt zu werden.

»Wundert Euch nicht hierüber,« sagte mein Begleiter; »sie sind ja unsere Erkennungszeichen, unsere Legitimationen, ohne welche wir niemals erreichen könnten, was wir erreichen wollen. Vielleicht erfahren Sie selbst auch noch, daß es kein einfacheres, billigeres und praktischeres Bindemittel zwischen unsern Hunderttausenden, ja Millionen geben kann, als diese Nuß, die überall zu haben ist und deren Verlust man allezeit und sofort ersetzen kann.«

Das war im höchsten Grade interessant; ganz selbstverständlich aber belästigte ich den Pu-Schang nicht mit zudringlichen Fragen nach dieser Verbrüderung, die mit jedem neuen Tage ein größeres Interesse für mich gewann. Es war also ganz freiwillige Aeußerung, was er noch ober sie sprach:

»Ihr werdet bemerkt haben, daß der Ort ein festliches Aussehen zeigt. Der nähere Grund liegt allerdings in Eurer Ankunft heut. Es gibt aber auch noch einen zweiten. Übermorgen feiern wir nämlich den größten Festtag unseres Landes, den »Shen-Ta-Shi«, auf den wir uns schon jetzt vorbereiten. Da strömen uns aus weit von jenseits unserer Grenzen die Freunde unsers Bundes in Scharen zu, und wohl nirgends auf der weiten Welt gibt es eine Versammlung, in welcher in Beziehung auf Bruderpflicht und Menschlichkeit so Weittragendes entschieden wird, wie hier bei uns an diesem einen Tage. Ihr werdet es ja sehen!«

Wir hatten inzwischen den Hafen erreicht und waren so weit am Wasser hingegangen, daß wir uns grad bei unserer Jacht befanden. Auf dem Deck saß der Governor. Seine Aufmerksamkeit schien nach auswärts, nach der Wasserseite gerichtet zu sein; bei einer unwillkürlichen Bewegung des Kopfes aber fiel sein Blick zu uns herüber; er sah mich und winkte mir, zu ihm zu kommen. Der Pu-Schang wollte sich entfernen, ich lud ihn aber ein, mit mir zu kommen, da Raffleys Onkel sich jedenfalls freuen werde, ihn kennenzulernen. Das geschah denn auch. Ich stellte die beiden Herren einander vor und sah bereits nach kurzer Zeit, daß der Hafenmeister dem Gentleman sehr wohlgefiel.

Der letztere behauptete, uns gar nicht beschreiben zu können, was das Kreuz, welches jetzt nach der Entfernung der Wolke wieder zu sehen war, für einen Eindruck auf ihn mache. Leider habe er es nicht eher bemerkt, als bis John mit seiner Yin im Boote fortgefahren sei. Er fügte hinzu:

»Indem ich diesen beiden nachschaute, sah ich plötzlich dieses diamantene Wunder dort an den Bergen leuchten, und ich versichere Euch, ich finde auch jetzt noch keine Worte, um Euch zu sagen, wie tief es mich ergreift. Doch, lieber Charley, da fällt mir ein: Ich wollte Euch Etwas zeigen. Seht hier; was ist das wohl?«

Das, was er mir reichte, war eine Arekanuß allerkleinster, niedlichster Art, als Knopf-, Schal- oder Gürtelschließer in Gold gefaßt. Auf der einen Seite stand das Wort »Shen« und darunter der Name Yin; auf der andern las ich die drei schon einmal erwähnten Zeichen Schin, Ti und Ho. Die Satzungen der »Shen« waren mir unbekannt; vielleicht gab es überhaupt keine; aber wenn ich an die Karte dachte, mit welcher Tsi damals in Kota-Radscha dem Malajen so imponiert hatte, so mußte die Person, welcher diese kleine Nuß gehörte, für die Bruderschaft eine außerordentlich wichtige und angesehene sein.

»Sir, wo habt Ihr das Schmuckstück her?« fragte ich den Onkel.

»Es ist von Yin; aber John hat es mir gegeben,« berichtete er.

»Wann? Darf ich das wissen?«

»Warum nicht? Solange ich England bin und Ihr Deutschland seid, brauchen beide keine Geheimnisse voreinander zu haben. Ich eilte, wie Ihr wißt, unserer Yin nach, um mich von ihr zu verabschieden. Aber die Sänftenkulis liefen so rasch, daß ich hier ankam, als sie bereits ausgestiegen war. John hatte auf sie gewartet und das Boot bemannt, um sich mit ihr hinüber nach dem Lande rudern zu lassen, wo man mit Pferden auf sie wartete. Ich war ganz außer Atem und wollte am Liebsten mit; natürlich wurde ich abgewiesen. Das ging mir aber derart gegen den Strich, daß ich in meiner Aufregung zu schwatzen begann, was ich jetzt gar nicht mehr weiß. Ich erinnere mich nur noch ganz dunkel, mit größtem Nachdruck beteuert zu haben, daß es unbedingt ein wahres Glück für meinen Neffen sei, seine Yin zur Frau zu haben denn wenn dies nicht der Fall wäre, so würde ich sie heiraten, ich, ich, ich, und zwar gleich auf der Stelle; jawohl, hier von der Stelle weg! Ohne irgend einen dummen Verwandten da drüben in Old England erst zu fragen! Sie lachten beide so herzlich, wie eben nur so ein chinesischer Engländer oder so eine englische Chinesin lachen kann. Ganz selbstverständlich wurde ich da fuchsteufelswild, warf ihnen unsere ganze, schöne, große Wette an die Köpfe, zog sie miteinander an mein altes Herze, küßte sie beide, erst ihn, dann sie und dann sie noch einmal, und schwor ihnen zu, noch heute nach Hause zu schreiben, daß Yin meine Nichte sei, daß ich also meine Wette verloren habe und überhaupt niemals wieder wetten werde. Versteht Ihr mich, Charley? Niemals wieder! Ich sage das freiwillig! Ihr habt mich nicht gezwungen! Wollt Ihr das wohl bedenken?«

»Sehr gern, sehr gern! Das ist ein guter Entschluß und ein gutes Wort. Ich danke Euch!«

»Auch John freute sich darüber. Er sagte, nun sei ja alles ganz und für immer gut, genau so, wie er erwartet habe. Darum wolle er auch mir eine Freude machen, die keine ganz gewöhnliche sei, indem er mir den Adel, den ich soeben gezeigt und bewiesen habe, diplomiere. Er zog seiner Yin diese Nadel, Broche oder was es ist, aus ihrem Schultertuche und steckte sie mir an die Brust. Dann machte er sich so schnell mit ihr hinweg, daß ich gar keine Zeit zu der Frage fand, was es mit dem sogenannten Diplom für eine Bewandtnis habe. Wißt Ihr es vielleicht, Charley?«

Der Pu-Schang war, während der »uncle« dies erzählte, in diskreter Weise einige Schritte vorwärts getreten. Nun reichte ich ihm den Schmuckgegenstand und bat ihn um seine Meinung.

»Sir,« sagte er, indem er sich tief vor dem Governor verbeugte, »Ihr seid durch Ueberreichung dieses Zeichens ein Diener unserer großen »Shen« geworden, und zwar nicht etwa ein gewöhnlicher, sondern ein der höchsten Stellen würdiger. Dieses Zeichen ist ein hohes; es gehörte Yin. Daß sie es Euch, dem Angehörigen Eurer Rasse, Eurer Nation, zu geben wagt, ist eine Auszeichnung , deren Größe und deren Wert nicht ich Euch zu erklären habe. Das hat nur entweder Sir John oder unser großer Mandarin zu tun.

Der Governor stand unbeweglich, starr.

»Ich, ich – – – Mitglied der – – der – – – der Shen?« fragte er.

»Ja,« nickte der Hafenmeister.

»Und zwar kein – – – kein gewöhnliches, sondern ein – – – ein – – – ein hohes?«

»Ein sehr hohes! Dieses Zeichen berechtigt zu viel, zu sehr viel, Sir! Man wird Euch das noch sagen.«

»Von unserer Yin, von ihr! Ja, ja, sie ist ja Chinesin; da ist es zu begreifen! Und von Fu hat man sogar schon längst gewußt, daß er nicht nur zur »Shen« gehört, sondern ihr Gründer ist! Aber dieser John, mein Neffe, wie konnte der es wagen, sich an diesem Zeichen zu vergreifen, um es seiner Frau wegzunehmen und mir zu geben?!«

»Sir John? Etwas wagen? Ja, wißt Ihr denn das noch nicht?«

»Was?«

»Daß er einer der besten Offiziere, einer der höchsten Generale unserer großen Menschenbruderschaft ist! Sir, ist Euch das wirklich unbekannt?«

Da drehte sich der Governor langsam um, schaute eine Weile aus dem Hafen hinaus, wendete sich uns wieder zu, sah mich an und fragte:

»Charley, besinnt Ihr Euch auf diese meine Albernheit?«

»Auf welche? Wann?«

»Als ich von ihm im Kratong zu Euch sagte: »Dem scheint es mit dem Ko-su-Sortieren nicht ganz ernst gewesen zu sein. Es ist also sicher, daß er nicht die geringste Befähigung besitzt, ein Mitglied der »Shen zu werden«. Das habe ich behauptet! Denkt Euch doch nur! Und während ich eine solche Dummheit rede, ist dieser John bereits einer ihrer besten Offiziere, gar schon ein General! Nehmt es mir nicht übel, Mesch'schurs, ich muß mich setzen!«

Er ließ sich auf die Bank, von welcher er, als wir vorhin kamen, aufgestanden war, wieder nieder, betrachtete die Betelnuß höchst angelegentlich und sprach dabei:

»Eine Freude ist es, ja, und zwar eine große, unbeschreibliche, die mir John damit macht! Aber warum gleich so hoch? Hätte auch von unten angefangen! Sollte doch geprüft werden, beobachtet! Das sagte mir mein Freund, der malajische Priester! Ob es wohl einen zweiten Englishman gibt, der so hoch gestiegen ist wie ich heut, so gänzlich unerwartet?«

»Außer Sir John selbst gibt es keinen. Auch unser Professor nicht, der Pfarrer Heartman,« antwortete der Chinese.

»Heartman? Pfarrer?,« fragte da der Governor schnell. »Wir hatten einen Pfarrer Heartman in Raffley-Castle. Der war uns aber zu – – – hm! Er sprach zu den Aristokraten genau so, wie zu dem ganz gewöhnlichen Volke; da wurde er emeritiert und zog, ich weiß nicht mehr, wohin.«

»Den meine ich, Sir, grad den. Er ist der Leiter aller unserer Schulen und erntet Dank von Allen, die ihn kennen. Sir John, den er einst taufte, ließ ihn aus der Heimat kommen, um sich durch ihn mit Yin verbinden zu lassen, denn der Segen eines – – –«

Da sprang der »uncle« wieder von seinem Sitze auf und unterbrach ihn schnell:

»Verbinden? Getraut – – –? Getraut – – –? Sie wurden von ihm getraut, John und Yin – – –? Von einem christlichen Pfarrer – – –? In geordneter – – – kirchlich vorgeschriebener Weise?!«

Da wich der Chinese einige Schritte zurück, machte ein höchst erstauntes Gesicht und sprach:

»Warum alle diese Fragen, Sir? Ich weiß jetzt wirklich nicht, was ich zu antworten habe!«

Da färbte die Verlegenheit des Gesichts des Governor rot bis zum Hals herab. Er fühlte, welchen Fehler er begangen hatte, und lenkte um, indem er sagte:

»Allerdings, das ist ja selbstverständlich. Wo wohnt der Pfarrer jetzt?«

»Auf dem Castle. Er kommt aber täglich nach Shen-Fu herüber, um seines außerordentlich wichtigen Amtes zu walten. Wir bitten die Güte des Himmels, ihn uns noch lange zu erhalten, denn er ist trotz seines hohen Alters ein so rüstiger und beinahe unersetzlicher Mann, daß wir nur schwer lernen würden, ihn zu entbehren.«

»Hm! Und so eine Kraft haben wir pensioniert, emeritiert! Eigentlich eine Schande! Wir jagen ihn fort um seiner Aufrichtigkeit, um seiner Ehrlichkeit willen, bei den Buddhisten und Konfuzianern aber wird er aufgenommen und anerkannt! Doch sagt einmal, mein Freund: Ich hörte, das neue Raffley Castle sei ganz ähnlich gebaut wie das ursprüngliche, das alte. Wenn das der Fall ist, wie kann es da so in der Form eines Kreuzes leuchten?«

»Ihr seid ganz richtig berichtet, Sir; das neue gleicht dem alten, doch Material und innere Einrichtung sind anders. Die Seele ist geblieben aber zu dem neuen Körper kam auch ein neuer Geist. Die Basis oder der Sockel des Kreuzes wird von den Wirtschaftsgebäuden gebildet, über denen sich die Beamtenwohnungen grad in die Höhe ziehen. Dann kommt das eigentliche Castle, der Mittelpunkt, welcher nach rechts und links die beiden Arme ausbreitet; ich meine die Baulichkeiten für humanitäre, also menschenfreundliche Zwecke. Hinter dem Castle liegt das Paradies, über diesem das herrliche Atelier und wieder über diesem die Kapelle mit der Orgel, die aus Deutschland verschrieben worden ist. Das Alles wurde aus weißem Marmor gebaut, der aus den benachbarten Kreidebrüchen stammt. Wenn die Sonne auf diese Marmorflächen blickt, so beginnen sie zu strahlen; die dunkleren Zwischenräume verschwinden für die Ferne, und so entsteht das Kreuz, welches Jedermann bewundert, der es sieht.«

»Das ist außerordentlich: Ihr sprecht auch von einem Atelier. Gibt es denn dort einen Künstler, einen Maler oder Bildhauer?«

»Nicht einen Künstler, sondern eine Künstlerin, nämlich unsere Yin.«

»Was? Wie? Yin? Sie, eine Künstlerin?«

»Ja, und zwar die größte, die einzigste, die wir hier im Osten haben. Wißt Ihr auch das noch nicht, Sir?«

»Nein, wirklich nicht!«

»Aber der Marmorkopf dort, der sie selbst darstellt, ist ja von ihr gemeißelt! Und auch das Bild in der Kajüte ist von ihrer eigenen Hand!«

»Das wird ja immer interessanter und immer unerhörter! Zuletzt besteht man nur noch aus lauter Verwunderung und wundert sich dann schließlich über gar nichts mehr!«

»Und das Paradies ist von ihr gemalt,« fuhr der Hafenmeister fort, »und für den Bau und die Ausstattung des Schlosses hat sie die vorzüglichsten Bestimmungen getroffen!«

»Auch das noch! Aber trotz dieser ihrer Beihilfe war ein Architekt nötig, wie es selten einen gibt, und der kann kein Chinese gewesen sein, sondern ist aus Europa herbeordert worden. Wahrscheinlich ein Engländer, der Raffley-Castle dort natürlich vorher studieren mußte!«

»Verzeihung, Sir; er ist doch ein Chinese. Er studierte in Leeds in London; dann ging er an die Technische Hochschule in Berlin, worauf ich ihn ein Jahr lang reisen ließ, um Studien zu machen. In Neapel traf er mit Sir John zusammen, der ihn mit nach England nahm, um ihn Raffley-Castle zeichnen zu lassen, ohne daß die Verwandten etwas davon erfuhren.«

»Auch das ist seltsam, und zwar in hohem Grade! Aber sagtet Ihr nicht, Ihr hättet ihn reisen lassen, Ihr?«

»Ja.«

»Warum Ihr?«

»Es ist mein Sohn, Sir, nach dem Ihr mich fragtet, sonst hätte ich nicht von ihm gesprochen.«

Da öffnete der Governor den Mund, um zu sprechen, sagte aber nichts, sondern schaute mir eine ganze Weile lang kopfschüttelnd in das Gesicht, versetzte mir dann einen Rippenstoß und ließ sich endlich hören:

»Ein ganz unbegreifliches Land! Und ein ganz unbegreifliches Volk! Da ist man immerfort blamiert, und niemals hat man recht! Aber eben das ist es, was mir gefällt! Daheim läßt man sich immerfort in seiner eigenen, wundervollen Sauce braten und glaubt, so appetitlich zu duften, daß Jedermann aufs schnellste anzubeißen habe; hier aber wird man vorerst ganz windelweich geklopft und dann, wenn man grad anfangen will, zu braten und zu duften, als unbrauchbar zum Küchenfenster hinausgeworfen, mitsamt der Kasserolle! Ich kann Euch sagen, lieber Freund, daß mir das imponiert! Es ist gar nicht so ungefährlich, als »besserer« Europäer, sozusagen, mit einem »bessern« Mongolen zusammenzutreffen, weil man da fast stündlich in die Lage kommt, sich selbst für den Mongolen halten zu müssen. Kaum habe ich Unglücksmensch behauptet, daß der Baumeister ganz unmöglich ein Chinese sein könne, so – – –«

Der Fluß seiner Rede wurde von einem Unterbeamten des Pu-Schang unterbrochen, der seinen Vorgesetzten gesucht und im Vorübergehen hier bei uns gesehen hatte. Er kam an Bord, sprach mit ihm und entfernte sich dann wieder, worauf der Hafenmeister uns fragte, ob wir wohl Zeit und Lust hätten, einer für uns wahrscheinlich interessanten Verhandlung beizuwohnen. Von uns befragt, welcher Art sie sei, erklärte er:

»Noch einige Stunden vor Euch kam heute früh ein Huo-Lun-Tschuan hier bei uns an, dessen Führer sich in größter Unbefangenheit als Opiumverkäufer melden ließ. Ich erteilte den Bescheid, daß dieser Verkauf hier nicht gestattet werde, worauf er mir antworten ließ, daß er sich zwar anzumelden, aber nicht um irgend eine Erlaubnis zu fragen habe; er werde hier feilhalten und verkaufen, solange es ihm beliebe. Wer die verhängnisvolle Wirkung dieses Giftes und unsere chinesischen Verhältnisse kennt, der weiß, warum ein solcher Mensch sich erlaubt, in diesem Tone zu uns zu reden, wird es aber auch begreiflich finden, daß es mir hier auf Ocama gar nicht einfallen kann, irgend eine Schwäche zu zeigen. Ich habe zu tun, was mir unsere »Shen« befiehlt, gab meinen Leuten die nötigen Befehle und ging dann hinauf zum großen Mandarin, um ihm den Fall zu melden. Er war mit meiner Auffassung dieser Angelegenheit vollständig einverstanden. Als ich von ihm ging, traf ich Euch. Mein Diener glaubte, ich sei noch oben, sah mich aber, als er hier vorüber ging, mich zu holen, bei Euch stehen. Man hat dem Händler Einhalt getan, und er wartet nun in meinem Bureau auf mich, um seine Beschwerde anzubringen und Genugtuung zu fordern.«

»Und da sollen wir mit?« fragte der Governor.

»Ja, wenn Ihr diesen Fall für würdig haltet, Euch mit ihm zu befassen.«

»Ganz selbstverständlich, ganz selbstverständlich! Das erinnert ja an den famosen Opiumkrieg, an Kapitän Elliot und Admiral Kuang mit seinen neunundzwanzig Kriegsdschunken, an die zwanzigtausend Kisten mit Qpium, die in das Wasser geworfen wurden, obgleich sie vier Millionen Pfund Sterling kosteten!«

»Um solche Größen und Ziffern handelt es sich heut und hier wohl nicht,« lächelte der Pu-Schang; »aber wenn ich damals der Kaiser Tao-Kuang gewesen wäre, ich hätte mich sicher nicht anders benommen, als ich mich jetzt benehmen werde!«

Wir verließen also die Jacht und ließen uns von ihm zu sich führen. Unsere »Yin« lag an dem »Platze der Einheimischen,« der sich durch größere Ruhe und Vornehmheit auszeichnete. Das Schiff des Gifthändlers war am »Platz der Fremden« vor Anker gegangen, und wir mußten an ihm vorüber um nach dem Bureau des Hafenmeisters zu kommen. Wir sahen, daß es ein kleiner Küstendampfer war, stumpf auf den Kiel gebaut, um keinen großen Tiefgang zu haben und überall anlegen zu können. Er war auch mit Mast- und Leinenzeug versehen, konnte also zur Dampfkraft auch noch den Luftdruck fügen, und führte den Namen Ta-Shen-Tsi-Yang-Shen . Die Schriftzeichen dieser fünf Silben waren zu beiden Seiten des Buges angebracht. Sie heißen zu deutsch »Seine Exzellenz, der Europäer«. Solche und ähnliche Bezeichnungen kann man in den Häfen des Ostens sehr oft sehen oder hören; sie sind zwar nicht nach unserem Geschmacke, aber fast immer sehr bezeichnend.

»Seine Exzellenz, der Europäer« lag hart am Ufer an und zwar mit ihm durch ein Laufbrett verbunden. An diesem standen zwei Männer, welche nicht anders gekleidet waren als andere Leute auch und je ein dünnes, weißes Stäbchen in der Hand hatten, an dessen Ende sich eine Betelnuß befand. Vis-à-vis von dem Dampfer war am Lande ein Zelt errichtet, vor welchem eine Menge von Opium in allen seinen Gestalten und Zubereitungen nebst den zum Essen und Rauchen dieses Giftes nötigen Gegenständen zum Verkauf ausgelegt worden waren. Dabei hockte am Boden wohl ein Dutzend sonnverbrannter, bis an den Hals bewaffneter Kerls, denen man die Führung irgend eines berüchtigten Handwerkes gleich beim ersten Blicke ansehen konnte. Vor ihnen aber standen auch zwei Männer mit eben solchen Arekastäben wie dort am Laufbrette »Seiner Exzellenz, des Europäers«. Sonst aber war nichts zu sehen, was auf irgend ein nicht ganz alltägliches Vorkommen schließen ließ. Indem wir vorübergingen, fragte der »uncle« den Beamten:

»Das ist jedenfalls das Giftmischerschiff mit seinem Verkaufsstande. Ich vermute, daß Ihr Beide bewachen laßt. Sind die Männer mit den Stäben etwa Polizisten?«

»Ja,« antwortete der Hafenmeister.

»Natürlich heimlich bewaffnet, mit Revolvern oder so Etwas?«

»Nein.«

»Nicht? Aber die Polizei muß doch eine Waffe haben, um sich Respekt zu verschaffen!«

»Das ist bei uns nicht nötig. Wir achten sie und ehren sie, ohne daß sie unser Leben zu bedrohen braucht. Eigentlich gibt es bei uns gar keine Polizei. Bei denen, die zur großen Brüderschaft der »Shen« gehören, sind Zwangsmaßregeln niemals nötig. Ein Jeder liebt und respektiert den Andern so, daß man keinen Menschen kennt, der irgend eines Schutzes gegen andere Menschen bedarf. Nur wenn es sich, zum Beispiel so wie hier, um Fremde handelt, kann es einmal zu jener Strenge kommen, deren sich jede zivilisierte Nation eigentlich zu schämen hat. Dazu brauchen wir aber nicht einen besonders besoldeten, besonders geschulten und besonders ausgerüsteten Stand, sondern es genügt Jedermann, der sich am Platz befindet. Er bekommt das weiße Stäbchen in die Hand und damit die gesetzliche Macht, die für den betreffenden Fall vonnöten ist.«

»Hm! Da bin ich still! Aber es geht so ruhig zu! Kein Auflauf, keine Ansammlung von Menschen! Käme bei uns ein Fall derartiger Maßregelung eines Schiffes vor, so stände der ganze Platz hier so voller Manns- und Weibsleute, daß man gar nicht hindurch könnte. Hier aber scheint Niemand Etwas davon zu wissen.«

»Da irrt Ihr, Sir, denn Jedermann weiß es; aber ist es etwa ehrenhaft, sich um irgend einen Schurken extra zu bekümmern? Ist er schuldig, so schämt man sich dann, ihn überhaupt beachtet zu haben, und ist er unschuldig, so bereut man es, ihn mit zudringlichen Blicken gekränkt zu haben. Fühlt Ihr nicht, Sir, daß es so am richtigsten ist, wie es hier bei uns gehalten wird?«

»Alle Wetter! Ob ich das fühle! Wenn das so weiter geht, so rede ich bloß noch englisch, sonst aber bin ich durch und durch chinesisch! – – – Was ist das für ein Haus und was für eine Schrift über der Tür?«

Er deutete nach dem Gebäude, auf welches wir zuschritten.

»Das ist mein Kung-So,« antwortete der Hafenmeister. »Die Schriftzeichen sind Kung-Tao zu lesen, was so viel wie »Gerechtigkeit« bedeutet. Daß man sie in Wirklichkeit auch findet, wenn man sie hier bei mir sucht, dafür habe ich zu sorgen. Tretet ein, ganz so, wie es Euch gefällt! Man liebt es hier nicht, die Gäste mit überflüssigem Zeremoniell zu belästigen.«

Wir kamen durch einen geräumigen Vorplatz in einen Raum, den ich nach heimischen Begriffen als »Wartezimmer« bezeichnen möchte. Da saß der Mann, wegen dem der Hafenmeister geholt worden war. Er machte keine Bewegung, uns zu grüßen. Wir gingen in die große Stube nebenan, wo mehrere Schreiber saßen, und kamen dann in das eigentliche Dienstgemach des Pu-Schang, an welches eine Veranda stieß, deren Tür jetzt offen stand. Nachdem wir Platz genommen hatten, ließ der Beamte den Wartenden durch einen der Schreiber zu sich bescheiden.

Als er hereinkam, grüßte er nun allerdings, aber nur ganz flüchtig, und setzte sich sogleich nieder, ohne dazu aufgefordert zu sein. Er war chinesisch gekleidet, aber sicher ein Mischling aus dem hinterindischen Süden, mit einem sonnverbrannten und von den Leidenschaften durchfurchten Gesichte, eine Spitzbubenphysiognomie, wie sie sich kein Schriftsteller erfinden darf, denn die hat es nur in Wirklichkeit zu geben.

Er hatte heute vormittag die Schiffspapiere vorgezeigt, und die hieraus gemachten Eintragungen ergaben, was über ihn zu wissen war. Das Schiff mit der ganzen Ladung gehörte ihm selbst. Der Zweck seiner Fahrt war nur der Opiumhandel, den er, wie er behauptete, schon seit Jahren von seiner Heimat Binh-Dinh an der cochin-chinesischen Küste aus bis hinauf nach den koreanischen Häfen trieb. Er gab an, daß es bisher kein Mensch gewagt habe, ihn an der Ausübung dieses seines Gewerbes zu hindern, und er erwarte, daß er jetzt sofort wegen der ihm hier bereiteten unerhörten Belästigung um Verzeihung gebeten werde und dann tun könne, was ihm beliebe. Der Hafenmeister hatte ihn ruhig angehört und gab ihm nun in kurzen Worten seinen Bescheid:

»Ich habe gesagt, daß ich den Handel mit Opium hier verbiete. Man hat es trotzdem gewagt, dieses Gift zum Verkauf öffentlich auszustellen. Ich befehle hierauf dem Dampfer »Ta-Shen-Hsi-Yang-Shen«, unsern Hafen binnen einer Stunde und unsere Gewässer binnen heut zu verlassen. Befindet er sich nach dieser Zeit noch hier, so wird er einfach konfisziert und mit der Ladung draußen auf der See verbrannt!«

Da sprang der Opiumhändler von seinem Sitz auf und rief zornig aus:

»Das wolltet Ihr wagen? Ich würde es Euch heimzahlen lassen, aber wie! Ich kenne meine Gesetze!«

»Und ich die meinigen auch!«

»Ich weiß wohl, was Ihr wollt! Ihr sagt, dieser Platz gehöre Euch. Aber Euer abendländisch gewordener Mandarin ist immer noch Chinese; ich befinde mich also an einem chinesischen Orte, und meine Papiere schützen mich vor der mir zugedachten Konfiskation!«

Da stand auch der Beamte von seinem Sitze auf und entgegnete ihm:

»Armer Teufel, der du bist! Was dich da schützen soll, das würde dich verderben! Er hat sogar die Macht über Leben und Tod!«

»Auch über Europäer?« klang es ihm da höhnisch entgegen. »Konfisziert Ihr etwa auch englische Schiffe? Ich habe nämlich während der jetzigen Fahrt das Schiff und die ganze Ladung unterwegs verkauft! An einen Engländer, sogar Offizier! Hier ist der Kontrakt. Und der Käufer ist auch zu haben. Soll ich ihn etwa holen?«

Er zog aus seinem weiten Taschenärmel die Schrift hervor, faltete sie auseinander und gab sie dem Beamten. Dieser las sie durch, legte sie wieder zusammen, schob sie in ein Fach seines Pultes und sagte:

»Diesen Kontrakt habe ich dem Käufer vorzulegen. Er mag kommen; aber schnell!«

»Er wartet schon darauf. Ich hole ihn!«

Mit diesen Worten eilte der Mann hinaus. Wir sahen ihn mit schnellen Schritten den Weg zurückgehen, den wir hergekommen waren, also nach seinem Dampfer. Wir hatten nicht lange zu warten, sondern sahen ihn schon nach kurzer Zeit wiederkehren, mit einem auch chinesisch gekleideten Zweiten neben sich. Und dieser Andere war ganz unbedingt derselbe Mann, der den Berg heraufgekommen und meinem Sejjid Omar begegnet war. Ich sah das an der eigenartigen Form seines Mao-Tse, die mir aufgefallen war, und an dem Fehlen des Zopfes.

»Da bringt er ihn,« sagte der Pu-Schang. »Jedenfalls kein Offizier, sondern ein Lump, denn der Kontrakt ist Schwindel. Ein Strohmann, für Geld und ohne Ehre, weiter nichts!«

Als die Beiden hereintraten, hätte ich beinahe einen lauten Ruf der Ueberraschung ausgestoßen, denn der angebliche Offizier und Käufer des Dampfers war – – – Dilke, der sonderbare Gentleman, dem mein Sejjid Omar das Leben gerettet hatte. Jedenfalls war er in Penang von dem General nachträglich noch sehr streng coramiert worden, vielleicht gar fortgejagt, und wer weiß, auf welche Weise er es während der inzwischen verflossenen langen Zeit bis zum jetzigen Kumpan eines Giftmischers gebracht hatte! Er sah mich; er mußte mich sofort erkennen, mußte vom Sejjid erfahren haben, daß ich mich hier befand. Und doch ließ er sich nicht das Geringste merken; er sah über mich hinweg, als ob ich eine ihm völlig unbekannte und gleichgültige Persönlichkeit sei. Das hatte jedenfalls einen Grund, aber welchen? Er ging hoch erhobenen Hauptes, als ob hier an dieser Stelle nur er der Gebietende sei, auf den Pu-Schang zu und sagte:

»Man hat mich hierhergebeten. Ich bin Leutnant Dilke.«

»Gebeten?« antwortete der Hafenmeister. »Ist mir gar nicht eingefallen. Beordert seid Ihr worden; befohlen habe ich es. Und wenn Ihr nicht gekommen wäret, so hätte ich Euch holen lassen. Das nennt man dann nicht bitten, sondern arretieren.«

»Alle Teufel! Ich bin Offizier! Verstanden?«

»Daß Ihr es seid, das sollt Ihr eben beweisen!«

»Ihr habt ja den Kontrakt!«

»Der beweist hierfür gar nichts!«

»Wohl weil es das Exemplar des Kapitäns ist? Hier habe ich das meinige. Lest nach! Da steht mein Name, meine Eigenschaft und Charge.«

Er zog nun seinen Kontrakt aus dem weiten Aermel hervor, den der Chinese bekanntlich als Tasche benutzt, und gab ihn hin. Der Beamte las, musterte die Person des vor ihm Stehenden und erklärte dann:

»Auch das ist kein Beweis. Selbst wenn Ihr wirklich Offizier und wirklich Leutnant wäret, so könnte uns das gar nicht imponieren, denn ich schätze Euch schon über dreißig Jahre, und wer es bei uns hier in diesem Alter nicht weiter als bis zum Leutnant gebracht hat, der hat bescheiden zu sein, sehr bescheiden, sonst wird er einfach ausgelacht! Und sodann ist dieser Kontrakt keineswegs eine Legitimation, weder in Beziehung auf Eure Person überhaupt noch in Beziehung auf Euern militärischen Charakter. Ihr habt Euch dem Verfasser desselben als Leutnant Dilke bezeichnet und diesen Namen dann unterschrieben; für mich aber genügt das nicht. Ich fordere Euch auf, Euch besser auszuweisen! Ihr habt gewalttätig gehandelt, habt mit Hülfe bewaffneter Leute ein Zelt errichtet, um den hier verbotenen Opiumhandel zu erzwingen! Wißt Ihr, was das heißt?«

»Ich brauche keine Legitimation!« behauptete Dilke, allerdings schon in viel weniger zuversichtlichem Tone. »Jedermann sieht mir an, daß ich Engländer bin; Ihr aber seid Chinese; Ihr habt mir nichts zu sagen!«

»Ich stehe hier an Stelle von Sir John Raffley, der Besitzer dieses Ortes ist, und bin in diesem Augenblicke also Engländer. Ich habe bereits zu viel Zeit mit Euch verschwendet und sage zum letzten Male: Eure Legitimation!«

Da drehte sich der angebliche Offizier langsam und sichtlich widerwillig nach mir um, deutete auf mich und sagte:

»Da sitzt sie, meine Legitimation. Dieser Mann kennt mich genau. Er weiß« daß ich erstens Engländer und zweitens Leutnant bin und drittens Dilke heiße!«

»Wie? Ihr kennt Ihn?« wendete sich der Beamte verwundert an mich. »Wollt Ihr ihn legimitieren?«

»Das kann ich nicht,« antwortete ich. »Ich sah ihn an einigen Orten, wo er sich Leutnant Dilke nennen ließ, doch ob er das auch wirklich sei, das wurde nie erwiesen.«

»Wie war sein Betragen?«

»Ich bin sein Richter nicht!«

»Das genügt! Ich habe ihn also hier zu behalten, bis es ihm gelungen ist, glaubhafte Papiere vorzulegen.«

»Da wäre ich also arretiert?« fuhr Dilke auf.

»Ja.«

»Verfluchte Pest!« und wie knirschend fügte er hinzu: »Und diese vermaledeiete gelbe Bande sollte ich seligmachen helfen! Ich aber komme ihr nun von der andren Seite. Die Zeit ist da!«

Er zog eine Brieftasche hervor, öffnete sie, nahm ein sichtbar schon sehr oft gebrauchtes Papier heraus, warf es dem Pu-Schang hin und forderte ihn in zornigem Tone auf:

»Da, habt Ihr, was Ihr wollt! Aber nur schnell wieder her, damit ich fortkomme aus dieser Bude hier!«

Der Chinese las und sagte dabei, langsam und in überlegendem Tone:

»Ein Paß – – – ein australischer – – – aus Melbourne! Ausgestellt auf Robert Waller, genannt Dilke aus den Vereinigten Staaten von Amerika, Leutnant der freiwilligen Miliz der australischen Kolonie Victoria!« – – – Hierauf sah er lächelnd zu mir herüber und fuhr fort: »Ihr wolltet über sein Verhalten keine Auskunft geben, Sir; aber was hier steht, das ist so deutlich, wie ich nur wünschen kann: Geborner Amerikaner , mit zwei verschiedenen Namen, dann Australier, sogenannter Offizier, von freiwillig zusammentretenden Leuten, plötzlich bei uns auftauchend, sich als Leutnant des britischen Heeres bezeichnend, aber dabei der bezahlte Mitschuldige eines anamitischen Giftmischers aus Binh-Dinh! Dieser Wisch und die beiden Kontrakte bleiben hier, bis ich mir »Seine Exzellenz, den Europäer« einmal genauer angesehen habe. Das werde ich jetzt tun, augenblicklich!«

»Mein Schiff durchsuchen? Das verbitte ich mir!« brauste der Kapitän auf, dessen Augen funkelten.

Und Dilke fuhr schnell herum zu mir und raunte mir zu:

»Diese Blamage habt Ihr zu verhindern! Ich habe erfahren, wer alles sich mit Euch hier befindet. Ich bin der Neffe des Missionars Waller, der Cousin Eures Abgottes, seiner Tochter Mary! Verstanden, Sir?«

»Seid, wer Ihr wollt,« antwortete ich. »Wo habt Ihr Sejjid Omar, meinen Diener?«

»Den Araber, diesen Kerl?« fragte er, sich verwundert stellend. »Was ist mit dem?«

»Ihr traft ihn oben am Berg und seid mit ihm umgekehrt.«

»Davon weiß ich nichts! Ist mir gar nicht eingefallen!«

»Leugnet nicht! Wo habt Ihr ihn gelassen? Ich kenne ihn und müßte ihn schon längst gesehen haben. Ihr habt es selbst verraten, daß Ihr mit ihm gesprochen habt. Denn »wer alles sich mit mir hier befindet«, das könnt Ihr nur von ihm erfahren haben.«

»Wie pfiffig!« höhnte er. »Um andre Leute für schlechte Kerls zu halten, braucht man eben nur selbst ein schlechter Kerl zu sein! Wollt Ihr um Waller und seiner Frau willen die Durchsuchung unseres Dampfers verhindern?«

»Nein,« antwortete ich.

»So hole Euch der Teufel! Denn paßt auf: Uebermorgen abend rechne ich mit Euch zusammen! – – – Vorwärts; schnell, hier hinaus!«

Er nahm seinen »Kapitän« bei der Hand und eilte mit ihm durch die offenstehende Verandatür davon. Ich schaute den Pu-Schang fragend an. Der aber lachte und sagte:

»Laßt sie laufen, Sir! Wenn ich sie haben will, bekomme ich sie auf alle Fälle! Gehen wir langsam nach »Seiner Exzellenz, dem Europäer«, der uns höchst wahrscheinlich nicht nur sein Gift allein aufzwingen wollte. Er hat das Feuer ausgehen lassen und kann uns also nicht per Dampf entfliehen.«

Wir verließen also das Bureau der »Gerechtigkeit« und gingen den Weg, den wir gekommen waren, so weit zurück, bis wir den Opiumdampfer wieder vor uns hatten. Die vier Polizisten standen noch an ihren Stellen, zwei bei dem Zelte und zwei an der Laufbrücke. Ihre Weisungen erstreckten sich nur darauf, keinen Opium verkaufen zu lassen; was hiermit nicht in Verbindung stand, das kümmerte sie nichts. Darum hinderten sie es nicht, daß jetzt ein Boot zu Wasser gelassen wurde, und zwar von den bewaffneten Leuten, die vorhin bei dem Zelte gesessen hatten. Sie taten das mit großer Eile, grad eben, als wir kamen. Dilke und sein »Kapitän« saßen schon darin. Als die Leute dann hineingesprungen und vom Schiffe abgestoßen waren, rief uns Dilke zu, indem er die ausgestreckte Faust gegen uns schüttelte:

»Wir gehen nur einstweilen – – – wir kommen wieder – – – übermorgen! Dann machen wir Kontrakt mit Euch – – – auf neunundneunzig Jahre! Und rührt Ihr etwas an, was unser ist, so sollt Ihr uns, die »Zivilisatoren«, kennen lernen!«

Hierauf legten sich seine Ruderer ins Zeug, und das Boot schoß schnell über das Wasser hin, doch nicht hinaus nach der See, sondern nach dem Festlande zu.

»Ist dieser Mensch verrückt?« fragte Pu-Schang. »Man könnte ihn dafür halten, wenn er nicht nach gewissen Mustern handelte, die wir alle kennen. Schauen wir nach, wer sich noch da befindet!«

Wir gingen an Bord, von wo aus man das sich entfernende Boot noch deutlicher als von der andern Seite sehen konnte. Wir zählten seine Insassen.

Es waren achtzehn, also wohl alle, die zu »Seiner Exzellenz, dem Europäer« gehörten. Und diese Vermutung war, wie sich herausstellte, richtig. Die ganze Besatzung hatte sich in Sicherheit gebracht, für einstweilen, wie sie dachte. Wir fanden auf und in dem ganzen Dampfer nur einen einzigen Menschen vor, der aber nicht zu ihm gehörte. Wer war das wohl?

Um es kurz zu machen, will ich sagen, daß wir uns in alle Räume begaben, um nachzuschauen, was sie enthielten. Wir fanden Opium in ziemlich großen Mengen, doch auch noch Anderes. Nämlich eine ganz erstaunliche Masse von Militärgewehren europäischen Ursprungs nebst Munition und allem Uebrigen, was zu einem kräftigen Putsch oder der plötzlichen Erhebung eines Landesteiles gegen die Regierung erforderlich ist. Also: Das Schiff war irgendwo und von irgendwem gechartert worden, um einem hier für unsere Gegend beabsichtigten Pronunciamento als Unterstützungspunkt und Rüstkammer zu dienen.

»Ich ahnte es, und Ihr werdet mir das angehört haben, als ich mit diesem Dilke sprach,« sagte der Pu-Schang. »Es mehren sich seit einiger Zeit so ganz besondere Zeichen, und Leuten von der Art wie »Seine Exzellenz, der Europäer« ist nie zu trauen!«

»Sehen wir doch einmal im Ballastraum nach!« bat ich. »Sonderbarer Weise sah ich bis jetzt noch keine Luke, die zu ihm führt. Ich habe nämlich eine Idee, die eigentlich lächerlich ist, mir aber keine Ruhe läßt. Ich muß hinunter, unter Umständen bis auf den nackten Kiel!«

Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, daß die Stufen, welche in den Ballastraum führten, mit schweren Kisten zugedeckt worden waren. Wir riefen die Polizisten herbei und ließen die Kisten beiseite schieben. Wer kam da aus dem dunkeln, mit stickiger Luft gefüllten Raum hervorgestiegen? Mein Sejjid Omar! Und nun es sich bewahrheitete, konnte ich, ohne mich zu blamieren, sagen, daß ich das erwartet hatte. Wie ich ihn kannte, wäre er von Dilke weg sofort zu mir geeilt gekommen, um mir zu sagen, daß er diesen Patron hier getroffen habe. Und hätte er mich nicht oben auf dem Berge angetroffen, so hätte er den ganzen Hafenort durchsucht, um mich zu finden. Daß dies nicht geschah, ließ mich vermuten, daß er daran gehindert worden sei, was nur auf gewalttätige Weise geschehen sein konnte, zumal Dilke ja leugnete, ihn gesehen zu haben. An einen Mord zu denken war mir allerdings nicht eingefallen; für solche Taten hatte sich die Situation noch nicht zugespitzt; aber irgend eine Teufelei, um sich für Penang zu rächen, das war diesem Dilke unbedingt zuzutrauen, und man sah nun ja, ich hatte mich nicht geirrt.

Als Omar herauskam und zunächst stehen blieb, um tief und lang die bessere Luft zu atmen, fragte ich ihn:

»Hast du Angst gehabt, Sejjid?«

»Nein, keine Spur,« antwortete er. »Ich kenne dich ja, Sihdi. Wen du lieb hast, den verlassen deine Gedanken keinen Augenblick, und was du nicht sehen und hören kannst, das läßt Allah dich ahnen. Ich wußte also, daß du kommen werdest. Ich habe dir schnell zu erzählen, wie ich da hineingekommen bin, und dann muß ich rasch hinauf zu Fu, um ihm zu sagen, daß eine Empörung gemacht werden soll und daß man des Nachts bei ihm einbrechen will, um nach den vielen Millionen zu forschen, welche einer gewissen Frau »Shen« zu gehören scheinen.«

»So komm vor allen Dingen herauf an das Tageslicht und an die frische Luft; da kannst du reden.«

Wir stiegen an das Deck, wo wir uns niedersetzten. Er erzählte in der ihm eigenartigen Weise:

»Ich wollte mir, wie überall, wohin ich mit dir komme, diese Stadt und den Hafen ansehen, um dir antworten zu können, wenn du mich nach Etwas fragst. Darum ging ich fort. Unterwegs begegnete mir ein Chinese, der beinahe erschrak, als er mich erblickte. Da ich aber China sehr gut kennen gelernt habe, so konnte mich seine Verkleidung nicht täuschen, und ich sah sogleich, daß es der Engländer Dilke war, wegen dem ich der gute Bekannte des englischen Generals und seines ganzen Harems geworden bin. Er wollte sehr schnell an mir vorübergehen, doch sah ich, daß er sich besann; es fiel ihm etwas Anderes ein. Er grüßte mich höflich; darum war ich auch nicht grob. Er fragte mich, wohin ich wolle; ich sagte es ihm, und da kam ihm der Wunsch, mit mir zu gehen, denn er kannte die Stadt auch noch nicht, weil er ebenso wie wir, erst heut gekommen ist. Ich sage dir, Sihdi, wir wurden gute Freunde, sehr gute Freunde, und gewannen einander außerordentlich lieb; aber es fiel mir gar nicht ein, Vertrauen zu ihm zu haben und ihm alles zu glauben, was er mir sagte. Wir gingen überall miteinander herum, und dabei redete er immerfort. Am liebsten sprach er von einer mir sehr unbekannten Person, die jedenfalls eine Frau oder ein Mädchen ist, denn er nannte sie niemals »er«, sondern immer nur »sie«. Sie heißt »Shen« und ist ungeheuer reich. Sie hat viele, viele Millionen, und die liegen entweder an drei verschiedenen Orten oder nur an einem von diesen dreien. Kannst du dir das denken, Sihdi?«

»Ich ahne es. Erzähle nur weiter!« forderte ich ihn auf.

»Der eine Ort ist oben, wo wir wohnen, bei Fu. Den nannte er aber anders, mit einem berühmten, chinesischen Namen. Im Parterre unseres Hauses sind die Stuben für die Schreiber, die immer fortwährend an diese »Shen« schreiben und auch immer wieder Briefe von ihr bekommen, denn unser Fu ist das Oberhaupt dieser Frau oder dieses Mädchens. Wer einige von diesen Briefen lesen könnte, der würde sogleich erfahren, an welcher Stelle die Millionen zu finden sind. – Der zweite Ort ist die Stadt, die Shen-Fu heißt und gar nicht weit von hier zu liegen scheint. Und nun denke dir, Sihdi, in dieser Stadt ist unser Englishman, John Raffley, Bürgermeister und hat da ein Bureau. Da sitzt er mit einem alten, weißhaarigen Pfarrer Heartman und zählt das Geld und schreibt die Millionen in furchtbar dicke Bücher. – Und der dritte Ort ist ein Schloß, nämlich Raffley-Castle, wo eine andere Frau, die grad so heißt wie unsere Jacht, nämlich "Yin", in einem alten und in einem neuen Paradiese sitzt, und unter ihr ist ein Gewölbe, in dem die Millionen eingeschlossen liegen. –

Welcher von diesen drei Orten der richtige ist oder ob man an alle drei zu gehen hat, das weiß man nicht genau; aber das Eine weiß man gewiß: Wenn man da oben bei unserm Fu des Nachts, wenn Alles schläft, in die Stuben geht, die im Erdgeschosse liegen, und in den vielen Büchern und Briefen sucht, die es da gibt, so erfährt man ganz genau, wo sich das viele, viele Geld befindet, und kann es sich dann holen. Und wenn ich eine Nacht nicht schlafe, sondern aufpasse, so sehe ich Dilke mit einigen von seinen Leuten kommen. Ich öffne ihnen von innen ganz leise die Tür; dann gehen wir heimlich in die Stuben und lesen so lange, bis wir finden, was wir suchen. Dafür bekomme ich eine ganze Million!«

»Mensch – – Omar – – Sejjid,« rief ich da lachend aus; »halt dieser Kerl dich für dumm!«

»Ja! Ich wollte ihm eigentlich in das Antlitz spucken; aber da hätte er recht gehabt; da wäre ich wirklich dumm gewesen! Darum machte ich ein so albernes Gesicht, weißt du, wie nicht einmal er es bringen kann, und fragte mich immer weiter in seine Freundschaft, in seine Liebe und in sein Vertrauen hinein, bis ich an die Stelle kam, an welcher, ganz genau gezählt, fünfhundert Rebellen stecken. Das ist jenseits unserer Grenze, bei einem Heidentempel, der heißt Ki. Die versammeln sich nacheinander, heut und morgen. Uebermorgen aber ist der richtige Tag, nämlich ein großes Fest, der Geburtstag der Frau »Shen«. Da kommen die Rebellen über die Grenze herüber und feiern den Geburtstag mit. Sie tun zunächst, als ob sie diese »Shen« auch liebten. Sie verteilen sich überall in unserem Lande. Sie hören unsere Festredner an und jubeln ihnen mit zu. Aber nach und nach beginnen auch sie zu reden, erst heimlich und dann öffentlich. Was sie da sagen wollen, das habe ich nicht erfahren, aber es soll große Wirkung haben und alle Welt begeistern. Dann ist es Rebellion. Es werden die Waffen verteilt, die sich in diesem Dampfer hier befinden, und wenn das neue Reich gegründet ist, bekommt Jedermann so viel Opium, wie er braucht, um Allahs sieben Himmel alle zu sehen. Das ist für die dummen Chinesen, die über die Millionen nur Unbestimmtes erfahren. Wir Andern aber, wir Klugen, wir gehen heimlich hin, wo sie liegen, und nehmen uns Jeder sein Teil, welches ihm versprochen worden ist.«

»Wir andern, sagst du. Wer ist das?« fragte ich.

»Frage nicht mich, sondern ihn, wenn du ihn wieder siehst. Mir hat er es nicht gesagt, und ich habe ihn auch gar nicht gefragt, weil er mich dann nicht bloß für dumm, sondern gar für ganz verrückt gehalten hätte. Was von dem, was er mir vorschwatzte, wahr und was Schwindel ist, das habe nicht ich zu entscheiden. Aber es war meine Pflicht, so viel von ihm zu erfahren, wie nur möglich war, und das habe ich getan. Bist du mit mir zufrieden?«

»Sehr, lieber Omar, sehr! Aber war es denn nötig, dich einsperren zu lassen?«

»Nein,« antwortete er. Und lachend fügte er hinzu: »Ich versichere dir, daß es mir gar nicht eingefallen ist, ihn dazu zu ermächtigen. Aber wir waren miteinander zuletzt da unten in seiner Kabine, und da fragte er mich nach meiner Entscheidung. Da geschah der Fehler, den ich mir vorzuwerfen habe: Anstatt zu warten, bis ich wieder hier oben und mit ihm bei andern Leuten war, machte mich der angesammelte Grimm über ihn so unvorsichtig, ihm endlich zu sagen, daß er sich schon wieder in mir geirrt habe, weil er ein Schurke sei, ich aber ein Gentleman. Er hatte sich für diesen Fall wohl vorbereitet . Seine Leute standen auf dem Gang hinter der Tür. Als wir hinaustraten, wurde ich von allen ihren Armen gleich so fest gepackt, daß ich mich nicht bewegen und noch viel weniger verteidigen konnte. Man band mir die Beine zusammen und die Arme an den Leib und warf mich dann hinunter in den Sand, der den Kiel des Schiffes schwer zu machen hat. Da lag ich in vollständiger Dunkelheit und mußte beinahe ersticken. Es gelang mir nach großer Anstrengung, die Arme frei zu bekommen. Da konnte ich mich der Ratten erwehren und mir auch den Strick von den Beinen lösen. Aber als ich an die Stufen kam, bemerkte ich, daß man etwas auf das Loch gestellt hatte, was so schwer war, daß ich vergeblich versuchte, es zu entfernen. Ich war also auf dich angewiesen, auf dich allein, Sihdi, und darum wußte ich, daß meine Gefangenschaft nur von kurzer Dauer sein werde. Das ist eingetroffen. Nun muß ich hinauf zu Fu, um ihn zu warnen. Und dann will ich zu erfahren suchen, wo die Frau zu finden ist, die »Shen«, auf deren Geld man es abgesehen hat.«

Er stand von seinem Sitze auf; wir Andern folgten diesem seinem Beispiele. Die Art und Weise, wie er sich in einem Gemisch von Englisch und Chinesisch ausgedrückt hatte, war eigentlich belustigend, aber der Inhalt seiner Worte ließ kein Lächeln aufkommen. Der Pu-Schang gab ihm die Hand und sagte:

»Sir, ich sehe Euch zum ersten Male; ich kenne Euch nicht; aber ich vermute, wer und was Ihr seid, nämlich ein guter, braver Mensch, der seine Hand nie dazu bieten wird, einem Andern Schaden zu bereiten. Darum mögt Ihr wohl mit dem hohen Herrn sprechen, der Euch erlaubt hat, ihn bloß Fu zu nennen. Was aber die »Shen« betrifft, so kenne auch ich sie sehr genau und habe das Recht, in ihrem Namen zu sprechen. Sie ist keine Frau, sondern etwas viel Höheres. Dieser Dilke hat Euch absichtlich in Unwissenheit über sie gelassen, doch werdet Ihr sie baldigst kennen lernen, hoffentlich zu Euerm Glück, Euerm Heil und Segen. Ich grüße Euch hiermit von ihr, der Großen, Edlen, Herrlichen, und bitte Euch, zu Fu, wenn Ihr nachher mit ihm sprecht von mir die beiden Silben zu sagen: Hsiung-Ti. Er wird wissen, um was ich ihn da bitte. – – – Und nun bin ich gezwungen, mich zu verabschieden. Dieses Ereignis und das, was soeben erzählt worden ist, machen ein augenblickliches Einschreiten gegen die Pläne nötig, die gegen uns gerichtet sind.«

Er wendet sich an seine Polizisten, um ihnen weitere und jedenfalls andere Befehle zu geben als bisher; wir aber gingen heim. Oben angekommen, suchte ich sofort Fu auf und erzählte ihm das Geschehene. Er hörte mich ruhig an, ohne die geringste Ueberraschung oder gar Erregung zu zeigen, schlug die letzte, gelb eingebundene Nummer des Tsching-pao auf, und deutete auf die Stelle, die ich lesen sollte. Da stand:

»Achte dieses: Es sind mehrere Fan-Fan in unser Reich gekommen, um die, welche uns treu sind, zur Empörung zu verleiten. Wer sich von ihnen verführen läßt, hat keinen Lohn, sondern nur die Gefahr, die Mühe und die Strafe, denn den Gewinn, den das Böse bringt, behalten die Fan-Fan für sich allein, indem sie mit ihm verschwinden, sobald sie ihren Zweck erreicht haben. Man hat sie auf dem Weg nach Ki-tsching gesehen. Die dortigen Mandarine aber sind treu und klug. Wir können ihnen vertrauen!«

»Wir sind also unterrichtet,« lächelte er, »und haben die Augen offen. Auch gingen von den betreffenden Organen schon Berichte ein, von denen ich Euch nichts sagte, um Euch nicht zu beunruhigen. Das mindert aber nicht im Geringsten das große Verdienst, welches Sejjid Omar sich um uns erworben hat. Wir wissen nun plötzlich ganz klar und sicher, was man will; sogar die Zeit, der Tag ist uns bekannt. Ich werde meine Maßregeln treffen; wir drahten ja in Zeit von einigen Minuten durch unser ganzes Gebiet. »Seine Exzellenz, den Europäer« werde ich selbst auch noch besichtigen. Höchst wahrscheinlich machen wir mit ihm sehr kurzen Prozeß. Und da man grad den »großen Tag unserer Shen« gewählt hat, weil man da Zuhörer in Masse zu finden glaubt, so werde ich dieses Fest verschieben, aber so heimlich, daß diese Fan-Fan vorher nichts davon erfahren. Die Vorbereitungen gehen scheinbar weiter. Und unsere Millionen? Hm! Ja, die »Shen« ist reich, fast unermeßlich reich; für Länderräuber, Schurken und Rebellen aber hat sie nicht die geringste Kupfermünze übrig! Seid so gut, mein Freund, und schickt mir jetzt den Sejjid her; ich machte den Bericht auch noch aus seinem eigenen Munde hören.«

Als ich zu Omar kam und ihm dies sagte, erkundigte er sich sehr angelegentlich:

»Nicht wahr, die beiden Silben Hsiung-Ti soll ich ihm sagen?«

»Ja,« bestätigte ich.

»Was hat das für einen Zweck?«

»Eine Freude für dich und zugleich eine Ehre, eine sehr, sehr große Ehre. Was für eine, das wirst du dann nicht gleich, sondern nur so nach und nach begreifen. Doch gehe jetzt; er wartet wahrscheinlich auf dich!«

Hierauf saß ich in meinem Zimmer, allein für mich, und dachte darüber nach, daß der Mensch so gern mit seinem Glauben den Nächsten selig machen will, mit seinen Werken aber diesem Nächsten meist nur Unseligkeiten bereitet. Dabei hörte ich, daß der Governor in seinem Zimmer auf und ab ging, als ob ihn irgend Etwas sehr lebhaft beschäftige. Und da klopfte er an die Verbindungstür.

»Charley, seid Ihr drin?« fragte er.

»Ja,« antwortete ich. Darf ich zu Euch?«

»Bitte, jawohl!«

Da kam er herein, mit Yins Nadel in der Hand.

»Das Ding da läßt mir keine Ruhe,« sagte er. »Ich habe erst jetzt Zeit, darüber nachzudenken, und da wird mir von Minute zu Minute mehr klar, was für ein großes, großes Geschenk dieser kleine Gegenstand eigentlich ist, zunächst für mich, und sodann auch, wie ich hoffe, für viele, viele Andere, die nicht hier im Morgenlande, sondern daheim in der alten, lieben, ahnungslosen Heimat wohnen. Könnt Ihr Euch noch erinnern, daß ich einmal von dieser »Shen« sagte, sie sei wert, nach England verpflanzt zu werden? Jeder Schüler dort müsse Mitglied der »Shen« werden? Aber was für ein dummer Ausdruck, »sie sei es wert«! Umgekehrt ist es richtig: Es würde eine internationale Ehre für jedes Land und für jede Nation sein, die »Shen« bei sich aufgenommen zu haben! Und darum werde ich, sobald ich nach Hause komme, ihren Einzug bei uns schleunigst vorbereiten. Natürlich mit Areka- oder Betelnüssen! Es wird eine ungeheure Menge dieser Nüsse nötig sein, und ich überlege mir schon jetzt, woher ich sie am besten und am billigsten beziehen kann.«

»Alter, lieber Sanguiniker!« scherzte ich.

»Oho! Ich habe, gar nicht sanguinisch, sondern bloß nur praktisch zu sein. Ich fange bei der Jugend an, denn aus ihr baut sich das Volk auf, bis hinauf in die höchsten, vornehmsten Kreise. Bedenkt doch, daß wir nur in England und Wales über fünfzigtausend Lehrer und über hundertfünfzigtausend Lehrerinnen an den board schools haben, mit zwanzigtausend Schulen und sechs Millionen Schülern und Schülerinnen! Dann kommen die höheren Privatanstalten und Lehrpensionen, die Stiftsschulen und die proprietary schools! Hierauf weit über vierhundert colleges und grammar schools. Endlich die Universitäten und zahlreichen Fachschulen, für Aerzte und Apotheker, Theologen, Lehrer, Techniker, Polytechniker, Künstler, Offiziere, Ingenieure, Landwirte, Tierärzte, Kaufleute und dergleichen! Ich lasse mich von unserm Fu von Grund herauf über die unendlich segensreiche Bruderschaft der »Shen« belehren, und gebe diese Belehrung weiter, an mein Volk daheim und an dessen Erzieher. Ich bin Sogar sehr gern bereit, bis hinauf zur Königin zu gehen, die mich hören wird, so oft ich komme, um für meine herrliche »Shen« zu bitten! Und wenn ich erst die Jugend für diese ehrenvolle und unendlich segensreiche Schüler- und Studentenverbindung gewonnen und begeistert habe, so wird es auch bei den Alten sehr bald und überall heißen, daß »Shen« Couleur geworden sei! Ich sage Euch: Ihr habt gar keine Ahnung, welche Mengen von Betelnüssen ich jährlich brauchen werde! Wäre ich wie Ihr, so versuchte ich es ebenso! Natürlich in Deutschland! Denkt an die Menge Eurer Studenten, Polytechniker, Kunstakademien, Gymnasien, Seminare, Realschulen und wie diese Anstalten alle heißen! Wollen wir wetten, daß unsere »Shen« in Deutschland mit noch viel größerem Enthusiasmus aufgenommen wird als in England?«

»Wetten, Sir? Ich denke – – –«

»Ja, ja,« unterbrach er mich. »Weiß schon! War nur so eine Redensart! Wette ja niemals mehr! Ihr werdet aber hieraus ersehen, wie ernst es mit diesem meinem Plane ist. Habe mir die Sache soeben überlegt und werde sie Euch vortragen.«

Er setzte sich zu mir und teilte mir mit, welche Gedanken ihm gekommen waren. Was er da sagte, das hatte Hand und Fuß. Er besaß Organisationstalent und hatte als Governor Gelegenheit gehabt, sich zu üben und Erfahrungen zu sammeln, und das wendete er nun auf die Art und Weise an, in welcher er mit Leib und Seele, mit Hab und Gut daheim für »seine« Shen, wie er sie nun schon nannte, eintreten wollte.

Da kam der Sejjid von Fu zurück. Sein Gesicht glänzte, und seine Augen strahlten. Er stellt sich vor mich hin, so breit wie möglich, und fragte:

»Siehst du etwas, Sihdi?«

Dabei schüttelte er den Kopf, damit ich sehen solle, was er meine.

»Ah, die Turban- oder Tarbuschquasten an deinem Fez?« fragte ich.

»Ja,« nickte er.

»Woher hast du sie? Sie waren doch vorhin nicht da!«

»Fu schenkte sie mir. Er hat sie mir sogar mit seiner eigenen Hand befestigt; denke dir! Und diese Quasten sind aus zwei Nüssen gemacht, von denen die eine Areka und die andere Betel heißt. Oder heißt die andere Areka und die eine Betel. Vielleicht heißen sie auch beide Areka und beide Betel; ich weiß das nicht mehr genau, denn es war sehr viel, was er mir sagte und was ich nicht vergessen darf! Es ist etwas daran.«

»Ein Zeichen?«

»Ja, und dieses Zeichen heißt »Shen«. Das ist nämlich keine Frau und kein Mädchen, sondern es ist die Gesamtheit von allen, allen Menschen, die auf Erden endlich einmal Frieden haben wollen. Fu hat es mir erklärt; ich sagte aber auch Etwas dazu, und darüber hatte er Freude.«

»Was war das?«

»Das war so: Jeder Mensch will glücklich werden; das ist falsch. Jeder Mensch soll glücklich machen; das ist richtig. Weil Jedermann bisher das Glück für sich verlangte, konnte es kein Glück auf Erden geben. Hieraus folgt, daß wir zum Richtigen greifen müssen. Wie das zu machen ist, lehrt uns die »Shen«. Ist das wahr oder falsch, Sihdi?«

»Es ist wahr. Kam das aus deinem eigenen Kopf?«

»Ja, und Fu gab mir recht. Er öffnete einen Schrank, in welchem viele, viele Arekanüsse sind, von allerlei Größe, Form und Farbe, und gab mir diese hier, indem er sie an meinem Fez befestigte. Dabei erklärte er mir sehr viel, was ich begriffen habe. Ich sage jetzt noch nichts, denn es hat in mir erst richtig festzuwachsen. Dann aber, wenn das geschehen ist, wirst du dich über mich freuen! Und als ich von ihm ging, trug er mir auf, dir zu sagen, daß in einer halben Stunde Wan-Fan sein wird. Ich will es Euch übersetzen. Dieses Wort bedeutet nämlich soviel wie Abendessen. Was Ihr bekommen werdet, das weiß ich nicht. Ich aber werde unten mit den Schreibern der »Shen« speisen, und da gibt es heut, wie ich erfahren habe, Wurzeln von Wasserlilien, Bambussprossen und Krebse, worauf gebratene Enten mit Lotossamen und Senfblättern folgen werden. Jetzt gehe ich. Sagen aber soll ich Euch noch, daß Ihr gleich so kommen sollt, wie Ihr seid. Es wir nichts weiter angezogen, weil Ihr hier zu Hause seid, sagte Fu!«

Der Governor lachte herzlich und begab sich in sein Zimmer, um trotz alledem noch einige kleine Veränderungen in Beziehung auf seine Toilette zu treffen. Ich tat dasselbe. Dann gingen wir zur Tafel.

Zur Tafel? Eigentlich nicht! Denn die Diener, welche auf uns warteten, brachten uns nicht nach einem Speisesaal oder Speisezimmer, sondern hinunter in den Garten, und zwar nach der Lieblingslaube unserer Yin. Kann ich vergessen, wen ich da erblickte? Nein!

Wer meine Bücher gelesen hat, der kennt meine Freundin Marah Durimeh, die über hundertjährige Kurdin, das Bild der Menschheitsseele. So, grad so sah ich die chinesische Matrone, dunkel, ernst gekleidet, mit tiefen Falten im Gesicht, doch lieben, herzensguten Zügen, die Augen aus der tiefsten Seele strahlend und um den Mund ein Lächeln, wie es nur dieses eine gibt: das Lächeln wahrer Güte. So saß sie da, umleuchtet von duftenden Rosen, das weiße Haar schmetterlingsartig aufgesteckt, dann aber immer noch so lang, daß es ihr wie ein Schleier von den Schultern niederwallte.

Das war Fu's Mutter, die Ahne. Links von ihr seine Frau und rechts seine Tochter, die Schwester unsers Tsi. Außer Vater und Sohn kam Fang. Der Hafenmeister war geladen und dazu noch einige hervorragende Herren des Ortes. Als die Letzte von Allen stellte sich Mary Waller ein, die ihr Vater so lange beschäftigt hatte.

Aus diesen Angaben ist zu ersehen, daß in diesem Hause die Frauen keineswegs eine beklagenswerte Stellung einnahmen, wie man sich in Europa von den chinesischen Frauen erzählt. Es wäre ganz im Gegenteile unmöglich gewesen, ihnen eine größere Rücksicht, Aufmerksamkeit und Ehrerbietung zu erweisen, als hier geschah. Es saß nicht Jeder an einem besonderen Tischchen, auch hatte nicht jeder seinen besonderen Diener. Wir aßen genau so, wie man in Deutschland mit guten Bekannten speist. Nur die Kleidung und der Speisezettel waren anders, sonst weiter nichts.

Ich sagte, bevor wir Platz nahmen, Fu ganz aufrichtig, daß ich wünsche, neben seiner Mutter zu sitzen. Er drückte mir dafür die Hand und führte mich zu ihr hin. Ich muß die Wahrheit sagen: Wir haben sehr wenig gegessen, aber einander gegenseitig so gern und so fleißig bedient, daß ich sie und hoffentlich sie auch mich immer lieber gewann. Ich blieb sogar bei ihr und den anderen Damen sitzen, als nach Tische die Herren einen Spaziergang durch den Garten unternahmen, um, ohne die Frauen zu beunruhigen, über ernste Dinge sprechen zu können. Hierbei fragte ich Mary nach dem Befinden ihres Vaters.

»Er ist ganz woh1,« antwortete sie. »Jetzt schläft er. Er macht auf mich den Eindruck, als ob er hier in eine ganz neue Atmosphäre gekommen sei, auch geistig. Der Transport in dieses gastliche Haus hat ihn nicht im geringsten angegriffen. Als ich es ihm in seinen Kissen bequem gemacht hatte, schaute er sich sehr lange wie suchend um und sagte dann erstaunt: »Der Knabe Waller ist weg! Wer wird nun kommen? Es muß doch Jemand her!«

»Ist das wahr?« fragte ich da schnell. »Diese Worte hat er gesagt? Wirklich, wirklich?«

»Ja,« antwortete sie. »Sie scheinen überrascht zu sein? Warum?«

»Bitte, sagen Sie mir erst: Haben Sie nur das von ihm gehört, oder auch noch etwas Anderes?«

»Zunächst nur das. Hierauf lag er mehrere Stunden lang still. Er bewegte zuweilen die Lippen. Dann hörte ich wiederholt das Wort: Gott. Später das Wort: Mensch. Er schien dabei eifrig nachzudenken, bis er beide Worte zusammenfügte: Gottmensch. Nach längerer Zeit begann dasselbe Spiel, doch mit drei andern Worten, nämlich Liebe, Selbstsucht und Menschlichkeit.«

»Was? Wirklich? Und das sagen Sie so ruhig? Ahnen Sie denn nicht, was das ist, was das bedeutet?«

»Nein. Ich hörte dann noch zwei- oder dreimal das Wort »Shen«, dann schlief er ein, und ich ging hierher zum Essen.«

»So wissen Fang und Tsi noch nichts hiervon?«

»Noch nichts. Aber bitte, Sie sind ja aufgeregt; Sie machen mir Angst!«

»Angst? Ich Ihnen? Fällt mir gar nicht ein! Ich bin vielmehr ganz glücklich über das, was ich da von Ihnen höre. Kommen Sie schnell mit mir zu den Aerzten; wir dürfen ihnen diese Ihre Beobachtung keinen Augenblick länger vorenthalten! Die Damen müssen uns entschuldigen!«

Wir baten um Verzeihung, die uns auch sehr gern gegeben wurde, und gingen fort, um die Herren aufzusuchen. Schon nach Kurzem sahen wir einen von ihnen. Das war Tsi, der bei einer interessanten Pflanze stehengeblieben war, die er betrachtete. Als sein Auge auf uns fiel, lächelte er über unsere Eile und fragte nach der Ursache derselben.

»Erinnern Sie sich noch des Gleichnisses von der Taucherrüstung?« sagte ich.

»Ja,« nickte er.

»Mr. Waller ist eine verlassene Rüstung. Wenn wir gut aufmerken, können wir es beobachten, wenn der neue Taucher kommt!«

»So ähnlich habe ich mich ausgedrückt, allerdings!«

»Nun, er ist da, dieser neue Taucher. Er hat die Anima bereits gezwungen, ihm die Sprachwerkzeuge abzutreten. Ich glaube, der kümmert sich nicht um Algen und um Tang, sondern wir werden Höheres und Besseres zu sehen bekommen. Ich vermute die größten und die schönsten Perlen der Tiefe!«

Da machte er ein ernstes, sehr ernstes Gesicht, trat einen Schritt zurück, ließ seine Augen langsam an mir niedergleiten und sprach:

»Herr, wer sind Sie denn eigentlich? Ich bin schon seit einiger Zeit im Stillen irr an Ihnen! Nämlich seit Ihrer Uebersetzung des malajischen Gedichtes. Sie haben da Farben angewendet, die nur der Dichter von »Tragt Euer Evangelium hinaus« auf seiner Palette hat. Ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich Sie heimlich beobachte. Und jetzt nun gehen Sie auf mein Bild von der Taucherrüstung in einer Weise ein, als ob es von Ihnen stamme, nicht von mir. Heißen Sie wirklich so, wie Sie sich nennen?«

»Ja, bitte, sagen Sie uns das aufrichtig!« schloß Mary sich dieser seiner Frage an. »Denn als damals bei der großen Wette in Uleh-leh gesagt wurde, daß Sie Bücher schreiben, da hatte man sich doch wohl vergaloppiert, und die herbeigezogene Erklärung stimmte nicht so recht. Bedenken Sie, daß Sie uns sich selbst verschweigen!«

»Hm! Zunächst etwas für mich sehr Wichtiges: Ihr Vater hat heut eine Parallele von zweimal drei Worten gebracht. Hieran schloß er das Wort »Shen«, und dann hatte er innerlich Ruhe, denn er schlief ein. Wie ist er auf dieses »Shen« gekommen? Kannte er es?«

»Ja. Sogar ich kannte es. Er hat doch Chinesisch getrieben, und als christlichem Pfarrer ist ihm das chinesische Wort für Menschlichkeit doch nahe genug gelegen. Außerdem fiel dieses Wort sehr häufig zwischen Mr. Tsi und mir, wenn wir uns bei Vater befanden und miteinander sprachen. Da hat er es gehört, denn er ist doch nicht immerfort bewußtlos gewesen.«

»Das genügt; ich danke! Nun weiß ich, daß ich mich nicht irrte: Der neue Taucher ist nicht nur schon da, sondern auch schon an der Arbeit. Jetzt bin ich überzeugt, daß Ihr Vater nicht sterben, sondern lebenbleiben wird.«

»Oh, oh!« rief da Tsi aus, indem er mich abermals ganz erstaunt fixierte. »Woher wollen Sie das wissen, Sie, der Nichtarzt, und der Europäer!«

»Ja, mein Freund, Sie sprachen allerdings die Meinung aus, daß man sich im Abendlande nicht mit diesen hochwichtigen und hochinteressanten Fragen beschäftige, und obgleich hier unsere Freundin gegenwärtig ist, behaupte ich doch, daß ihr Vater für Sie bisher ein Kandidat des Todes war. Sie zeigten Hoffnung, um nicht zu betrüben. Jetzt plötzlich steht es anders. Bleiben wir bei Ihrem Bilde: Der neue Taucher ist da, und er hat sein Werk bereits begonnen. Das würde er aber mit einer hinfälligen, gefährlich defekten Rüstung niemals wagen. Sie ist repariert worden, und zwar von Grund aus, leise, heimlich, ohne daß wir Etwas davon bemerkten. Wenn Ihnen das, was ich sagte, als Rätsel erscheint, so bitte ich Sie: Glauben Sie an dieses Rätsel; es liegt in ihm die Wahrheit! Das, was Sie Geist und was Sie Seele nennen, besitzt mehr Macht über unsern Körper, als Sie denken. Mr. Waller bleibt am Leben und wird auch geistig stärker und gesünder, als er früher je gewesen ist! Und nun gehe ich und lasse Sie beide allein!«

Ich wollte mich entfernen; sie hielten mich aber fest und drangen auf die Beantwortung ihrer Frage.

»Na, so sei es denn; einmal kommt es doch an den Tag!« gab ich schließlich zu. »Damals, als wir uns zum ersten Male sahen, dort oben auf dem Dschebel Mokattam, da sprachen Sie mit Ihrem Vater von mir, und er zeigte sich sehr zornig über Ihren Verkehr mit mir.«

»Zornig?« unterbrach sie mich. »Ueber den Verkehr mit Ihnen? Den gab es ja gar nicht!«

»O doch! Wir verkehrten nicht persönlich, sondern seelisch miteinander, als Verfasser und als Leserin. Er aber war dagegen, und darum habe ich bis heut mit John Raffleys und seines Onkels Unterstützung meine Pseudonymität beibehalten. Nun aber mögen Sie erfahren, wie Sie so stückweise zu meinem Gedicht »Tragt Euer Evangelium hinaus« gekommen sind.«

»Also doch, doch richtig!« rief Tsi auf. »Dachte es mir!«

»Ja, richtig! Also kommen Sie!«

Ich hängte ihre Arme hüben und drüben bei mir ein und erzählte ihnen, indem wir miteinander fortspazierten, was sie wissen sollten. Ich machte es möglichst kurz, und als ich fertig war, hängte ich sie bei mir aus, dafür aber miteinander zusammen und fügte hinzu:

»So; das war meine Beichte. Ich bitte um Ihre Absolution und mache mich hiermit aus dem Staube!«

Bei den letzten Worten drehte ich mich um und lief davon, obgleich sie, hinter mir herkommend, mir zuriefen, daß ich nun erst recht verpflichtet sei, nicht auszureißen, sondern bei ihnen zu bleiben. – – –

Ueber den Rest dieses Abends habe ich nur noch zu sagen, daß Tsi mich vor dem Schlafengehen in meinem Zimmer aufsuchte, um mir mitzuteilen, daß Mary ihm dasselbe wie mir mitgeteilt habe, und zwar noch viel ausführlicher, und daß er ganz derselben Meinung sei wie ich. Waller liege, seit er vor Abend die Augen geschlossen habe, in einem seltsam tiefen und gesunden Schlafe. Es sei, als habe ein Unsichtbarer seine Hände über ihn ausgebreitet und atme ihn mit dem Odem eines zweiten, vollständig neugeschenkten Lebens an. Er selbst, der Arzt, werfe nun alle Befürchtungen beiseite und erwarte nur noch Gutes.

Wir saßen noch lange bei einander, vertraulicher als je. Er war so froh, von jetzt an mit mir über Alles reden zu können, was ihn im Innern bewegte; und gleich das Thema, welches er für die heutige späte Abendstunde zur Sprache brachte, ließ ahnen, was für später an ähnlichen Gesprächsstoffen noch Alles zu erwarten war. Es lautete: Es gibt keinen Tod. Das Leben kann uns weder gegeben noch genommen werden, denn es ist nicht in uns, sondern wir befinden uns in ihm. Und am allerfestesten hält es uns dann, wenn es das, was an uns zerstörbar ist, fallen läßt, den Leib!

Am andern Morgen, als wir den Tee in gemeinschaftlichem Kreise genommen hatten, brachen wir nach Raffley-Castle auf. Es so11te geritten werden, natürlich erst von der Küste drüben aus. Pferde waren telefonisch bestellt worden. Nur für Waller gab es eine Sänfte, denn die Damen blieben daheim, und Mary als die einzige weibliche Person ritt tausendmal lieber, als daß sie sich tragen ließ. Die Ueberfahrt nach dem Festlande geschah in geräumigen Booten. Waller hatte die ganze, lange Nacht durchschlafen und wachte auch nicht auf, als er von seinem Lager in die Sänfte, aus dieser in das Boot und dann aus diesem wieder in die Sänfte gebracht werden mußte. Es fiel uns aber gar nicht ein, dies für ein bedenkliches Zeichen zu halten, wir waren ganz im Gegenteile sehr froh, daß es so stand. »Er sammelt,« drückte sich Tsi in sehr bezeichnender Weise aus, und hatte damit das Richtige gesagt.

Als wir die Pferde bekamen, war niemand froher als mein Sejjid Omar. Er schwang sich sofort auf das für ihn bestimmte, um uns zu zeigen, daß er nichts verlernt habe, doch forderte ich ihn auf, von einem chinesischen Reitpferde keine arabischen Kunststücke zu verlangen. Wir hatten mandschurische Paßgänger von durchweg dunkelbrauner Farbe, welche der Chinese für die vornehmste hält, und durften nicht gestreckten Sitzes, sondern mit kurzen Bügeln und weit heraufgezogenen Knien reiten. Da schüttelte der gute Sejjid den Kopf, behielt aber das, was er dachte, bei sich selbst; er war gern höflich.

Gestern hatte ich Fu und den Governor gebeten, gegen Mary Waller zu schweigen, um ihr nicht den Abend zu verderben und dann wahrscheinlich auch noch die Ruhe der Nacht zu rauben. Jetzt nun war es Zeit, ihr einen Wink über diesen »Robert Waller, genannt Dilke«, zu geben, und ich wartete, sie während des Rittes einmal ganz allein an meine Seite zu bekommen.

Der Morgen war ein ziemlich kühler, der Himmel bedeckt, also das Kreuz des Castle nicht zu sehen. Aber nach einiger Zeit erhob sich ein leises Lüftchen, welches hier unten bei uns nach und nach stärker, in der Höhe aber zum Winde wurde und die Feuchtigkeiten zu Wolken ballte. Da kam Bewegung in die graue Schicht, welche sich von dem Strahl der Sonne nicht durchbrechen lassen wollte.

Wir ritten eben zwischen einigen reich tragenden Kauliangfeldern hindurch, welche von fruchtbaren Obstbäumen eingefaßt waren, als sich die Wolken plötzlich hoch oben über uns teilten. Ein Strahlenkegel, wie aus einem in Himmelsnähe stehenden Leuchtturme kommend, brach durch und fiel hinüber auf die Berge, grad dahin, wo das Ziel unsers Rittes lag. Da flammte es augenblicklich auf, das Kreuz der Christenheit. »In hoc signo vinces – in diesem Zeichen wirst du siegen.« Jawohl, das ist richtig. Aber nicht mit kriegerischen Waffen, durch gewappneten Verrat und Ueberfall, sondern durch das Wort der Liebe und durch die friedliche, versöhnende, ausgleichende Tat des Erlösers, welche er wagte, als er öffentlich sprach: »Die Letzten werden die Ersten und die Ersten die Letzten sein!« Gleichen Raum und gleiches Recht für Jeden, der zur Menschheit gehört auf Erden!

Es war wie auf ein lautes Kommandowort, so einmütig hielten wir unsere Pferde an. Aller Augen waren hinaufgerichtet, von wo es zu uns herniederblitzte in unbeschreiblich brillierendem Demantlichte. Laute Ausrufe des Staunens, der Bewunderung erschollen. Wir hatten gar nicht acht, daß die Träger hinter uns auch angehalten und die Sänfte niedergesetzt hatten. Es war eine offene, denn es regnete ja nicht, und nur da, wo der Kopf lag, war ein schmales Schleiertuch angebracht, hinten niederhängend, nach vom aber aufgeschlagen. Waller war jetzt aufgewacht, wahrscheinlich weil der sehr schnelle Schritt seiner Träger plötzlich stockte. Ich war der Einzige von uns, der das bemerkte, weil ich zufälligerweise der hinterste Reiter gewesen war und man die Sänfte nun fast gleich neben meinem Pferde hingestellt hatte.

Der Kranke öffnete die Augen. Sein aus der vollständigen Bewußtlosigkeit auftauchender Blick fiel auf das im gegenwärtigen Momente fast überirdisch wirkende Kreuz. Wer war er? Und wo befand er sich? Er schien uns gar nicht zu sehen, keinen Einzigen von uns! Er richtete sich auf, so weit er konnte, streckte die beiden Arme aus und öffnete den Mund, als ob er sprechen wolle. Aber er brachte kein Wort, kein einziges hervor. Nur ein Schrei erklang, ein großer, überlauter Schrei der Freude, der Wonne. Dann fiel er nach hinten zurück, schloß die Augen und faltete die Hände. Ein glückliches Lächeln ging über sein Gesicht. Dieser Schrei machte nun freilich auch die Andern aufmerksam auf ihn. Ich winkte aber, daß man ihn nicht stören möge, und so war die Pause, welche wir dem Erscheinen des Kreuzes gewidmet hatten, vorüber; wir setzten den unterbrochenen Ritt wieder fort.

Durch das soeben Geschehene wurde mein Wunsch erfüllt, Mary Waller an meine Seite zu bekommen. Sie wollte wissen, was ihren Vater bewogen hatte, einen Schrei auszustoßen. Ich erklärte ihr im Weiterreiten die kurze, vollständig unbedenkliche Szene und hielt es dann für das beste, auf alle überflüssigen Einleitungen, Umschweife und so weiter zu verzichten und sie lieber gleich direkt zu fragen, ob ihr der Name Dilke bekannt sei. Sie antwortete ruhig, aber wehmütig lächelnd:

»Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie mich haben schonen wollen! Aber ich bin bereits unterrichtet. Fu liebt die Seinen so herzlich, daß er ihnen alles anvertraut. Die Damen erfuhren von ihm, was nur einstweilen verschwiegen bleiben sollte, und da sie über die Seelenkraft der Frau ganz anderer Ansicht sind als meine männlichen Freunde, so teilten sie mir Alles mit und beschrieben mir hierauf die hiesigen Verhältnisse in so eingehender Weise, daß ich über den Schaden, den dieser Mann hier anzurichten strebt, vollständig beruhigt bin.«

»Das ist mir lieb, außerordentlich lieb, Miß Mary. Lassen wir diesen Gegenstand also fallen!«

»O nein! Das beabsichtige ich nicht! Und grad Ihnen gegenüber am allerwenigsten. Ich muß Ihnen sagen, welch ein dunkler Punkt dieser »Robert Waller, genannt Dilke« für uns gewesen ist. Er war der Sohn von meines Vaters Bruder, der ihn zur größten Frömmigkeit erzog, zum Missionar, denn dieser Beruf ist in der Familie traditionell. Seine Mutter, meine Tante, war eine geborene Dilke und – – –«

»Und darum läßt er sich jetzt mit diesem Namen nennen,« unterbrach ich sie. »Sehen Sie: Die Wolke geht. Und darum erscheint nun das Kreuz von Neuem. Bitte, heben wir uns diesen Dilke, falls wir überhaupt gezwungen sind, über ihn zu sprechen, für später auf. Heut ist ein gar so schöner Vormittag. Der soll uns nicht durch ihn verdorben werden. Wollen wir einmal einen schnellern Gang versuchen?«

»Gern. Aber die Sänfte?«

»Die holt uns ein, sobald wir auf sie warten.«

»Tsi mag bei ihr bleiben. Ich bitte ihn darum.«

Der Genannte war sehr gern bereit, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, und dann gab es einen Galopp, an den sich alle Andern schlossen. Das regte die Pferde an und ebenso die Reiter. Wir fielen gar nicht wieder in den gewöhnlichen Schritt zurück und hielten auch nicht eher an, als bis wir den Ort erreichten, an welchem das zweite Frühstück auf uns wartete. Fu hatte es bestellt.

Das war ein Erfrischungshaus, im schattigen Walde, an der Stelle, wo die Straßen nach Shen-Fu und nach Raffley-Castle auseinander gingen. Wir stiegen ab und setzten uns unter Bäumen nieder, wo, um mich europäisch auszudrücken, für uns gedeckt worden war. Die Frau des Besitzers hatte den Platz mit Blumen geradezu überschmückt. Die Chinesin ist eine außerordentliche Blumenfreundin. Sie wird ihre Toilette ohne Blumen nie für vollständig halten und jeden »lieben« oder »geehrten« Gast mit »Kindern des Duftes« begrüßen.

Es kann nicht meine Absicht sein, über die Gegend, in der wir uns befanden, hier topographische Bemerkungen zu machen. Es sind ganz andere Fragen zu beantworten, die im Stillen an mich gerichtet werden, und keine der letzten wird diejenige sein, welche sich auf Waller bezieht. Er, der uns zum Schmerzenskind geworden war, bereitete uns jetzt ganz unerwartet eine Freude, die ich nur mit dem Wort unaussprechlich zu bezeichnen vermag.

Nämlich zur Zeit, als wir annehmen durften, daß die Sänftenträger uns einholen würden, kam Tsi allein geritten, ihnen voraus, und rief uns, noch ehe er vom Pferde stieg, strahlenden Angesichtes zu:

»Ich habe Euch vorzubereiten, damit Ihr keine Aufregung zeigt. Freut Euch von ganzem Herzen, aber seid ruhig dabei, nur ruhig! Dankt es dem neuen Taucher: Mr. Waller ist erwacht, vollständig erwacht, unterwegs; darum bemerkte ich es nicht gleich. Dann eilte ich voran. Da kommt er schon!«

Es waren vier Kulis, die ihn trugen, je zwei und zwei zum Abwechseln. Wie staunten wir, als wir sehen, daß er aufrecht saß, nicht etwa zusammengehockt, sondern kräftig und gerade, wie ein Mann, der nichts von langer, abzehrender Krankheit weiß. Er sah uns mit hellen Augen an, musternd, wer wir seien. Als er seine Tochter erblickte, winkte er ihr fröhlich zu und rief, allerdings mit nicht gar starker Stimme:

»Mary, da bin ich! Hilf mir aus der Sänfte! Aber erst anhalten lassen! Ich möchte gern dort im Grase sitzen – – – dort, bei den Blumen!«

Sie nahm alle Kraft zusammen, um das Schluchzen zu unterdrücken, welches mit Gewalt hervorbrechen wollte, und eilte zu ihm hin. Ganz selbstverständlich traten auch wir Andern alle zur Sänfte. Mary kniete bei ihm nieder und griff nach seinen Händen.

»Mein Kind, mein liebes, gutes Kind – – –!« sagte er. »Die Mutter grüßt – – – nur weiß ich nicht, wo ich sie getroffen habe – – –!« Dann schaute er zu uns Uebrigen auf. »Mr. Fu!« lächelte er mit freundlichem Kopfnicken. »Von Kairo und den Pyramiden her – – –! Habe auch Mr. Tsi bereits gesehen. Da ist er ja – – –! Hm! Wo habe ich mich denn später mit ihm unterhalten? Und ihn gesehen – – –? Sehr oft, sehr oft – – –!« Hierauf fiel sein Blick auf mich. »Auch Ihr, auch Ihr?« fragte er, mich sofort zu erkennend. »Welch ein Abend – – – bei Euch, am Menahouse – – –! Aber – – aber es war dann wieder – – – anderswo – da gabt Ihr mir zu trinken – – –! Nein, nein, ich will nicht heraus aus der Sanfte! Ich bin wieder müde – – –! Ich lege mich nieder!«

Er tat es und schloß die Augen. Es war eine Offenbarung der neu erwachten »Lebensgeister« gewesen, wie wir das zu nennen pflegen. Der Volksmund ist ja sehr oft Gottes Mund! Diese Lebensgeister aber öffneten ihm die Augen noch einmal. Er schaute suchend nach oben, wo die Wipfel der Baume nur schmale Stellen des Himmels sehen ließen.

»Das Kreuz,« sagte er – – – »wo ist es? – – – Ich sah es leuchten – – –! Es ist das richtige – – – das falsche ist verschwunden!« Und die Augen wieder schließend, fügte er ebenso laut, aber wie in sich hinein, hinzu: »Das wahre Christentum leuchtet für die fernsten Augen – – – doch in der Nähe verwandelt sich dieser Glanz in das stille, warme Licht der Humanität – – –! Das, das ist dieses Kreuz – – – so, so ist es zu verstehen!« – – –

Weil dieses Erfrischungshaus einen wichtigen Knotenpunkt des hiesigen Verkehrs bildete, mußte der Wirt über sein Verhalten für den morgenden Tag genau unterrichtet werden. Nachdem Fu das getan hatte, brachen wir auf und ritten weiter. Waller war wieder eingeschlafen.

Bis hierher war die Bodenerhebung eine langsame gewesen; nun aber merkten wir deutlicher, daß es aufwärts ging. Der Klingstein begann, von Zeit zu Zeit zutage zu treten, und zeigte da überall eine weiße, kaolinähnliche, scharf abgegrenzte Verwitterungsrinde. Zuweilen erschienen an seiner Stelle die neugierig aus der Erde schauenden Säulenspitzen von Basalten und Trachyten, und immer war es ein zierblätteriges oder blühendes Gesträuch, mit dem die blumenliebenden Chinesen diese steinernen Grüße aus der Unterwelt zu schmücken und zu verschönern suchten.

Es gab allüberall fleißige Arbeiter auf den Feldern. Meist war man an den Wassergräben beschäftigt, und ich bemerkte, daß die Bewässerung der ganzen, weiten Gegend in gradezu meisterhafter Art betrieben wurde. Der Verkehr auf unserer Straße war ein sehr reger. Jedermann war freundlich, das Grüßen nicht gewohnheitsmäßig, sondern herzlich, aber dabei vollständig ehrerbietig . Keinen Einzigen sah ich hinter uns dann stehenbleiben, um uns nachzustarren; man war eben intelligent!

Je mehr wir uns den Bergen näherten, desto mehr verschwand der Glanz des uns nun nicht mehr unsichtbar werdenden Kreuzes. Es hörte auf, zu leuchten, zu brillieren; ich möchte sagen, daß es nur noch schimmerte. Wir begannen, zu bemerken, daß es Zwischenräume in den beiden sich kreuzenden Balken gab. Diese Zwischenräume wurden immer deutlicher; sie fingen an, mit den hellen Stellen zu kontrastieren. Kurz, was uns von Weitem als etwas Ueberirdisches erschienen war, das stellte sich, je näher wir ihm kamen, einem Jeden von uns als etwas Irdisches dar, aber freilich, freilich nicht als etwas Gewöhnliches, Alltägliches. Wir konnten endlich schon die einzelnen Gebäude unterscheiden.

Der Blick unsers alten, lieben »uncle« hing fast unausgesetzt an dem hellen, carrarischen Weiß, welches aus dem Grün der Vegetation heraus so wohltätig auf uns wirkte.

»Erst blendete es mich fast,« sagte er. »Nun aber ist es so lind und wirkt so gut auf meine Augen. Mr. Waller hatte Recht. Versteht Ihr mich?«

»Ja.«

»Nun, was meine ich?«

»Das stille, warme Licht der Humanität, von dem er sprach.«

»Ja, allerdings. Wir Christen bemühen uns allzuviel, in die Ferne zu glänzen; wie aber steht es mit unserm helfenden, rettenden Lichte daheim, in der Nähe? Hier, da an diesem Berge, hat sich das flammende Kreuz nun aufgelöst in die Zeichen der leiblichen, geistigen und ethischen Werktätigkeit des menschlichen Lebens. Wir sehen es ganz deutlich, wie diese Tätigkeit von den unten liegenden Wirtschaftsgebäuden emporsteigt, bis zur Höhe, wo die Kapelle den marmorernsten Fleiß mit Gottes Segen krönt. Und quer, mit diesem Fleiß sich kreuzend, sieht man die Menschenliebe Häuser bauen, die wir erst kennen lernen müssen, bevor wir sagen dürfen, daß wir daheim im Abendlande humaner sind als Alle, die im Morgenlande wohnen! – – Was ist's, Charley? Warum schaut Ihr mich so an? So verwundert?«

»Was ist das plötzlich von Euch für eine Sprache, Sir? Woher kommt Euch diese Ausdrucksweise für so ganz ungewöhnliche Gedanken?« fragte ich.

»Das wißt Ihr nicht? Das kommt davon, daß ich jetzt mit Chinesen verkehre; darauf könnt Ihr Euch verlassen. Und angefangen hat es, als ich Euren Sejjid Omar kennen lernte. Charley, heut früh, als Ihr Euer Zimmer noch nicht verlassen hattet, wollte ich einen Morgenspaziergang machen und traf auf Tsi, der mich mit zu sich nahm, um mir Verschiedenes zu zeigen. Da gab es unter Anderem auch ein zweibändiges Werk über China, von einem Europäer geschrieben, der ein Zeitungsgründer ist und Inhaber mehrerer Orden. Was schreibt dieser Mann über die Chinesen? Daß sie Menschenfresser seien! Die größten Leckerbissen der Chinesen seien das Herz und die Leber eine Menschen, dem man sie lebendig aus dem Leib schneide! Dabei behauptet ganz derselbe Verfasser, daß die Chinesen einen ganz besonderen und stark eingefleischten Abscheu vor dem Sezieren einer Leiche haben, ja, nicht einmal zugeben, daß man bei Krankheiten oder Unglücksfällen das eine oder andere Glied amputiert, weil man dadurch gegen die Vorschriften ihrer Religion verstoße! Und nämlich: Dieses Werk soll die Frucht von zwanzigjährigen, »vertieften« Studien sein! Ich sage Euch: Selbst wenn ich noch der alte Feind der gelben Rasse gewesen wäre, das, was ich da gelesen habe, hätte mich kuriert, auf der Stelle kuriert! Denn es zeigt, wie leichtsinnig und gewissenlos der Kaukasier über die Andersgefärbten urteilt und für wie dumm wir Christen von unsern lieben Brüdern gehalten werden, daß sie sich ganz unbesorgt den ethnologischen Jux gestatten können, unsere geographische Wissenschaft mit chinesischen Kannibalen zu bevölkern! Und das wird gedruckt! Bei uns in England sogar! In Deutschland höchstwahrscheinlich auch! – – – Werfen wir das weg, und nehmen wir etwas Anderes! Was sind das für riesenhafte Bäume, die man jetzt zerstreut hier stehen sieht? Die müssen doch über tausendjährig sein!«

»Das sind Gingkobäume, die allerdings uralt werden. Man ißt den Kern ihrer Nüsse.«

»Und wofür haltet Ihr die andern Giganten, aus denen dort der ganze Wald besteht?«

»Für chinesische Spießtannen, die ganz außerordentlich nutzbar sind. Die passen hierher auf diesen Boden: steinerne Pfeiler, von der Urgewalt aus dem Innern der Erde emporgetrieben, und auf ihnen diese kraftstrotzenden, reckenhaften Bäume, uralt, wie die Ahnen Derer, die heut unter ihnen wandeln! Schaut man zu ihnen auf, so hat man das Gefühl, als wachse man selbst auch, im tiefen Innern nämlich. Was aus diesem, dem menschlichen Innern emporgetrieben wird, hat in der Höhe ebenso auch gewaltige Organismen zu tragen, in deren Schatten die Gedanken der kleineren Geschöpfe Jahrtausende lang zu wandeln haben werden. Wer werden diese Titanen sein? Ob Menschen? Oder ob Geister?«

Er war still, ich auch. Wer kann solche Fragen beantworten? Wir Menschen jedenfalls nicht! Oder doch? Dann jedenfalls nicht heut, sondern später, nach Jahrhunderten , Jahrtausenden! Oder doch schon jetzt – – – – –? Wenn wir wollen – – – und wenn wir glauben!

Bald sahen wir, daß ein Reiter uns entgegenkam. John Raffley war es. Das Gebiet, auf dem wir uns jetzt nun befanden, war sein besonderes, und darum stellte er sich ein, um uns hier zu begrüßen. Er wußte bereits Alles, was wir gestern über die Fan-Fan erfahren hatten, denn Fu hatte es ihm telephonisch mitgeteilt und ihm auch gesagt, in welcher Weise dagegen aufzutreten sei. Es war ihm also wohl bekannt, daß der »große Tag der Shen« nicht morgen, sondern erst später gefeiert werde, aber er hatte trotzdem alle Vorbereitungen für morgen treffen lassen. Darum sahen wir überall, wohin wir kamen, die mit Fahnen, Flaggen, Wimpeln, Girlanden, Kränzen und Blumen geschmückten Häuser, Gärten und Wege festlich aus.

Raffley-Castle bestand aus einem fast vollständig neu angelegten, großen Dorfe und dem eigentlichen Schlosse. Die Wirtschaftsgebäude des Letzteren lagen unten am Fuße des Berges. Sie wurden isoliert durch einen Halbring von Gärten, auf welchen dann die Häuser des Ortes folgten. Außerhalb dieser lagen zunächst die Felder, dann saftig grüne, wohlbewässerte Wiesen, und endlich kam der hohe, feierlich stille Spießtannenwald, den der Governor erwähnt hatte. Durch diesen Wald ritten wir jetzt. Als uns der Weg aus ihm herausgeführt hatte, ließ unser alter Governor einen lauten Ruf der freudigsten Ueberraschung hören.

»Raffley-Castle! Ganz genau mein liebes, liebes, einzig schönes Raffley-Castle!« jubelte er. Und zwar nicht nur so schön, sondern noch viel, viel schöner! Wie eine schottische Schloßfrau, die sich ganz unerwartet in eine morgenländische Fee verwandelt hat! Nicht grau, wie daheim, sondern weiß, blütenweiß, oder wie frisch gefallener Schnee! Keine Ecke fehlt, kein Erker und kein Türmchen. Alle Türen sind da, alle Fenster, alle Schornsteine und sogar auch alle Wetterfahnen! John, John, komm her; ich muß dich küssen!«

Er drängte sein Pferd an dasjenige seines Neffen, zog diesen zu sich herüber und gab ihm etwas, was für die zartere Bezeichnung »Kuß« eigentlich wohl ein wenig zu kräftig klang. Auch John schien dieser meiner Ansicht zu sein, denn er gab ihm ganz denselben »kiss« sofort, auf der Stelle, wieder. Uebrigens, der »uncle« hatte Recht; der Anblick dieses in Marmor so treu wiedergegebenen Castle war einzig in seiner Art, weil die übrigen Gebäude alle einen ganz andern, fast möchte ich sagen, ihm widersprechenden Stil besaßen. Bei ihnen war zwischen dem Unter- und dem eigentlichen Bau das chinesische Verhältnis beibehalten, aber die Dächer besaßen nicht die gewöhnliche, drückende Schwere; sie beschützten zwar, aber sie erlaubten sich nicht, zu belasten.

Nun ging es zwischen den Wiesen und den Feldern hinüber in das Dorf. Die Bewohner desselben wußten von unserem Kommen; aber es gab nicht jenes Herandrängen, sich Hinstellen, Gaffen und Starren, welches so ungemein belästigt. Man grüßte uns, als ob man uns schon kenne, und sah und lief nicht hinter uns her, wie hinter blauen Wundern.

Wie reinlich, wie sauber das Alles war! Die Häuser wie die Menschen! Auf den Wegen gab es keine Spur von Schmutz, nicht einmal Staub, denn überall floß Wasser, ihn zu löschen. Die Straße war makadamisiert und außerordentlich wohlgepflegt. Sie leitete aus dem Dorfe nach den herrschaftlichen Meiereigebäuden und dann in bequemen Serpentinen bis zur höchsten Höhe empor. Jede neue dieser Windungen gab eine andere Aussicht und ein schöneres Bild. So ritten wir nach oben, immer an hellweißen Gebäuden vorüber, welche von Weitem den Stamm des Kreuzes bildeten, bis wir das eigentliche Schloß erreichten, zu dessen Tor eine kühn geschwungene Brücke über die tief ausgewaschene Schlucht eines fallenden Wassers führte.

»Das geht zum ersten Hof; der ist für die Knappen und für die Pferde,« sagte der Governor. »Dann folgt der zweite Hof. Der war für die Turniere. Und gegenüber der breiten Treppe steht, achteckig eingerahmt, der große Wasserbrunnen.«

Er sprang vom Pferd, übergab es einem der herbeieilenden Diener und ging mit raschen Schritten über diesen vorderen Hof hinweg. Wir Andern taten so, wie er, und folgten ihm, als er hinter dem zweiten Tor verschwand. Als ich dieses erreichte, sah ich ihn an dem Brunnen stehen.

»Es ist wunderbar, Charley, geradezu wunderbar,« rief er mir zu. »Er ist da; er ist da; mit allen seinen acht Ecken! Und wenn ich da die Treppe hinaufgehe, so komme ich direkt zu – – –«

»Direkt zu nur, zu mir, mein lieber Onkel!« klang eine weibliche Stimme von oben herab, wo über der Treppentür ein steinerner Balkon mit durchbrochener Brüstung ragte. Da stand Yin, weiß, eine Rose im Haar und einen kleinen Veilchenstrauß an der Brust, genau so, wie sie drüben in Ocama auf sein Zimmer gekommen war.

»Yin – – –! Liebling – – –! Engel – – –! Abgott – – –! Es stimmt, denn ich wollte sagen, daß ich da direkt zur Herrin, zur Gebieterin des Schlosses komme, und – – – paß auf. Das wird sofort geschehen, sofort!«

Er sprang vom Brunnen hinweg und eilte die Treppe hinauf. Ich sah ihn erst beim Mittagessen wieder.

Was mich betrifft, so erhielt ich ein Wohnzimmer und ein Schlafgemach, von denen aus ich eine weite, weite Aussicht nach Westen, nach Süden und auch bis hinüber nach dem Meere hatte. Mein Sejjid Omar wohnte neben mir. Wir hatten uns auf einen längern Aufenthalt hier einzurichten und bekamen darum von der Jacht aus unsere Koffer nachgeschickt.

Das soeben erwähnte Mittagessen fand ohne die Schloßherrin statt. Sie wurde von John damit entschuldigt, daß sie von einer Arbeit festgehalten werde, welche ganz unbedingt sofort noch zu vollenden sei. Was für eine Arbeit er meinte, das sahen wir nach Tische, als er uns in Castle herumführte, um uns die Räume desselben zu zeigen. Wir waren dabei alle beteiligt, außer Waller, welcher bei unserer Ankunft für einige Minuten aufgewacht und dann aber wieder eingeschlafen war. Doch, wenn ich sage, daß John Raffley uns geführt habe, so ist das eigentlich nicht ganz richtig, denn der, welcher voranging, um alle Türen zu öffnen und uns, bevor er dies tat, stets sagte, was für einen Raum wir nun zu sehen bekommen würden, das war nicht der Neffe, sondern sein Onkel, der Governor. Es machte diesem nämlich ein herzliches Vergnügen, uns zu beweisen, daß das hiesige Schloß, wenigstens betreffs der Räume und ihrer Bestimmung, dem heimatlichen vollständig gleiche. Wenn er uns sagte, was nun für eine Stube kommen werde, und es stimmte, so war er stolz, es schon vorher gewußt zu haben. So auch, als er sich bemühte, eine hohe, dunkle Tür zu öffnen, in deren Schloß ein altertümlicher, pistolengroßer Hohlschlüssel steckte.

»Das ist der Hauptraum unseres ganzen Schlosses,« sagte er, das »unser« für ganz selbstverständlich haltend, »nämlich der Ahnensaal. Daheim ist er schon so voller Bilder, daß man ihn nun wird vergrößern müssen; hier aber bin ich selbst im höchsten Grade neugierig, was man an die Wände gehangen haben wird. Wir befinden uns zwar im klassischen Lande des Ahnenkultes, aber man kann in China doch unmöglich wissen, wie so ein alter, längst verstorbener Englishman, ein echter, toter Raffley auszusehen hat!«

»Oh!« widersprach sein Neffe. Da klirrte das Schloß, und die Tür ging auf. Da hingen sie, alle, alle, genau dieselben und auch genau so groß wie drüben in der Heimat, freilich nicht in Oel und Farbe, sondern nur in schwarzer Kreide, die Lichter weiß gegeben. Und auf dem langen Mitteltisch lagen die Blitzphotographien, welche John aus England mitgebracht hatte, um seine Ahnen von chinesischen Künstlern nach ihnen zeichnen zu lassen. Die Maler des »Reiches der Mitte« sind bekanntlich grad in Beziehung auf die Genauigkeit des Kopierens unvergleichlich.

Der Governor war zunächst ganz still vor Erstaunen. Er ging von Bild zu Bild und sagte nichts, schüttelte nur immer den Kopf. Aber als er an dem letzten kam, ganz hinten, oder auch ganz vorn, wie man es nehmen wollte, da ließ er einen lauten Ruf der Ueberraschung hören, so daß wir hingingen, wo er eben stand. Es war sein eigenes, und zwar sehr wohlgetroffenes Bild! Eine schmale, hohe Leiter, deren Sprossen gepolstert waren, lehnte in der Nähe. Indem der »uncle« auf diese Leiter deutete, sagte er:

»Ich begreife! Dieses mein Porträt war fertig bis auf das Gesicht. Man mußte da warten, bis ich kam und Yin mich sah. Ich merkte es ihr an, als ich zum ersten Male mit ihr sprach. Sie studierte mein Gesicht, jeden einzelnen Zug besonders. Ich erinnerte mich hieran erst dann, als ich hörte, daß sie male. Dann bist du mit ihr sofort hierher geritten, daß sie das Porträt vollende. Als wir vorhin aßen, war sie noch nicht ganz fertig. Darum fehlte sie. Habe ich recht, lieber John?«

»Nein, lieber Onkel – – und doch auch ja!« antwortete der Gefragte. »Dieses dein Konterfei ist schon längst fertig, auch nach einer Photographie gemacht. Aber ein anderes war zu vollenden, ganz ebenso nach einem Photo von dir angelegt, und zwar von der eigenen Hand des von dir so gefürchteten »Gespenstes«, dem du nicht einmal – – –«

»Schweig, schweig!« unterbrach ihn der Alte, über das ganze Gesicht hin errötend. »Blamiere mich nicht! Ich bitte ihr das noch ganz besonders ab.«

»Tue es! Du hast ihr nur dieses eine Gespenst abzubitten – – dich; ich aber leider alle, alle, die hier hängen. Und sie verzeiht sie mir, diese Schatten, diese Schemen in schwarzer Kreide, von denen keiner, keiner Etwas von ihr wissen wollte. Sie, die immer Gute, die herrlichste Tochter unserer großen »Shen«, hat sogar noch mehr getan. Schau sie doch an, diese einst Fleisch gewesenen, irdischen Phantome! Da hängen sie im Tode. Sind sie denn wirklich das gewesen, was du hier abgebildet siehst? Dann gib dir Mühe, stolz auf sie zu sein; ich aber, ich verzichte! Das sind die Larven, welche wir daheim verehren, die Masken, die wir uns vormachen lassen, weil wir zu dumm, zu albern sind, sie zu durchschauen und die Wahrheit zu entdecken. Auch ich war so ein Tropf, der an Skelette, an Gerippe glaubte, bis Yin in diese: Leichenkammer trat und meine Hand ergriff, um mir zu zeigen, daß die Toten leben. Sie mag auch dir es zeigen. Oeffne!«

»Oeffnen? Wen, was?«

»Dich selbst!«

»Mich? Mich selbst?«

»Natürlich! Wer seine eigene Larve durchschauen und dann sich selbst kennenlernen will, der muß zu erfahren suchen, was hinter ihr steckt.«

Er deutete nach dem Bild. Der Richtung seiner Hand folgend, bemerkten wir am Rahmen eine Klinke und auf der andern Seite zwei Angeln. Das Bild war eine Tür. Da öffnete der Governor. Eine Fülle von Licht flutete zu uns in den düsteren Raum herein. Er trat hinaus. Wir folgten ihm. Was sahen wir da? Wo befanden wir uns?

In ganz genau demselben Saale mit ganz genau denselben Bildern. Kein einziges fehlte. Aber die Zwischenräume waren nicht Wand, sondern Fensterscheiben, durch welche der Glanz des lichten Tages trat. Auch diese Bilder waren von schwarzer Kreide, doch hatten sie keine Gesichter, sondern nur Köpfe – – Totenköpfe. Auch den langen Mitteltisch sahen wir, doch nicht mit den Blitzphotographien, sondern es lag das uralte, berühmte Ming-Tsching darauf, aufgeschlagen, und in großer, weithin sichtbarer Schrift war da zu lesen: »Sie legen die Kleider ab, dann kommen sie!« Und an diesem Tisch saß Ki, der Himmlische, der die Kraft des niemals endenden Lebens bedeutet, und winkte nach der Tür, die in der vorderen Ecke hinunter nach der Gruft der Familie führte. Da stand John Raffley, um diesem Winke zu gehorchen, er öffnete sie. Und nun strömten sie hervor, dem Lichte entgegen, sie alle, die ihre Kleider, die Leiber, da unten abgelegt hatten. Teils jubelnd, jauchzend, teils still, wortlos vor lauter Seligkeit; Einige aber auch zagend, zögernd, als ob sie dieser Auferstehung, an die sie nie geglaubt hatten, ganz unmöglich sogleich vollen Glauben schenken könnten. Sie quollen aus der Gruft und aus der Treppenöffnung heraus und eilten durch den Saal, mit dankenden Gebärden an Ki, dem Himmlischen, vorüber, um durch die offene Tür zu verschwinden, die auf der andern Seite hinaus in den Garten und dann in das Leben führte.

Welch eine unbeschreiblich packende, beinahe überwältigende Szene! Welche Freude, welches Entzücken, welche Wonne in jedem Zug der Gesichter! Und sonderbar: Das waren nicht mehr Gesichtszüge von sterblichen Personen; das waren nicht mehr die scharfen Linien und die festgezeichneten Konturen, welche die Körperlichkeit mit sich bringt; und doch besaß jeder und jede dieser Verwandelten die größte Aehnlichkeit mit dem korrespondierenden Bilde im ersten Ahnensaale! Es gab unter ihnen nur einen Einzigen, der nicht hinaus nach der Freiheit strebte, denn er hatte ja die Gruft noch gar nicht kennengelernt. Er gehörte als ein Raffley zwar zu ihnen, aber er war noch nicht »gestorben« gewesen; er zählte noch zu den »Lebenden«. Er stand von fern und schaute zu, mit ehrerbietigem Staunen, mit seliger Verwunderung. Ihm war, als ob er träume. Aber wohin sah er? Auf die jubelnden Seelen seiner Ahnen oder auf Ki, der die Kraft des Lebens ist? Man konnte das nicht sagen, denn in seinen weit geöffneten Augen fehlten noch die hellen Punkte, durch welche der Blick die Beseelung und Richtung erhält, und Yin, die Meisterin, hob soeben, als wir eintraten, die Hand mit dem Pinsel, um ihnen dieses Licht zu verleihen. Also das war die Arbeit, wegen deren Vollendung sie abgehalten gewesen war, bei Tafel zu erscheinen!

Wäre ich ein Künstler, so würde ich jetzt meine Feder so recht voll von Tinte nehmen, um dieses unvergleichliche Kunstwerk unserer Yin mit den besten Ausdrücken der Begeisterung zu beschreiben und sodann die Künstlerin auch selbst dazu. Denn ich fühle es sehr deutlich, daß ich sogar die Pflicht habe, die schöne Herrin von Raffley-Castle bis auf das kleinste Kräuselhärchen im Nacken genau zu schildern. Aber ich bin leider kein Künstler und habe also zu schweigen. Zu meiner Rechtfertigung möge dienen: Ich besitze nicht einmal den nötigen Verstand, den Begriff »Kunst« definieren zu können, und bin auch weder so weise noch so klug, mir zu sagen: Ja, das ist ja eben die Kunst, daß man nichts von der Kunst versteht!

Aber Eines will ich doch sagen: Wir waren alle still. Niemand sprach. Kein Einziger fand einen hörbaren Ausdruck für das, was er empfand. Wie von derselben Kraft ergriffen, welche diese Seelen aus der Gruft emporzog und durch den Saal der Totenköpfe schnell hinaus in das helle Leben leitete, so ging ich von Figur zu Figur bis hin zur klarsten Seele an der Tür und dann noch weiter, in den Garten, bis an den äußersten Rand desselben, wo eine starke Mauerbrüstung vor dem Sturz in große Tiefe schützte. Da stehe ich – – ich, ich, der arme Teufel, im hohen Marmorschlosse, bei Leuten, die ihre Ahnen alle aufgeschrieben hatten und ihre Millionen nach Hunderten zählen konnten. Dazu die höchsten Gottesgaben, die es auf Erden gibt: Talent und gar Genie! Und vor mir dieses schöne Land, welches ich überblicken kann auf viele Meilen hin! Von diesem Schlosse aus geht Segen drüber hin, gespendet von so reichen, reichen Händen. Wer bin dagegen ich, und was? Das kleine Deutschland gegen Großbritannien, wie der Governor wahrscheinlich sagen würde!

Da hörte ich leichte Schritte, welche sich mir näherten, und drehte mich um. Da stand sie vor mir, Yin! Sie schaute mich an und sagte nichts dazu. Ich habe niemals wieder solchen Blick gesehen. Er tat mir weh. Als ob ich ihr so viel, viel zu verzeihen hätte! Ich nahm ihre beiden kleinen Hände, hüben eine, drüben eine, und lächelte ihr ermunternd zu. Sagen konnte ich nichts.

»Darf ich – – –?« klang es leise aus ihrem Munde.

»Yin darf nie; sie soll!« antwortete ich.

»Haben wir denn wirklich gleiches Recht, wie John mir immer sagt? Wir armen, gelben Menschen?«

Da kam es wie eine Wut über mich. Dieses wunderbare, gottbegnadete Wesen! Und so verschüchtert durch den Stolz auf ein helleres Menschenfell! Ich bezwang mich aber und sagte in ruhigem Tone:

»Wo steht geschrieben, welche Farbe der Mensch im Paradiese hatte?«

»Ich weiß es,« behauptete sie. Sie sprach englisch.

»Wirklich?« fragte ich.

»Ja. John hat mir viel von Euch erzählt, Sir. Er hat nie Jemand so lieb gehabt. Darum kam ich jetzt hierher, um Euch zu zeigen, wie gerne ich Euch habe. Ihr erwähnt das Paradies, und ich habe es gezeichnet. Ich wünschte, daß Ihr es sehen solltet, ohne daß Euch Andere dabei stören. Die Andern sind noch drin im Ahnensaale, von dem sie sich wohl nicht gleich trennen werden. Darf ich Euch führen, Sir?«

Ich folgte dieser ihrer Aufforderung natürlich nur zu gern. Es gab eine zwar schmale, aber bequeme Stufenreihe, welche, nur für die Herrschaft selbst, von hier, dem Garten aus, nach oben führte. Die stiegen wir empor zu dem etwas höher liegenden Gebäude, in welchem sich befand, was ich jetzt sehen sollte. Vor demselben saß auf einer zwischen zwei prächtigen Rosenpappeln stehenden Bank ein alter Herr, der, als er uns erblickte, höflich aufstand und sich verbeugte. Ich hatte Mühe, meine Ueberraschung zu verbergen, unsern malajischen Priester aus dem Kratong von Kota Radscha zu sehen. Die chinesische Kleidung, die er trug, glich der malajischen. Sein Haar war ebenso weiß und ebenso lang. Die Gestalt und ihre Haltung war dieselbe; das Gesicht widerstritt dem nicht, und als Yin mit ihm zu sprechen begann und er ihr antwortete, bewahrheitete sich die alte Regel: Wenn sich zwei Menschen ähnlich sehen, sind auch ihre Stimmen einander ähnlich. Kurz, dieser Mann war mir eine Ueberraschung, und zwar eine angenehme, und als ich ihm vorgestellt wurde und also erfuhr, daß er der Pfarrer Heartman sei, da hatte ich ihn schon gleich ganz herzlich lieb.

Ich war ihm nur persönlich unbekannt, sonst aber nicht, denn er wußte alles, was ich zusammen mit John erlebt hatte. Als er hörte, daß ich das Paradies sehen solle, aber ungestört, trat er bescheiden zur Seite, um uns die Tür freizugeben, sagte aber, daß er mich dann gern weiterführen möchte, bis hinauf zur Kapelle; ob ich damit einverstanden sei. Ich nahm das selbstverständlich an, und Yin bat ihn, wenn er mich sodann auch allein lassen wolle, doch mit hinein zu gehen, um mir die Sage vom verlorenen Paradiese zu erzählen. Er öffnete also die Tür und trat mit uns in das Innere.

Nun befand ich mich in einem langen, viereckigen Gebäude, dessen Decke ein Glasdach war. Die Längsseiten waren gleich lang, die Schmalseiten aber nicht. Da, wo wir hereingekommen waren, also vorn, war der Saal bedeutend breiter als hinten. Hierdurch wurde schon an sich eine ganz natürliche Perspektive gegeben, also Etwas, was wir Europäer den mongolischen Künstlern einfach abzusprechen pflegen. An der vorderen und der hinteren Wand waren Gruppen schöner Pflanzen angebracht, so was man mit dem Worte Orangerie zu bezeichnen pflegt. Diese Gewächse waren vorn sehr hohe, darunter Bambusschößlinge, die bis zur Decke reichten. Hinten waren sie bedeutend niedriger, gingen aber auch bis an das Dach, weil dieses sich von vorn nach hinten senkte. Dadurch wurde die optische Täuschung erregt, als ob das Auge in eine viel, viel größere Entfernung schaue, als in Wirklichkeit vorhanden war. Die langen Seiten zeigten zunächst nichts; sie waren mit dünnseidenen, aber undurchsichtigen Vorhängen bedeckt.

Als wir eingetreten waren, ging Yin sofort nach hinten und verschwand hinter den Pflanzen. Dort stand ein Instrument, halb »Si« und halb »Yangtschin,« von der Größe einer Harfe und auch ganz ähnlicher Klangfarbe. Vorn gab es unter blühendem Gezweig einige Sitze. Pfarrer Heartman winkte mir, auf einem derselben Platz zu nehmen. Er selbst trat bis fast an die Tür zurück, von wo zwei Drähte in die Höhe und dann nach den Seiten führten. Das war zur Ausschaltung der Gewichte, welche die Vorhänge zu bewegen hatten.

Nun erklang von hinten her ein Akkord, dem einige andere folgten. Yin hatte in die Saiten gegriffen; dann war es wieder still. Und jetzt ertönte hinter mir, aus dichten Pisangs heraus und von ihnen gemildert, die laute, charakteristische Stimme des Geistlichen:

»Im Lande Ti gibt es eine heilige Sage, die von dem Himmel stammt. Sie ist viel tausend Jahre alt und lautet folgendermaßen: Als Gott, der Herr, zur Erde hinuntergestiegen war und das irdische Paradies geschaffen hatte, sprach er zu seiner »Shen«: »Ich schenke dir dies Land der Menschlichkeit mit allen seinen Bewohnern. Solange der Menschengeist sich von dir leiten läßt und nur in der Liebe handelt, wird Friede sein und dies dein Reich nicht von der Erde schwinden. Behüte es!« – – – – – – Und als der Satanas sich aus der Tiefe herbeigeschlichen und die irdische Hölle geschaffen hatte, sprach er zu seiner »Hen«: »Ich schenke dir dies Land der Rücksichtslosigkeit mit allen seinen Teufeln. Du hast dich nicht zu fürchten, auch vor dem Paradies da drüben nicht, denn ohne seine »Shen« ist dieser Menschengeist ja weiter nichts als eben auch ein Teufel. Er wird uns schon noch kommen! Doch wache dann, daß hier in deinem Reich nie Irgendwer von Nächstenliebe rede! Man sagt, daß in zukünftiger Zeit die »Shen« vor Gottes eigenem Tor ermordet werde; dann aber komme er selbst, der Herr, in menschlicher Gestalt zur Erde nieder, um seine »Shen« vom Tode aufzuwecken und Alles, was da lebt, sogar such meine Teufel, zur Seligkeit ins Paradies zurückzuführen. Die Zeichen seines Nahens sind gegeben, sobald seine Boten hier in meiner Erdenhölle aufzutauchen und von der Nächstenliebe zu lehren und zu predigen wagen. Vernichte Jeden, der das tut, sonst bist du selbst verloren!«

Die Saiten hatten geschwiegen, während er sprach.

Nun rauschte eine Folge von Akkorden durch den Saal, um sich in einzelnen Tönen aufzulösen und hierauf wieder still zu sein. Dann fuhr er fort:

»Der Menschengeist ging durch das Paradies und lernte dessen Seligkeiten kennen. Er wuchs dabei empor zur Riesengröße und konnte endlich gar, wenn er am Tore stand, hinüberschauen in das Reich des Bösen. Da sah er heimlich, wie die »Hen« regierte, und das gefiel ihm wohl. Sie war die Königin, die Oberpriesterin der Hölle; was aber war denn er? Sie gab Gesetze für den Staat; sie richtete; sie strafte, wie es ihr wohlgefiel, und fragte vorher nicht einmal den Teufel! Er aber mußte als Beherrscher seines Paradieses eines jeden armen Teufels Diener sein und sich von »Shen« zu jeder Zeit und bei fast Allem, was er tat, belehren lassen. Indem er dieses dachte und voller Sehnsucht nach dem Nachbarreich hinüberschaute, sah ihn die »Hen« und kam herbei, in ihm den Neid und alle Kinder, die es von diesem gibt, im Herzen zu erwecken. Das gefiel ihm wohl. Er kam am nächsten Tage wieder. Am dritten schloß er schon die Pforte auf und ging hinaus zu ihr, um sich von ihr das Glück der Hölle zeigen zu lassen. Von nun an lehrte sie ihn täglich, heimlich, wie man regieren müsse, und er ließ, was sie sagte, im Paradies geschehen und fragte nicht mehr nach der Menschlichkeit. Das sah die »Shen«. Sie folgte seinen Spuren und kam zum Tor, grad als es offenstand. Soeben hatte »Hen« ihn bei der Hand ergriffen, um mit ihm fortzugehn. Da stürzte sich die »Shen« hinaus, um ihn zu retten. Doch in demselben Augenblick erschien der Satanas, aus seinem Abgrund tauchend, erhob die Faust und schlug sie, daß sie tot zu Boden sank. »Sie trat aus Gottes Schutz heraus, vor seine Pforte,« sprach er;

»drum konnte sie von mir vernichtet werden, sonst aber nicht. Scharrt sie hier ein!« Und sich hierauf zum Menschengeiste wendend, fuhr er fort: »Du armer Wurm, der sich so erhaben dünkte, daß ihn nicht einmal das Paradies zu halten wußte! Sag mir einmal, wer bist du denn, und was hast du getan, um das, was du von Gott verlangst, von ihm verdient zu haben? Verdienst, Verdienst! Bei diesem Worte lacht die ganze Hölle! Es werde dir gezeigt, was es heißt, sich auch nur einen einzigen Hauch der Gnade zu verdienen! Du lebst in dem Wahne, dem Himmel und der Hölle gebieten zu können, und hattest nicht einmal gelernt, dich selbst zu beherrschen, dich und deinen Dünkel! Wohlan, du wirst nun unter Teufeln sein, denn meine Hölle und dein Menschenreich, das ist von heute an für dich dasselbe. Als Teufel werden diese Menschen an dir handeln, weil du als Teufel dort im Paradiese handeln wolltest, und tausend Teufel sollen in deinem eigenen Innern wohnen, mit denen du zu kämpfen hast bei Tag und Nacht, unausgesetzt, bis Der vom Himmel kommt, den wir verfluchen und doch ewig segnen! Hast du gelernt, dieser Hölle in dir selbst ein Herr zu sein, so lausche, ob vielleicht in meinem Reiche der Name »Shen« in Heimlichkeit erklingt. Bis dahin aber sei verflucht von allen denen, welche nun mit dir vertrieben werden, weil sie glaubten, dir gehorchen zu müssen!« – – – – – Indem er dieses sprach, geschah ein Blitz, hierauf ein Donnerschlag; die Sonne verschwand vom Himmel; die Erde bebte; die Berge stürzten ein; die Tiefe klaffte auf; das Tor der Seligkeit verschwand mit seinen Mauersäulen, und Tausende und Abertausende drängten sich in wahnsinniger Angst vorüber, um sich aus dem verschwindenden Paradiese in die offenstehende Hölle zu retten!«

Nun schwieg der Pfarrer. Es ging ein leises Geräusch zur Decke empor und nach dem Vorhang hin; dann begann dieser, sich zu bewegen, der auf der linken Seite.

Das, was ich sah, war nicht das Paradies, sondern die letztbeschriebene Szene vor dem eingestürzten Tore. Da standen sie, der Menschengeist, der Satan und die »Hen«. Einige niedrige Wesen bemühten sich, die Leiche der »Shen« auf die Seite zu schleppen. Zwischen den Trümmern des Tores stürzten sie hervor, die Unglücklichen, die weder sahen noch hörten, sondern nur den einen Gedanken hatten, sich in Sicherheit zu bringen. Sie quollen in eng zusammengedrängter Masse heraus, mit verzerrten Gesichtern, heulend und schreiend, sich stoßend, drängend und treibend. In ihrer blinden Angst bemerkten sie die drei am dunklen Felsen Stehenden nicht, denen sie den Verlust des Paradieses verdankten. Nur vorwärts, vorwärts strebten sie, obgleich infolge dieser fürchterlichen Panik Viele in den Abgrund stürzten, der auf der andern Seite gähnte. Da gab es Europäer, Amerikaner und Asiaten, weiße, schwarze, rote und gelbe Menschen, Kaukasier, Mongolen, Indianer, Neger und alle Arten von Mischlingen. Sie alle waren im Paradiese gewesen, und sie alle wurden nun aus demselben vertrieben, weil sie nicht der himmlischen »Shen«, sondern dem von der »Hen« verführten Menschengeiste gehorcht hatten. Ihre Scharen füllten die Wege und breiteten sich nach allen Seiten über das öde, wüste Land, weiter, nur immer weiter; bis sie ganz draußen, da, wo die Hinterwand abschloß, in der dort beinahe undurchsichtbar gewordenen Luft verschwanden.

Denn die Atmosphäre war diejenige eines Unwetters, eines Erdbebens, einer ganz unbeschreiblichen Katastrophe. Da, wo ganz vorn, hinter den Bäumen und Sträuchern der Pflanzengruppe, das Paradies zu vermuten gewesen war, schien Alles in hellen, verzehrenden Flammen zu stehen. Die glühende Hitze schleuderte die zersprengten, schieferigen Reste des Gesteines hoch in den Lüften herum. Schwefelgelb, von orangenen Blitzen durchschossen, schlug die Lohe heraus und warf über die Gruppe am Felsen und die verzerrten Gesichter der Fliehenden ein, ich machte sagen, alle Hoffnung verzehrendes Licht. Dieses Gelb verwandelte sich in immer tiefer werdendes, diabolisches Rot, welches sich schließlich zu einem häßlich schmutzigen Violett verdichtete, in dem weder Mensch noch sonst etwas mehr zu unterscheiden war.

Bis hierher durfte ich mich in der Beschreibung dieses Bildes wagen, weiter aber nicht; die Gründe habe ich bereits angegeben. Auch über die Wirkung will ich nur das Eine sagen, daß es mir unmöglich ist, sie in Worte zu fassen, Ich hatte unter dem gewaltigen Eindruck dieses Meisterwerkes ein innerlich bohrendes, verzehrendes Gefühl, eine Empfindung, als ob ich selbst auch als einer dieser Unglücklichen dazu verdammt worden sei, die Erde nun für die Hölle und die Menschen für Teufel zu halten. Ich war so ergriffen und innerlich so tief gepackt, daß ich erst nach und nach die Akkorde beobachtete, welche, als ob sie hierzu gehörten und von den Bildern unzertrennlich seien, durch den Saal erklangen. Oder hatten grad sie mit dazu beigetragen, das, was ich sah, zu erfassen und zu vertiefen?

Da wurde dieser eine Vorhang wieder vorgezogen, und der andere bewegte sich von seiner Stelle. Gleich der erste Blick zeigte mir, daß ich mich in ganz genau derselben Gegend befand, in späterer, später, vielleicht gar zukünftiger Zeit. Ein herrliches, reines, orientalisch heiliges Sommerlicht fiel auf das Land des alten Erdenfluches. Kann man an Luft und Licht erkennen, daß heut nicht Werktag, sondern Sonntag sei? Gewiß, wenn der Maler wirklich ein Künstler ist! Es war hier Feiertag, am Tag des Herrn, in Gottes Morgenfrühe! Und durch das Land der Hölle kamen sie gezogen, die jetzt nun wirklich Menschen waren, in allen Rassen, allen Farben und jeder Tracht, die es auf Erden gibt. Erst einzeln langsam, zagend, mit bangen Fragen im Gesicht. Dann zu zweien, dreien, ferner mehr und immer mehr, einander rufend, winkend, zujubelnd. Hierauf weiter mehr und mehr, in Gruppen, in Haufen, endlich gar in Scharen. Der Horizont ist dunkel von Unzähligen, die zu entfernt sind, als daß sie sehen könnten, was am Tor des Paradieses geschieht. Aber sie hören, und sie glauben, und der Glaube ist der Weg zur Seligkeit.

Und Allen voran, an der Spitze der noch Zagenden, geht er, der Menschengeist. Wie bescheiden – – wie demütig – – wie gering und arm! Ein Bettler – – doch wohl wissend, daß seine Bitte nicht vergeblich sein, daß sein Gebet Erhörung finden werde. Er schaut zwar still und unterwürfig drein, jedoch auch hoffnungsvoll, fast scheint es, zuversichtlich! Denn gar nicht weit von ihm steht Gottes Pforte offen, das Tor des Paradieses, das neu erstanden ist, und hinter seinen aufgeschlagenen Flügeln erscheinen die Gestalten heiliger Wächter, die er, der Vater, dem einst verlorenen, nun aber zurückkehrenden Sohn entgegensandte, ihm seine Tür zu öffnen.

Und grad vor dieser Tür und grad in diesem Augenblick geschah, was jene alte Sage schon seit Jahrtausenden der Welt versprochen hatte: Da stand der Satan, und da stand die »Hen«. Sie hielten sich gefaßt und deckten mit ihren Gestalten den schwarzen Felsen und das Grab, in welches damals »Shen«, die Himmlische, verborgen worden war. Was stand da wohl auf ihren Gesichtern geschrieben? Haß und doch Anbetung, das ganze Entsetzen der letzten, höchsten Angst und dennoch aber die Freude, daß endlich, endlich nun Alles vorüber sei, daß Hölle und Teufel auf ewig verschwinden müsse und die Menschheit nun nicht mehr belogen und betrogen werden könne!

Denn es war Einer sogar dem Menschengeiste vorangeschritten, den Weg zur Seligkeit herauf, und hier bei ihnen stehengeblieben. Der Einzig-Eine, dem niemals Jemand widerstehen konnte und widerstehen wird. Er trug das arme, dürftige Gewand der Nazarener, aber auch die vier Nägelmale, von denen kein Teufel hören kann, ohne zu zittern! Als er die beiden stehen sah, hob er gebieterisch die Rechte gegen sie und deutete mit der Linken nach dem Abgrund, der damals so viele Unglückliche verschlungen hatte. »Fort mit euch von hier!« gebot er ihnen. »Ich bin der Geist; sie aber ist die Seele; gebt Raum für sie: für meine Nächstenliebe!«

Da geschah, wie damals, ein Blitz und hierauf ein Donnerschlag, so daß die Erde bebte. Der Satan flog mit seiner »Hen« dem Abgrund zu und verschwand in dessen Tiefe; der Felsen aber warf die Steine des Grabes aus, und dann trat sie hervor, die Himmlische, zu dem Erlöser hin, nach dessen Geist die Seele ewig strebt. Der schlug den Arm um sie, wendete sich mit ihr zurück zu denen, die da kamen, winkte ihnen, ihm und ihr zu folgen, und schritt sodann dem offenen Tore zu!

Ich saß noch lange, wie festgebannt, unter dem Eindrucke des Ganzen. Dann stand ich auf und ging das Gemälde ab, um die Schönheiten auch im Einzelnen zu genießen. Die Saiten des Si-Yangtschin hörten jetzt auf zu klingen, und als ich die hintere, schmale Wand erreichte und dort nach Yin suchte, um mich bei ihr zu bedanken, war sie fort. Es führte da eine Tür hinaus, durch welche sie gegangen war. Zwischen den Pflanzen aber stand das Instrument, mit dem sie sich für mich beschäftigt hatte.

Dann ging ich wieder nach vorn. Der Pfarrer war nicht mehr da. Doch als ich hinauskam, saß er auf seiner Bank, um auf mich zu warten. Er ging erst noch einmal hinein, um nun auch den zweiten Vorhang niederzulassen, und dann führte er mich durch das Castle nach der Straße hinaus, auf welcher wir in kurzer Zeit das höchste Gebäude der Besitzung, die Kapelle, erreichten. Unter ihr lag, wie schon einmal erwähnt, das Atelier. Wir gingen vorüber. Das war, wie der Geistliche sagte, ein Heiligtum, in welchem meist nur geistig Hohes geboren wurde. Darum äußerten selbst bevorzugte Personen niemals den Wunsch, es zu betreten. Yins eigene Aufforderung war der einzige Schlüssel, es für andere zu öffnen.

Als er mir »seine« Kapelle, wie er sie in rührendem Stolze nannte, gezeigt hatte, setzten wir uns unter eine der Riesentannen, von denen sie flankiert wurde, und hielten ein Gespräch, im Verlaufe dessen er mich einen tiefen Blick in sein reiches Herz und in sein armes Leben werfen ließ. Der Arme war erst dann reich geworden, als die Reichen ihn verwarfen. Jetzt aber galt für ihn das Ideal erreicht, welches ihm von dem Berufe, den Pflichten und den Erfolgen eines christlichen Seelsorgers vorgeschwebt hatte. Er sagte hierüber:

»Nun befinde ich mich endlich, endlich, endlich in dem Gelobten Lande. Ich bin in Jebus-Salem, der Stadt des Friedens, angekommen und kann hinüberschauen nach Bethlehem, wo er, der Einzig-Eine, den Ihr vorhin im Bilde sahet, genau so für die Armen geboren wurde wie jetzt und hier in dem Lande der verachteten Mongolen. Dort, in Kanaan, wurde sein Erscheinen Jahrhunderte vorher von den Propheten kundgetan; hier aber hat das stille und doch so große Werk der »Shen« ihm alle Herzen vorbereitet. Wer nicht an die Propheten glaubt, wird nimmermehr den Heiland sehen können. Und wer sich gegen die »Shen« vergeht, dem großen Menschheitsbund der Bruderliebe; der wird den »gelben Mann« niemals zum Christen machen. Das versichere ich Euch bei meinem Priesterwort!«

Er stand auf, ging einige Male hin und her und blieb dann stehen, um hinüberzuschauen, wo am dunkeln Rand des Waldes, an den vom Luftzug bewegten Zweigen, goldene Sonnenfunken spielten. In seinen Augen schimmerte etwas Aehnliches; es glänzte über sein Gesicht, und es verlieh seinem langen, weißen Haar einen rötlich silbernen Hauch.

»Als ich in dieses Land berufen worden war,« fuhr er fort, »kam ich hier an, als man sich anschickte, den Grundstein zur Kapelle da zu legen. Ich wurde gebeten, mich mit einer kurzen Rede hieran zu beteiligen, und bereitete mich also rasch auf diese vor. Aber als ich kam und die beiden Tafeln sah, welche Sir John und Fu gewidmet hatten, damit sie unter den Grundstein versenkt würden, da verzichtete ich auf alle diese erst aufgeschriebenen und dann einstudierten Sätze und ließ nur ganz allein die Stimme meines Herzens sprechen. Es waren zwei kleine, nur vierzeilige Strophen, die ich auf diesen Tafeln las. Sir John hatte ein altes, christliches Gebetlein meißeln lassen, Fu aber eine eigene Antwort dazu. Ihr wißt wohl, daß er sich im Besitze der höchsten literarischen Ehren befindet und also gar wohl zu dichten versteht. Auf der ersten Tafel stand:

»Christi Blut und Gerechtigkeit
Ist mein Schmuck und Ehrenkleid;
Damit will ich bei Gott bestehn,
Wenn ich in den Himmel werd' eingehn. Amen!«

Die zweite Tafel war chinesisch; aber man sollte es in alle Sprachen übersetzen, obgleich es Vielen, Vielen nicht gefallen würde. Es lautete:

»Werft von Euch fort den falschen Heil'genschein,
Und borgt nicht mehr auf des Erlösers Namen.
Laßt uns vor allen Dingen Menschen sein,
Damit wir Christen werden können. Amen!«

Fu hat da nicht etwa allein für sich gesprochen, sondern im Namen seines ungeheuer großen Landes, im Namen der ganzen mongolischen Rasse, wahrscheinlich auch im Namen aller, die nicht Kaukasier sind, und endlich ganz gewiß im Namen aller Derer, die Christi Gebot noch nicht vergessen haben, daß wir unsern Nächsten lieben sollen wie uns selbst! Alle diese Leute werden das Christentum nicht etwa nur auf sein Verhalten zu Gott hin prüfen, sondern vor allen Dingen dahin, ob es Den, dem es angeboten wird, in seinen angeborenen Menschenrechten schütze und ihn vor innerer und äußerer Vergewaltigung bewahre. Durch diese zweite Tafel wurde ich sofort nach meinem Eintreffen hier in die Anschauung dieses ganzen Reiches und seines Volkes eingeweiht. Wer anders schreibt und anders spricht, der kennt die Chinesen nicht, selbst wenn er jahrzehntelang bei ihnen gelebt hat. Die Volksseele offenbart sich nicht jedermann, aber wenn sie es tut, dann ganz, mit einem Male!«

Als er jetzt wieder schwieg und hinüberschaute nach dem Sonnenspiel am Waldesrande, da schien er mir dem malajischen Priester so genau zu gleichen, als ob sie beide Brüder seien, die Söhne einer und derselben Mutter. Welche Mutter wäre da wohl gemeint? Er trat ganz an den Abhang, hob den Arm gegen Westen und sprach, als ob er da hinauszureden habe zu vielen, vielen Leuten in der Ferne:

»Ich wiederhole es, das ernste, schwere Warnungswort: »Werft von Euch fort den falschen Heil'genschein, und borgt nicht mehr auf des Erlösers Namen. Laßt uns vor allen Dingen Menschen sein, damit wir Christen werden können. Amen! Das liegt hier eingemauert unter der Kapelle. Das ist hier in China der einzige, der allereinzige Boden, auf dem Ihr Eure christliche Kirche errichten könnt. Das sollte in riesengroßer, meilenweit zu lesender Schrift über allen Meerengen stehen, durch welche Ihr zu segeln und zu dampfen habt, wenn Ihr vom Westen nach dem Osten kommt, um Eure Seligkeit hier auszubreiten! Nur Menschen können Christen werden. Wer trotz aller seiner äußeren Kultur im Innern doch noch Anthro-Bestie ist, der bleibe ja daheim, denn es würde ihm ergehen, wie es morgen den Fan-Fan ergehen wird: Er macht sich lächerlich; er blamiert und schädigt seine eigene Rasse, sein eigenes Vaterland und seine eigene Religion, das herrliche, das ewig unvergleichliche Christentum!«

Nun wendete er sich mir und der Kapelle wieder zu und sagte unter einem so rührend glücklichen Lächeln:

»Wie habe ich dies mein kleines Bethaus lieb, so lieb! Es ist die Pforte zu meinem großen, großen, unsichtbaren Gotteshaus, dessen Dach sich wölbt, so weit mein altes Auge reicht, und dessen Säulen ragen allüberall , wo ich ein Herz gezeigt und dafür mir ein anderes gewonnen habe. Hier begann ich, über die Gottmenschheit Christi eigentlich erst richtig nachzudenken. Er kam zu uns und ging, um uns ein Beispiel dazulassen. Wir sollen sein wie er, an Liebe, Demut und Erbarmen reich, und stark, wie er es war, an Wundertaten. Genau dieselben Wunder, die er als Gott verrichtete, sind uns ermöglicht durch die Menschlichkeit, die uns das Göttliche im Menschen zeigt und deutet. Hierbei muß ich Euch sagen: Während Ihr beim Essen saßet, war Euer Diener hier, Sejjid Omar, der Muselmann. Was für ein Mensch ist das! An ihm ist auch ein Wunder geschehen – – – durch die Menschlichkeit! Er gibt seinen Kuran und seinen Mohammed gewiß niemals her, aber wie er seinen »Jesus, Mariens Sohn,« verehrt, so weit hinauf reicht ihm sogar der Islam nicht.«

»Ihr habt also bereits mit ihm gesprochen?« fragte ich.

»Jawohl. Fast eine ganze Stunde. Und ihn schnell liebgewonnen! Er hat eine so eigene Weise, die aber überzeugt, obgleich man aufpassen muß, ihn zu verstehen. Er sprang mitten in einer Erklärung auf, die ich ihm zu geben hatte, und bat mich, still zu sein, denn es sei ihm da ein Gedanke gekommen, über den er sofort nachdenken müsse, um ihn seinem Sihdi zu sagen. Damit rannte er in großer Eile fort.«

»So ist er,« nickte ich. »Die Folgen dieses seines Nachdenkens werden mir auf keinen Fall erlassen bleiben.«

Indem ich dieses sagte, hatte ich wohl recht. Denn als ich dann hinab ins Castle kam, hockte er in meinem Zimmer vor dem aufgeschlagenen Koffer, denn die Bagage war soeben angekommen, sprang aber, sobald ich eintrat, auf und sagte:

»Ich habe es, Sihdi!«

»Was?« fragte ich.

»Das wirst du gleich hören! Also, ich habe sie zusammengezählt, den Christen, den Moslem und den Heiden. Das kam mir in den Sinn; als ich mit Reverend Heartman sprach; da lief ich fort. Ich hätte aber auch sitzen bleiben können, denn das Nachdenken ging viel schneller, als ich dachte; dann war ich sogleich fertig!«

»Nun? Was kam heraus?«

»Entweder gibt es gar keine Christen und gar keine Heiden, sondern bloß Menschen. Oder es gibt entweder nur Christen oder nur Heiden, die aber auch alle Menschen sind. Also, ob es Nichts gibt, oder ob es Alles gibt, Menschen gibt es auf jeden Fall!«

»So!« lachte ich. »Daß es Menschen gibt, und zwar auf jeden Fall, das wußte ich beinahe auch!«

»Ja, aber nicht so, wie ich es meine!« behauptete er. »Ich bitte dich, mich anzuhören, aber nicht dazu zu lachen; das macht mich irr! Du hast mich die Worte von Isa Ben Marryam gelehrt, daß wir Gott lieben sollen, das ist das erste und das vornehmste Gebot, und daß wir unsern Nächsten lieben sollen, das ist diesem ersten Gebot ganz gleich. War diese Liebe zu Gott und zu dem Nächsten schon vor dem Erlöser da oder nicht?«

»Es ist gewiß, daß es schon vor ihm Menschen gab, die Gott, und auch welche, die ihren Nächsten liebten.«

»Du sagst es, folglich ist es richtig! Und noch Eines: Wieviel Nächsten muß man lieben, um Christ zu sein?«

»Jedenfalls alle, ohne Ausnahme, auch die Feinde!«

»Ja. Wenn ich sie alle liebe, bin ich ein vollkommener Christ. Wenn ich nur Einen liebe oder nur einem einzigen Feinde Gutes tue, so bin ich auch ein Christ, allerdings nur für diesen Einen! Wenn der Heide auch nur einen einzigen Menschen liebt, einem einzigen Feinde verzeiht, so handelt er christlich. Und wenn der Christ nur einen einzigen Menschen haßt oder sich an einem einzigen Feinde rächt, so handelt er heidnisch. Es gibt keinen Menschen, der nicht wenigstens einmal liebt und nicht wenigstens einmal verzeiht. Und so hat es auch keinen Menschen gegeben und wird niemals einen geben, der nicht wenigstens einmal gehaßt und nicht wenigstens einmal seinem Zorn den Willen gelassen hat. Also die Menschen haben, schon gleich seit es welche gibt und bis auf den heutigen Tag, alle zusammen, ohne Ausnahme, bald christlich und bald heidnisch gehandelt. Sobald sie Gutes tun, sind sie alle zusammen Christen, und sobald sie Böses tun, sind sie alle zusammen Heiden. Isa Ben Marryam ist gekommen, um uns zu gewöhnen, niemals Böses zu tun, sondern immer nur Gutes. Das Böse kommt vom Teufel; das Gute kommt von Gott. Dazwischen steht der Mensch! Wer nichts als Gutes tut, der ist Gott. Wer nichts als Böses tut, der ist Teufel. Wer bald Böses und bald Gutes tut, der ist Mensch! Hierauf frage ich dich: Sind die Heiden Gottheiten oder Teufel? Keines von beiden! Was folgt hieraus? Daß sowohl die Christen als auch die Heiden bloß nur Menschen sind, die nichts Besseres tun können, als einander Gutes zu erweisen. Dadurch heben sie einander empor. Dadurch werden sie Gott immer ähnlicher. Das ist es, was Isa Ben Marryam wollte und was er lehrte. Dieses Streben, Gott zu lieben und sich ihm immer mehr zu nähern, indem man allen Menschen, sogar den Feinden, unausgesetzt nur Gutes erweist, ist die Religion, die er gründete, und die nach ihm genannt wird: Christentum! – – – So, das kommt heraus, wenn man einen Christen, einen Muhammedaner und einen Heiden zusammenrechnet und dann mit der Drei hineindividiert, nämlich ein Mensch. Und wieviel ist dieser Mensch wert? Das kommt ganz auf die Mischung an. Wenn ich dieses Exempel mache mit einem guten Heiden, einem guten Muhammedaner und einem schlechten Christen, so kommt noch ein Mensch heraus, der wenigstens zweimal besser ist als so ein Christ! Sihdi denke hierüber nach, ohne daß ich dich dabei störe! Ich gehe darum fort und lasse dich hier bei dem Koffer und bei allen diesen deinen Sachen stehen!«

Husch, war er schnell zur Tür hinaus, denn er glaubte, im höchsten Grade klug gesprochen zu haben. Ich wußte, daß er sofort zurückkehren und die unterbrochene Arbeit wiederaufnehmen werde, sobald ich das Zimmer verlassen habe. Darum ging ich fort, um mich bei Doktor Tsi nach Waller zu erkundigen. Fang war bei ihm. Sie waren in ausgezeichneter Stimmung, ihres Patienten wegen. Dieser hatte bald nach Mittag die Augen aufgeschlagen und war seitdem so munter gewesen, als ob er im ganzen Leben nicht wieder einschlafen wolle. Er las in dem früher so verpönten Buche »Am Jenseits«, und wenn er der Augen wegen eine Pause machen mußte, bat er Mary, von da an, wo er aufgehört hatte, laut vorzulesen. Er hatte den Vorsatz ausgesprochen, die Augen nicht eher wieder zu schließen, als bis dieses Buch zu Ende gelesen sei, und so kam es, daß Mary uns Andern sagen und sich entschuldigen ließ, sie könne nicht beim Abendessen erscheinen. Wir hatten ein längeres Gespräch über diesen, uns vorliegenden Fall, und ich fand da wieder einmal Gelegenheit, den Umfang des geistigen Besitzes dieser beiden Männer und die Klarheit ihrer Einsicht zu bewundern. Das Feld, auf dem wir uns bewegten, war die Psychologie, und wenn ich sage, daß sie die Begriffe Geist und Seele scharf zu definieren und den Unterschied zwischen beiden ganz genau anzugeben wußten, so brauche ich nur noch hinzufügen, daß sie auch den Mut und die Energie besaßen, aus diesen Ueberzeugungen und Kenntnissen die ganz natürlich sich ergebenden Konsequenzen zu ziehen.

Bei Tafel fehlten dann nicht nur Waller und Mary, sondern auch Fu, welcher telefonisch nach Ocama zurückgerufen worden war, weil der Kapitän des Opiumschiffes aus Binh-Dinh sich wieder eingefunden hatte und für morgen gewisse Vorbereitungen zu treffen begann, welche den Hafenmeister zwangen, ihn und seine Bewaffneten einzusperren. Dilke war nicht mit dabeigewesen. Uebrigens, hätte es sich nur um den verpönten Opiumhandel und nicht zugleich auch um einen Gewaltstreich nebenbei gehandelt, so wäre der Pu-Schang an sich Manns genug gewesen, »Seine Exzellenz, den Europäer« vorausgesagter Weise aus dem Hafen schaffen und draußen verbrennen zu lassen.

Unser Kreis am Tisch war nicht sehr groß. Rechts von mir saß Pfarrer Heartman, links der Oekonom von Raffley-Castle, ein hochgebildeter Chinese, der seine Studien in England, Frankreich und Italien gemacht hatte und sich wiederholt bei mir entschuldigte, daß er nicht auch in Deutschland gewesen sei. Mir gegenüber saß Yin.

Man wird sich erinnern, daß ich auf Sumatra zum Governor sagte: »Dieses Porträt der Yin ist ein Rätsel, ein neues, ein schönes, ein entzückendes Rätsel, an dessen Lösung ich mein Leben setzen würde, wenn ich Maler wäre!« Nun hatte ich das Original des Bildes gerade vor meinen Augen. Wie stand es um das Rätsel? War es noch da? Verdichtete es sich? Oder begann es bereits, sich aufzulösen? Ich will da einmal sehr wichtig tun und den Geheimnisvollen spielen. Bekanntlich ist dem Schriftsteller viel, sehr viel erlaubt; ich aber gehe noch weit über dies hinaus und erlaube mir etwas, was sich noch keiner dieser Herren je gestattet hat, nämlich – – zu schweigen! Ich beschreibe unsere Yin auch heut noch nicht und jedenfalls auch morgen und übermorgen nicht! Und ich habe ein Recht dazu, denn alle meine bisherigen Reiseerzählungen sind nur Vorstudien, Uebungen und Skizzen, bei denen ich lang oder kurz, breit oder schmal sein kann, ganz wie es mir beliebt. Ich habe ja bereits gesagt, daß ich kein Künstler bin, und fühle mich also frei von jedem Zwang, unter dem – – – bald hatte ich gesagt: Die Kunst zu seufzen hat. Als ob die wahre Kunst, der wahre Künstler irgend einem Zwange zu gehorchen hätte! Im Gegenteile, die Kunst ist die Bezwingende; sie macht sich alles, alles untertan!

Ich saß ihr heut gegenüber, ihrer schönsten, ihrer überzeugendsten Personifikation – – unserer Yin. Aber man glaube ja nicht, daß sie viel erzählt und viel erklärt und überhaupt viel gesprochen habe! Und man glaube auch nicht, daß ich erzählen werde, wovon wir uns unterhielten! Ich hoffe, nun bald über die Zeit der Vorübungen und Studien hinaus zu sein. Und ich hoffe, daß meine Leser mit mir bis hierher gegangen sind, wo sie mich nun wohl begreifen oder doch wenigstens begreifen wollen. Dann hören wir mit diesen Etuden und Vorarbeiten auf und gehen an das eigentliche Werk. Die Leinwand wartet ja schon längst darauf. Und Yin, die einzig wahre Kunst, wird uns den Stift, wird uns den Pinsel führen! Sie hat es mir an diesem Abend versprochen, und ich weiß, sie hält ihr Wort!

Wir saßen da wohl bis Mitternacht beisammen. Da wurde John an den Fernsprecher gerufen, um von Fu eine Meldung zu empfangen. Er führte uns dann hinaus auf den Söller und zeigte uns ein Licht, welches weit, weit draußen am östlichen Himmel glühte, fast wie ein Stern, der aber flackerte. Es brannte ein Schiff auf der Reede von Ocama.

»Das ist »Seine Exzellenz, der Europäer«, dem es an das Leben geht,« erklärte er. »Fu meinte, daß er wohl kurzen Prozeß mit ihm machen werde, und das ist nun geschehen. Eine Warnung für die Fan-Fan! Wir können unbesorgt zur Ruhe gehen.«

Ich war am andern Morgen soeben aufgestanden, da klopfte es an meine Tür.

»Wer ist's?« fragte ich.

»Ich, dein Sejjid Omar. Kann ich hinein?«

»Ja; es ist offen.«

Er war ganz atemlos, als er eintrat.

»Sihdi, weißt du, was heut ist?« fragte er.

»Dienstag,« antwortete ich.

»Nein, sondern Revolution! Du siehst, daß ich es besser weiß! Das macht, weil ich so gut chinesisch reden kann; ich gattere alles aus! Die ganzen Diener, die es hier gibt, wollen von mir arabisch lernen, weil sie sich nicht so gut chinesisch mit mir ausdrücken können, und da erzählen sie mir alles, was geschieht. Diese Revolution ist aber eine, bei welcher nicht geschossen wird, auch nicht gehauen oder gestochen, sondern es wird nur gelacht, weiter nichts, weiter gar nichts. Begreifst du das?«

»Ja.«

»Was? Das begreifst du?« fragte er verwundert. »Ich habe es nicht begriffen. Bei einer Rebellion muß man doch alles totschlagen! Den Vizekönig, die Pascha's, die Generäle und ganz besonders Jedermann, der im Ministerium ist. Das weiß ich von Aegypten aus, wo sie so gemacht würde, wenn eine wäre. Aber es gibt keine. In Stambul machen sie bloß den Sultan tot; das ist dann eine! Aber hier kommen sie über die Grenze herüber, um große Reden zu halten. Sie werden zum Essen eingeladen und bekommen viel, sehr viel Samschu zu trinken. Das ist ein starker Schnaps, von dem sie einschlafen. Das ist dann eine! Und wir sitzen dabei und lachen! Glaubst du wirklich, daß das eine ist?«

»Ja. Es ist sogar eine sehr vernünftige.«

»Gut, so sehen wir sie uns an! Ich soll dich nämlich bitten, zum Frühstück zu kommen. Dann reiten wir nach Shen-Fu.«

»Wer hat das gesagt?«

»John Raffley. Ich habe dir bereits mitgeteilt, daß er dort Bürgermeister ist. Er muß hin und läßt dich bitten, ihn zu begleiten. Ich darf auch mit. Ich werde nicht den Fes aufsetzen, sondern einen Turban machen, denn das schickt sich bei einer Rebellion. Die Arekanuß und die Betelnuß, die stecke ich vorn, ganz oben, fest. Man solt sehen, daß ich schon zur »Shen« gehöre. Gegen die kommt kein Empörer auf!«

Selbstverständlich ging ich zu John, der mich mit der Nachricht empfing, daß die Aufschiebung des heutigen Festes wahrscheinlich zurückgenommen werden müsse, weil die Anhänger der »Shen« nicht gewilligt seien, sich die Freude durch ein paar hundert Rebellen verderben zu lassen. Er fuhr fort:

»Es gehen aus allen Orten Bitten bei mir ein, jedenfalls auch bei Fu, und ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht vielleicht besser – – –«

Er hielt inne, denn er wurde unterbrochen. Fu, der soeben Genannte, rief ihn an den Apparat, welcher sich in einem andern Zimmer befand. Da wurde er längere Zeit festgehalten, weil er das, was ihm jetzt von Ocama her gesagt wurde, an verschiedene andere Orte weiterzugeben hatte. Als er dann wiederkam, erfuhr ich, um was es sich handelte. Er war mit Fu einig geworden, den Festtag für heut doch bestehen zu lassen und diesen Entschluß überall hin kund zu geben. Das ging per Draht sehr schnell. Von jetzt an in zwei Stunden hatten wir im Einkehrhaus am Scheidewege mit ihm zusammenzutreffen, um von da aus nach Schen-Fu zu reiten, wo der Hauptort war, nach welchem Jedermann strebte.

Während wir hierüber sprachen, stellte sich Tsi bei uns ein, um sich nach den Dispositionen für den heutigen Tag zu erkundigen. Als er von John unterrichtet worden war, gab er denen, die sich nicht stören lassen wollten, vollständig recht, bet uns aber, auf ihn zu verzichten. Waller sei heut früh zum ersten Male gleich mit vollem Bewußtsein aufgewacht. Es scheine äußerlich sowie auch innerlich ein voller, heller Sonnentag werden zu wollen, und so fühle er als Arzt sich verpflichtet, dafür zu sorgen, daß dieser so lange herbeigesehnte Himmel durch nichts getrübt werden könne. Heut falle die Entscheidung für die ganze Zeit, die Waller noch zu leben habe. Vor allen Dingen sei zu verhüten, daß der alte, von ihm gewichene Geist wieder über ihn komme, der starre, blutleere Geist der Wallerschen Familie, welcher den Inhalt einer alten, bigotten Hauspostille hoch über das herrliche Gotteswort der Bibel setze und die ganze Menschheit zwingen wolle, in den engen, harten, mit geistigem Fischtran eingeschmierten Wasserstiefeln einer vollständig unbekannten, schrullenhaften Sippe nach den erhabensten Zielen unseres gegenwärtigen Daseins wettzurennen!

Während er dieses sagte, war ihm anzusehen, daß ihm im Sprechen ein Gedanke kam. Er richtete sein Auge dabei auf mich, und dann auch seine Worte:

»Ich habe da einen Gedanken, der diesen Geist betrifft. Er ist nicht mehr da. Wo ist er hin? Wann wich er von Waller? Er wurde gezwungen, ihn zu verlassen; aber er tat dies nur widerwillig, nur nach und nach. Noch vorgestern bemerkte ich Spuren von ihm. Nun höre ich, daß ein Verwandter von Waller anwesend ist, ein Neffe von ihm, genau in demselben hartnäckigen, unduldsamen Geiste erzogen und mit sogar noch größerer Strenge dressiert, so daß er es nicht mehr aushalten konnte und seinen Peinigern davongelaufen ist. Diese Beiden, Onkel und Neffe, sind einander hier noch nicht begegnet, nämlich körperlich. Auf geistigem Gebiete liegt das jawohl ganz anders. Der Onkel wußte von der Anwesenheit des Neffen nichts; wir verschweigen sie ihm sogar noch jetzt. Der Neffe aber hörte von Eurem Sejjid Omar, daß sein Oheim sich auf Ocama befinde. Dieser Umstand ist mir im höchsten Grade wichtig. Wollte ich selbst den Sejjid fragen, so würde das seine Unbefangenheit stören. Darum bitte ich Euch, es Euch noch einmal erzählen zu lassen. Es kommt mir darauf an, zu erfahren, was für ein Gesicht und was für Bewegungen Dilke machte, als er von Waller hörte, und ob und was für Worte er dabei sagte. Nämlich, es ist ungefähr drei Uhr nachmittags gewesen, da ist Waller plötzlich aus tiefster Ruhe emporgefahren und hat gerufen, doch ohne die Augen zu öffnen: »Old Saint nennt er mich noch immer! Und kommen will er mir! Well, so werde ich ihm kommen, und Old Saint soll nicht wieder von ihm gehen!« Sein Neffe hat ihn nämlich gehaßt und gegen Andere stets nur als den »alten Heiligen« bezeichnet. Ist das nicht im höchsten Grade interessant?«

»Natürlich!« antwortete ich. »Sogar so interessant, daß ich frage, warum ich das erst jetzt erfahre!«

»Ich habe es ja auch nicht gewußt. Mary hat es für ein ganz gewöhnliches, bedeutungsloses Traum- oder Gedankenbild gehalten, wie so häufig, wenn er während seiner Krankheit sprach, ohne wach zu sein. Erst als ich ihr heut, vorhin, ganz dasselbe sagte, was ich Euch mitgeteilt habe, wurde sie aufmerksam und berichtete mir diese seine hochinteressanten Worte. Also bitte, fragt den Sejjid, aber laßt ihn so antworten, daß er keine eigenen Gedanken beimischt!«

»Werde es tun,« versprach ich. »Liest Waller noch?«

»Ja. Gestern wurde er mit »Am Jenseits« fertig. Ihr könnt gar nicht ahnen, was Eure Beschreibung der Todesstunde für einen Eindruck auf ihn hervorgebracht hat! Heut will er die hervorragenden Stellen des Buches zum zweiten Male lesen. Auch will er bitten lassen, Yins Paradies sehen zu dürfen. Fing hat nichts dagegen, daß ich ihn in die Gemäldehalle tragen lasse. Er hat seit gestern einen förmlichen Riesensprung zur Besserung getan. Wenn das so fortgeht, hoffe ich, ihn schon nach kurzer Zeit vom Bette trennen zu können. Uebrigens weiß er schon ebenso wie wir, daß Ihr der Verfasser seid, dessen Bücher er früher verboten hat.«

»Und nun? Was sagt er jetzt dazu?« fragte John.

»Es ist ganz eigentümlich, wie er sich hierüber hören läßt. Gestern abend, als der letzte Satz von »Am Jenseits« gelesen worden war, lag er lange Zeit in stillem Nachdenken. Dann sagte er zu Mary: »Mein Kind, ich bin sehr grausam gegen dich gewesen, indem ich dir verbot, aus diesem Brunnen zu trinken. Und du hattest doch so großen Durst! Ich hielt es für Brandy und Julep, und es war doch das reinste, das lauterste Wasser! Ich weiß, daß ich krank gewesen bin, lange Zeit. Es war Dysenterie mit fürchterlichem Verfall der Körperkräfte. Aber ich muß auch vorher nicht recht gesund gewesen sein, nämlich da, da, im Kopfe. Das scheint mir so! Denn wer solch eine Lektüre verbietet, der kennt sie entweder nicht, und dann handelt er unehrlich, oder sein Gehirn leidet an jener andern Art der geistigen Armut, welche selbst ein Christus niemals seligpreisen würde! Diese andere Art scheint mir allerdings sehr wohlbekannt zu sein; ich muß mich nur besinnen!« Das war es, was er sagte, und obgleich ich nicht der Verfasser dieser Bücher bin, hatte ich mich doch darüber zu freuen, weil es erwarten läßt, daß die innere Heilung ebenso wie die äußere vor sich gehen wird, ohne Rückstände zu hinterlassen. Was und wie er aber über Euer Gedicht denkt, das mag er Euch selbst sagen. Nun reitet fort, und grüßt mir meine »Shen«, für welche ich – – –«

»Für welche Ihr«, unterbrach ich ihn, »schon damals in Penang so viele Sitze in Eurer Wohnung hattet!«

»Ah, die vielen Stühle, die bei mir standen, sind Euch aufgefallen!« lachte er, »Ja, das war für die Beamten der »Shen«, die ich zu inspizieren hatte. Und da Ihr wißt, daß nicht nur ich, sondern auch mein Vater in Europa war, so brauche ich Euch wohl gar nicht erst zu versichern, daß es auch dort schon Orte gibt, wo Stühle für sie stehen.«

Er ging, und nach einiger Zeit ritt ich mit John, hinter uns der Sejjid, durch das Dorf und nach dem Spießtannenwald hinüber. Zwischen dem Dorfe und der Schloßmeierei gab es ein erst seit heut früh gezimmertes, hoch aufstrebendes Gerüst, welches noch nicht fertig war. Als ich Raffley nach dem Zweck desselben fragte, sagte er:

»Können Sie sich ein chinesisches Fest ohne Feuerwerk denken? Bekanntlich sind die Chinesen Meister in allem, was die Pyrotechnik betrifft, und mein Oekonom hat es sich nicht nehmen lassen, für heut abend irgend etwas vorzubereiten. Was, das weiß ich selbst auch nicht.«

Hoch oben, auf der Kuppe, hinter der Kapelle, stand auch ein Gerüst und auf den Höhen rechts und links davon ebenso je eines. Man hatte also etwas vor, was weit in das Land hinaus gesehen werden sollte. Raffley-Castle war mit allen möglichen Errungenschaften der Neuzeit ausgestattet. Gas gab es nicht; es fehlten dazu die Kohlen. Dafür aber hatte man elektrisches Licht. Ein Wasserfall in der Nahe lieferte die hierzu nötige Kraft. Darum wunderte es mich nicht, als John im Laufe des Gespräches erwähnte, daß eine Illumination des ganzen Schlosses in Aussicht genommen sei.

Als wir das Einkehrhaus erreichten, war Fu noch nicht da; es dauerte aber nicht lange, bis er kam. Weil er sein Pferd ein wenig ruhen lassen wollte, ritten wir nicht sogleich weiter, sondern blieben ein Weilchen sitzen. Hierbei erzählte er, daß heute früh eine Dschunke von Ocama nach Schanghai unter Segel gegangen sei, und diese Gelegenheit habe er benutzt, sich des Kapitäns und der Mannschaft der verbrannten »Exzellenz« zu entledigen. Sie hätten sich zwar gegen diesen Zwang gesträubt, aber selbstverständlich doch gehorchen müssen. Der Kapitän hatte mit schwerer Rache, mit Anzeige bei der Regierung und mit der Klage auf Ersatz des Dampfers und der ganzen Ladung gedroht und hierbei die Bemerkung fallen lassen, daß er sich keineswegs in dieser Weise zu fügen brauchte, wenn Dilke nicht so verrückt gewesen wäre, ganz plötzlich den Kopf zu verlieren. Er habe doch bewiesen, daß er sich Leutnant nennen dürfe; woher da so ganz unvorbereitet die Behauptung, daß er nicht Offizier, sondern Missionar sei.

»Sonderbar!« sagte John. »Ist das nun bloß Geschwätz oder hat es wirklich Grund?«

Der Sejjid stand ganz in unserer Nahe bei den Pferden, mit denen er sich beschäftigte, und horte, was gesprochen wurde. Er war bescheiden, niemals zudringlich und wußte, daß er sich nicht in unsere Gespräche zu mischen habe. Hier aber hielt er das, was er wußte, doch für wichtig genug, ein Wort zu sagen:

»Es hat Grund. Ich weiß es auch. Es fallt mir soeben ein. Willst du es horen, Sihdi?«

»Ja. Was meinst du? Sprich!« antwortete ich.

»Das mit dem Kopf ist richtig, und das mit dem Offizier und mit Missionar auch. Und daran ist einer schuld, der Old Saint heißt.«

»Wieso?« fragte John da sehr schnell.

»Es war, als wir miteinander sprachen, nämlich Dilke und ich. Er wollte wissen, was wir seit Penang getan haben, und ich erzählte es ihm. Ich erwähnte auch Mr. Waller und Miß Mary. Da horchte er auf und fragte, ob das ein amerikanischer Missionar sei. »Ja,« sagte ich. »Und der ist hier in Ocama? Mit seiner Tochter?« erkundigte er sich. Ich nickte, und was er nun tat, das habe ich dir gar nicht mit erzählt, weil es so albern und so kindisch war. Er rief nämlich aus: »Old Saint – – Old Saint – – der Verrückte, der Missionar ist da! Mit Mary, der Vernünftigen! Wart, alter Bursche, dir komme ich, dir komme ich!« Kaum hatte er das gesagt, so fuhr er mit dem Kopf zurück, als ob er eine Ohrfeige bekommen habe, und griff sich mit beiden Händen nach dem Gesicht. Es dauerte längere Zeit, bis er die Hände wieder wegnahm, und da war er blaß wie eine Leiche. Er machte ganz sonderbare, dunkle Augen und sagte: »Ich soll nicht Offizier sein, sondern Missionar! Das ist verrückt! Unsinn! Laßt mich los!« Dabei sprang er auf, lief schnell hin und her und schlug mit den Armen in der Luft herum. Dann redete er wieder richtig mit mir, die ganze Zeit, bis ich eingesperrt wurde. Nur einige Male griff er sich an den Kopf und sagte dabei: »Wie das bohrt, wie das bohrt! Woher das nur kommt!« – Das ist es, Sihdi, was mir eingefallen ist, als ich Euch jetzt von seinem Kopfe sprechen hörte. Da dachte ich, daß ich es sagen müsse.«

Da sahen wir einander an, John und ich, und sagten Fu, was wir von Tsi über diesen »Old Saint« gehört hatten. Er war gar nicht verwundert hierüber und gab die auch nicht sehr betonte Bemerkung dazu:

»So also ist es über ihn gekommen, so! Er ist der Letzte dieser seiner Sippe, das Fazit der Familie. Was das für eine Ziffer sein wird, das kann man sich denken. Daß irgend Etwas mit ihm vorgegangen ist, das weiß ich übrigens auch schon von anderer Seite her, nämlich vom Ho-Schang des Tempel Ki. Dieser Mann hat mir eine ebenso große wie freudige Ueberraschung bereitet. Er hat nicht gewußt, daß wir den heutigen Feiertag fallen lassen wollten, und also angenommen, daß er unbedingt stattfindet. Und er hat nicht gewußt, daß der Herr von Raffley Castle von seiner Reise wieder heimgekehrt ist. Darum wendet er sich nur an mich. Es kam heute früh, sehr zeitig, ein Bote von ihm zu mir nach Ocama, nicht mit einem Briefe, sondern mit einer mündlichen Benachrichtigung. Du weißt, lieber John, daß wir fast gar nicht mit diesem Manne verkehrten, dessen geistliche Macht ihn zum Rivalen für uns machte. Wir glaubten, einen Feind in ihm zu haben, und er hat nie Etwas getan, die Richtigkeit dieser Annahme zu widerlegen. Das ist wohl auch der Grund, daß die Fan-Fan auf den Gedanken kommen konnten, sich in seinem Bezirk gegen uns zu versammeln. Nun läßt er mir heut sagen, daß er uns im Stillen beobachtet und sich sehr über uns gefreut habe. Er habe einen langen Bericht über uns nach Peking geschrieben und um die Erlaubnis gebeten, seine geistliche Provinz für unsere »Shen« öffnen zu dürfen. Es sei hierauf eine für uns sehr ehrenvoll klingende Antwort eingetroffen, und er bitte um die Erlaubnis, sie mir eigenhändig überreichen zu dürfen, heut, am Feiertag der »Shen«, in Shen-Fu, wohin er kurz nach Mittag kommen werde. Er bringe eine ganze, große Menge seiner »Heiden« mit, welche wünschen, bei uns aufgenommen zu werden, und bitte auch für seine eigene Person um Zulassung zur großen Bruderschaft der »Menschlichkeit«, von der er wünsche, daß alle, die auf Erden sind, ihr angehören möchten. Und durch denselben Boten teile er mir mit, daß eine Schar von Fan-Fan sich auf seinem Gebiete herumtreibe, um das unserige am heutigen Festtage zu überfallen und unsere Leute gegen uns aufzuwiegeln, Die Anstifter seien Europäer, die andern aber arme, verführte Chinesen, denen man nur die Augen zu öffnen brauche, um sie auf den rechten Weg zurückzubringen. Diese sollen wir ihm überlassen; die Abendländer aber werde er uns in die Hände führen oder sie durch List verschwinden lassen; wir sollen ihm nur vertrauen! Einer von ihnen habe sich zuerst als Offizier ausgegeben, dann aber als Missionar entpuppt. Der wolle in China sämtliche Heidentempel zerstören; für ihn könne man nicht stehen.«

»Das ist Dilke, unbedingt Dilke,« sagte John. »Des Onkels Geist ist auf den Neffen übergegangen. Sollte man es für möglich halten, daß dies so unvorbereitet, so überaus schnell geschehen kann!«

»Fragen wir nicht nach diesen Dingen,« antwortete Fu, »sondern bleiben wir beim körperlich Gegebenen. Es ist Zeit, von hier aufzubrechen, damit wir noch vor dem Ho-Schang nach Shen-Fu kommen.«

Es muß gesagt werden, daß wir nicht die einzigen Gäste waren, die sich hier an dieser Stelle befanden. Der ganze Garten hatte sich gefüllt; es war ein unausgesetztes Kommen und Gehen. Wir waren schon auf dem Wege nach hier immerwährend Leuten begegnet; von jetzt an fand dies in größerem Maße statt, bis die Straße so belebt wurde, daß es schien, als ob die ganze Bevölkerung unterwegs nach Shen-Fu sei.

Diese Stadt war eine Gartenstadt und nicht von einer Mauer umschlossen, wie es bei chinesischen Bezirksorten der Fall zu sein pflegt; sonst aber ganz chinesisch gebaut, nur mit mehr Platz für jedes Haus, mehr Luft und Licht für die Bewohner. Die Straßenfronten waren mit Vorgärten geschmückt, die Häuser mit Fahnen, Flaggen und allem Möglichen, was Farbe hat und in den Lüften flattert. Auf den Gassen wogten fröhliche Menschen hin und her. Alle Türen standen offen, nicht bloß für Freunde und nähere Bekannte, sondern für Jedermann. Es roch überall nach frischem Gebäck, nach Fleisch und Braten. Das ganze Land ringsum war kameradschaftlich und gastlich gestimmt, so recht und echt und ganz nach dem Herzen unserer »Shen«!

In der Mitte der Stadt, auf einem großen, freien Platze, stand ein sehr ansehnliches Gebäude, nach deutschem Begriff das Rathaus, die Bürgermeisterei. Dorthin ritten wir. Die Art und Weise, wie man uns von allen Seiten grüßte, bewies, wie hoch meine beiden Freunde in der Liebe und Achtung dieser braven Leute standen. Es gab einen Raum, die Pferde einzustellen. Mein Sejjid blieb unten; »weil ich so gut chinesisch kann«, sagte er. Wir Andern aber gingen eine Treppe hoch, wo die Verwaltungszimmer lagen. Dort wartete ein Bote des Ho-Schang. Er war vor kurzem eingetroffen, um mit Fu zu sprechen, und die Beamten Raffleys hatten ihn derart höflich empfangen, daß er sich sowohl geehrt als auch willkommen fühlen konnte. Er war, wie schon seine Kleidung erwies, ein Unterpriester des Ho-Schang, hatte ein intelligentes und wohlwollendes, sehr sympathisches Gesicht und machte seine Meldung, mit tiefer Verbeugung beginnend, in folgender Weise:

»Ich bin der Bote dessen, der das Volk über »Ki« belehrt, über den »Lebensodem«, aus dem man Gott erkennt in seiner Allmacht und in seiner Liebe. Er hat gesehen, daß auch Ihr dieser Liebe dient, nicht etwa in leeren Worten, sondern in allen Euren Taten und Werken. Darum wurde Euch von T'ien, dem Himmel, große Macht gegeben, die täglich wächst und Euch die Herzen zuführen wird aus allen Gegenden der ganzen Erde. Auch unser großer, weithin einflußreicher Ho-Schang wünscht, sich mit Euch zu vereinigen, um durch die Gott wohlgefälligen Werke der »Shen« dem Himmel und der Religion der Liebe zu dienen. Nur die Tat beweist, und die Tat, das ist die »Shen«! Darum kommt er heut gezogen, mit vielen, vielen Seelen, die er Euch bringen will, hierher, nach Shen-Fu, dem Ausgangspunkt Eurer Menschenfreundlichkeit . Aber er möchte auch noch weiter, nach jedem Schlosse, welches Ihr Raffley-Castle nennt, Dort soll der Ort des Paradieses abgebildet sein und auch der Weg, der durch die Hölle auf zum Himmel führt. Das möchte er gerne sehen und auch uns Andern allen zeigen.«

Als er hier eine Pause machte, nahm Fu das Wort, um in der verbindlichsten Weise zu sagen, was hierauf zu sagen war. Dann fuhr der Priester fort:

»Der erste Bote des Ho-Schang hat Euch bereits von jenen fremden, »westlichen Barbaren« mitgeteilt, von denen leider auch ich jetzt noch zu sprechen habe. Sie nahmen Besitz von unserem großen Tempel und dessen ganzer Umgebung, und wir vertrieben sie nicht, weil im Reiche der Mitte alle Gotteshäuser zugleich auch jedem Gaste, jedem Bedürftigen geöffnet sind. Sie sagten, daß sie Engländer seien; wir aber hielten sie für zusammengelaufene Leute aus allen christlichen Ländern. Sie schienen nämlich bloß anfangs einig zu sein; bald aber entzweiten sie sich. Es sind bei uns einige Leute, die in den östlichen Häfen waren und darum ein wenig Englisch verstehen. Die gaben wir den Fremden als Diener und erfuhren durch sie, was gut zu wissen war. Die Fan-Fan waren lauter Christen, aber fast ein Jeder von ihnen glaubte etwas Anderes, und ein Jeder behauptete, daß grad das, was er glaube, das Richtige sei. Auch warfen sie einander die Verschiedenheit ihrer Länder, ihrer Völker, ihrer Regierungen und ihrer Fürsten vor. Das war so überflüssig, so lächerlich, so unbegreiflich! Nur in einem waren sie einig, sie alle zusammen, nämlich über Euer Gebiet herzufallen und der »Shen« zu nehmen, was sie besitzt. Denn die »Shen« sei ihre größte Feindin; sie mache die Menschen liebreich gegeneinander, folglich zufrieden mit ihrem irdischen Los und greife dadurch ganz unerlaubt in die Rechte der besseren Stände ein. Zu ihnen gesellte sich Einer, den sie erwartet hatten. Er hieß Dilke und brachte eine Schar annamitischer Spitzbuben mit. Er hatte ein Schiff mit Waffen gebracht, die während der Feier des heutigen Festes geholt und verteilt werden sollten. Das erfuhren wir aber nicht sogleich, denn das chinesische Gefolge, welches sie durch ganz unerfüllbare Versprechungen an sich gelockt hatten, wußte selbst nicht genau, um was es sich eigentlich handle. Dieser Dilke ist ein eigentümlicher Mensch. Ich habe ihn Euch ausführlich zu beschreiben – – –«

»Wir kennen ihn bereits,« fiel John da ein.

»Ich danke dir! Da darf ich kürzer sein. Er fühlte sich innerlich krank und ging, ohne daß die Andern davon wußten, zu meinem Freunde, denn Tai-Fu, der mir erzählte, was er mit ihm gesprochen hatte. Dieser Dilke hat sich in Penang mit einem General überworfen und ist deshalb aus der englischen Armee getreten. Er ging nach Sumatra, nach Uleh-leh und Kota-Radscha, um sich den Holländern anzutragen, wurde aber von dem dortigen Mijnheer abgewiesen. Von da fuhr er mit seinen Begleitern nach Singapore und Saigon, wo sie alle engagiert wurden. Er wurde Superkargo eines Schiffes, welches »Seine Exzellenz, der Europäer« hieß, und hatte mit ihnen und noch Andern, die ihm vorausgingen, hier bei uns wieder zusammenzutreffen, um die »Shen« an ihrer Wurzel zu vernichten. Nun ist ihm aber in Sumatra Etwas mit seinem Kopfe passiert, doch was, das weiß ich nicht, auch nicht, ob in Uleh-leh oder in Kota-Radscha oben. Er behauptet, dort den Geist eines amerikanischen Missionars gesehen zu haben, der dort seinen Körper verscherzt und verloren habe und nun ihm immer folge, um sich bei ihm einzunisten. Da europäische Aerzte keine Mittel gegen das Nahen dieser Art von Wahnsinn haben, so komme er zu meinem Freunde, um ihn um Rat zu fragen.«

»Es kann ihm nicht geholfen werden!« unterbrach ihn John, und Fu nickte zustimmend.

»Ganz dasselbe hat ihm auch der Tai-Fu gesagt,« bestätigte der Priester, »und das scheint ihn außerordentlich aufgeregt zu haben. Er wurde zusehends immer mehr irre an sich selbst. Er behauptete schließlich, nicht Offizier, sondern Missionar zu sein. »Seine Exzellenz, der Europäer« gehe ihn gar nichts an; der sei nur auf weltlichen Gewinn bedacht; er aber habe die geistliche Macht im Auge und brauche die Flinten und Kanonen höchstens, um die Heidentempel nach und nach zu zerstören, die es in China gibt. Seine Annamiten bekamen Angst um das Gelingen des ganzen Planes; da jagte er sie fort. Sie hatten eine Besprechung mit den übrigen Europäern und verließen dann mit deren Bewilligung die Gegend, um nach Ocama zu gehen. Dilke aber blieb. Er behauptete, seine Aufgabe sei zunächst, beim Großen Feste der »Menschlichkeit« die ganze Stadt Shen-Fu zum Christentum zu bekehren, denn er habe eine Wette gemacht, die er gewinnen müsse. Ist das nicht sonderbar? Eine Wette!«

Ja, das war allerdings im höchsten Grade wunderbar. Ich sah John an und er mich auch, doch sagten wir nichts. Dilke konnte von der Wette, die sein Oheim gemacht hatte, ja gar nichts wissen! Der Chinese fuhr fort:

»Es wurde während der ganzen Nacht keinen Augenblick geschlafen, denn es hatte sich, ich weiß nicht wie und woher, das Gerücht verbreitet, daß das Fest gar nicht stattfinde, sondern untersagt worden sei, weil man in Ocama und auf Raffley-Castle von einer Revolution erfahren habe. Das machte ihnen Sorge; uns aber war das gleich. Unser Zug nach Shen-Fu war nicht nur beschlossen, sondern auch schon vorbereitet, und wir sahen keinen Grund, ihn aufzugeben. Wir bezweckten hierbei ja auch ein Zweites noch: die Auslieferung der »westlichen Barbaren« an Euch. Sie wußten, daß wir uns mit allen unsern Leuten ihrem Zuge anschließen würden, und freuten sich darüber. Sie ahnten nicht, daß wir sie Euch nur bringen wollten. So brachen wir am heutigen Morgen auf, hierher. Die Fan-Fan waren der besten Zuversicht. Da kam uns, als wir Euer Gebiet betreten hatten, die Nachricht entgegen, daß »Seine Exzellenz, der Europäer« mit seiner ganzen Ladung, also auch den Waffen Eurer Feinde, verbrannt worden sei. Das erregte bei den Europäern einen Schreck, der unsern Zug ganz plötzlich stocken machte. Sie mußten erkennen, daß ihre Absichten verraten seien. Sie traten sofort zu einer Konferenz zusammen, die außerordentlich stürmisch verlief, weil dabei ein Jeder sich mit Jedem überwarf. Sie zankten alle auf einander ein, genau so, wie es daheim die Ihren tun, und richteten ihre gesamte Wut sodann auf Dilke, der ihnen aber sagte, daß sie alle zusammen ganz verrückte Kerle seien; nur er allein habe Verstand. Er wisse besser wie sie, wie es hier stehe. Es sei ein Deutscher und ein Araber hier, die eine ganze Bande von europäischen »Zivilisatoren« die Treppe heruntergeworfen hätten, auch ein englischer Lord mit sämtlichen Matrosen seiner Jacht, ferner die Schloßsoldaten von Raffley-Castle, die alte, tapfre Bürgergarde von Ocama, sodann die Landwehr von Ki-tsching und endlich gar die vieltausend Streiter der großen »Shen«. Er sei ja in Ocama gewesen und wisse Alles. Es gebe gar keinen Zweifel, daß irgend Jemand den ganzen Plan verraten habe, und nun stelle man sich so außerordentlich zahlreich in Shen-Fu ein, daß man die paar Europäer in einem einzigen Augenblick erdrücken werde. Kein Hahn werde nach ihnen krähen; er allein habe nichts zu fürchten, denn er sei weder Empörer noch Offizier, sondern ein Mann des Friedens, ein Bote der Liebe, ein Missionar, der weiter nichts verlange, als nur die Zerstörung der paar Heidentempel, die es im Lande China gibt. Das sei ganz im Gegenteil eine Forderung, durch deren Erfüllung er das Reich der Mitte nicht nur hier glücklich, sondern auch dort selig machen werde! Während er diese Rede hielt, brachen wir wieder auf und zogen weiter. Sie folgten uns dann zwar, aber mit immer größer werdender Sorge. Denn je weiter wir kamen, desto deutlicher war zu sehen, welch ein Strom von frohen, guten und dankbaren Menschen vor uns, neben uns und hinter uns demselben Ziele wie wir entgegenfloß. Da war mit einigen aufrührerischen Reden nichts getan! Wer da Etwas erreichen wollte, der mußte zu Tausenden und aber Tausenden kommen, und auch da stand Hundert gegen Eines, daß es mißlingen werde! Das waren die Gedanken, die man nicht von sich weisen konnte, und sie begannen bald zu wirken – – – auf die Europäer. Nämlich es wurden ihrer immer weniger. Bei jedem Male, daß ich nach ihnen zurückschaute, war ihre Zahl eine geringere geworden. Als ich dies unserm Ho-Schang sagte, lächelte er still vor sich hin und antwortete mir: »Ich wußte es! Das wird das Schicksal eines jeden Angriffes gegen die »Shen«, gegen dieses Land und seine Bewohner sein. Man wird sie in Ruhe lassen müssen! Es ist niemals rätlich, der Feind, sondern immer gut, der Freund eines Riesen zu sein! Ist das Abendland klug, so schützt es sich vor diesem Riesen, indem es ihm gewährt, was er begehrt: Neutralität für alle Zeiten!« So sagte er, und dann sandte er mich voraus zu Euch, um seine Ankunft anzumelden. Er läßt Euch um eine Erhöhung auf dem großen Platze Eurer Stadt bitten. Da will er sich hinaufstellen und das Gefolge jener Fan-Fan um sich versammeln, um zu ihnen zu sprechen. Er will sie über die Lüge belehren, der sie dienen sollten, und über die Wahrheit, die sie vernichten wollten, und ist überzeugt, daß sie sich ebenso schnell wie gern aus Gegnern in Freunde der »Shen« verwandeln lassen werden.«

»Er wünscht also eine Tribüne,« meinte Fu. »Die steht schon da, genau wie für diesen seinen Zweck gemacht. Da kann er sprechen. Vorher aber wünschen wir, ihn hier zu empfangen. Ich werde ihm die Obersten der Stadt entgegensenden. Du meinst also, daß keiner dieser Europäer sich noch bei ihm befindet?«

»Keiner! Sie sind alle so nach und nach aus dem Zug verschwunden. Niemand hat sich verabschiedet und für die genossene Gastlichkeit bedankt! Wer weiß, wo sie sich nun von neuem zusammenfinden werden, um sich über die Verschiedenheiten, Fehler und Gebrechen ihrer Religionen, Völker und Fürsten noch klarer zu werden, als sie es hier bei uns gewesen sind! Wer derart gegen den Glauben, die Nationalität und das Regentengeschlecht seines christlichen Mitbruders spricht und agitiert, wie diese Leute es taten, der mag fortan verschwunden sein; es wird ihn Niemand suchen! Nur Einer ist geblieben, nämlich Dilke, der vollständig überzeugt ist, daß für ihn nicht die geringste Gefahr vorhanden sei. Er trägt sich ganz im Gegenteile so aufrecht und so stolz, als ob er erwarte, daß unser Einzug hier für ihn einen Triumph zu bedeuten habe. – – Nun bitte ich, mich zu entlassen! Ich muß zu meinem Ho-Schang zurück, um ihm zu melden, daß ich seine Botschaft an Euch ausgerichtet habe.«

Er wurde für einstweilen entlassen, mit der Bedeutung, daß er sich als unsern speziellen Gast zu betrachten habe und daß ebenso auch alle andern Unterpriester des Ho-Schang geladen seien, an unserm Mahle, welches vorbereitet werde, teilzunehmen.

Wir hatten von da aus, wo wir uns befanden, eine prächtige Aussicht über den großen, freien Platz und alle die vielen Menschen, die sich auf ihm bewegten. Eine Beschreibung des uns gebotenen Anblickes wäre wohl im höchsten Grade interessant, würde aber über den Rahmen einer altruistischen Studie, die sich mit Höherem zu beschäftigen hat, hinausgehen. Die vorhin von Fu erwähnte Tribüne stand in Hörweite von uns. Wir konnten also während der Rede des Ho-Schang Zuhörer sein, ohne das Lokal, in dem wir uns befanden, verlassen zu müssen.

Nach einiger Zeit war weithinschallende Musik zu hören. Man unterschied die Töne der Glöckchen, der Gongs, der Cymbeln, des Yünlo, Hautung, Lapa, der Paisiao, Titsu, Sona, Kuantsu, der Tschin und Si, der Pipa, Sansien und Yütschien, der Paipan, des Scheng, des Tamburin und anderer Instrumente. Das klang scharf durch die ganze Stadt und sagte uns, daß der Ho-Schang mit seinen Scharen komme. Voran kamen, wie wir später bemerkten, die verführten Leute der Fan-Fan, die angewiesen wurden, sich rund um die Tribüne aufzustellen, und hinter ihnen die geistlichen Untertanen des Priesters. Es waren ihrer so viele, daß der Platz nicht ausreichte; sie füllten außer ihn auch noch die Mündungen der anliegenden Gassen. Während sie sich verteilten, dauerte die Musik fort; dann aber hörte sie auf, und es trat eine Ruhe, eine Stille ein, die in einer europäischen Stadt bei einer solchen Menschenmenge ganz unmöglich gewesen wäre.

Der Ho-Schang saß in einer Sänfte, die in das Haus herein und bis an die Treppe getragen wurde. Da stieg er aus. Wir empfingen ihn an der obersten Stufe und führten ihn in den Saal. Das geschah natürlich ganz in der umständlichen, außerordentlich höflichen Art der Chinesen. Als er aber Platz genommen hatte, unterbrach er ganz unerwartet dieses Zeremoniell durch die Bitte, mit uns in kurzer europäischer Weise verkehren zu dürfen. Das sei weniger anstrengend und führe schneller zum Ziele. Ein sehr vernünftiger Herr!

Auch er war hoch betagt, von ehrwürdigstem Aussehen, doch außerordentlich einfach, anspruchslos. Kein einziges Abzeichen deutete auf seinen Rang; ja, er war sogar noch bescheidener gekleidet als seine Unterpriester, die jetzt noch nicht mit heraufgekommen waren. Sie standen unten an der Tribüne, jeder mit einem Mu-Yü, das ist »hölzerner Fisch«, in der Hand. Dieser hohle, hölzerne Fisch ist ein Musikinstrument und wird fast nur von den Geistlichen gebraucht, für ihre besonderen Zwecke. Warum die »Fische« jetzt da unten an der Tribüne in Bereitschaft gehalten wurden, das sollten wir baldigst erfahren.

Nämlich, eben als wir hier oben bei uns die Formalitäten beendet hatten und nun auf das Hauptthema der Unterhaltung eingehen wollten, ertönte drunten oder draußen auf dem Platze eine sehr laute, weithin schallende Männerstimme. Aber schon nach den ersten Sätzen gaben die Unterpriester mit ihren Mu-Yü's das Zeichen, und sofort ließ sich eine solche Menge von Sona's und Kuantsu's hören, daß ich entsetzt von meinem Stuhle aufsprang und nach dem Fenster eilen wollte. Die beiden genannten Instrumente haben nämlich so fürchterlich quiekende und für einen Europäer geradezu entsetzliche Töne, daß es förmlich schmerzt, sie hören zu müssen. Der Ho-Schang veranlaßte mich aber durch eine beruhigende Handbewegung, mich wieder niederzusetzen, und sagte, indem ein schalkhaftes Lächeln um seine Lippen spielte:

»Das geschieht auf meinen Befehl. Dilke beabsichtigt, heut alle Menschen hier zu Christen zu machen. Er will mehrere große Reden halten, bis die Bewohner von Shen-Fu so für ihn begeistert sind, daß sie ihre Heidentempel ganz von selbst verbrennen und zerstören! Als ich die Tribüne sah, ahnte ich, daß er sie schleunigst benutzen werde. Nun wird er so lange, bis er aufhört, von dem Lärm der schärfsten Instrumente unterbrochen. Man könnte ihn auf andere Weise viel schneller, ja sofort zum Schweigen bringen, aber wer sich so große Muhe gibt, lächerlich zu erscheinen, dem soll man es gestatten und ihn ja nicht ernsthaft nehmen! Horcht; er beginnt von Neuem!«

Ja, so war es: Sobald die kleinen, schrillen, spitztönigen Instrumente schwiegen, erhob Dilke seine Stimme wieder. Die priesterlichen Mu-Yü's gaben augenblicklich das Zeichen abermals, und der gräßliche Lärm der Sona's und Kuantsu's erscholl in einer zweiten, außerordentlich verstärkten Auflage. So ging der Kampf noch eine Weile fort. Bald war Dilkes Stimme und bald der Spektakel zu hören. Dadurch wurde ein Gespräch für uns zur Unmöglichkeit. Ich ging nun doch zum Fenster, und da John Raffley mir folgte, so kam dann Fu und später selbst auch der Ho-Schang mir nach.

Ganz selbstverständlich strengte sich Dilke vergeblich an. Er war so töricht, den Kampf in die Länge zu ziehen, anstatt ihn gleich bei der ersten oder doch zweiten Niederlage aufzugeben. Das bisher still gebliebene Publikum begann, sich dabei zu amüsieren. Man lachte zunächst hier und dort, dann überall, und endlich gab es ein einziges, großes, allgemeines Gelächter, bei dem der arme, beklagenswerte Mensch nun doch zu der Einsicht kam, daß er verloren habe. Er stieg von der Tribune herab und machte den Versuch, unter der Menge der vielen Menschen zu verschwinden. Er war übrigens in der chinesischen Sprache gar nicht so übel bewandert. Mary Waller sagte mir später, daß er ein sehr gut begabter Schüler gewesen sei und grad für diese Sprache eine besondere Vorliebe besessen habe. Jedenfalls verstehe und spreche er sie bedeutend besser als ihr Vater.

Da hörte ich den Ho-Schang hinter mir sagen:

»Das ist der richtige Augenblick für mich. Ich eile hinab, um die Verführten auf den rechten Weg zu bringen und die noch Unentschiedenen zu überzeugen!«

Er verließ den Saal. Da bemerkte ich, daß auch John nicht mehr da war. Schon wollte ich Fu fragen, wohin er sei, da kam er wieder. Er lachte fröhlich vor sich hin.

»Das war jedenfalls ein guter Gedanke, der mir kam, als ich die Pfeifen da unten so schreien, zetern und quieken hörte. Ich bin sofort hinab und habe dafür gesorgt, daß man ihm folgt, unaufhörlich, überallhin, wohin er sich wendet, immerfort, den ganzen Tag, so lange es nur möglich ist! Man hat ihn nicht aus den Augen zu lassen. Wenn Einer ermüdet, tritt der Andere ein; wir haben hier in Shen-Fu ja Musikanten mehr als genug. So oft dieser Dilke den Mund öffnet, um einen Bekehrungsversuch zu unternehmen, hat man ihn sofort zu unterbrechen. Was sagt Ihr dazu, Charley?«

Die Antwort wurde mir erspart. Ich hätte wohl nicht grad das gesagt, was er erwartete; da aber erklang von der Tribüne die Stimme des Ho-Schang, und wir wendeten uns den offenen Fenstern zu, damit keines seiner Worte verloren gehe.

Über die Rede selbst, die er hielt, will ich nichts sagen; aber daß er ein Sprecher war, und zwar was für einer! das zeigte der Erfolg. Es gab einen allgemeinen, zustimmenden Jubel, der gar nicht enden wollte. Und als er zu uns zurückgekehrt war, erschienen von allen Seiten Boten, Abgesandte und Deputationen bei uns, um Dank und Anerkennung auszusprechen und, was besonders Freude machte, den Beitritt ganzer Ortschaften oder Korporationen zu melden. Diese Besuche und Audienzen nahmen mehrere Stunden in Anspruch, so daß wir viel später zum Essen kamen, als es bestellt worden war. Für die Anmeldung einzelner oder kleinerer Trupps zur »Shen« war unten im Parterre ein besonderes Bureau angelegt worden. Da wurde ein Jeder eingeschrieben und erhielt dann als Erkennungszeichen eine Arekanuß mit dem betreffenden, eingegrabenen Worte. Schon am Nachmittage gab es in ganz Shen-Fu keinen Menschen mehr, der nicht durch eine irgendwie geformte Betelnuß bewies, daß er ein Kind der »Menschlichkeit«, ein Glied der großen, edlen »Shen« geworden sei.

Der »Shen-Ta-Shi«, der große Tag der »Shen«, fiel auf heut; damit ist aber nicht gesagt, daß dieses Fest mit heut zu Ende gehen sollte. O nein! Heut war der Anbeginn; es dauerte mehrere Tage, und das Ende konnte erst dann ersehen werden, wenn die vielen, auf den Plan gesetzten wichtigen Berichte und Verhandlungen vorüber waren. Die Auslandsreise unsers Fu hatte große, wenn auch noch nicht besprechbare Erfolge gehabt. Man war aufmerksam geworden. Man hatte sich vorgenommen, zu beachten, zu studieren. Da galt es, deutlicher zu werden, bestimmter aufzutreten, das bisherige Feld zu erweitern, den Ahnungslosen die Augen zu öffnen, Jahrtausend alte Vorurteile zu beleuchten und die guten Regungen der Gegenwart mit allem Nachdruck zu unterstützen. Kurz, es lag eine Arbeit vor, die hohe Kraft erforderte, aber auch einen Segen verhieß, der gar nicht zu ermessen war. Wenn ich so still dasaß und zuhörte, stieg das Bild der »Shen« immer größer, immer höher, immer edler, schöner und mächtiger in mir auf. Ich kam mir so klein vor, obgleich ich hier so deutlich sah, was selbst der Kleinste zu wirken vermag, wenn er für Großes sich begeistert!

Zum endlich beginnenden Festmahle waren alle die Personen geladen, welche man im Abendlande als die »Spitzen der Gesellschaft« von Shen-Fu bezeichnen würde. Wir hatten kaum zu essen begonnen, so drängte sich Jemand herein, der sich von der draußen stehenden Dienerschaft nicht zurückweisen ließ, sondern sie zur Seite schob. Das war Robert Waller, genannt Dilke! Ihm folgten auf dem Fuße fünf oder sechs Chinesen, welche Blasinstrumente in den Händen hatten. Er befand sich offenbar in großer Erregung. Sein Gesicht war wie verstört; sein Anzug hatte gelitten. Er trat mehrere Schritte vor und fragte, sich an uns alle wendend:

»Ich suche den Mandarinen erster Klasse und Ritter der gelben Flagge Ki Ti Weng. Welcher von Euch ist dieser Mann?«

»Ich bin es,« antwortete Fu sofort, fügte aber in strengem Tone hinzu: »Wer wagt es, mich hier zu stören, ohne zu mir befohlen worden zu sein?!«

Dilke hatte chinesisch gefragt und die Antwort also auch in dieser Sprache erhalten. Er behielt sie bei, während er weiter redete. Er sprach nicht fließend, aber deutlich, nicht richtig, aber verständlich, und wendete den nicht sehr großen Wortschatz, den er besaß, nach den Regeln seiner heimatlichen Grammatik an. Also, um ihn ganz begreifen zu können, mußte man der englischen Sprache mächtig sein. Er richtete sich bei den Worten Fu's hoch und stolz auf und antwortete:

»Wagen? Ich bin ein Mann Gottes, ein christlicher Missionar! Für mich kann es also nie ein Wagnis geben! Ich bin gekommen, Euch selig zu machen, indem ich Euch von Eurem Heidentum und seinen Götzentempeln befreie. Ich habe Euch zu belehren, mit Euch zu sprechen, zu Euch zu reden und zu predigen. Aber diese Eure Musikanten lassen mich nie zu Wort kommen. Wohin ich nur gehe, da gehen sie mit, durch die ganze Stadt, durch alle Gassen. Und wo ich nur stehen bleibe, da bleiben sie auch. Und sobald ich den Mund öffne, um zu sprechen, übertäuben sie mich mit dem höllischen Gequieke ihrer teuflischen Instrumente. Meine Nerven sind schon alle vollständig abgerissen; meine Ohren schmerzen, meine Seele zittert, und wenn ich das nur noch eine Stunde lang ertragen soll, so werde ich verrückt habe ich mich nach dem höchsten Mandarinen dieses Landes erkundigt, und bin gekommen, ihn über dieses unverschämte Verhalten seiner Bevölkerung zur Rede zu stellen. Ich bin nicht etwa ein hiesiger Mensch, sondern der Untertan einer fremden Macht und der Prediger einer fremden Religion. Als dieses Beides habe ich größere und unantastbarere Rechte als Jedermann, den ich hier vor mir sehe! Wer einem heidnischen Volke die einzig wahre Religion und die einzig wahre Bildung bringt, der muß befehlen dürfen; das ist es, was ich fordere. Und darum erkläre ich hiermit – – –«

Er kam nicht weiter. Die Musiker hielten ihre Augen auf John Raffley gerichtet. Dieser hob die Hand zum Zeichen, und sofort gab es einen Lärm, als ob zehn Schweinen die Ohren und fünfzig jungen Hunden die Schwänze abgeschnitten worden seien; so viele schändlich quiekende Stimmen schienen zu hören zu sein! Dilke fuhr mit beiden Händen nach den Ohren und machte eine ganz unbeschreibliche Grimasse. Er wartete aber doch, bis der Skandal vorüber war und fuhr dann fort:

»Ich erkläre also Folgendes: Wenn diese satanische Bande nicht auf der Stelle in Strafe genommen wird, so begebe ich mich sofort und direkt nach Raffley-Castle und – – –«

Hier fiel die Musik wieder ein, mit noch größerem Eifer als vorher. Da brüllte er vor Wut und Entsetzen so laut auf, daß dieser Schrei sogar die Instrumente übertönte, ballte die beiden Fäuste, warf uns eine Drohung zu, die wir aber nicht verstanden, drehte sich dann um und sprang zur Türe hinaus.

Zur Ehre aller Anwesenden muß ich sagen, daß kein Einziger unter ihnen war, der da lachte. Der Eindruck, den er da gemacht hatte, war ein ganz andrer als vorhin bei dem vergeblichen Redeversuch auf der Tribüne. Mir kam sein Verhalten nicht mehr lächerlich, sondern beinahe unheimlich vor, besonders wenn ich an die fast vollständige Gleichheit mit dem früheren Auftreten seines Oheims dachte.

Es wurde bereits gesagt, daß der Ho-Schang heut nicht nur nach Shen-Fu kommen, sondern auch Raffley-Castle sehen wollte. Das war leicht zu ermöglichen, obgleich voraussichtlich erst nach Abends Anfang von Shen-Fu aufgebrochen werden konnte. Die Straße war vortrefflich, und da der geistliche Herr die Einladung annahm, mit seinen Unterpriestern für die Nacht auf dem Schlosse zu bleiben, so gab es keine Verspätung, die als Hinderungsgrund hätte geltend gemacht werden können. John telefonierte heim, um das dort Nötige vorbereiten zu lassen, und gab sodann auch hier die zur Beleuchtung während des Rittes erforderlichen Befehle. Auf diese Weise erfuhr man, was geschehen sollte, und die Folge davon war, daß sich sowohl bei den Hiesigen als auch bei den Auswärtigen eine Bewegung geltend machte, die auf Raffley-Castle zielte. Ueber die Fan-Fan, die »westlichen Barbaren«, konnten wir nichts erfahren: sie blieben verschwunden. Was aber Dilke betraf, so wurde gemeldet, daß es ihm doch noch gelungen sei, seinen musikalischen Verfolgern zu entkommen. Er war ihnen ganz plötzlich so schnell davongelaufen und hatte dabei eine solche Ausdauer entwickelt, daß sie ganz außer Atem stehengeblieben waren und die Verfolgung aufgegeben hatten. Das war aber nicht hier in der Stadt geschehen, sondern draußen auf dem Lande, weit weg von hier, gegen das Einkehrhaus hin, wo die Straße sich nach Raffley-Castle teilt.

Der Tag hatte sich zur Rüste geneigt und dem Abend Platz gemacht, als wir soweit waren, den Heimritt beginnen zu können. Der Ho-Schang hatte auch um ein Pferd gebeten; das war bequemer als die enge Sänfte. Seine Unterpriester wünschten Maultiere; die waren ruhig und bedächtig. So brachen wir auf. Die Straße war belebt, fast wie am Tage. Viele faßten noch jetzt den Entschluß, nach Raffley-Castle zu gehen, weil sich das Gerücht verbreitet hatte, daß es dort eine große Illumination geben werde. Wir wurden von Läufern begleitet, welche Fackeln trugen. Andere liefen freiwillig nebenher, mit leuchtenden Laternen in jederlei Gestalt. Das gab ein hübsches, abendliches Bild für Alle, an denen wir vorüberkamen.

Am Einkehrhause wurden wir für einige Augenblicke angehalten. Fu bekam Meldungen, die für ihn hier abgegeben worden waren; dabei erzählte der Wirt, daß Einer von den Fan-Fan bei ihm gewesen sei und ihn aber nur gefragt habe, nach welcher Richtung und wie lange er zu gehen habe, um nach Raffley-Castle zu gelangen; weiter nichts. Das war Dilke gewesen, der also im Sinne hatte, seine Drohung wirklich auszuführen. Was aber wollte er dort? Wer droht, der beabsichtigt nichts Gutes. Ein klein wenig besorgt, wenigstens um Waller und seine Tochter, ritten wir weiter.

Es wurde schon einmal erwähnt, daß dieses Einkehrhaus im Walde lag. Als wir aus demselben in das freie Feld kamen, wo der Blick nicht mehr gefangengehalten wurde, ließ Fu anhalten.

»Wir haben dunklen Himmel, fast keinen einzigen Stern,« sagte er. »Ich habe durch den Wirt das Zeichen nach dem Schlosse geben lassen. Das Kreuz wird gleich erscheinen.«

Kaum hatte er diese Worte gesagt, so flammet es auf, nicht langsam, nach und nach, sondern ganz plötzlich, mit einem Male! Hoch und höher, wie eine plötzliche, ganz unerwartete Gotteswundertat, stand es am nächtlich düstern Firmament erleuchtend und erhebend – triumphierend! So weit es in unserer Nähe Menschen gab, erklangen die Rufe der Freude, des Entzückens. Da legte der Ho-Schang die Zügel über den Sattelknopf, faltete seine beiden Hände und sprach:

»Das kommt so wunderbar! Zwar vorbereitet, aber doch erstaunlich! Wie die Erfüllung eines Menschheitstraumes! Auch ich war Träumer – – träume vielleicht noch! Will es der Herr des Himmels, so werde ich erwachen, bei Euch, bei Euch, und seine Wahrheit, seine Klarheit sehn!«

Das ging uns durch und durch; leicht zu begreifen, bei dieser Situation!

Indem wir die Pferde wieder in Bewegung setzten, erschienen noch drei andere Lichtzeichen, über dem Kreuze und rechts und links von ihm. Diese entstanden nach und nach und wurden um so deutlicher, je weiter wir vorwärts kamen. Endlich erkannten wir sie als die chinesischen Schriftfiguren für Schin, Ti und Ho, die Humanität, die Bruderliebe und den Frieden. Das waren die Worte der »Shen«, die wir auf der Karte unseres Tsi in Kota Radscha gesehen hatten.

Wir ritten so, daß Fu und John den Ho-Schang zwischen sich hatten. Hinter ihnen kam ich mit den Unterpriestern, die sehr ernste, aber außerordentlich aufgeweckte, intelligente Leute waren. Und dann folgten die »Spitzen der chinesischen Gesellschaft«, mitten unter ihnen mein Sejjid Omar, der sich, soweit es ging, sehr lebhaft mit ihnen unterhielt. Er schien seine sprachlichen Erfahrungen heut ausgedehnt zu haben, denn ich hörte ihn in seiner Freude über die Gesellschaft, in der er sich befand, behaupten:

»Für Jedermann, der Mitglied unserer »Shen« geworden ist, gibt es nur drei wirkliche, richtige Sprachen, weiter keine, nämlich die arabische, die deutsche und die chinesische; die andern sind alle bloß nur Redensarten. Also ich kann sprechen; mein Sihdi kann sprechen, und Ihr könnt sprechen. Was die andern sagen, das ist mir ganz egal!«

»Und die englische?« fragte ich, indem ich mich nach ihm umwendete.

»Die fiel mir nicht gleich ein,« antwortete er. »Ich werde darüber nachdenken. Aber weil ich Miß Mary, den Governor und Sir John lieb habe, will ich einstweilen sagen: Sie ist zwar nicht bloß eine Redensart, aber doch weiter nichts als nur ein Dialekt. Nur wo man das ganze Volk lieb hat und nicht bloß Einzelne, da gibt es eine Sprache!«

Indem es ihm nicht möglich war, seinen Gedanken einen bestimmteren Ausdruck zu geben, ahnte er nicht, daß es eine unendlich wichtige Wahrheit war, an welche er mit diesen Worten streifte.

Immer das herrliche Kreuz vor uns, sahen wir trotz der sonstigen Dunkelheit nun bald rechts und links die gigantischen Gingkobäume stehen. Dann erreichten wir den Spießtannenwald, in dem es wieder dunkel wurde. Aber als wir aus ihm wieder in das Freie kamen, wurde es um so heller: Der ganze, weite Platz vor uns war ein einziges, ununterbrochenes Meer von Licht, von Flammenstrahlen. So Etwas hatte ich noch nie, noch nie gesehen, selbst nicht an jenem wohlbekannten lichten Abende im Thale meiner lieben DschamikunSiehe »Im Reiche des silbernen Löwen" v. Karl May Bd. IV., als das »verzauberte Gebet« im Scheine der Riesenflammen stand, die meine »Seele« angezündet hatte!

Erst nun, erst jetzt war das Kreuz zum Kruzifix geworden. Es schwebte nicht mehr in der Luft, sondern es stand, stand auf der Erde fest. Das Dorf war überaus künstlich beleuchtet und illuminiert. Das hohe, breite Gerüst, welches heut früh bei unserm Ausritt noch nicht fertig gewesen war, bildete jetzt das riesengroße Zeichen »Shen« und stand in einer weithin leuchtenden Flut von heiligem Feuer. Aus diesem flammenden Postament der »Menschlichkeit,« der christlichen Nächstenliebe, wuchs es empor, gewaltig himmelan, das Zeichen des Erlösers. Noch über seinem Scheitelpunkte, der Kapelle, leuchtete die »Humanität«, der »Friede« rechts, die »Bruderliebe« links an seinen beiden Armen. Das waren die drei andern Gerüste, welche wir schon früh da oben in der Höhe gesehen hatten.

Wie das wirkte – – –! Wie es das Herz erhob – – –! Und Tränen des Gebetes in die Augen trieb – – –! Rundum saßen, lagen und standen Tausende und Tausende von Menschen, dicht bis ganz zu uns heran, die wir noch ganz am Waldesrande hielten. Der Ho-Schang war tief, außerordentlich tief ergriffen. Er sah vor sich viele, viele seiner bisherigen Buddhisten und sprach mit laut erhobener Stimme:

»Herr, deine Sonne leuchtet uns am seligen Himmelstage; in dunkler Erdennacht strahlt uns die Liebe Derer, die unsre Brüder sind. Du hast sie uns gegeben, diese Liebe, damit wir in ihr wandeln bis zum Morgen, wo deine Sonne wiederkommen wird. So mach uns stark in ihr! Gib Kraft und guten Willen! Und gib auch das, was uns das Höchste ist hierzu im Himmel und auf Erden: Gib deinen Segen. Amen!«

Da kam ein Reiter langsam unter den nächsten Bäumen hervor. Es war Pfarrer Heartman, der hier auf uns gewartet hatte, um unsere Gäste, die in geistlicher Beziehung besonders die seinen waren, zu empfangen. Sein langes, silbernes Haar wallte weit auf dem Talar herab, den er heut Abend trug. Er lenkte sein Pferd bis hin zu dem Ho-Schang und sprach, indem er seinen Arm erhob:

»Er gibt ihn dir durch diese meine Hand und diese meine Worte: Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr erleuchte dir sein Angesicht und sei dir gnädig. Der Herr erhebe dich zu seinem Angesicht und gebe dir Frieden! Der Herr segne dich und all die Deinen, Euer Kommen und Euer Gehen, nun und in Ewigkeit. Amen!«

Und sich an seine Seite lenkend, bat er ihn:

»Gib mir deine Hand, daß ich dich leite! Wir sind ja Brüder. Ich führe dich empor am Stamm des Kreuzes; das ist der Weg zu Christi Paradies. Dort wirst du den Erlöser stehen sehen, an seiner Brust die »Shen«. Ja, komm; ich führe dich!«

Er setzte sich mit ihm an unsere Spitze, und so ritten wir nun zwischen den Wiesen und Feldern und durch das Dorf den breiten Serpentinenweg hinauf zum lichtstrahlenden Schlosse, an dessen Tor Tsi bereitstand, die neuen Gäste zu begrüßen. Ich ging so schnell wie möglich nach meiner Wohnung, denn ich hatte das Bedürfnis, zunächst für einige Zeit allein zu sein, um mit der Verarbeitung der heutigen, äußerlichen Eindrücke innerlich fertig zu werden. Ich hatte es mir aber kaum ein wenig bequem gemacht, so kam der Sejjid und sagte:

»Sihdi, ich habe ihn gesehen!«

Das war so seine Art und Weise, mir in das Haus zu fallen. Er nahm an, daß ich stets wisse, was er in Gedanken hatte.

»Wen?« fragte ich.

»Dilke.«

»Ah! Gesehen? Wo? Etwa hier?«

»Ja, hier.«

»Wann?«

»Unterwegs. Weißt du, der Weg geht von unten an immer herüber und hinüber, bis man oben angekommen ist. Wenn man zum dritten Mal herüberkommt, da stehen vier oder fünf dichte Bäume, die auf arabisch jedenfalls anders heißen als chinesisch; darum weiß ich beides nicht. Hinter diesen Bäumen saß Einer, den man nicht sehen sollte und der uns beobachtete.«

»Und du denkst, daß es Dilke war?«

»Ja.«

»Hast du ihn an irgend etwas erkannt?«

»Am Hut. Ich hätte es dir sogleich gesagt; aber es waren zu viel Reiter zwischen mir und dir, und er sollte doch auch nicht bemerken, daß ich ihn gesehen hatte. Darum komme ich jetzt, um es dir zu sagen.«

»Hm! Es ist möglich, daß du dich nicht irrst, Omar. Willst du mir den Gefallen tun, aufzupassen?«

»Natürlich sehr gern, Sihdi! Ich habe sogar schon daran gedacht, wie ich das mache. Ich schleiche mich nämlich wieder hinunter, aber bloß so weit, bis man zum vierten Male von unten herauf herüberkommt. Dort stehen noch mehr Bäume, die ich gar nicht kenne, und ich kann mich da also so gut verstecken, daß kein Mensch mich sieht. Wenn er dann kommt, so schleiche ich mich hinterher und melde es dir.«

Das war eigentlich nicht sehr pfiffig ausgedacht; aber soeben kam Tsi, der, wie es schien, es sehr eilig hatte, und so befahl ich dem Sejjid, daß er sich genau so verhalten solle, wie er es mir soeben vorgeschlagen habe. Als er hinaus war, sprach Tsi:

»Sir, ich habe Euch in aller Schnelligkeit dreierlei zu sagen, wovon das Eine immer wichtiger als das Andere ist!«

»Nun, was?« fragte ich, durch diese Einleitung wißbegierig gemacht.

»Ich weiß nicht, ob Ihr wißt, daß die Mutter und der Oheim unserer Yin nach Peking an den Kaiserhof berufen worden sind, um dort über unsere »Shen« befragt zu werden. Sie sind mit den vortrefflichsten Botschaften ausgestattet worden und haben sich beeilt, noch heut hier einzutreffen, um sie uns an dem Fest- und Ehrentag der »Menschlichkeit« zu überbringen. Das ist das Eine.«

»Wird man die Beiden heut noch sehen?« erkundigte ich mich.

»Ja; doch später; beim letzten Tee, nicht gleich beim Abendmahle. Sodann: Bitte, schaut mich an, ob ich vielleicht erröte!«

»Ich sehe nichts, gratuliere aber doch, und zwar von ganzem, ganzem Herzen!«

»Gratulieren? Wieso?«

»Nun, zur Verlobung!«

Da errötete er nun doch, schlug die Hände zusammen und rief:

»Erraten, wirklich erraten! Wie ist das möglich?«

»Hm! Es wäre sogar eine große Kunst gewesen, es nicht zu erraten! Sie erwarten doch nicht, daß ich viel schöne Worte sage, lieber Freund; Sie wissen, wie gut ich es meine!«

»Still, still! Je stiller Andere sind, desto lauter möchte ich jubeln. So ein Glück, so ein Glück! Da ich nun endlich weiß, wer Sie sind, so weiß ich auch, daß Sie mich verstehen. Millionen haben keine Ahnung davon, was es heißt, daß in der Ehe Geist und Seele sich vereinen sollen, um Geist und Seele zu befreien! Es war Alles so schön, so rein, so eigentümlich seltsam heut. Es kam im Sonnenglanz wie aus der höchsten Sternenwelt hernieder, jede Silbe, jedes Wort, und auch Alles, was geschah! Waller deklamierte Ihr ganzes Gedicht. Er kann sich nicht von ihm trennen. Es ist für ihn die Fahrt, die Leiter, mit deren Hilfe er sich aus dem Irrtum an die Wahrheit rettete. Noch ist er nicht ganz frei, doch hoffe ich, bis zur völligen Gesundung Alles fernhalten zu können, was ihn zurückzuwerfen vermöchte. Er sprach so viel von Ihnen, den er nun nicht nur achtet, sondern auch liebt. Dann fragte er, ob ein Geistlicher hier sei, und ich mußte ihm den Reverend Heartman holen. Wie dieser Mann auf ihn wirkte, kann ich kaum beschreiben. Diese innere und äußere Aehnlichkeit mit dem malajischen Priester brachte erst Schreck, dann Staunen und endlich ruhige Freude. Das Gespräch kam auch wieder auf das Paradies, und Waller bat, es sehen zu dürfen. Fang hatte nichts dagegen. So brachten wir ihn hinunter in die Halle, wo er sich noch befindet. Er sagt, er fühle sich ganz eigenartig wohl und könne sich von dem Anblick Christi nicht trennen, wie Yin ihn aufgefaßt und dargestellt habe.«

Er sprach sehr schnell, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Bald deutsch, bald englisch oder chinesisch. Das war das Glück! Indem er zum zweiten Male errötete, fuhr er fort:

»Er war so glücklich, so froh, so hoffnungsvoll, so lieb! Vor uns das ergreifende Bild vom Paradiese! Dieser Erlöser! Diese »Shen«! Und da begann er, zu uns zu sprechen, in gesenktem Tone, ruhig, warm, wenn auch noch nicht ganz klar. Es war zum Herzbrechen, und doch so gut, so gut. Wir weinten, erst Mary, dann auch ich, endlich alle drei. Wie kam es doch? Wir sanken uns in die Arme. Er küßte erst sie, dann mich, und gab uns seinen Segen. Hierauf schloß er die Augen, lächelte wie ein Seliger und schlief ein – – – im Paradiese! Durften wir ihn stören? Nein. Er liegt noch dort! Fang und Mary sind bei ihm~ Ich aber wurde abberufen, geholt. Es sei Jemand da, der mich sprechen wolle. Könnt Ihr erraten, wer es war?«

»Robert Waller, genannt Dilke?«

»Ja, dieser. Und das ist das Dritte, was ich Euch zu sagen habe. Ich mußte ihn abweisen, natürlich! Dieser Mann ist im höchsten Grade gefährlich; er darf um keinen Preis mit seinem Onkel zusammen! Ich war sehr kurz mit ihm, konnte ihn also nicht prüfen; aber mir scheint, er gehöre in die Beobachtungsstation eines Irrenhauses. Habt Ihr den Sejjid gefragt?«

»Ja; ich erfuhr Folgendes.«

Ich erzählte ihm, was wir heut früh im Einkehrhaus von Omar erfahren hatten. Da nickte er sehr ernst und sagte:

»Also wirklich – – –! Der Letzte seines Stammes – – – die Quersumme seiner Ahnen – – –! Drücken wir es einstweilen in dieser Weise aus; es ist aber noch viel anders! Wißt ihr, wovor wir stehen? Vor einem geistigen Geburts- und einem geistigen Todesfall. Sorgen wir dafür, daß die Geburt nicht auch eine Leiche ergibt!«

Das, was er mit diesen Worten meinte, war mir keineswegs unverständlich; darum warnte ich ihn vor Dilke, der noch anwesend sei, aber von dem Sejjid beobachtet werde.

»Beobachtet? Nur beobachtet? Das genügt mir nicht!« erklärte er. »Ich werde sofort das Nötige selbst veranstalten. Bitte, habt die Güte, an meiner Stelle nach dem Paradiese zu gehen und Fang zu veranlassen , daß Waller entfernt werde, aber so leise, daß er nicht erwacht. Der Ho-Schang hat gebeten, es mit seinen Priestern noch vor dem Abendessen sehen zu dürfen.«

Er ging, um seine Absicht auszuführen, und ich begab mich nach dem Gemäldesaal, den ich von einigen Bogenlampen erleuchtet fand, fast mehr als tageshell. Waller schlief nicht mehr; er war soeben aufgewacht. Fang war nicht da; er hatte sich entfernt, und ich konnte mich meines Auftrags an ihn also nicht entledigen.

Wie lieb der Kranke mich empfing! Ich mußte mich zu ihm setzen und ihm meine Hand geben. Er hielt sie lange, lange fest, ohne etwas zu sagen. Endlich mußte ich aber doch das Schweigen brechen und den Beiden sagen, daß Leute kommen würden, und wer sie seien.

»Ein Ho-Schang?« fragte er. »Mit seinen Unterpriestern? Also Heiden – – – Heiden!«

»Darf ich dich nach deinem Zimmer tragen lassen, Vater?« fragte Mary.

»Nein,« antwortete er. »Ich bleibe! Diese Heiden sollen mich hier auf meinem Posten finden! Ich kenne meine Pflicht!«

»Um Gottes Willen!« rief sie erschrocken aus. »Vater, laß dich erbitten, mir – – –«

»Sei still, mein Kind; sei ruhig!« unterbrach er sie. »Du hast nichts zu befürchten. Und wenn du glaubst, ich sei meiner Sache nicht gewiß, so erinnere mich nur schnell an deine Mutter! Das, was sie mir auf Erden war, werde mir zum guten Geiste, der mich schützt!«

Da kam Fang wieder. Er hatte nichts dagegen, daß Waller blieb. Und wenn ich die hellen Augen und das stille, glückliche Lächeln des Patienten sah, dachte auch ich, keine Sorge haben zu dürfen. Er lag, halb aufrecht sitzend, in einem leichten Feldbette, unter prächtigen, seidenen Decken. Die Vorhänge waren von beiden Bildern weggezogen. Jetzt aber erschien ein Diener, welcher sie wieder vor sie zog, weil die Herrschaften in einigen Augenblicken erscheinen würden, sagte er.

Und so war es allerdings. Es dauerte nicht lange, so traten sie herein, sie alle, alle, von Fu und John, den beiden Höchsten, an, bis herunter auf die letzten »Spitzen der hiesigen Gesellschaft«. Yin ging heut nicht nach hinten, um, wie bei mir, die Saiten erklingen zu lassen. Sie hatte andere Pflichten, die eine Chinesin sonst nicht zu haben pflegt; nämlich man höre und staune: die »Pflichten der Repräsentation«! Ich beeilte mich, Tsi mitzuteilen, warum Waller sich noch hier befand, und erfuhr sodann von ihm, daß weder der Sejjid noch Dilke zu finden gewesen seien. Das beunruhigte mich, doch war jetzt nichts zu machen. Ich setzte mich da, wo ich bisher gewesen war, nämlich an der Seite Wallers, wieder nieder. Dieser raunte mir zu:

»Der Reverend hat mir die Sage auch erzählt, die er wahrscheinlich jetzt nun vorzutragen hat, vom Lande Ti und für das erste Bild. Für das zweite möchte dann ich Etwas sagen. Bitte, sorgt dafür, daß man mich höre! Leider, leider spreche ich nur schlecht chinesisch, der beste Beweis, daß ich verrückt gewesen bin; aber wenn ich langsam sprechen darf und nicht in Müdigkeit versinke, so wird es mir vielleicht gelingen, trotzdem verstanden zu werden.«

Man war so rücksichtsvoll, den Kranken nicht zu belästigen; es war, als ob er nicht vorhanden sei. Er hatte ganz richtig vermutet: Pfarrer Heartman erzählte als Einleitungsrede die Sage aus dem Land Ti – ich bitte, sie nochmals durchzulesen – und gab sodann das Bild der einen Seite frei, die Darstellung des Sündenfalles, der Vertreibung des Menschengeistes und aller seiner Untertanen aus dem Paradiese. Es war still, man sagt »kirchenstill«, im ganzen, großen Raume. Niemand sprach ein Wort, kein Einziger; aber man sah diesen buddhistischen Priestern allen an, wie tief, wie außerordentlich tief sie von der gewaltigen Predigt ergriffen wurden, die sie hier nicht hörten, sondern sahen. Und ebenso groß war die Wirkung auf die übrigen Chinesen. Einen der Untergebenen des Ho-Schang hatte die unwiderstehliche Kraft dieser Kunst derart gepackt, daß er am ganzen Körper zitterte und es aber doch nicht vermochte, die Augen von dem Bild abzuwenden.

Während ich den aus dem Paradiese stürzenden Figuren mit meinem Blicke folgte, bis sie ganz draußen in der scheinbaren Ferne im schmutzig dichten Violett verschwanden, gewahrte ich, daß sich da hinten, zwischen den Bäumen der Orangerie, Etwas bewegte. Es gab jedenfalls einen Menschen dort, der aber so hinter den Zweigen stand, daß sein Körper nicht zu sehen war. Vielleicht waren es auch zwei. Ich dachte sogleich an Dilke, wies aber diesen Gedanken gleich wieder zurück. Warum sollte es grad dieser Mensch sein und nicht, was doch im höchsten Grade wahrscheinlich war, Jemand aus der Dienerschaft!

Jetzt ging der Reverend nach der Leitung, um auch das zweite Bild von dem Vorhange zu befreien. Waller bemerkte das. Er richtete sich schnell gerader auf und begann zu sprechen. Natürlich schauten alle Anwesenden sofort zu ihm her. Die Worte kamen ihm langsam, laut und vernehmlich, doch mit hörbarer Anstrengung von den Lippen. Man bemerkte deutlich, daß er zuweilen nach dem richtigen Ausdruck suchte:

»Und in demselben Lande Ti, doch unten in der Hölle, wo alle Menschen Teufel sind, konnte man noch eine andere Sage hören. Auch sie war viele tausend Jahre alt und lautete folgendermaßen: Als der Menschengeist aus dem Paradies gestoßen worden war, begann er, zu erkennen, wie töricht er gehandelt hatte. Er klagte sich an und jammerte, doch immer so, daß es kein Teufel hörte. Da trat die »Shen« im Traume zu ihm hin und sprach: »Die Reue ist der Engel der Gestürzten; er führt mich her zu dir. Einst kommt der Herr, mich wieder aufzuwecken und euch ins Paradies zurückzuführen. Dann seid ihr wieder Menschen, doch nicht schon Selige. Das Paradies der Erde ist nicht das Himmelreich des Welterlösers, doch hat das Letztere zum Ersteren zu kommen. Wann wird das sein?« Sie schwieg für einen Augenblick, erhob das Auge wie in weite Ferne und fuhr dann fort: »Wenn einst die Macht der »Menschlichkeit« im Herzen aller Welt so groß, so stark geworden ist, daß ein Christenpriester einen Heidenpriester segnen darf, ohne darob selbst verflucht zu werden, dann ist die Stunde da, in der das Paradies zum Himmelreiche wird, zum Reiche Gottes hier auf dieser Erde!« So sprach die »Shen«. Nun nehmt den Vorhang weg! Ihr sollt nicht nur das Paradies, nein, auch den Himmel sehen; denn jene ferne Stunde, von welcher meine Sage sprach, ist keine andere als die jetzige!«

Welch eine Lautlosigkeit im Saale jetzt! Nur von hinten her klang es wie ein Räuspern. Ich schaute hin. Da stand der Sejjid, hinter Pflanzen, und zwar so, als ob er von irgend Jemand nicht gesehen sein wolle. Er hatte sich aber dennoch geräuspert, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er bemerkte, daß ich zu ihm herschaute. Da deutete er nach der Seite und hob den Finger, um mich zu bitten, aufmerksam zu sein. Natürlich wußte ich sogleich, woran ich war; Dilke hatte sich viel eher in das Castle geschlichen, als wir vermutet hatten, und der Sejjid war ihm so heimlich gefolgt, daß weder der Eine noch der Andere von irgend Jemand gesehen worden war. Dem ersteren kam es darauf an, seinen Oheim zu entdecken. Er kam an der offenstehenden, hintern Tür des Gemäldesaales vorüber, schaute herein und sah ihn da sitzen, sogar mit seiner Tochter, der Cousine. Da schlich er sich im Schutze der Orangerie herein, um zu erfahren, was es hier gebe. Hinter ihm war der Sejjid hereingekommen, sehr leise, von ihm unbeachtet. Sie beide waren es, die ich schon vorhin bemerkt hatte, ohne zu wissen, wer sie seien.

Während ich diese Bemerkungen machte, ließ der Reverend den Vorhang sich von dem zweiten Gemälde entfernen, und Waller rief, sich an die Gruppe der Buddhisten wendend, dem Oberpriester zu:

»Komm her zu mir, Ho-Schang! Ich sage dir, daß ich ein Priester bin. Heut soll das Zeichen in Erfüllung gehen, das unsere »Shen« dem Menschengeiste sagte: Ich will dich segnen, ich, der Christ, den Heiden! Auf diesem Bild hier ist nur der Weg zum Paradies zu sehen; ich aber zeige euch das Himmelreich, das höher steht als alle Erdenparadiese. Ich wiederhole es: Komm her zu mir, Ho-Schang, daß ich dich segne!«

Der Angeredete kam auch wirklich näher, Schritt um Schritt, fast wie im Traume; denn was er hier sah und was er hier hörte, das war, als ob es irgendwo anders geschähe, nicht hier in diesem Leben.

»Ich bin bereits gesegnet,« sagte er.

»Von wem?« fragte Waller.

»Von Heartman, dem Reverend, vorhin, als er uns unten am Flammenbild der »Shen« begrüßte. Da segnete er mich wohl mehr als zu dreien Malen!«

»Also war das Himmelreich schon da, schon hier, noch ehe ich es wußte, und es ist mir darum leicht begreiflich, daß ich nun plötzlich benedeien will, wo ich, der frühere Eiferer, nur maledeien konnte. Doch immer komm! Ich segne dich trotzdem, nicht um etwas zu erfüllen, was schon erfüllt worden ist, sondern wegen – – – meiner selbst!«

Schon streckte er seine beiden Hände aus, da erklang von hinten her eine laute, zornige Stimme:

»Halt ein, Abtrünniger! Du willst segnen, wo Elias einst ohne alle Gnade schlachtete! Bist du toll – – –? Verrückt geworden – – –? Apostat – – –? Dann gehst du ein zur Hölle – – – unbedingt!«

Es war Dilke. Er schritt heran, hoch aufgerichtet, stolz, den Kopf im Nacken, mit zusammengekniffenen Lippen und funkelnden Drohaugen, wie Einer, der sich naht, um schreckliches Gericht zu halten! Ohne daß er es merkte, folgte ihm der Sejjid, der ihn nicht aus dem Auge ließ, um bei vorkommender Ursache schnell bei der Hand zu sein. Wie sah dieser Dilke aus! Genau wie das verkörperte Gegenteil von seinen hochtrabenden Worten! Er kam nicht ganz heran. Wohl über zehn Schritt von Waller entfernt, blieb er stehen und sagte, indem er eine verächtliche, wegwerfende Handbewegung machte:

»Da liegt es nun, das ganze, ganze Christentum der Wallerschen Familie! Eine Schande für Alle, die sich die Mühe gaben, es zu errichten, und dann im Stolz auf dies ihr Werk als Heilige sich in die Grube legten! Ich schaue hin und schäme mich des Namens, den ich trage. Dieses Angesicht, das hier vor mir – – – mir – – – mir – – –«

Das Wort erstarb ihm auf den Lippen, langsam, immer schwächer werdend. Von dem Hintergrunde des Saales aus hatte er seinen Oheim nur von weitem gesehen. Jetzt richtete er sein Auge aus der Nähe auf ihn, und da war es, als ob ihm bei diesem Anblicke die Sprache verloren gehen wolle und mit ihr noch vieles, vieles Andere. Sein Gesicht veränderte sich. Seine Augen wurden starr. Sein Mund öffnete sich, wie bei Jemand, der im Ohre taub ist und doch etwas hören will. Seine Hände fielen nach unten und spreizten die Finger aus – – – aber ich konnte ihn nicht weiter beobachten, weil nun Waller meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Tsi und Fang, die beiden Arzte, waren sofort zu ihrem Patienten herangetreten, als sie erkannten, daß ihm jetzt nun die befürchtete innere Aufregung nicht mehr erspart werden könne. Warum sahen sie beide so streng, fast wie unerbittlich aus? Warum hielt besonders Tsi beide Fäuste geballt? So entschlossen sieht nur Derjenige aus, dem ein Kampf auf Leben und Tod bevorsteht! Ich ahnte es. Es galt geistiges Leben und geistigen Tod! Und auch die Andern alle traten dem Eingedrungenen gegenüber zusammen, als ob sie deutlich fühlten, daß ihnen von ihm aus schwerer, innerlicher Schaden drohe.

Waller war vorher in guter Stimmung und ganz wohl gewesen. Dann hatte ihn jedenfalls das laute und längere Sprechen etwas angegriffen gehabt. Jetzt nun schien ein doppelter Einfluß über ihn zu kommen, ein stärkender und ein schwächender, einer, der ihn heben und einer, der ihn niederdrücken wollte. Sein Gesicht fiel plötzlich zusammen, so daß er aussah wie in den schlimmsten Tagen seiner Krankheit. Seine Augen wurden stier; sein Mund öffnete sich, und seine Hände und Finger spreizten sich genau wie bei Dilke. Aber mit kräftiger Stimme und in entschlossenem Tone sagte er:

»Ich muß mich aufrichten – – – ich muß stehen – – – selbst wenn ich wieder zusammenbrechen müßte – – –! Ich bin kein Waller mehr – – –! Haltet mich – – – ich bitte Euch!«

Ich warf einen fragenden Blick auf Fang und Tsi. Beide nickten zustimmend. Da nahm ich Waller unter den Armen, hob ihn vom Lager, stellte ihn aufrecht hin und lehnte ihn an mich fest. Mary schob schnell ihren Sitz heran und schlang ihre Arme ebenso um den Vater. So stand er aufrecht, ohne daß er fallen konnte; beide nun einander gegenüber.

Das war eine eigenartige, beängstigende, für den Psychologen freilich hochinteressante Situation! Der Eine hatte beinahe denselben Gesichtsausdruck wie der Andere. Das geistig Bewußte trat zurück, fast zusehendes, möchte ich sagen; die Sicherheit wich aus den Blicken, und die Stimme Wallers klang ungewiß und doch und doch auch energisch, als er jetzt in unterdrücktem Tone sagte:

»Es soll mich Jemand verlassen und will doch nicht! Ich werde schwächer – – –. Wer steht da drüben, wer? Ich fühle, daß ich es war – – – und dennoch bin ich hier!«

Und drüben sprach der Andere mit grinsendem Gesicht:

»Da nimmt er alle Kraft zusammen und wird doch nur von Andern aufgerafft! Aber wer – – – wer – – – wer ist – – – wer spricht – – – holla! Ich bin ja doch nicht er! Bin ich es etwa, der nun am Boden liegt, weil der da drüben aufgestanden ist?«

Das letztere hatte er laut, sehr laut gesagt. Da rief ihm Waller ebenso laut zu:

»Wer bist du? Sag es! Der Neffe oder der Oheim?«

Da antwortete Tsi schnell an des Gefragten Stelle, fest, bestimmt und scharf, jede Widerrede abschneidend:

»Beides ist er, Beides! Die beiden einzigen Waller, die es hier gibt, das ist er! Er allein!«

Als ich diese Worte hörte, ging es mir durch und durch. Ich hatte beinahe dasselbe Gefühl wie damals, als mein Hadschi Halef Omar bei den Dschamikun im Sterben lag und der Ustad die bereits fliehende Seele dadurch festhielt, daß er ihn, genau so laut, bestimmt und nachdrücklich wie hier, bei allen seinen Namen und auch nach seinem Titel nannteSiehe: »Im Reiche des silbernen Löwen« v. Karl May, Bd. III pag. 307.. Wie sonderbar! Hier in China ganz dieselbe Ansicht über Geist und Seele des Menschen wie damals dort in Persien.

Die Wirkung war eine sofortige. Drüben erscholl ein Schrei, und auch hüben erscholl ein Schrei. Dann starrten sie einander an, ohne Ausdruck in den Gesichtern und ohne Worte. Das war der Augenblick, der entscheidende, der fürchterliche, entsetzliche! Sie standen einander gegenüber, beide: der aus der geistigen Nacht Kommende und der in die geistige Nacht gehende! Konnten sie aneinander vorüber? War es möglich, den schon fast Geheilten wieder mit hinabzuzerren?

»Vater, lieber Vater,« bat Mary voller Angst, indem sie sich fest an ihn drückte. »Erlaubst du, daß ich Mutter rufe? Bleib hier; bleib hier!«

Da suchte seine Hand nach ihr. Sie ergriff sie und drückte sie in wiederholtem Kuß an ihre Lippen. Das erlöste ihn von den Augen seines Gegenübers. Er konnte den Blick von ihm losreißen und auf seine Tochter richten.

»Mein Kind, mein liebes, liebes Kind!« hauchte er, tief, tief Atem holend. »Das war grad noch zur rechten Zeit; ich hörte dich kaum mehr, so weit war ich schon fort, wieder fort, in die Heidentempel hinein. Schon hörte ich es wieder knistern und brennen. Da riefst du mich zurück, du Seele deiner Mutter! Ich bin wieder da, bei dir. Aber es packt mich Jemand an. Es ist wie eine Faust, die mir im Kopfe wühlt, um meine Gedanken, die richtig sind, mit falschen zu vertauschen! Ein fremder, und mir aber doch nur zu gut bekannter Geist!«

Er sprach die letzten Sätze lauter als die ersten. Dilke hörte sie und rief ihm zu:

»Ein Geist? Du Narr! Der Glaube ist es, der Glaube, den deine Ahnen dir hinterlassen haben, damit die Heidenwelt durch ihn bezwungen werde. Bist du ein Mann und hast du Mut, so bekenne ihn. Ich frage dich: Bist du ein Waller oder nicht? Leben oder Tod – – –? Seligkeit oder Verdammnis – – –? Wähle!«

»Ich bin ein Mann,« antwortete Waller. »Ich fürchte mich nicht – – nicht vor dir und will – – will – = will – – –«

Er wurde irr. Er vergaß, was er hatte sagen wollen. Das war der entscheidende Augenblick. Von drüben schauten zwei scharfe, stechende, diabolisch funkelnde Augen zu ihm herüber, die ihn wieder packen und fassen sollten, um ihn festzuhalten, fest! Da kam die Rettung: Tsi flüsterte ihm zu:

»Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein! Besinnt Euch Sir; besinnt Euch! Wißt Ihr es noch, wie das beginnt?«

»Ja – – ja – – ich weiß es – – weiß, weiß es noch! Eben, eben kommt es mir!« antwortete Waller, indem sein Gesicht wieder Seele, wieder Spur von Geist, wieder selbständigen Ausdruck bekam. »Der Anfang ist: Tragt Euer Evangelium hinaus!«

Da forderte ihn Tsi mit lauter Stimme auf:

»So werft es ihm doch hinüber! Schleudert ihm diesen Felsen zu, damit er ihn zerschmetterte!«

Da richtete Dilke sich so hoch wie möglich empor, breitete die Arme aus, ballte die Fäuste und schrie herüber:

»Ja, wirf, du Knirps, du Sklave deiner »Shen«, die nichts als quieken kann, wenn starke Geister sprechen! Wirf zu, wirf zu; dann aber faß ich dich!«

Da griff Waller mit der Linken nach der Hand seiner Tochter, breitete die Rechte aus, zum Zeichen, daß er sprechen werde, und begann:

»Tragt Euer Evangelium hinaus,
Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden,
Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus,
So stehe es für Euch im Völkerfrieden.
Gebt, was Ihr bringt, doch bringt nur Liebe mit;
Das Andre alles sei daheim geblieben.
Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt,
Will sie durch Euch nun ewig weiter lieben.«

Er hatte fast schüchtern und mit unsicherer Stimme begonnen, doch nach und nach klang es immer bestimmter und klarer. Und das war es ja, was Tsi bezweckte. Grad an der Hand dieser Strophen hatte Waller sich während seiner langen Krankheit aus der Tiefe emporgefunden, zwar langsam, langsam, aber doch. Jetzt, da er wieder sinken sollte, jäh und schnell, im Sturz, war Tsi überzeugt, daß sie sich abermals bewähren würden, vielleicht noch mehr und besser als in der Langsamkeit. Es war auch ganz eigen, was für eine Veränderung mit ihm vorging, während er diese acht Zeilen sprach. Er streckte sich; er schien höher zu werden. Er lag nicht mehr so schwer an meinem Körper, sondern er wurde leichter, von Zeile zu Zeile leichter, also kräftiger. Der Geist hatte sich nicht nur am Rande des Abgrundes festgehalten, sondern er nahm auch schnell die Herrschaft über den Körper zurück und verlieh ihm Kraft zum ferneren Widerstand.

Ganz anders war das Bild, welches sich da drüben ergab, wo der Gegner stand. Er hatte seine herausfordernde Pose nur bis zum Worte »Völkerfrieden« beibehalten. Bei den Worten »bringt nur Liebe mit« ließ er die ausgebreiteten Arme nieder. Die Gestalt sank zusammen. Die Gesichtszüge begannen sich zu verzerren. Und bei den letzten Worten »nun ewig weiter lieben« zog er die Schultern wie unter Schmerzen in die Höhe, fuhr sich mit den Händen nach den Ohren und rief:

»Lieben, lieben, lieben und nur immer lieben! Das ist ja eben die »Shen«, die »Shen«, die »Shen«! Ich höre sie schon von Weitem, die Pfeifen, diese verdammten, verdammten Pfeifen! Verflucht sei dieses Gequieke, dieses ewige, unendliche Gequieke von Liebe, von Liebe, von Liebe! Wenn das hier wieder beginnt und so weitergeht wie bisher, so mache ich es wie der Teufel dort auf dem Bild: Ich stürze mich in den Abgrund und nehme meine »Hen« mit mir! Dann mögt Ihr Euch lieben, solange Ihr wollt, meinetwegen in Ewigkeit; ich aber habe dann meine Ruhe!«

Er faßte sich an der Brust und zerrte da am Gewande herum, als ob er sich selbst zerreißen wolle; aber Waller begann nun wieder:

»Tragt Euer Evangelium hinaus,
Indem Ihr's lebt und lehrt an jedem Orte,
Und alle Welt sei Euer Gotteshaus,
In welchem Ihr erklingt als Engelsworte.
Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;
Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen;
Dann wird die Erde Christi Kirche sein
Und wieder eins von Gottes Paradiesen!«

Zu dieser Strophe verhielt sich Dilke anders als zu der vorigen. Er wartete mit seinen Einwendungen nicht, bis sie fertiggesprochen war, sondern er brüllte seine Bemerkungen direkt in die Zeilen hinein.

»Lebt, lebt, lebt!« schrie er. »Ich soll mein Evangelium leben! Wahrend alle Andern ihr Leben genießen, soll ich der einzige Heilige sein, ein Fakir, ein Anachoret, ein Büßer, der die Sünden der Andern trägt; ich danke! – – – Alle Welt mein Gotteshaus – – – und dann jeder Mensch und jeder Mongole und Hottentott mein Bruder! Verrückt, verrückt! – – – Engelsworte! Zunächst haben wir über etwas ganz Anderes zu reden! – – – Liebe nur, Liebe allein, Liebe, Liebe, überall nichts als Liebe! Jetzt kommen sie; jetzt sind sie da, die Bläser, die Pfeifer, die Quieker, die Ohren- und die Nervenmörder! Wo soll ich hin, wo soll ich hin?! – – – Christi Kirche – – – Gottes Paradies! Mensch – – Schurke – – Schuft, merkst du denn nicht, daß du wahnsinnig bist, blöde, umnachtet, toll, verrückt, ein Trottel, ein Narr, ein Idiot! Horst du denn nicht, daß du schon gar nicht mehr vernünftig reden kannst, sondern nur noch quiekst – – quiekst – – – quiekst! Wenn du nicht aufhörst, schlage ich dich nieder – – – hier auf der Stelle!«

Er zog die Finger wie zu Krallen zusammen und wollte sich auf Waller stürzen. Da aber trat ihm Tsi entgegen, bohrte ihn mit den Augen fest und wiederholte in dringender, schwer gewichtiger Weise:

»Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;
Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen;
Dann wird die Erde – – –«

Er kam nicht weiter, denn Dilke brüllte wutheulend auf:

»Nun auch noch der – der – – der! Das ist die »Shen«, die »Shen«! Nun wohl, so mache ich es wie der Teufel: Ich stürze mich in die Tiefe!«

Er rannte nach der Tür, nicht nach der hintern, durch die er gekommen war, sondern nach der vordern. Als er sie erreichte, blieb er stehen, drehte sich nach uns um, kam eine ganze Zahl von Schritten wieder zurück, langsam, bedächtig, überlegend, und sagte dann wie heimlich, aber doch so laut, daß wir alle es hörten:

»Wir sind nämlich zwei Raufbolde, ein religiöser und ein zivilisatorischer. Der religiöse bin ich, der zivilisatorische ist er. Ich bin der Oheim, und er ist der Neffe. Ich heiße Waller und er heißt Dilke. Ich muß hinunter in den Schlund. Er weiß nichts davon, obgleich ich es Euch durch seinen Mund gesagt habe; aber er muß mit. Schade um ihn! Er hätte so gut, so außerordentlich gut für mich gepaßt, wenn ich bleiben dürfte! Er war eine bessere, viel bessere Waffe als dort der Alte. Den bin ich los – und er mich auch – – – für alle Ewigkeit!«

Als er dies gesagt hatte, nickte er uns auf ganz eigenartige Weise zu, machte mit dem Arme eine Bewegung, die wir uns nicht deuten konnten, wendete sich nach der Tür zurück und ging hinaus.

»Omar, schnell, ihm heimlich nach,« befahl ich meinem Sejjid; »damit wir erfahren, ob er auch wirklich geht, und wohin!«

Er folgte ihm augenblicklich. Ich ließ Waller nun wieder auf sein Lager nieder, übergab ihn den beiden Aerzten und wollte mich dann schnell entfernen.

»Wohin?« fragte mich Tsi, von Andern ungehört.

»Auch hinaus,« antwortete ich. »Mein Diener ist vielleicht nicht genug.«

»Und wenn Sie tausend Menschen mit sich nähmen, Sie würden doch nichts andern können. Heute abend wird die alte Wallersche Hauspostille zugeschlagen und versiegelt, für immer und für ewig; darauf können Sie sich verlassen! Doch gehen Sie, damit Sie sich überzeugen. Aber sobald Sie sehen, daß ich Recht habe, so bitte, schweigen Sie, bis Sie mich wieder sprechen können. Heut ist ein Fest- und Freudentag. Der Tod soll ihn Keinem von Denen, die wir lieben, noch in der letzten Stunde zum Trauertage machen.«

»Und schnell noch Eins: Ist Waller gerettet?« erkundigte ich mich. »Er sieht fast munter aus!«

»Sie haben es ja gehört: Er ist ihn los, für alle Ewigkeit. Natürlich ist er nun gerettet. Sie sehen und hören, ich mußte unerbittlich sein. Nun gehen Sie!«

Ja, ich ging. Wie selbstverständlich alle diese Dinge für ihn lagen, die von Millionen noch nicht einmal geahnt worden sind!

Eben als ich draußen die Tür hinter mir zumachte, kam der Sejjid von der Treppe her, auf der mich Yin aus dem Garten des Ahnensaales hier heraufgeführt hatte.

»Nun?« fragte ich ihn. »Schon wieder hier? Du sollst ihm doch folgen!«

»Das habe ich getan, Sihdi. Er ist fort.«

»Wohin?«

»Hinaus, aus dem Schlosse. Nun wird er die Straße hinabgehen nach dem Dorfe. Ich konnte ihm da nicht folgen, weil es zu hell ist; er hätte mich gesehen. Auch hatte ich keine Lust, ihm über die Mauer nachzusteigen. Ware er durch das Tor gegangen, so könnte ich noch gar nicht wieder hier sein. Aber er hatte es sehr eilig und schwang sich gleich über die Brüstung hinaus auf die Straße.«

»Brüstung? Wo? Wo ist die Stelle?« fragte ich. »Hier im Innern des Schlosses führt doch keine Straße vorüber.«

»Gleich da unten, in dem Garten,« antwortete er.

»Wo du soeben herkommst?«

»Ja.«

»Schnell, führe mich! Ich muß die Stelle sehen!«

Er stieg mir voran, in den Garten hinab. Links sah ich die Tür, durch welche ich aus dem Ahnensaal getreten war. Rechts, ganz vorn, hatte ich dann gestanden und über die Mauer in die ungeheure, senkrecht abfallende Tiefe hinuntergeschaut. Dahin ging Omar.

»Hier ist es,« sagte er. »Er mochte mich gehört haben, denn er machte sehr schnell. Nachgesehen habe ich ihm nicht, weil es hier an dieser Ecke fast vollständig dunkel ist.«

»So danke Allah, daß du ihm nicht nachgestiegen bist, lieber Omar!« sagte ich, indem es mir wie kalter Schauer durch die Glieder ging. »Da draußen ist keine Straße, sondern es gähnt ein Abgrund, in dem ein Jeder, der hinunterstürzt, ganz unbedingt zerschmettern muß. Dieser Dilke ist tot. Aber halte es geheim! Du darfst nicht eher davon sprechen, als bis ich es dir erlaube, zu keinem Menschen!«

Er schüttelte sich vor Grauen, sah still zu Boden und fragte dann:

»Sihdi, darf ich Etwas sagen?«

»Ja. Was?«

»Ich möchte gern wissen, was er nun eigentlich gewesen ist, ein Offizier oder ein Missionar.«

»Ein Mensch war er; das mag dir genügen. Ein armer, unglücklicher Mensch, der falsche Wege ging und darum sich hier in diesen Schlund verirrte.«

»So gehe ich jetzt hinauf in die Kapelle, um für ihn zu beten. Darf ich das, obwohl er Christ gewesen ist und ich aber Muhammedaner bin?«

»Wie du nur erst noch fragen kannst, Sejjid Omar! Das wundert mich!«

»Du wunderst dich? Ich möchte – – – ah, ich weiß, ich weiß; jetzt fällt es mir ein! Ich gehöre ja zu unserer großen »Shen« und darf darum für alle Menschen beten! Wie herrlich das ist, wie herrlich! Ich gehe also hinauf, hinauf!«

Er begab sich nach der Straße hinaus, die zur Kapelle führte. Ich stieg die Stufen wieder empor, um Tsi im Bildersaal zu melden, was ich erfahren hatte. Die Gruppen der dort Anwesenden hatten sich aufgelöst, die Figuren der Bilder einzeln zu betrachten. Yin hatte sich dem Ho-Schang zugesellt, um ihm die Bedeutung dessen, was er nicht begriff, zu erklären. Nur dort bei Waller gab es mehrere Personen. Tsi stand mit Fang bei ihm und Mary. An seiner andern Seite hatte der Governor den Stuhl, auf dem ich saß, jetzt eingenommen. Tsi sah mir an, daß ich zu ihm wollte, und kam mir entgegen, damit Niemand höre, was ich ihm zu sagen hatte. Er nahm es ruhig hin, ohne ein einziges Wort der Verwunderung oder gar des Schreckes.

»Das war die Lösung, das!« sagte er. »Es konnte und durfte gar nicht anders kommen. Daher meine Unerbittlichkeit gegen diesen Abgeschiedenen. Nur so augenblicklich schnell hatte ich es nicht erwartet. Zwei solche Raufbolde in einem einzigen Körper, das ist zuviel!« Und lächelnd fügte er hinzu: »Das ist sogar zuviel für ein ganzes Volk, für eine ganze Nation, für die ganze Menschheit! Und doch haben wir sie Jahrtausende lang ausgehalten und begünstigt, diese beiden unverbesserlichen Händelsucher in unserm Menschheitskörper! Auch sie haben abzustürzen, haben zu verschwinden in der Tiefe, wo das Licht für unsere »Shen« geboren wird! Denn, wissen Sie, was da unten liegt, wohin Dilke stürzte?«

»Etwa Ihr Elektrizitätswerk, wie ich aus Ihren Worten vermute?«

»Ja. Da fällt im sich verengenden Felsenkamin das Wasser in die senkrechte Tiefe und wird unten aufgefangen, um Licht zu erzeugen und dann die Gärten, Wiesen und Felder zu befeuchten.«

»Schrecklich! Also ist an eine Rettung Dilkes gar nicht zu denken?«

»Er ist tot, unbedingt tot. Wir brauchen gar nicht erst zu forschen. Bedenken Sie doch die Kraft des Sturzes und dann des Wasserfalles! Wenn er nicht vollständig zermalmt und zerrieben wird, so hat das höchstens, falls seine Leiche in das Werk gerät, eine kurze Störung des elektrischen Stromes zur Folge. Ich will aber trotzdem gleich den Oekonom und auch den Ti Pao verständigen, weil man nicht hiervon reden, mich aber sofort benachrichtigen soll, welches Resultat die Nachforschung ergibt.«

Er eilte fort, um das, was er gesagt hatte, auszuführen, wobei er dem obersten Tschu-Tse begegnete, welcher in chinesischem full dress hereintrat, um mit lauter Stimme zu melden, daß das Mahl des Abends angerichtet sei. Yin kam sofort herbei, hing bei dem Governor ein und gab das allgemeine Zeichen, ihr zu folgen. Als sie Beide an mir vorübergingen, rief er mir, indem sein Gesicht vor Wonne strahlte, zu:

»Da, schaut her, Charley! Die Wette habe ich verloren, aber meine Yin dafür gewonnen und die ganze, ganze, herrliche »Shen« dazu! Ich tausche mit keinem Menschen, nicht einmal mit Euch!«

Waller hörte das.

»Auch ich habe gewettet und verloren,« sagte er, »aber doch noch viel, viel mehr gewonnen als dieser alte, prächtige Governor! Nun werde ich wohl nach meinem Zimmer geschafft?«

Er sah Fang bittend an.

»Nein,« antwortete dieser. »Es ist bereits ein Sitz für Euch bereitet. Könnt Ihr auch nicht mit essen, so sollt Ihr doch sehen und hören und Euch mit uns allen freuen. Euer Platz ist zwischen Tsi und Miß Mary. Fu hat das so gewünscht!«

Waller verstand gar wohl, was diese Anordnung des hohen Reichsbeamten für ihn und Mary zu bedeuten hatte. Er lächelte mir unendlich glücklich zu und sagte:

»Verzeiht nur, Sir, daß ich Euch dasselbe sage wie der Governor! Ich tausche mit keinem Menschen, nicht einmal mit Euch, aber auch nicht mit ihm!«

Da wurde er fortgetragen. Wie gönnte ich ihm diese Freude!

Nun ließ ich die Gäste alle an mir vorüber und folgte erst dem letzten von ihnen, war aber dennoch nicht der allerletzte, denn unterwegs kam Tsi noch hinter mir her. Er hatte in Beziehung auf Dilkes Leiche die nötigen Weisungen gegeben und wußte, daß man nach ihnen handeln werde.

Es wurde in dem großen, vielfensterigen Raume gespeist, den man im alten Heimatschlosse den Bankettsaal nannte; hier aber war er ein Blumensaal im entzückendsten Sinne des Wortes. Es wurde uns da die große Freude zuteil, die Mutter und den Oheim unserer Yin schon jetzt zu sehen. Sie hatten sich entschlossen, nicht erst bis zum letzten Tee zu warten. Raffley fragte mich, ob ich wohl gern zwischen diesen Beiden sitzen möchte, und es versteht sich ganz von selbst, daß ich noch ganz besonders um diese Ehre bat.

Der Oheim war ein großer Gelehrter; aber sein Wissen war nicht nur aus Büchern, sondern noch viel mehr aus dem praktischen Leben geschöpft. Er wurde sehr bald mitteilsam bis zur liebenswürdigsten Aufrichtigkeit. Die Mutter war eine Seele. Das genügt; mehr brauche ich nicht zu sagen. Den Hauptgegenstand des Gespräches zwischen uns Dreien bildete der Ahnenkultus, und je mehr ich auch hier wieder Aufklärung über ihn bekam, desto mehr taten mir die oberflächlichen Menschen leid, die so falsche Ansichten über ihn haben. Uebrigens erfuhren wir unter der Hand, daß der Ho-Schang nach Tisch das kaiserliche Schreiben überreichen werde, welches er schon in Shen-Fu hatte übergeben wollen. Er hatte die richtige Zeit hierfür wegen Dilke versäumt, und nun gebot ihm der Gebrauch, bis nach der Abendtafel zu warten. Es sollte nicht das einzige »kaiserliche« sein, welches Fu zu erhalten hatte.

Die Speisenfolge mochte bis zur Hälfte vorüber sein, da trat eine interessante Unterbrechung für uns ein. Die große, breite Tür wurde ganz geöffnet, und es kamen zwölf mit Blattgewinden und Blumen geschmückte Chinesen anmarschiert, an ihrer Spitze mein Sejjid Omar, vollständig in grünes Geranke und vielfarbige Blüten gehüllt, in der Hand einen langen Stab, an dessen Spitze eine Anzahl Arekanüsse hingen und über ihnen eine weiße Pappe mit dem Zeichen »Shen«. Er stellte die Chinesen in einer Reihe quer vor uns auf, setzte sich in seine eindrucksvollste Positur, schwang den Stab einige Male hin und her und begann, teils arabisch, teils englisch, malajisch und chinesisch, wie es ihm grad auf die Zunge kam, folgendermaßen zu sprechen:

»Wir sind eine Deputation von Aufwieglern, Rebellen und Empörern. Wir wollten eine große Revolution machen, aus der aber nichts geworden ist, weil wir nichts davon wußten. Und als wir es erfuhren, da machten wir nicht mit. Denn als der Ho-Schang seine Rede auf dem großen Platze in Shen-Fu gehalten hatte, da wurden plötzlich alle gescheit, die dumm gewesen waren. Das darf aber bei einer richtigen Revolution nicht sein, und darum wurde es eben keine! Die Fremden aus dem Abendlande hatten uns über die große, menschenfreundliche »Shen« belogen. Sie hatten sich sogar lustig über sie gemacht und sie als eine Albernheit bezeichnet, die bei ihnen gar nicht vorkommen könne. Aber hier bei euch erkannten wir dies als die größte Lüge, zu welcher in unserm Lande und in unserem Volke gar Niemand fähig wäre. Darum bereuten wir es, diesen Fremden unser Vertrauen geschenkt zu haben. Wir beschlossen, Euch um Verzeihung zu bitten, und wählten unter uns eine Gesandtschaft von zwölf Männern aus, welche die Macht besaßen, sich als unsere Deputation zu Euch zu begeben, um an unserer Stelle zu Euch zu reden. – – – Sobald wir uns gewählt hatten, gingen wir aus dem Dorfe herauf nach dem Schlosse. Aber als wir es erreichten, war unsere Macht zu Ende, denn wir bekamen Angst und fürchteten uns, vor Euch zu erscheinen. In dieser Not waren wir so glücklich, mich zu finden, weil ich grad von der Kapelle herunterkam und dabei an uns vorüberging. Wir faßten Mut und fragten mich nach Euch. Ich aber antwortete uns sehr freundlich und bereitwillig, weil ich doch zu unserer »Shen« gehöre. Ich erteilte uns den besten Rat, den es gab. Ich sagte uns, daß ich der einzige Mann sei, der uns Hülfe bringen könne, weil ich so gut chinesisch rede. Ich machte ihnen diesen Stab des Friedens und der Verzeihung, und sie putzten mich mit Blättern und mit Blumen an. Dann führte ich uns hierher. Seit ich zum Rädelsführer der Verschwörer ernannt worden bin, haben wir ganz neuen Mut gewonnen, und ich bitte um die Erlaubnis, meine Rede halten zu dürfen, damit ich sagen kann, was wir von Euch und von der »Shen« uns wünschen!«

Diese Einleitung machte einen so vorzüglichen Eindruck auf uns, daß wir gleich alle zusammen antworteten, er solle nur so schnell wie möglich anfangen. Da hielt er uns denn eine Rede, die ich trotz ihrer Mängel als ein kleines Meisterstück bezeichnen möchte. Ja, es ist wahr, wir kamen aus dem Lächeln über seine eigenartige Ausdrucksweise gar nicht heraus, aber auch nicht aus der herzlich tiefen Rührung, in der er uns ohne Unterbrechung festzuhalten wußte. Sie hätten gar keinen bessern Dolmetscher ihrer Reue, ihrer Umkehr und ihrer guten Vorsätze finden können, diese sogenannten Rebellen und Empörer. Daß sie einsahen, verführt worden zu sein und üble Vorsätze gehabt zu haben, das brauchte uns nicht zu wundern, denn sie waren ja denkende Menschen. Aber sie ließen uns bitten, sich oben an der Kapelle versammeln zu dürfen, wo der Reverend im Namen der »Shen« zu ihnen sprechen und ihnen ihre Sünden verzeihen möge! Und nach der Ursache dieses Wunsches gefragt, ließen sie durch den Sejjid erklären, sie seien aus Feinden in Freunde der »Shen« verwandelt worden, sie möchten aber noch mehr werden, nämlich Mitglieder; dies sei aber ohne vollständige Vergebung nicht möglich, und hierzu müsse ihrer Ansicht nach nicht ein gewöhnlicher Mann, sondern ein Priester erforderlich sein. Das war doch mehr als das, was man erklärlich oder gar selbstverständlich nennt!

Der Reverend fragte bei Fu und John mit einem Blicke an. Beide nickten. Darum gab er den Bittstellern den Bescheid:

»Der Tag der Feindschaft gegen uns ist fast vorüber. Nur eine Stunde noch, dann ist es Mitternacht. Bringt Eure Leute her, um diese Zeit des Schrittes in das Neue! Ich will mit einem Gotteswort beim Klang der Orgel Euch hinüberleiten. Ihr ahnt den bessern Morgen. Ihr sollt ihn nicht bloß ahnen, sondern sehen, mit erleben. Jetzt geht!«

Kaum daß sie sich entfernt hatten, wurde Fu abgerufen. Es sei soeben ein Pao-Chin-Ti mit einem kaiserlichen Schreiben angekommen. Er kehrte erst nach einiger Zeit zurück, da dieser Mann in gebührender Weise empfangen und als hoch willkommener Gast behandelt werden mußte. Sein Gesicht war ernst, außerordentlich ernst. Man sah ihm an, daß es sich um eine ungewöhnliche, sehr wichtige Sache gehandelt hatte. Er hielt das Schreiben in der Hand, ging nach seinem Platze, setzte sich aber nicht, sondern blieb stehen und sagte, während aller Augen an seinen Lippen hingen:

»Dieser erste Tag der »Shen« schließt für mich ernst und schwer. In meiner Hand liegt hier das Schicksal ganzer Völker. Wir alle sind einander eng verwandt. Es ist also nicht nötig, daß ich schweige. Ich darf es nicht nur sagen; ihr sollt das Schreiben hören, Wort für Wort.«

Er faltete es auseinander und fügte zur Vorbereitung noch hinzu:

»Wir hörten vorhin sagen: Der Tag der Feindschaft gegen uns ist fast vorüber. Nur eine Stunde noch, dann ist es Mitternacht. Ich aber weiß: Der Tag der Feindschaft ist noch nicht vorüber. Vielleicht ist es noch weit bis Mitternacht! Hört, Freunde, was ich lese!«

Wie gespannt wir waren! Er hob das Schreiben zur Augennähe empor und begann. Aber kaum erklangen die ersten Worte, die er las, so erschallte vom Tale herauf und von allen Seiten her ein vieltausendstimmiger Schrei des Schreckes, in den auch wir einstimmten. Es war plötzlich finster, vollständig finster um uns. Wir eilten an die Fenster. Was sehen wir da? Das Zeichen des Christentumes war verlöscht, das herrliche Kreuz, so hoch es war, und in seiner ganzen Breite! Kein Flämmchen war mehr zu sehen, nicht das geringste, kleinste! Doch unten, im Tale, da leuchtete noch immer wie vorher der stille, milde Glanz der »Menschlichkeit« im Zeichen unserer »Shen«. Und droben in der Höhe standen auch die drei andern Symbole, die nicht elektrisches Licht besaßen, noch in ihrer vollen Klarheit. Nur das Kreuz war finster geworden, sonst weiter nichts! Wie ein dumpfes Brausen stiegen die Stimmen der tief unter uns versammelten Menschheit zu uns empor, und auch unsere Lippen öffneten sich, um nach der Ursache dieser plötzlichen Verfinsterung zu fragen. Tsi war mit mir an dasselbe Fenster gekommen. Er beugte sich hinaus, schaute hinab, wendete sich dann wieder nach dem Saal zurück und sagte:

»Die Leiche eines aus dem Paradies Gestürzten fiel in das Licht; da dunkelte es für einen Augenblick. Jedoch verlöschen kann es nicht für immer, weil es ja Licht aus ewiger Quelle ist!«

Da erklang die Stimme Marys, seiner Braut:

»Stürzte wirklich Jemand ab? Oder sprichst du nur im Bilde?«

»Nehmt es als Bild, bis wieder Licht geworden ist,« antwortete er. »Nur Leichen sind es, welche Dunkelheit verbreiten; im wahrhaft Lebenden gibt's keine Finsternis. Welche Botschaft hast du empfangen, Vater? Sage sie uns im Dunkeln, da dir das Licht genommen worden ist, sie vorzulesen!«

Da antwortete Fu, und das, was er sagte, klang in der Dunkelheit wie aus der Tiefe eines noch unenthüllten Geheimnisses heraus:

»Mein Sohn, du hast soeben Großes gesagt, und weil es um mich finster ist, bin ich so kühn, es zu wiederholen: Die Leiche eines aus dem Paradies Gestürzten fiel in das Licht; da dunkelte es für einen Augenblick, und dieser Augenblick ist unser Erdenleben; da herrscht nun die Verwesung der Leiche. – – – Meine Brüder, es gibt – – – Krieg!«

»Wo – wo – wo – – – wo?« rief es rundum.

»Hier – – bei uns – – im Lande unserer »Shen«! Der Bote brachte mir die Trauerkunde. Fragt nicht, weshalb, und fragt auch nicht, mit wem? Ich aber frage im Namen der Menschheit in dieses tiefe Dunkel, in diese Finsternis hinein: – – –«

Er kam nicht dazu, weiterzusprechen, denn plötzlich wurde es wieder hell, fast heller noch, als es vorher gewesen war, um uns und auch da draußen, im Freien. Die Leiche des verunglückten Dilke war, ob durch Naturkraft oder durch Menschenhand, das ließ sich jetzt nicht sagen, beseitigt worden, und sofort kehrte das Licht in die verfinsterten Körper zurück. Von neuem stand das Kreuz in weithin leuchtender Glut, und überall ertönten jubelnde Stimmen, seine Rückkehr zu begrüßen. Bei seinem Lichte sahen wir die Scharen der Menschen, welche aus dem Dorfe hinauf nach der Kapelle zogen. Das waren nicht nur die bekehrten Anhänger der Fan-Fan, sondern Hunderte und aber Hunderte mehr, die sich ihnen angeschlossen hatten.

»Noch habe ich die Frage nicht ausgesprochen, so ist schon die Antwort da!« rief Fu. »Ich hoffe, daß wir alle sie verstehen! Ziehen wir jetzt mit nach der Kapelle. Dort fließt uns die Quelle des Lichtes, das zwar verdunkelt werden, doch nie verlöschen kann!«

»Ja, steigen wir mit hinauf,« stimmte der Ho-Schang bei. »Nicht hier, sondern dort oben ist der rechte Platz, die kaiserlichen Worte zu verlesen, die ich Euch mitzuteilen habe. Sie sichern Euch die allerhöchste Gnade und allerhöchsten Schutz; das sollen Alle hören, die sich jetzt dort versammeln. Wir feiern heut den Shen-Ta-Shi, den großen Tag der »Shen«, doch reicht er über Tag und über Nacht, geht über Monden, über Sonnen hin und wird auf Erden nie und nimmer enden!«

Da faltete der alte, ehrwürdige Reverend die Hände und sprach:

»Die allerhöchste Gnade und der allerhöchste Schutz! Im Sinne unserer »Shen« also die Gnade und der Schutz des Allmächtigen und Allliebenden, bei dem es ewig Frieden gibt, selbst wenn des Krieges Ruf hier bei uns Törichten sogar am »großen Tag der Menschlichkeit« erklingt. Hinauf zu ihm, zu unserer Kapelle! Gleich ist es Mitternacht; sie soll uns betend – dankend – hoffend finden!« – – –


 << zurück