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Dem mit dem Dampfer nach dem Osten kommenden Reisenden treten hier in Penang zum ersten Male chinesische Gestalten, Formen und Gebräuche in der Weise entgegen, daß sein Auge von ihnen gefesselt wird. Er findet das, was er sieht, so überaus fremdartig, seinem gewohnten Fühlen und Denken so fern liegend, daß er sich unwillkürlich fragt, ob es ihm möglich sein werde, unter diesen neuen Eindrücken der Alte zu bleiben. Und er hat ein Recht, einen schwerwiegenden Grund zu dieser Frage, weil allen diesen Erscheinungen eine Lebensfülle, eine strotzende Kraft, eine überzeugende Selbstverständlichkeit innewohnt, durch welche die Ansicht, daß es sich um altersschwache, kranke Zustände handle, schon in den ersten Stunden arg erschüttert wird.
Freilich, wer ein so groß, dick und fett gepflegtes Vorurteil mit sich bringt, daß sein klares, unparteiisches Urteil von diesem gefräßigen Behemoth vollständig verschlungen worden ist, der wird hier, an der Außenpforte der chinesischen Welt, nichts als den oberflächlichen Eindruck verspüren, daß er jetzt den ersten Schritt in das Land der Bizarritäten getan habe.
Von den ersten Kinderschuhen an hat man durch alle Klassen der Volks- und höheren und höchsten Schulen über die Chinesen nichts Anderes gehört, als daß sie wunderlich gewordene, verschrobene Menschen seien, über welche die Weltgeschichte schon längst den Fluch der Lächerlichkeit ausgesprochen habe. In unzähligen Büchern, Zeitungen und sonstigen Veröffentlichungen wird dieses billige Urteil breiter und immer breiter getreten; man atmet es ein; man schluckt es hinunter; es wird mit in Chymus und Chylus verwandelt; es geht auf die Knochen, in Fleisch und in Blut über und bildet ein so unausrottbares Bestandteil unserer geistigen Existenz, daß wir gar nicht auf den Gedanken kommen, zu fragen, ob es ein wahres und also berechtigtes sei. Ich erlaube mir, meinem Gedankengange durch die Bemerkung vorauszugreifen, daß es den Chinesen ganz in derselben Weise auch mit uns ergeht; sie bekommen von den Kinderjahren an bis in das Greisenalter über uns nur immer die eine, einzige Lehre wiederholt, daß wir wunderliche Narren seien, mit denen die Weltgeschichte nichts mehr anzufangen wisse, weil wir an sie die unerhörte Forderung stellen, uns für ihre Lieblinge zu erklären und die anderen Nationen vollständig fallen zu lassen. Mit anderen Worten, die Chinesen halten uns für ganz dieselben Toren, die sie in unseren Augen sind.
Wer mit einer solchen, förmlich in das Wesen übergegangenen Ansicht nach dem Osten kommt, von dem ist nicht anzunehmen, daß er so bald andern Sinnes zu machen sei. Er kann sich jahrelang in China aufhalten und wird nicht nur ganz der Alte bleiben, sondern vielleicht gar noch schroffer als früher denken, wenn seine Voraussetzungen, daß er mit seinen Ideen das weite, fremde Land im Sturm erobern könne, nicht in Erfüllung gehen. Es gibt keiner von Beiden nach, und so bleiben beide, wie sie sind. Nur Eins ist nicht geblieben: die Erbitterung ist größer geworden! Das ist die einfache Erklärung der sonst unbegreiflichen Tatsache, daß Leute, welche ein halbes, ja gar ein ganzes Menschenalter in China zugebracht haben und also wohl mit Recht behaupten, Land und Leute genau zu kennen, dieses Land und diese Leute genau noch ebenso falsch beurteilen wie Einer, der niemals dort gewesen ist. Ihre Kenntnis ist – – – Photographie! Ihr ganzes, vielleicht außerordentlich reiches Wissen besteht aus leb- und seelenlosen Kamerabildern, welche in den aus Europa mitgebrachten Apparaten entstanden sind. Aus dem Vorurteile der kaukasischen Rasse werden die Films geschnitten, denen man die Unmöglichkeit zumutet, uns die chinesische Volksseele in allen, auch ihren tiefsten und geheimnisvollsten Regungen, treu, wahr und aufrichtig darzustellen. Ist es für den Menschen denn gar so schwer, dem Bruder auch eine berechtigte Eigenart, eine gleichwertige Individualität zuzutrauen? Muß denn Jeder, der sich erlaubt, anders zu sein, darum gleich als inferior gedacht werden? Man beobachte den Europäer, wie er aus hochmütigen Augen im fremden Lande um sich schaut! Der Schiffsjunge, welcher jetzt wegen unheilbarer Dummheit vom Maate mit dem Tau verhauen wird, geht eine Viertelstunde später mit dem erhebenden Bewußtsein an das Land, daß alle Malaien und Chinesen Penangs nicht wert seien, ihm die ochsenledernen Stiefel zu schmieren, und zwar nur deshalb, weil er ein Kaukasier aus Dorf Klapperschnalle ist! Ich hatte eine liebe, alte, gute Großmutter, die sagte mir, als ich bereit stand, in die Welt zu gehen: »Bilde dir ja nie ein, daß du besser seist als andere Leute! Hinter jedem Menschen, mit dem du sprichst, steht sein Engel. Du kannst ihn nicht sehen; aber er ist da; er sieht alle deine Gedanken, und wenn sie mißwollend sind, so kränkst du ihn. Und bedenke, daß der Engel des Negers genau so licht, so rein und so dankbar wie der deine ist! – –«
Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten mich, als ich nach Tische einen Gang durch Penang machte. In den Straßen und Gassen stieß ein Laden an den andern. Viele hatten gar keine Tür, weil die Vorderwand des Hauses fehlte und es an ihrer Stelle nur Tragpfosten gab. Und vor diesen Läden zogen sich zu beiden Seiten lange Reihen von feilhaltenden Frucht- und andern Händlern hin. Ich sah weder Polizei noch Militär, und doch herrschte überall eine Ordnung, welche einen erfreulichen Eindruck machte. Von dem Völkerbilde sage ich nichts. Es gab dasselbe Kunterbunt der Nationalitäten wie in jeder östlichen Hafenstadt, nur daß hier Indochina vorherrschend war.
Es war außerordentlich heiß. Plötzlich verdüsterte sich der Himmel; es drohte einer jener plötzlich hereinbrechenden Platzregen, welche der Aequatorgegend eigen sind. Ich blieb stehen und schaute mich nach einem Orte um, der mir und meinem Anzuge Rettung bot. Ein Hotel war nicht in der Nähe. Das sah ein an mir vorübergehender Kuli. Er blieb stehen, deutete die Gasse hinab und sagte:
»Sablah kirri, Pilsen Birr!«
Sablah kiri heißt so viel wie »links«. Also links in dieser Straße gab es Pilsener Bier. Der Mann hatte mich ganz richtig abgeschätzt. Ich drückte ihm vor Freude ein Trinkgeld in die Hand und eilte dann die Gasse hinab. Ja, da stand linker Hand ein europäisch aussehendes nettes Haus, dessen Paterre eine Restauration enthielt. Die breite Tür hatte keine Flügel, sondern leinene Vorhänge, und das Fenster war bis oben hinauf mit Flaschen besetzt. Da konnte man auch, und zwar in deutscher Sprache, lesen: »Echt Hamburger Pilsener Bier«. Ich hatte keine Zeit, stundenlang über diese sonderbare Echtheit nachzudenken, denn soeben prasselte der Regen in der Weise los, als ob an Stelle des Himmels ein sehr weitmaschiges Sieb vorhanden sei. Ich tat einen schnellen Sprung zwischen die Vorhänge hinein und entging dadurch zwar vorn, leider aber nicht auch hinten dem drohenden Bade. Es traf, wie der biedere Erzgebirgler sich auszudrücken pflegt, der erste »Schwabb« des Regens meinen Rücken noch dergestalt, als ob mir eine Gießkanne voll Wasser nachgeschüttet worden sei. An der »Vorderhand« vollständig trocken, fühlte ich mich an der »Hinterhand« bis auf die Haut durchnäßt und wurde von dem herzlichen Lachen zweier weiblichen Stimmen empfangen, in welches ich sofort einstimmte. Die Beiden saßen am Fenster; die Eine, welche die Mutter war, häkelte an einer weißen Spitze; die Andere, natürlich die Tochter, putzte sich eine Feder auf den Hut. Ihre Gesichtszüge und besonders ihr Lachen paßten so genau in die Gegend, wo man gern so unbefangen lustig ist, daß ich, anstatt zu grüßen, die Frage aussprach:
»Sie sind Oesterreicherinnen?«
»Ja,« antwortete die Mutter. »Kennen Sie uns?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie da, daß wir Oesterreicherinnen sind?«
»Weil Sie ausschauen wir Ihre Majestät die Kaiserin Maria Theresia und ein so liebes, cisleithanisches Lachen haben.«
»Cis – – – cis – – – cis – –! Wie ist das? Wer lacht cis?« fragte die Tochter.
»Lassen Sie das Cis, und geben Sie mir ein Pilsener! Ist es echt?«
»Ja, aus Hamburg. Das aus Pilsen hält sich nicht bei uns.«
Ich kannte das. Man trinkt diese echte Pilsener aus Hamburg im ganzen Osten; die Flasche wird mit zwei, oft auch mit drei Mark bezahlt. Die Frau war Witwe. Sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte, die aber nicht hierher gehört. Beide waren sehr musikalisch. In der Stube stand eine Pianino. Bald saß ich am Instrumente und spielte. Die Damen sangen heimatliche Lieder dazu. Der Regen ging vorüber; wir musizierten aber weiter. Plötzlich schwiegen sie mitten in einer Strophe.
»Herr Tsi!« rief die Mutter.
Welch ein Name! Ich schaute nach der Tür, welche in das Innere des Hauses führte. Es konnte jeder andere Chinese so heißen, aber er war es, war es wirklich! Er tat, als er mich sah, einige schnelle, fast würdelose Schritte, beinahe waren es Sprünge, auf mich zu und begrüßte mich in einer Weise, welche nicht den geringsten Zweifel übrig ließ, daß er sich aufrichtig über dieses unvorhergesehene Zusammentreffen freute. Die Damen waren aufgestanden und setzten sich nicht wieder nieder. Es sprach aus der Art und Weise, wie sie uns stehend beobachteten, eine Hochachtung, welche Weiße, und besonders wenn sie Frauen sind, einem Angehörigen der gelben Rasse nicht zu erweisen pflegen. Als er einige kurze Worte an sie richtete, war er höflich, weiter nichts; dann bat er mich, ihm zu folgen.
Er führte mich aus dem Gastzimmer durch einen schmalen Hausgang in eine Art von Blumenholz, in welchem ein kleineres Gebäude als Einzelwohnung stand. Die zu ihr gehörigen kleineren Nebenräume sah ich nicht. Das Wohnzimmer war verhältnismäßig groß und halb europäisch, halb indisch eingerichtet. Auffällig waren die vielen Sessel, die es gab. Es sah ganz so aus, als ob Tsi sehr oft Besuch habe. Auf einem Tische stand das Teegeschirr. Wasser brodelte über einem so großen Spiritusbehälter, daß anzunehmen war, es werde den ganzen Tag im Kochen erhalten. Ich nahm Platz. Er bereitete zwei Tassen Tee und sagte dabei:
»Hier wohne ich. Merken Sie auf, lieber Freund, was ich Ihnen sage! Es ist nicht viel, aber für mich außerordentlich wichtig. Mein Vater ist in die Heimat gereist; ich hatte noch an verschiedenen Orten, jetzt auch hier zu tun. Was das ist, bitte, fragen Sie mich nicht! Ich darf es nicht sagen und möchte doch gerade Sie nicht täuschen. Ich gelte als Arzt, bin es eigentlich auch. Wenn Sie mich als solchen bezeichnen, laden Sie keine Unwahrheit auf Ihr Gewissen, denn ich habe in Montpellier com laude bestanden. Ich habe viel Besuch zu empfangen und deshalb grad diese Wohnung gewählt, weil sie verborgen liegt und die zu mir kommenden Personen von etwaigen Beobachtern für Gäste der Restauration gehalten werden. Wer sich darüber hinaus zu legitimieren hätte, der könnte sagen, er hatte meine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Ich lasse mich aus Nützlichkeitsrücksichten auch hier so nennen, wie man mich in Kairo mißverständlich genannt hat – – Tsi. Ich bin ganz glücklich, Sie wiederzusehen, und bitte Sie, es zu ermöglichen, daß wir uns nicht so bald wieder trennen. Aber heute und morgen habe ich keine Zeit für Sie. Von übermorgen an stehe ich Ihnen von und mit ganzem Herzen zur Verfügung. Sie sehen, ich bin aufrichtig. Wie ich Sie kenne, entnehmen Sie gerade aus dieser eigentlich rücksichtslosen Mitteilung, daß meine Freundschaft für Sie keine Höflichkeit sondern Wahrheit ist. Werden Sie mir verzeihen?«
»Aber ganz natürlich! Leider werden wir uns doch bald trennen müssen. Morgen kommt der Dampfer »Coen« der »Koninklijke Paketvaart Maatschappij«, Kommandant Wilkens, der mein Freund ist, von Padang, um nach Singapore zu gehen. Wenn er zurückkommt, wird er mich für Uleh-leh aufnehmen.«
»Sie wollen hinüber nach Sumatra?« fragte er schnell.
»Ja.«
»Und gerade nach Uleh-leh, also Atjeh? Nehmen Sie sich in acht! Man bereitet dort Dinge vor, welche jedem Europäer, der den Kreis der Stadt verläßt, gefährlich werden können. Ich weiß das ganz genau! Doch davon sprechen wir später. Jetzt trinken Sie Ihren Tee und sagen mir, wie es Ihnen gegangen ist und wo Sie nach Kairo überall gewesen sind!«
»Wollen wir nicht auch das für später aufheben? Sie haben keine Zeit, und meine Erlebnisse sind nicht in der Absicht geschehen, Sie hier mit Erzählungen zu stören. Ich komme ja übermorgen wieder, oder suchen Sie mich im Enst and Oriental Hotel auf, wo ich mit Sejjid Omar wohne.«
»Was? Dieser ist noch bei Ihnen?«
»Ja. Er hat sich brav bewährt und wird sich außerordentlich freuen, Sie zu sehen. Er hielt ja schon in Kairo große Stücke auf Sie und Ihren Vater, wie Sie ja wissen. Jetzt gehe ich, doch nicht, ohne daß ich eine Frage nach unserm Freunde Waller ausgesprochen habe. Wissen Sie, daß er die Absicht hatte, jetzt hier in Penang zu sein?«
»Nein,« antwortete er schnell und indem sein Gesicht den Ausdruck freudiger Ueberraschung annahm. »Ist er etwa hier?«
»Ich weiß es nicht. In meinem Hotel befindet er sich nicht, sonst hätte ich ihn heut an der Tafel gesehen.«
»Dann vielleicht in einem andern. Man muß schleunigst nachfragen!«
Er sagte das außerordentlich eilig und dringend.
»Allerdings,« antwortete ich. »Ich werde mich gleich jetzt im Crag Hotel, Sen View Hotel und Hotel de l'Europe erkundigen.«
»Und mir sofort, sofort Auskunft bringen oder wenigstens senden?«
»Gern!«
»Wollte Miß Mary mitkommen?«
»Ja.«
»Wissen Sie das genau?«
»Ganz genau. Sie wird ihn ja auf dieser Reise nie verlassen. Sie sind in Indien gewesen und kommen von der Ostküste herüber nach Penang.«
»Bitte, wer hat Ihnen das gesagt?«
Der liebe, junge Mann war ganz begeistert. Ich erwiderte ihm:
»Gestatten Sie mir, daß ich einstweilen auch ein Geheimnis vor Ihnen habe! Was Sie wissen wollen, erfuhr ich auf eine Weise, von welcher ich jetzt noch nicht sprechen kann. Erweisen Sie mir den Gefallen, zu schweigen, falls wir Vater und Tochter hier treffen sollten.
Sie dürfen nicht erfahren, daß ich von ihrer Absicht, hierher zu kommen, gewußt habe.«
»Aber wenn Sie sie entdecken, geben Sie mir augenblicklich Nachricht?«
»Sofort!«
»Ich danke Ihnen! Und nun gehen Sie! Ich will Sie nicht abhalten, nachzuforschen, zumal ich gerade jetzt einen sehr wichtigen Besuch erwarte. Also, ich bin Doktor Tsi, der Arzt, weiter nichts!«
Wir drückten einander die Hände, und ich ging.
Als ich wieder in das Gastzimmer kam, saß da ein älterer Chinese bei einer Tasse Tee. Er war durchweg in kostbaren Ghilam gekleidet, doch ohne alle Rang- oder Standesabzeichen; aber es schien mir, als ob er auf seinem Hut eigentlich einen Knopf zu tragen habe. Kaum war ich eingetreten, so bezahlte er, ohne auszutrinken, und ging den Weg, den ich soeben gekommen war. Tsi wartete auf ihn.
Was ich von diesem erfahren hatte, das klang so geheimnisvoll. Jedenfalls handelte es sich um wichtige Angelegenheiten. Ich hatte nichts darnach zu fragen und begnügte mich mit der Freude, meinen jungen Freund Tsi hier so unverhofft wieder getroffen zu haben.
Nun nahm ich eine Rickschah und fuhr nach den genannten drei Hotels. Es hatte in keinem derselben ein Missionar Waller nebst Tochter logiert. Aber als ich nach Hause kam und im Burenu nachfragte, erfuhr ich, daß sie allerdings hier gewohnt hatten, doch bereits wieder abgereist seien. Waller war krank gewesen, so krank, daß er zwei Aerzte zu Rate gezogen hatte, und von diesen war ihm dringend geraten worden, so schnell wie möglich die niedere Küstengegend zu verlassen und Bergland aufzusuchen. Das von hier aus nächste Höhengebiet hatte man an der Nordspitze von Sumatra zu suchen, und so war er mit der Tochter und all seinem Gepäck nach Uleh-leh gegangen, von wo aus die Berge schneller und leichter als von einem Orte der Ostküste aus zu erreichen sind. Das war vor nun fast zwei Wochen gewesen; eine Nachricht hatte man während dieser Zeit nicht bekommen.
»Es kam indessen ein Brief aus Ceylon an,« fuhr der Burenuschreiber fort, welcher mir Auskunft gab. »Wir haben ihn mit dem nächsten Schiffe nachgesandt.«
Das war jedenfalls der Brief des Professors Garden aus Amerika.
»Nach welcher Stelle haben Sie ihn geschickt?« erkundigte ich mich.
»Hotel Rosenberg in Kota Radscha, der Hauptstadt von Atjeh; Uleh-leh ist nur der Hafenort.«
»Das weiß ich. Der Atjeh-Fluß führt nach Kota Radscha, und außerdem ist eine Eisenbahn vorhanden. Doch, Hotel Rosenberg? Das kann nicht der richtige Name sein. Ich kenne Rosenberg persönlich. Er ist ein sehr unternehmender Kaufmann und hat lange Zeit einem in Kota Radscha von ihm selbst gegründeten Geschäft vorgestanden; aber die Rücksicht auf die Gesundheit von Frau und Kind zwang ihn, es später aufzugeben. Er lebt jetzt in Wien.«
»Das stimmt. Aber er kehrt zuweilen wieder und pflegt dann bei uns zu logieren. Jetzt steht ein Schwager von ihm an der Spitze des Geschäftes, welches mit einem Hotel verbunden ist. Wir nennen es jetzt noch immer nach dem Namen des Gründers Hotel Rosenberg.«
Nun erkundigte ich mich, nach der Art der Krankheit des Missionars, konnte aber nur erfahren, daß er außerordentlich hinfällig gewesen sei. Der Name eines der beiden Aerzte wurde mir gesagt. Ich suchte ihn per Rickschah auf und fand ihn daheim. Er teilte mit mir, daß es sich um einen besorgniserregenden Fall von Dysenterie gehandelt habe. Als Spezifikum war Ipecacuanha gegeben worden, als Diät nur Reiswasser und Marantaaufguß, durch Rizinus eingeleitet. Das waren genau dieselben Mittel, mit denen man auch in den Nilländern dieser gefährlichen Krankheit entgegentritt. Man sagt, daß Ipecacuanha gegen die Dysenterie ebenso sicher wirke wie Chinin gegen das Fieber; aber einen schon durch die Krankheit so außerordentlich geschwächten Körper durch Rizinusöl, Reiswasser und Aufguß von Arrowroot, denn Maranta ist nichts anderes als Arrowroot, aufhelfen zu wollen, das konnte ich mit meinen Erfahrungen nicht vereinigen. Ich begann, um Waller besorgt zu werden, und ging mit mir zu Rate, was zu machen sei. Sollte ich Tsi benachrichtigen? Ich hatte es ihm versprochen, und er war ja, wie er mir mitgeteilt hatte, Arzt. Aber wer dem Missionar helfen wollte, mußte ihn in Atjeh aufsuchen, und vor Kapitän Wilkens gab es Niemand, der dorthin ging. Man hatte also auf alle Fälle zu warten, und da eine ausführliche Mitteilung an Tsi ihn ganz unnützer Weise aufgeregt hätte, so gab ich ihm durch einige Zeilen nur die kurze Nachricht, daß meine Erkundigungen nach Wallers nicht ganz erfolglos gewesen seien, ich aber bis übermorgen noch Ausführlicheres zu erfahren hoffe.
Mein Sejjid Omar befand sich in sehr gehobener Stimmung; er sagte zunächst nichts, aber ich sah es ihm deutlich an. Er pflegte über solche Dinge nicht eher zu sprechen, als bis er glaubte, sie geistig richtig untergebracht zu haben. Ich konnte überzeugt sein, daß er dann nicht versäumen werde, mir seine Mitteilungen in der ihm eigenen drolligen Wichtigkeit zu machen. Und wie gedacht, so geschah es auch!
Am Abend saß ich im offenen Vorzimmer. Die nahe Brandung predigte zu mir herüber; ein kühler Hauch bewegte die Wipfel der Bäume, zwischen denen die aufgegangenen Sterne zu mir niederfunkelten. Die Fee des Südens stieg aus den Wogen, um in den Gärten Penangs nach offenen träumenden Blumen suchen zu gehen. Da gab es nun aber Einen, der die Brandung nicht hörte, die Bäume nicht benchtete, die Sterne nicht sah und von der Fee erst recht keine Ahnung hatte. Dieser Eine war Omar, der siegreiche Held der heutigen Tiffinstunde. Das, womit er gegenwärtig beschäftigt war, hatte freilich mit diesem seinem Heldentume nichts zu tun. Er hatte ein Licht herausgeholt und sich nicht weit von mir auf den Rasen niedergekauert, um meine hellen Schnürstiefel blank zu machen. Er tat dies in ganz ungewöhnlich liebevoller und eingehender Weise. Der Lappen flog nur so, und das Leder stöhnte förmlich. So oft ich glaubte, daß er fertig sei, griff er immer wieder zu der Büchse mit der gelben Salbe, um von Neuem zu beginnen. Dabei war auf seinem Gesichte deutlich zu lesen, daß ihn dieses abwechselnde Schmieren und Reiben, Reiben und Schmieren unendlich glücklich mache. Ein Moslem, der einem Christen mit Wonne die Stiefel schmiert. Man denke!
»Ist es noch nicht gut, Omar?« fragte ich, als er das glänzende Werk zum sechsten oder achten Male wieder zerstören wollte.
»Nein,« antwortete er sehr energisch.
»Aber du reibst die Salbe durch; dann werden meine Strümpfe fett und gelb!«
»So ziehst du andere Strümpfe an, und ich wasche dir die gelben! Heut muß das ganze, ganze Fett hinein!«
»Oho!«
»Jawohl! Und du bist selbst schuld daran, Sihdi! Weißt du, was du getan hast? Wie einen Gentleman hast du mich behandelt, als du mir stillschweigend erlaubtest, mit den Engländern zu speisen. Weißt du, was das heißt? Als Diener habe ich dir die Stiefel nur einmal zu salben; als Gentleman aber salbe ich sie dir so lange, bis ich kein Fett mehr habe. Oder meinst du etwa, daß ein Gentleman undankbar sein darf? Wenn ich dich nicht hätte, so wäre ich noch der alte Sejjid Omar, der ich früher war, und wenn ich dieser wäre, so hatte mich kein General heut eingeladen, mit ihm und seinem Harem zu speisen. Das habe ich doch nur dir, nicht mir zu verdanken!«
»Hoffentlich hast du keinen allzugroßen Fehler gemacht!«
»Fehler? Ich gewiß nicht, denn ich weiß, daß ich nur ein armer Eselsjunge bin; aber der Harem des Generals hat sie gemacht.«
»Wieso?«
»Er wollte mich als Diener haben und hat mir mehr geboten, als du mir gibst. Da habe ich geantwortet, wenn man das noch einmal sage, so müsse ich aufstehen und fortgehen, denn es habe noch niemals einen Diener gegeben, der einen solchen Herrn gehabt hat, wie du bist, Sihdi. Ich sagte ihnen, daß ich dir nicht bloß diene, sondern dich auch liebe; ich bin dir also nicht bloß aus Pflicht, sondern auch aus Liebe treu und werde dich für alles Geld der Erde nicht verlassen. Da drückte mir der General die Hand und forderte mich auf, dir zu sagen, daß er sehr bedaure, daß du kein Engländer seist. Am meisten hat ihm gefallen, daß mir sein Harem gefallen hat. Ich habe ihm das ganz aufrichtig gesagt. Bei den Christen sind die Frauen klüger als bei uns, und ich glaube, das ist der Grund, daß dort auch die Männer mehr wissen, als die unserigen wissen.«
»So meinst du, daß die Männer von den Frauen lernen können?« fragte ich. »Das wäre ja ein Gedanke, der bei einem Moslem ganz unmöglich ist!«
»Ich habe jetzt nicht als Moslem, sondern als Sejjid Omar gesprochen. Ich bin zwar Beides, aber ich kann doch auch einmal nur das Eine oder das Andere sein! Bei uns sind die Frauen so unwissend, daß die Kinder nichts von ihnen lernen können, auch die Knaben nicht, und wenn sie ihre Klugheit nicht von der Mutter bekommen können, so kann der Vater sie ihnen auch nicht geben, denn wer sich einen Harem anschafft, der keine Seele hat, der hat selbst so wenig Verstand, daß er für seine Kinder keinen übrig hat. Du hast einmal in Colombo mit dem deutschen Wirte gesprochen, bei dem ich wohnte, und dabei auch das Wort Mutterwitz gesagt. Ich verstand es nicht; aber ich habe darüber nachgedacht. Ein witziger Mann ist doch wohl ein gescheiter Mann, und wenn diese Gescheitheit Mutterwitz genannt wird, so ist sie ihm höchst wahrscheinlich von der Mutter angeboren worden. Warum aber haben wir kein arabisches Wort für Mutterwitz? Weil wir keine klugen Frauen und Mütter haben! Aber, weißt du, zuweilen gibt es eine, doch nur zuweilen. Ich kenne nur eine einzige, und die ist meine Mutter! Ich denke oftmals: Wenn ich ein guter Mensch bin, so habe ich das von ihr geerbt; der Vater hat es nur unter seinen Schutz genommen. Ist das dumm von mir?«
»Nein, lieber Omar, ganz und gar nicht dumm. Du ahnst Etwas, was selbst bei uns viele große und gelehrte Männer noch nicht wissen. Du bist fast zu beneiden, daß du, was wir vergeblich suchen, schon so von weitem liegen siehst!«
»Ich werde es wegnehmen, wenn ich vollends hinkomme. Meine Gedanken werden nicht abirren, sondern auf diesem Weg bleiben. – – – So, jetzt sind die Stiefel fertig, denn die Salbe ist alle. Hoffentlich gibt es in Penang hier einen Laden, wo ich morgen wieder welche bekommen kann.«
Er hatte seinem lieben, guten Herzen Luft gemacht, trug die Schuhe in das Zimmer und ging dann, eine Wasserpfeife zu rauchen. Das und eine kleine arabische Tasse Kaffee dazu, zusammen für ihn kaum mehr als zehn Pfennige kostend, war die einzige Luxusausgabe, welche er sich gestattete. Wie kommt es wohl, daß nur »unkultivierte« Menschen so bescheiden und zufrieden sind?!
Am nächsten Frühmorgen wurde ein Spazierritt unternommen, von welchem wir erst gegen Mittag heimkehrten. Nach dem Tiffin ging ich nicht aus, sondern blieb daheim. Ich bin ein eigentümlicher Mensch. Ich kann mich einem Gedanken, welcher mich beschäftigt, niemals eigenmächtig entziehen, sondern ich bin so lange sein Eigentum, bis ich ihn vollständig erledigt habe. Es ist, als stehe ein unsichtbares Wesen bei mir, welches auf diese Erledigung warte und, wenn sie erfolgt ist, mich mit einem Gefühle der Befriedigung belohnt, welches mich mehr als Trank und Speise stärkt. Ich fühle mich dann, selbst nach langer anstrengender Arbeit, während welcher ich nichts genieße, nicht nur geistig, sondern auch körperlich so befriedigt, daß ich kein Bedürfnis nach materieller Nahrung habe. Ist es bloß der Magen, der den Menschen ernährt? Oder findet das, was wir Stoffwechsel nennen, auch noch auf eine andere, geheimnisvolle Weise statt? Ich kann, wenn ich geistig beschäftigt bin, recht gut mehrere Tage ohne Essen und auch Trinken sein, ohne Hunger oder Durst zu spüren. Man sollte diese Erfahrung aufmerksam verfolgen; vielleicht käme man dadurch auf eine ganz unerwartete Erklärung des Bibelwortes, daß der Mensch nicht allein vom Brote lebe; denn, offen gestanden, mache ich die erwähnte Beobachtung meist dann, wenn ich von religiösen Fragen beschäftigt werde. Man wird wahrscheinlich über mich lächeln; ich aber würde mich freuen, wenn ich von anderer Seite erführe, daß ich nicht der Einzige bin, der daran zweifelt, daß der Mensch seine körperliche und geistige Entwickelung nur allein dem Verdauungskanal zu verdanken habe.
Die gestrige Beschäftigung mit dem Aufenthalte und der Krankheit des amerikanischen Missionars hatte Alles, was in meinem Innern zu ihm in Beziehung stand, wieder in den Vordergrund gezogen, und da stellte es sich denn heraus, daß ich diesem Gegenstande die Erledigung eines Gedankens schuldig geblieben war. Dieser Gedanke war freilich kein sehr wichtiger, und so hatte es kommen können, daß er einstweilen auf die Seite geschoben werden konnte; jetzt aber machte er sich wieder geltend, und jenes unsichtbare Wesen stand hinter mir und mahnte mich unaufhörlich, diese Lücke auszufüllen. Ich hatte diese Mahnung schon gestern abend in mir gespürt, war während der Nacht einige Male von ihr aufgeweckt worden, und während des heutigen Rittes hatte sie mich hin- und zurückbegleitet, um mich nun daheim festzuhalten, damit ich darangehen möge, mich von ihr zu befreien oder, was wahrscheinlich richtiger ist, sie endlich wieder freizugeben. Es handelte sich, wie gesagt, um nichts Großes, sondern nur um das Gedicht »Tragt Euer Evangelium hinaus«, und wer nicht weiß, was im Seelenleben ein unvollendeter Gedanke zu bedeuten hat, der wird es nicht begreifen, daß man sich von so Etwas beunruhigen lassen kann. Wer aber gewöhnt ist, seinen geistigen Himmel immer rein, klar und licht zu sehen, dem wird jeder nur halb fertig gedachte Gedanke zu einer Wolke, welche ihn nicht nur direkt stört, sondern auch auf alle seine anderen Gedanken ihren Schatten wirft. Wenn wir von einem Lichte der innern Welt des Menschen sprechen, so meinen wir damit jene Alles durchdringende und das Einzelne zum Ganzen fügende Logik, welche den Geist von der Materie zu scheiden und ihn sich anzueignen hat. Diese Logik duldet nichts Unfertiges, nichts Halbvollbrachtes, weil sie nur aus dem Klargewordenen zu neuer Klarheit schreiten kann. Da gibt es nichts Unwichtiges, nichts Nebensächliches, was man im Dunkel, ohne daß es schadet, liegenlassen darf. Freilich, wer in der Weise nur für das Aeußere lebt, daß er für diese innere Welt keine Zeit und kein Verständnis hat, oder wer gar ein so krasser Materialist ist, daß er nicht ansteht, eine unendlich reiche Schöpfung, die er in sich trägt, zu leugnen, dem kann keine Wolke seinen Himmel stören, weil er eben keinen Himmel hat.
Es war mir, als ob dieses Gedicht ein notwendiger Teil meines Verhältnisses zu Wallers sei, als ob ich es unbedingt vollenden müsse, wenn dieses Verhältnis so, wie sein Anfang es versprochen hatte, sich ausgestalten sollte, und so nahm ich mir vor, heute Nachmittag der fertigen ersten Strophe die noch fehlende zweite hinzuzufügen. Aber ob es mir gelingen werde, das wußte ich freilich nicht, denn ich verstehe unter »Dichten« nicht das, was tausend Andere damit meinen.
Aber sonderbar, kaum hatte ich das Papier vor mich hingelegt, so war es mir, als ob jenes »unsichtbare Wesen« mir die nötigen Worte zuflüstere. Ich brauchte die erste Strophe gar nicht erst wieder zu zergliedern, um ihr die zweite logisch folgen zu lassen, und es dauerte wohl kaum zehn Minuten, so hatte ich geschrieben:
»Tragt Euer Evangelium hinaus,
Indem Ihr's lebt und lehrt an jedem Orte,
Und alle Welt sei Euer Gotteshaus,
In welchem Ihr erklingt als Engelsworte.
Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;
Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen;
Dann wird die Erde Christi Kirche sein
Und wieder eins von Gottes Paradiesen!«
Nicht lange hierauf lief die »Coen« in den Hafen. Ich ließ mich an Bord bringen, um Kommandant Wilkens die Hand zu drücken. Er war ein tüchtiger, vielbefahrener Seemann, ein lang und stark gebauter, sehr aristokratisch erscheinender und auch wirklich vornehm denkender »Mijnheer« und last not lenst, ein seelensguter Mensch, der für seine Passagiere und Untergebenen wie ein Vater sorgte. Er freute sich, als ich mich für die Rückfahrt nach Uleh-leh anmeldete, und bat mich, doch lieber gleich mit nach Java zu gehen. Es sollte aber anders kommen, als ich dachte. Die Einleitung dazu kam, ohne daß ich es ahnte, soeben auf der Route von Laknawa herbeigedampft.
Ich war hinunter in den Speisesaal gegangen, um wieder einmal auf der dortstehenden, prächtigen Orgel zu spielen, welche Wilkens sich aus Amerika hatte kommen lassen. Da unterbrach er mich, indem er durch das geöffnete Oberlicht herunterrief:
»Wenn Sie etwas Schönes sehen wollen, so kommen Sie herauf! Es ist geradezu ein nautisches Ereignis, ein Unikum!«
Ich eilte hinauf. Er stand auf dem Hinterdeck und beobachtete mit bewundernden Blicken ein Fahrzeug, welches leicht und schnell, als ob das Wasser ihm gar keinen Widerstand biete, herbeigeflogen kam. Es war eine Dampfjacht, so scharf und kühn auf den Kiel gesetzt, wie nur die Amerikaner es fertigbringen oder – – brachten, denn wir Deutschen verstehen das jetzt auch! Die Konturen waren zum Erstaunen schön und rein. Die Decklinie stieg vorn und hinten in die Höhe, denn sonderbarerweise war sowohl der Vorder- wie auch der Quarterplatz nach Dschunkenart erhoben, was dem Schiffe etwas Fremdartiges, fast möchte ich sagen, Märchenhaftes gab. Der nach Klipperart schneidig gezogene Bug wurde von einem wunderbar schönen Frauenkopf aus weißem, reinstem Marmor gekrönt, unter welchem auf dunklem Schleier in großen goldenen Buchstaben der Name »Yin« zu lesen war. Hinten wehte die chinesische Flagge mit dem gelben Sonnenball auf rotem Grund.
Wahrhaftig ein Unikum!« rief Wilkens begeistert aus. »Macht wenigstens zwanzig Knoten die Stunde! Habe so Etwas noch nicht gesehen! Eine Vermählung des Leichtesten und des Unbeholfensten, der Schoner- und Dschonkenform, und doch nichts als Linien, welche eiligst vorwärts drängen. Diese Dampfjacht ist ein Meisterstück! Aber daß sie einem Chinesen gehört, ist mir unbegreiflich! Was bedeutet das Wort Yin?«
»Es heißt soviel wie Güte,« antwortete ich; »das wird wohl der Name des schönen Wesens sein, dessen Marmorbild vom Bug getragen wird. Es sind chinesische Gesichtszüge, und doch auch wieder nicht. Diese Jacht ist ein Rätsel, und ich wollte, daß ich es lösen dürfte!«
Es war mir beschieden, daß ich es gar nicht zu lösen brauchte, weil es sich mir freiwillig offenbarte.
Schade, daß das Deck mit der Sonnenleinwand verhangen war! Man sah keinen Menschen, als nur den hochstehenden Kommandierenden, und dieser hatte einen so breitkrämpigen, chinesischen Hut auf dem Kopfe, daß die Gesichtszüge nicht zu erkennen waren, zumal die Jacht in ziemlicher Entfernung an der »Coen« vorüberging. Sie tat das so zierlich, so anmutig und doch so kraftgewiß, daß nur eine vollständig ausgewachsene Landratte nicht darüber in Entzücken geraten wäre. Man konnte getrost darauf schwören, daß alle Augen, die es hier im und am Hafen gab, jetzt ausschließlich nur auf die unvergleichliche »Yin« gerichtet seien!
Sie schien Bar nicht vor Anker gehen zu wollen, sondern sie drehte nur bei und gab ein Boot mit einem Mann und zwei Ruderern ab, welches Richtung nach dem Lande nahm. Dann dampfte sie wieder mit fast unhörbarer Maschine und vollständig rauchlos atmend, zum Hafen hinaus.
»Wie viele Millionen dieser Chinese wohl besitzen mag!« seufzte Wilkens. »Er selbst aber kommandiert die Jacht jedenfalls nicht! So eine spielende Kurve bei so einer gedankenschnellen Trennung des Bootes, und dann so rund wieder herum und mit Vollkraft hinaus, das bringt kein Chinese fertig; das kann nur Jemand, dem ich die Hand dafür drücken möchte, daß ich es habe ansehen dürfen. Die Jacht kam, gab dem Hafen mit dem Boote einen Kuß und ging dann wieder fort. So ist es, nicht anders. Morgen werde ich denken, daß ich diese Marmor-»Yin« nicht gesehen, sondern nur geträumt habe!«
Der Aufenthalt der »Coen« währte nur kurze Zeit. Ihr Kapitän hatte an Land zu tun und bat mich, für diese Zeit bei ihm zu bleiben. Daher mußte ich unterlassen, was ich sonst wohl getan hätte, nämlich mich, um über die »Yin« Etwas zu erfahren, nach dem von ihr ausgesetzten Boote zu erkundigen. Als er seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigt hatte, war von seinem Dampfer aus das erste Zeichen für die Abfahrt schon gegeben worden; er mußte sich beeilen; darum begleitete ich ihn nicht wieder an Bord, sondern nur bis an das Wasser. Der Abschied von ihm war nur für einige Tage, darum kurz und ohne überflüssige Worte; dann ließ ich mich in einer Rickschah nach dem Hotel fahren. Dort angekommen, erfuhr ich von Omar eine Neuigkeit, welche er mir in sehr mißbiüigender Weise mitteilte:
»Sihdi, ich bin zornig; ja ich bin sogar wütend! Man hat keine Rücksicht auf dich genommen! Du willst ruhig und ungestört hier wohnen; aber man hat gerade die Zimmer, welche über uns liegen, an zwei Inglis abgegeben, die vor einer halben Stunde hier eingetroffen sind. Man hört hier unten jeden Schritt, den sie oben machen, und sie sprechen so laut, als ob sie ganz allein auf der Erde wären. Soll ich hinaufgehen und ihnen sagen, wie sie sich zu verhalten haben?«
»Nein. Jeder hat das Recht, zu wohnen, wo er will. Wenn ich mich von ihnen belästigt fühle, werde ich ein anderes Zimmer nehmen; es sind ja mehr als genug Wohnungen da. Der Mensch hat nicht stets das zu wollen, was gerade ihm beliebt, denn Jeder ist auf Andere angewiesen. Man muß sich nach der Decke strecken!«
»Decke – – – Decke – – –!« wiederholte er. Das war ein ihm ganz fremdes Gleichnis. Er ging langsamen Schrittes in den Garten hinüber und lehnte sich dort an einen Baum. Seine Lippen bewegten sich. Er lernte die sieben Worte von der »Decke« auswendig und dachte über ihre Bedeutung nach. Das war so seine Weise. Dann pflegte er später nach einer Gelegenheit zu suchen, das Resultat seines Nachdenkens anzubringen.
Als ich in meine Wohnung getreten war, hörte ich allerdings sofort, daß Jemand über mir wohnte. Man ging mit starken, ungenierten Schritten bin und her; Tisch und Stühle wurden gerückt; es fiel etwas Schweres mit lautem Krache um. Ich sah Kellner an meiner offenen Tür vorüber eilen, welche mit Küchengeschirr an der nach oben führenden Treppe verschwanden. Die beiden neu angekommenen Engländer schienen speisen zu wollen. Sie traten jetzt, um der Bedienung Raum zu geben, auf den freien Vorraum heraus, und ich konnte hören, was sie sprachen. Sie sahen den Sejjid stehen.
»Ein prächtiger Kerl dort!« sagte der Eine. »Schaut, Sir, was für ein Körperbau und was für charakteristische Zuge! Kein Bildhauer könnte sich ein besseres Modell wünschen. Jedenfalls ein Muhammedaner vom Himalaja!«
»No!« erklang die Antwort des Andern sehr kurz und sehr bestimmt.
»Nicht? Ich glaube doch, Indien und seine Bevölkerung zu kennen! Nur in den Bergen können solche Prachtgestalten wachsen.«
Bei diesem zweiten »No« wurde ich aufmerksam. Der Klang dieses so unendlich bestimmt ausgesprochenen Wortes hatte etwas Bekanntes für mich.
»Nur immer Widerspruch!« tadelte der erste Sprecher. »Woher soll der Mann sonst sein?«
»Aus Aegypten!«
»Kennt Ihr ihn etwa, Sir?«
»No. Habe ihn noch nie gesehen.«
»So habt Ihr Unrecht! Was hätte ein ägyptischer Fellache hier in der Malakkastraße zu tun?«
»Wollen wir wetten?«
»Wieviel?«
»Fünf Pfund, zehn Pfund, hundert Pfund! Mir ganz gleich!«
Jetzt, da gewettet wurde, war ich meiner Sache sicher. Ja, dieser Engländer, der so kurz und so bestimmt sprach und dem hundert Pfund ebenso gleichgültig wie fünf Pfund waren, wenn er nur wetten konnte, dieser Mann hatte nicht nur fünf- und nicht nur zehn- und nicht nur hundertmal mit mir wetten wollen, mich aber nie zu einem Einsatz gebracht. Er war nicht nur ein Bekannter, sondern sogar ein lieber, lieber Freund von mir! Auch die Stimme seines Gefährten mußte ich schon irgendwann und irgendwo gehört haben.
»Lassen wir es bei fünf Pfund,« meinte der Letztere. »Ich weiß, daß ich gewinnen werde, und muß also bescheiden sein.«
»Setzen!« wurde er aufgefordert.
Das war so hochinteressant, daß ich weiter vortrat, um mir kein Wort entgehen zu lassen. Ich hörte Goldstücke klingen; dann wurde Omar von oben herab in arabischer Sprache angerufen:
»Chod minni, ia Ibn 'arab! Schu beledak – höre, Araber, wo bist du her?«
Omar sah erstaunt zu dem Frager hinauf und antwortete: »Aus Kairo in Aegypten.«
»Well! Komm her! Bis ganz heran, gerade unter mir!«
Der Sejjid folgte dieser Aufforderung.
»Heb den Saum deines Gewandes auf! Ich will dir etwas hinabwerfen!«
Omar tat, wie ihm geheißen worden war. Er fing fünf Goldstücke auf.
»So! Dieses Geld ist dein, weil du aus Aegypten bist!«
Hierauf folgte ein zweistimmiges Lachen, welches jedenfalls der unbeschreiblichen Verwunderung galt, mit welcher der Sejjid emporschaute. Er stand ganz starr, das Gesicht nach oben gerichtet und den aufgerafften Saum unbeweglich festhaltend. Dann, als man oben von der Brüstung zurückgetreten war, bewegte er sich langsam auf mich zu, hielt mir die Falten, aus denen die Goldstücke flimmerten, hin und sagte:
»Hast du es gehört, Sihdi? Fünf englische Pfund! Das sind fast tausend ägyptische Piaster! Mir geschenkt, weil ich aus Kairo bin! Rechts macht mich das stolz; links aber ärgert es mich! Diesem Inglis da oben ist Aegypten wert; das freut mich; aber er hält mich nicht für einen wohlhabenden Diener meines Sihdi, sondern für einen armen Teufel, welcher das Gewand aufhebt, um sich Piaster schenken zu lassen. Ich werde hinaufgehen, um ihm das Geld wiederzugeben.«
»Ja, du wirst hinaufgehen, aber das Geld behalten, Omar. Dieser Inglis ist unendlich reich, und er hat dir die fünf Pfund nicht gegeben, um dich zu beleidigen. Er hat dich gesehen und dann gewettet, daß du ein Aegypter seist. Und weil du einer bist, hat er das Geld gewannen und es dir geschenkt.«
»Maschallah! So bin also ich es, der diese Wette gewonnen hat, nicht er! Denn wenn ich nicht Sejjid Omar aus Kairo wäre, so hätte er sie verloren! Und was ich gewannen habe, das ist mein; ich werde mich also hüten, es ihm wiederzugeben! Aber du sagtest, daß ich hinaufgehen soll?«
»Ja. Sie werden jetzt speisen. Du teilst ihnen sehr höflich mit, daß ich mit ihnen essen will, sagst aber auf keinen Fall meinen richtigen Namen, auch nicht, daß ich ein Deutscher bin, der Bücher schreibt!«
»Gut! Das werde ich schon machen. Du weißt ja, daß du dich auf mich verlassen kannst! Aber diese fünf Pfund mag ich nicht einstecken. Hebe du sie mir auf, denn bei dir ist mir das Geld lieber als bei mir!«
Er gab mir die Münzen und ging. Es dauerte gar nicht lange, so kam er wieder, und zwar mit einem bitterbösen Gesicht.
»Nun, was hat man gesagt?« fragte ich.
»Ausgelacht hat man mich, und beinahe hinausgeworfen,« zürnte er. »Ich könnte diese Inglis gleich mit beiden Fäusten prügeln, aber du weißt ja, Sihdi, daß man sich nach der Decke strecken muß!«
Ich gab mir Mühe, bei dieser so schnell eingetroffenen Nutzanwendung nicht laut aufzulachen. Er fuhr fort:
»Ich sagte deinen Namen nicht, sondern den, welchen du immer in das Fremdenbuch zu setzen pflegst. Ich sagte nicht, daß du ein Deutscher, sondern daß du mein Sihdi seist; das ist doch mehr, als alle Völker zusammengenommen. Ich sagte nicht, daß du Bücher schreibst, sondern daß du Gedichte machst. Das ist keine Lüge und führt, wie ich von unsern arabischen Dichtern weiß, den Menschen zur Unsterblichkeit. Und endlich sagte ich, daß dieser unsterbliche Sihdi ihnen sagen lasse, daß er heraufkommen werde, um mit ihnen zu essen.«
Er machte eine Pause. Die Sache gab mir heimlich Spaß; er aber fügte in seinem grimmigsten Tone hinzu:
»Da lachten sie über mich; das will ich ihnen verzeihen. Aber sie lachten auch über dich, und das kann ich ihnen nicht verzeihen! Der Eine, welcher viel älter als der Andere ist, sagte, wer unsterblich sei, der brauche nicht zu essen, weil der Hunger ihm ja nicht schaden könne. Und der Jüngere befahl mir, dir zu sagen, daß er in der Küche ein Essen für dich bestellen und es dir schicken lassen werde. Das beleidigte mich so, daß ich vor Aerger vergaß, mich nach der Decke zu strecken. Ich wurde auch grob und sagte ihnen, daß ich ihnen ihre fünf Pfund wiederbringen werde. Da gaben sie den Kellnern den Befehl, mich hinauszuschaffen; ich bin aber natürlich selbst gegangen. Gib mir die Goldstücke, Sihdi; ich trage sie hinauf!«
»Nein. Du wirst sie behalten und dennoch noch einmal hinaufgehen.«
»Das fällt mir schwer, Sihdi; aber wenn du es willst, so werde ich es tun. Was soll ich sagen?«
»Merke dir die Worte genau! Du sagst folgendermaßen: "Mein Sihdi läßt Sir John Raffley und die liebe Chair-and-umbrella-pipe grüßen!" Hast du das verstanden?«
»Ja: Mein Sihdi laßt Sir John Raffley und die liebe Chair-and-umbrella-pipe grüßen!«
»Und wenn man dich fragt, woher ich ihn und sie kenne, so antwortest du: "Mein Sihdi war dabei, als sie auf Ceylon verlorenging und auf dem chinesischen Schiff dann wiedergefunden wurde." Kannst du dir das merken?«
Er wiederholte die beiden Sätze einige Male, bis er sie sich eingeprägt hatte. Dann fragte er in bedenklichem Tone:
»Was tu ich aber, wenn ich wieder ausgelacht oder gar hinausgeworfen werde?«
»Das wird nicht geschehen, denn du wirst ganz im Gegenteil große Freude anrichten. Die Hauptsache ist, daß du auch wirklich hinein zu ihnen kommst, um deinen Auftrag auszuführen. Am besten ist es, du läßt dich gar nicht anmelden, sondern gehst stracks hinein, ohne dich vorher mit den Kellnern abzugeben.«
Hierauf ging er fort. Ich sah ihm nicht nach, war aber überzeugt, daß er unterwegs einige Male stehenbleiben wurde, um das, was er zu sagen hatte, für sich zu wiederholen.
Um mein Verhalten begreiflich zu machen, muß ich auf die schon erwähnte Reiseerzählung zurückkommen, welche in Band XI meiner gesammelten Werke unter dem Titel »Der Girl-Robber« zu finden ist. Ich erzähle da von einem Erlebnisse mit Raffley, welches sich auf Ceylon und seinem Küstengewässer abwickelte, und sage von diesem »Englishman ohne Furcht und Tadel« folgendes:
»Neben mir lehnte Sir John Raffley. Er bemerkte von all den Herrlichkeiten, welche ich sah, nicht das Geringste. Die köstlichen Tinten, in denen der Himmel flimmerte und glühte, das strahlendurchblitzte Kristall der See, der erquickende Balsam der sich abkühlenden Lüfte und die bunte, interessante Bewegung auf dem vor uns liegenden Fleckchen der herrlichen Gotteswelt, sie gingen ihm verloren; sie waren ihm im höchsten Grade gleichgültig; sie durften es nicht wagen, seine Sinne auch nur einen Augenblick lang in Anspruch zu nehmen. Und warum? Wunderbare und ganz überflüssige Frage! Was war denn eigentlich dieses Ceylon in seinen Augen? Ein Eiland, eine Insel mit einigen Menschen, einigen Tieren und einigen Pflanzen darauf und rundum von Wasser umgeben, welches nicht einmal zum Waschen oder zur Bereitung einer Tasse Tee geeignet ist. Was ist das weiter! Etwas Sehenswertes oder gar Erstaunliches gewiß nicht! Was ist Point de Galle gegen Hull, Plymouth, Portsmouth, Southampton oder gar London; was ist der Governor zu Colombo, obgleich sein Verwandter, gegen die Königin Viktoria von Altengland, Irland und Schottland; was ist Ceylon gegen Großbritannien und seine Kolonien; was ist überhaupt die ganze Welt gegen Raffley-Castle, wo Sir John geboren worden ist?!
Der gute, ehrenwerte Sir John war ein Engländer im Superlativ. Besitzer eines unermeßlichen Vermögens, hatte er noch nie daran gedacht, sich zu verehelichen, und war einer jener zugeknöpften, schweigsamen Englishmen, welche alle Winkel der Erde durchstöbern, selbst die entferntesten Länder unsicher machen, die größten Gefahren und gewagtesten Abenteuer mit unendlichem Gleichmute bestehen und endlich müde und übersättigt die Heimat wieder aufsuchen, um als Mitglied irgend eines berühmten Reiseklubs einsilbige Bemerkungen über die gehabten Erlebnisse machen zu dürfen. Er hatte den Spleen in der Weise, daß seine lange, knochige Gestalt nur in seltenen Augenblicken einen kleinen Anflug von Genießbarkeit zeigte, besaß aber doch ein außerordentlich gutes Herz, welches stets bereit war, die großen und kleinen Seltsamkeiten, in denen er sich zu gefallen pflegte, wieder auszugleichen. Eine innere Erregung schien bei ihm gar nicht denkbar, und er zeigte nur dann eine lebhaftere Beweglichkeit, wenn er auf eine Gelegenheit stieß, eine Wette einzugehen. Die Wettsucht nämlich war seine einzige Leidenschaft, wenn bei ihm überhaupt von Leidenschaft die Rede sein konnte, und es wäre wirklich geradezu ein Wunder gewesen, hätte er eine solche Gelegenheit versäumt.
Nachdem er aller Herren Länder kennengelernt hatte, war er zuletzt nach Indien gekommen, dessen General-Gouverneur ebenso wie der Gouverneur von Ceylon ein Verwandter von ihm war, hatte es in den verschiedensten Richtungen durchstreift, war auch schon einige Male auf Ceylon gewesen und im Auftrage des General-Gouverneurs jetzt wieder hergekommen, um sich wichtiger Botschaften an den Statthalter zu entledigen. Wir hatten uns im Hotel Madras kennen gelernt und uns nach und nach geistig zusammengefunden, und obgleich er mich niemals auch nur zur kleinsten Wette vermocht hatte, war ich ihm doch so befreundet und lieb geworden, daß er trotz seiner sonstigen Unnahbarkeit eine wahrhaft brüderliche Zuneigung für mich an den Tag legte.
Also jetzt lehnte er, völlig unberührt von den uns umgebenden Naturreizen, in denen ich sozusagen schwelgte, neben mir und beschielte den goldenen Klemmer, welcher ihm vorn auf der äußersten Nasenspitze saß, mit einer Beharrlichkeit, als wolle er an dem Sehinstrumente irgend eine welterschütternde Entdeckung machen. Neben ihm lehnte sein Regen- und Sonnenschirm, welcher so kunstvoll zusammengesetzt war, daß er ihn als Stock, Degen, Sessel, Tabakspfeife und Fernrohr benutzen konnte. Dieses Meisterstück war ihm von dem Travellerklub, Nenrstreet, London, als Souvenir verehrt worden; er trennte sich niemals, weder bei Tag noch bei Nacht, von demselben und hätte es um alle Schätze der Welt nicht von sich gegeben. Diese Chair-and-umbrella-pipe, wie er es nannte, war ihm beinahe ebenso lieb wie seine prachtvoll eingerichtete Dampfjacht, welche unten im Hafen vor Anker lag und die er sich für seinen persönlichen Gebrauch auf einer der Werften von Greenock am Clyde, den in aller Welt berühmten Schiffsbauwerkstätten, hatte bauen lassen, weil er auch auf der See stets mit eigenen Füßen auf eigenem Grund und Boden stehen wollte.« – –
So schrieb ich vor Jahren über ihn. Wir waren Freunde, ohne Freundschaft geschlossen zu haben; wir hatten einander lieb, ohne von dieser Liebe zu sprechen; wir waren gegenseitig zu jedem Opfer bereit, ohne aber das, was wir füreinander taten, für ein Opfer zu halten. Das lag so in seiner wie auch in meiner Weise. Nach der letzten Trennung schrieben wir uns einige Male, und als dann ich keinen Brief mehr von ihm und er auch keinen mehr von mir bekam, fiel es Keinem von uns Beiden ein, zu denken, daß er vergessen worden sei, oder dieses Schweigen gar für eine negative Absage der Freundschaft zu halten. Die Treue ist etwas Geistiges, oder noch richtiger, etwas Seelisches, und wer sie nach der Zahl der Briefbogen mißt, der traut sich selber nicht. Wer meiner Freundschaft zumutet, ihm in ganz bestimmten Zeitintervallen eine ganz bestimmte Zahl von Zeilen zu schreiben, der zwingt das Heiligste ins Briefcouvert und kann nur wenig Freunde haben. Schreibselige Menschen begeben sich sehr leicht in die Gefahr, lästig zu werden, und nur der Backfischfreundschaft ist es erlaubt, von dem hohen Werte der Zeit noch nichts zu wissen.
Nun hatte ich meinen John Raffley vorhin sofort an der Stimme erkannt, und jetzt wußte ich auch, wer der Andere war, nämlich sein Verwandter, welcher damals die Stelle des Governors von Ceylon bekleidet hatte. Wie kamen sie hierher? Die »Coen« war das einzige Schiff, welches heute Passagiere abgegeben hatte, und ich wußte ja, daß sie mit dieser nicht gekommen waren. Zwar fiel mir da die »Yin« ein, und wie ich Raffley kannte, so war gerade ihm der Besitz einer solchen Jacht wohl zuzutrauen; aber sie trug chinesisches Gewand, während er, wie ich mich sehr wohl erinnerte, nichts weniger als ein Bewunderer chinesischer Verhältnisse gewesen war.
Da hörte ich eilige Schritte draußen von der Treppe her kommen, und eine sehr prestierte Stimme rief:
»Wo denn, wo? Welche Nummer?«
»Zweiunddreißig!«
Das war Omar, der von Weitem antwortete.
»Zweiunddreißig? Well! Also links, hier, gleich da! Wonderful!«
Noch zwei Schritt, einen Sprung auf die Holzlage meines Vorzimmers, und da stand er, vom schnellen Laufen rasch atmend, in Hemdärmeln, barhäuptig und wie früher auch schon immer, den goldenen Klemmer auf der Nase, den er so virtuos bis auf ihre Spitze herunter reiten zu lassen verstand.
»Charley!« rief er aus.
So pflegte er meinen Vornamen auszusprechen. Er stand zunächst ganz still vor mir und betrachtete mich mit Augen, aus denen nichts als Liebe und nichts als Freude strahlte. Seine Lippen zitterten erregt. Dann folgte jenes mir bekannte Spiel der Gesichtsmuskeln, mit welchen er, ohne ihn zu berühren, den Klemmer zwang, langsam bis an das Ende der Nase vorzurutschen und dort so verwegen sitzen zu bleiben wie ein Clown, der auf der äußersten Croupe seines Pferdes hängt. Dann schüttelte er die an der Schnur hängenden Gläser vollends ab, breitete die Arme aus, zog mich an sich und hielt mich, ohne ein Wort zu sagen, fest umschlungen. Hierauf schob er mich von sich ab, betrachtete mich noch einmal von dem Kopfe bis zu den Füßen herab genau und rief dabei aus:
»Ja, ja, er ist's; er ist's in Wirklichkeit! Ein Sihdi, der mit mir essen will! Ein Mensch, welcher Gedichte macht! Stimmt! Daß ich das nicht gleich gedacht und gewußt habe! Charley, wollen wir wetten?«
»Worüber?«
»Daß Ihr nicht ahnt, wen ich bei mir habe!«
»Ich wette nicht, niemals! Das wißt Ihr doch!«
»Also noch immer nicht? Miserabel! Ihr seid ein ganzer Kerl, ja, ein famoser Kerl, in allen Sätteln fest und praktisch auf dem Land und auf dem Wasser, aber das Eine, das Eine, was Euch fehlt, das will noch immer nicht werden: Ihr wettet nicht, und solange Ihr das nicht tut, ist es nicht möglich, Euch einen vollkommenen Gentleman zu nennen!«
Das war seine alte und einzige Klage über mich, die ich damals unzählige Male hatte hören müssen.
»Ist es ehrlich, zu wetten, wenn man weiß, daß man gewinnen muß?« fragte ich.
»Nein! Aber ich wette ja mit Euch, daß Ihr nicht gewinnen werdet!«
»Ich gewinne! Euer Verwandter, der Governor, ist bei Euch!«
Da trat er zwei Schritte zurück, setzte den Klemmer wieder auf, sah mich erstaunt an und sagte:
»Unbegreiflich! Dieser deutsche »Sihdi, welcher Gedichte macht,« konnte fünf und auch noch mehr Pfund von mir gewinnen und hat nicht mitgetan! Aber – – was sehe ich!« Er streckte beide Arme nach vorn und sah die Hemdärmel ganz betroffen an. »Wie bin ich gekommen? Wie stehe ich da?! Schrecklicher Mensch, der ich bin! Aber es war so schwül, und nur der Governor da! Ist auch in Hemdärmeln! Muß ihn warnen! Kommt herauf, Charley, aber schnell, schnell! Habe vor Freude ganz den Rock vergessen! Ich reiße aus! Pardon!«
Er war wirklich im Gesichte rot geworden, der liebe, gute Mensch! Nun lief er so schnell fort, wie er gekommen war. Der Sejjid hatte draußen gestanden und gewartet, jetzt kam er herein und sagte:
»Dieser Inglis hat mich aber doch hinausgeworfen!«
»Was? Hinausgeworfen?«
»Ja, aber nicht aus Zorn, sondern vor Freude.«
»Wieso?«
»Als ich das von der Chair-and-umbrella-pipe sagte, fragte er mich wirklich ganz so, wie du dachtest, woher du sie kennst. Als er dann erfuhr, daß du auf Ceylon und auf dem chinesischen Schiffe dabeigewesen seist, da sprang er auf und rief: »Das kann nur mein alter, lieber Charley sein!« Dann packte er mich an, warf mich zur Türe hinaus, sich selber aber auch mit, und rannte nach der Treppe. Der andere Inglis rief ihm nach, er solle doch erst den Rock anziehen, aber er hörte gar nicht darauf. O, Sihdi, diese Inglis müssen sehr gute Menschen sein, weil sie dich so lieb haben! Ich bin nur froh, daß ich ihnen die fünf Pfund nicht wiedergegeben habe; das hätte sie denn doch vielleicht gekränkt!«
»Es sind zwei Engländer vom höchsten Adel, Omar. Sei also höflich, sehr höflich mit ihnen!«
»Du brauchst keine Sorge zu haben, Sihdi! Mein Adel ist von Muhammed, also weit über tausend Jahre alt, und adelig sein, das kann man bei uns nicht, ohne auch höflich zu sein! Ich weiß nicht, wie das bei den andern Völkern ist!«
Als ich hinaufkam, standen wohl sieben oder acht Kellner da. Meine beiden Gastfreunde waren also im Hotel hoch geschätzt. Ich wurde mit einer so aufrichtigen Freude und einer so wohltuenden Güte empfangen, daß ich mich sofort wie bei Verwandten fühlte, bei denen man zu Hause ist. Man stürzte nicht mit Fragen über mich her; es wurde sogleich gegessen. Es lag überhaupt nicht in der Art dieser beiden Männer, viel Worte zu machen. Was man ihnen nicht ungefragt sagte, das gab es für sie nicht. Natürlich erkundigte ich mich nach dem Schiffe, mit welchem sie gekommen seien.
»Schiff?« antwortete Raffley. Ach, das weiß dieser Charley noch gar nicht. Kommt schnell heraus nach dem vordern Raume! Da seht Ihr es liegen.«
»Er zog mich hinaus, wo man zwischen den Baumkronen hindurch den Hafen sehen konnte, was unten bei mir nicht der Fall war. Er deutete mit der Hand in die betreffende Richtung, und da sah ich, weit entfernt von der Stelle, an welcher der Platz der »Coen« gewesen war – – die »Yin« vor Anker liegen.
»Also doch, doch, doch, die "Yin"!« rief ich voller Freude aus. »Ich habe es mir gedacht und konnte es doch fast nicht glauben!«
»Ja. Ich sah sie in den Hafen kommen, hell und leicht und schön wie eine Nymphe! Ein Fahrzeug, wie ich noch keins gesehen habe!«
»Freut mich, freut mich, Charley! Ist ganz nach meinen eigenen Angaben entworfen und gebaut!«
»Aber es wurde doch nur ein Mann im Boote abgegeben; dann gingt ihr wieder fort!«
»Weil ich den Ankerplatz nicht kannte. Mußte mich erst erkundigen, an welcher Stelle ich die Kette fahren lassen konnte, und bin inzwischen wieder hinausgedampft und dann zurückgekehrt. Kommt wieder herein! Müssen auf diese meine "Yin" ein Glas leeren!«
Wir gingen zu dem Governor zurück und stießen mit ihm auf die Jacht an; er tat bereitwillig Bescheid. Raffley füllte die Gläser wieder und sagte:
»Und nun auf das Wohl einer andern ,Yin', die mir noch tausend-, tausendmal teurer als diese ist! Ich bitte, bis auf den letzten Tropfen leer!«
Ich folgte natürlicher dieser Aufforderung; der Governor aber warf Raffley einen verweisenden Blick zu und rührte das Glas nicht an.
»Well! Ganz wie Ihr wollt!« meinte dieser entschuldigend und begütigend. »Ich werde meine Wette aber doch gewinnen!«
Was war das für eine »andere Yin«? Und was war das für eine Wette? Es gab da einen Punkt, in welchem Beide nicht übereinstimmten. Und es mußte sich um mehr, um viel mehr als um eine bloße Wette handeln. Wer, wie der Governor, einer solchen Aufforderung nicht Folge leistet, der macht sich einer Beleidigung schuldig, welche nach den Gesetzen der Kreise, denen diese Beiden angehörten, sonst nur einen blutigen Ausgang nehmen kann. Wie kam es, daß Raffley, der in Bezug auf Ehrensachen so außerordentlich empfindliche Edelmann, sie in so ruhiger, ja sogar in begütigender Weise hingenommen hatte? War er sich vielleicht einer Schuld bewußt? Ganz gewiß nicht! Dieser Mann trug trotz aller seiner Eigenheiten nicht eine Spur der Möglichkeit in sich, irgend Etwas zu tun, was im Codex der guten Gesellschaft als unerlaubt bezeichnet wird. Es konnte sich hier nicht um ein Vergehen, sondern nur um eine Verschiedenheit der Ansicht handeln, zumal der Governor, sobald das Quiproquo vorüber war, sich ganz so unbefangen wie vorher zu ihm verhielt.
Und doch konnte es dem scharfen Beobachter nicht entgehen, daß ein unsichtbares Fragezeichen zwischen dem Einen und dem Andern schwebte, und dieses Fragezeichen schien ein chinesisches zu sein. Es verstand sich ganz von selbst, daß wir, die wir uns hier am Tore von China befanden, dieses Land auch im Gespräche wiederholt berührten; dann wurde der Governor jedesmal still; man merkte deutlich, daß er sich Reserve auferlegte. Und Raffley war es anzuhören, daß er sich bemühte, seine Aeußerungen abzumessen. Ich selbst befand mich da in einer ziemlich unbequemen Lage. Der Governor war kein Freund der mongolischen Rasse; das stand fest. Raffley war es früher auch nicht gewesen, schien aber seine Ansicht geändert zu haben; jedenfalls gab es für ihn einen Grund, sich nicht so zu äußern, wie er es zu dürfen wünschte. Und ich mußte mich, um nicht anzustoßen, mit oberflächlichen Bemerkungen behelfen, obgleich es in meiner Natur liegt, jeder Sache gern auf den Grund zu gehen. Darum traten zuweilen Pausen ein, welche selbst durch Liebenswürdigkeiten nicht unbemerkbar gemacht werden konnten.
Ich muß sagen, daß Raffley mir jetzt anders vorkam, als er früher gewesen war. Schon körperlich hatte er sich verändert. Seine hagere, knochige Gestalt war voller geworden; die scharfen Linien seines Gesichtes hatten sich gemildert. Die Nase trat nicht mehr so hervor; es zeigte sich alles runder, sanfter, ansprechender als vorher. Er war, um mich so ausdrücken zu dürfen, jetzt bedeutend »hübscher« als vorher. Seine Physiognomie war früher die eines scharfen Denkers, eines sehr willenskräftigen Mannes gewesen, der mit selbstbewußter Rücksichtslosigkeit seine eigenen Wege geht; nun aber schien der Geist sich mit der Seele vermählt zu haben, und das, das freute mich so sehr. Der Spleen war vollständig verschwunden und mit ihm die unendliche Gleichgültigkeit für alles, was nicht Old England und den Sport betrifft. Er zeigte ein lebhaftes Interesse für alles Reinmenschliche, und der starre, rechthaberische Dogmenglaube von früher hatte auch ein anderes, freundlicheres Gesicht bekommen. Damals war er nichts weiter als ein Engländer im Superlativ, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle; jetzt aber war er mehr, viel mehr, nämlich ein harmonisch denkender Mensch und ein zwar nicht sehr schöner, aber dafür bedeutender Mann.
Indem ich das alles beobachtete, fragte ich mich, durch welche Ursache diese Veränderung wohl hervorgebracht worden sei. Ich hätte wohl recht gern das »ewig Weibliche« zur Beantwortung herbeigezogen, zumal ich an mir selbst erfahren habe, welchen segensreichen Einfluß diese größte Macht der Erde auf unsere sogenannten »männlichen« Schwächen und Härten hat; aber er war stets so unnahbar maskulin gewesen, daß ich diesen Gedanken fallenließ, zumal wir jetzt bis zum späten Abend beisammen blieben, ohne daß auch nur ein einziges Wort gefallen wäre, welches mir erlaubt hätte, zu vermuten, daß er jetzt verheiratet sei. Ich stand da vor einem psychologischen Rätsel, dessen Lösung ich nicht meinem Scharfsinn, sondern der Zukunft überlassen mußte.
Und diese Zukunft, wenigstens die naheliegende, unmittelbare, schien durch dieses heutige Zusammentreffen eine Direktion zu bekommen, an welche ich bis zum Erscheinen Raffleys in meiner Wohnung nicht hätte denken können. Ich sagte ihm nämlich, daß ich seine »Yin« von der »Coen« aus gesehen hätte, und erwähnte dabei meine Absicht, auf dieser letzteren Passage zu nehmen.
»Passage?« fragte er. »Auf einem Schiffe, welches »Coen« genannt wird? Fällt Euch gar nicht ein, Charley! Ihr nehmt natürlich Passage auf meiner »Yin«. Basta!«
»Herzlichen Dank, Sir!« antwortete ich. »Aber ich muß mit der »Coen« nach Uleh-leh.«
»Das ist der Hafenort von Atjeh. Was wollt Ihr dort?«
»Eine Geschäfts- oder vielmehr Geldangelegenheit ordnen. Es betrifft nicht eine eigene Sache; ein Freund hat mich darum gebeten.«
»Ist es notwendig?«
»Sogar eilig. Es handelt sich zwar um kein großes Kapital; für den Betreffenden aber würde der Verlust groß genug sein, ihn zu ruinieren.«
»So müßt Ihr freilich hin, wenn Ihr's versprochen habt. Aber warum mit dieser »Coen«? Meine »Yin« kann auch hinüber, und zwar, sobald Ihr wollt! Nur aber müßt Ihr mir versprechen, dann bei uns zu bleiben.«
»Kann ich etwas versprechen, ohne Euer Ziel zu wissen, Sir?«
»Unser Ziel? Hm! Nun, wir gehen nach China.«
»Hört, Charley, betrachtet Ihr Euch als meinen Freund?«
»Ich bin es von ganzem Herzen!«
»Well, so fragt einmal jetzt nicht! Ihr wißt, daß ich Herr meiner Zeit bin und daß ich meinen Kurs an jedem Tag ändern kann, wie ich Euch jetzt mit Uleh-leh bewiesen habe. Wenn Ihr es so eilig habt, können wir schon in dieser Nacht in See gehen. Ihr sagt, es handle sich um Geld. Was das betrifft, so weiß ich, daß Ihr ein sehr verständiger Mann seid; aber ich bin doch wohl noch verständiger, denn wer mehr Geld hat, der hat auch mehr Verstand. Ihr seid der »Sihdi, welcher Gedichte macht«, und dieser mein Verstand sagt mir, daß der Mammon und die Seele eines Dichters zwei Dinge sind, die man als Freund soweit wie möglich auseinander halten soll. Es würde mir eine Freude sein, dies tun zu können. Um was handelt es sich denn eigentlich?«
»Um die Sicherstellung eines Kapitals, welches ein Deutscher drüben in Atjeh stehen hat. Ich habe die briefliche Bitte nebst Einlagen in Colombo bekommen.«
»Und wo steckt jetzt diese briefliche Bitte? Darf ich sie einmal lesen?«
Ich kannte meinen Raffley zu genau; da war nichts zu verweigern, wenn es sich nicht um geradezu persönliche Geheimnisse handelte. Ich mußte hinuntergehen und das Schreiben holen. Er las es durch, auch die beiliegende Vollmacht, steckte Beides in die Tasche und sagte lächelnd:
»Dachte es mir! Ich habe den größeren Verstand! Wir dampfen nicht nach Uleh-leh, sondern gehen morgen früh miteinander hier auf die Bank, sagen wir »Hongkong and Shanghai Banking Corporation«. Da kennt man John Raffley ganz genau, und in zehn Minuten ist die Sache abgemacht. Basta! Bitte, kein Wort mehr verlieren. Ihr wißt, wenn ich meinen Willen haben will, so habe ich ihn! Und nun hier meine Hand: Schlagt ein, daß Ihr mit uns auf meiner »Yin« nach China geht!«
Er hielt mir die Hand hin. Das war ja der reine Sturm! Es kam so unerwartet! Sein Wunsch war nicht nur ehrlich gemeint, sondern mir auch außerordentlich sympathisch, aber ich hatte doch vorher Wichtiges zu bedenken und – – – da fühlte ich unter dem Tische eine Berührung; der Governor hatte mich mit dem Fuße gestoßen und nickte mir, als ich ihn ansah, heimlich bittend zu. Auf seinem jetzt von Raffley nicht beachteten Gesichte stand der dringende Wunsch geschrieben, daß ich »ja« sagen möge. Da ließ ich denn alle Bedenken fallen und legte meine Hand in die dargereichte des Freundes, indem ich, halb scherzend und halb ernst, bemerkte:
»Aber, Sir, ich bin nicht allein. Hat die »Yin« auch Platz für meinen Diener?«
»Für diesen Prachtmenschen, der, wie ich gar wohl bemerkt habe, für seinen »Sihdi, welcher Gedichte macht«, durch Wasser und durch Feuer geht? Welche Frage! Natürlich habe ich Platz, denn treuer wie er kann selbst mein alter Tom und auch der Bill nicht sein.«
»Leben beide noch? Sind sie hier?«
»Jawohl! Seit ich die neue Jacht besitze, sind sie avanciert. Ich nenne Tom nicht mehr Steuermann, sondern Kapitän, worauf er ungeheuer stolz ist, und Bill ist Steuerer geworden. Es wird Euch auf der »Yin« gefallen. Ich habe die Photographien ihrer Räume hier; die werde ich Euch zeigen. Ich hole sie.«
Er verließ das Zimmer. Dies benutzte der Governor, mir seine Hand über den Tisch herüber zu reichen, wobei er in herzlichem Tone sagte:
»Ich danke Euch, Sir, daß Ihr eingewilligt habt! Zwischen mir und John steht ein Gespenst, welches denselben Namen wie die Jacht führt, nämlich »Yin«. Wir vermeiden, von ihm zu sprechen, und dadurch entsteht zwischen uns eine leere, schmerzende Lücke, welche durch Eure Gegenwart weniger empfindlich wird. John gibt viel, sehr viel auf Euch; das weiß ich, obgleich Ihr Euch so lange Zeit nicht gesehen habt. Ich hoffe, daß Eure Gegenwart mich unterstützen wird, unsere große Wette, von deren Gegenstand wir aber, seit wir sie eingegangen sind, nicht sprechen, zu gewinnen.«
Wieder die Wette! Es schien eine ganz eigene und jedenfalls sehr wichtige Bewandtnis mit ihr zu haben!
Raffley brachte die Bilder. Er sprach mit heller Begeisterung von seiner »Yin«, und der Governor stimmte, solange sich dieser Name nur auf die Jacht bezog, in dieses Lob mit ein. Da kam auch die Photographie des Marmorkopfes zum Vorscheine. Raffleys Augen bekamen doppelten Glanz; es war ein Blick der innigsten, der rührendsten Liebe, mit welchem er sie betrachtete. Ich hatte noch nie solche weibliche Züge gesehen. Waren sie kaukasisch oder mongolisch? Waren das mandelförmige oder geschlitzte Augen? Jeder einzelne Teil dieses ganz eigenartig schönen Gesichtes war eine Frage, welche kein Pinsel und kein Meißel zu beantworten vermochte, und trotzdem oder wohl grad darum kamen mir die Worte über die Lippen:
»Ist das Porträt oder Phantasie?«
Da sah der Governor mich bedeutungsvoll an, und ich las von seinen sich lautlos bewegenden Lippen:
»Das ist das Gespenst!«
Raffley sah diese Mitteilung seines Verwandten nicht; er schien seinen Blick nicht von dem Bilde trennen zu können, schob es dann aber doch zu den andern hin und sagte; indem er die Hände wie in ihn plötzlich überkommender Andacht zusammenlegte:
»Es ist Yin, die Güte! Wißt Ihr, Charley, was Güte ist? Nein. Niemand weiß es. Oder seid Ihr wissend genug, mir nicht eine kalte Definition des Begriffes zu liefern, sondern mir Eure ganze Persönlichkeit als Offenbarung dieser Güte aufzuopfern?«
Er sah mich, indem er hoch aufgerichtet vor mir stand, an. Dann richtete sein Blick sich zur offenen Tür hinaus in das Freie, wo die Sterne leuchteten und auf den Wogen silberne Lichter fluteten, und fügte langsam hinzu:
»Und so eine Offenbarung ist mir geworden! Mein Gott, ich danke dir!«
Der Governor zog die Spitzen seines dichten, grauen Schnurrbartes nervös durch die Finger. Diese Wendung war ihm unangenehm. Vielleicht hatte er ein abermaliges, zurechtweisendes Wort auf den Lippen; aber es wurde nicht ausgesprochen, denn die Kellner kamen und baten um die Erlaubnis, abdecken zu dürfen. Wir hatten eine Stunde auf das Essen verwendet und waren dann noch fast dreimal so lange am Tische sitzen geblieben. Ich hielt es also für an der Zeit, mich zu verabschieden. Der Governor begleitete mich höflich bis an die Treppe; Raffley aber ging mit bis in den Garten hinab.
»Noch einen Augenblick, Charley,« sagte er, mich zu einer Bank führend. »Setzen wir uns!«
Ich nahm an, daß er mir noch eine besondere Mitteilung zu machen habe; er saß aber längere Zeit schweigend da, ehe er begann:
»Ihr habt Fragen auf dem Herzen. Nicht?«
»Aufrichtig geantwortet: Nein!«
»Well! Ihr seid eben so, wie man sich einen Freund wünschen muß. Nicht wahr, Charley, Ihr habt früher gebetet und betet heut auch noch?«
»Ja.«
»Auch für Andere?«
»Wer nicht für Andere beten kann, der soll lieber gar nicht beten.«
»Richtig! So bitte ich Euch, tragt dem Herrgott auch für mich ein gutes Wort hinauf! Zweifelt nicht daran, daß ich es nötig habe! Ich möchte unsere Wette so gern, so gern gewinnen. Es ist wohl kein Wortbruch, wenn ich Euch im Vertrauen sage, daß ich Raffley-Castle mit Allem, was zu diesem Schlosse und zu diesem Namen gehört, an diese Wette gewagt habe.«
»Unmöglich!«
»Nicht unmöglich, sondern wirklich!«
»Aber, Sir, ich kann es doch nicht glauben! Ich weiß, wie gern Ihr wettet. Bei Eurem ungeheuren Vermögen ist dies unter gewöhnlichen Verhältnissen auch mit keiner Bedenklichkeit – – –«
»Pshaw!« unterbrach er mich. »Daran denke ich nicht. Ich habe ja grad dieses ungeheure Vermögen auf eine einzige Karte gesetzt. Wenn ich verliere, bin ich in Beziehung auf das Geld ein armer Mann, aber in anderer Beziehung vielleicht noch reicher als vorher. Aber um Anderer willen will und muß ich gewinnen. Darum betet für mich, Charley! Euer Gebet soll nicht meinem Vermögen gelten, sondern etwas ganz Anderem und viel Höherem. Werdet Ihr?«
»Ja, Sir John.«
»Ich danke Euch! Glaubt nicht, daß etwas Schlimmes zwischen mir und dem Governor liegt! Es ist eine einfache Familienangelegenheit, über die er anders denkt, als ich gedacht habe. Und wenn Ihr mich jetzt vielleicht etwas anders findet, als ich früher gewesen bin, SQ seid überzeugt, daß ich dadurch nicht verloren, sondern gewonnen habe. So, das ist es, was ich Euch sagen wollte. Mögen der ersten »guten Nacht«, die wir uns jetzt nach dem heutigen Wiedersehen wünschen, die guten Tage folgen, in denen der jetzige John Raffley als Mensch das nachholt, was der frühere als Englishman versäumt hat!«
Er drückte mir die Hand und ging. Ich sah ihn so langsam, als ob er an Gedanken schwer zu tragen habe, die Treppe hinaufsteigen.
Wie hatte er so recht, als er meinte, daß er anders geworden sei! Ihn so lange und so zusammenhängend sprechen zu hören, wie jetzt, das war mir früher nie passiert. Er hatte grad durch seine Wortkargheit und Kürze imponiert. Und wie anders hatte er nicht bloß sprechen, sondern auch fühlen gelernt! Es war Etwas erwacht, was früher in ihm geschlafen hatte. Wohl der Hand, die es aus dem Schlafe erweckt hatte!
Am andern Morgen kam er mit seinem Verwandten zu mir herunter, um den Kaffee bei mir einzunehmen. Welchen Grades diese Verwandtschaft eigentlich war, das wußte ich nicht und war auch nicht zudringlich genug, danach zu fragen. Sie nannten sich nicht thou, sondern you, sprachen sich mit Sir an, und wenn der Ton einmal intimer wurde, so war ein dear uncle oder dear nephew beliebt. Während wir bei mir saßen, kam Tom, der »Kapitän«, um zu melden, daß auf der »Yin« Alles »all right« sei; das war sein Lieblingswort. Er war lang und hager, hatte die ganze Haltung und den schleppenden Gang, der dieser Art von Leuten eigen zu sein pflegt, und besaß zwei wunderbar kluge, kleine Aeuglein, welche höchst scharf und selbstbewußt über die große, scharfgeschnittene Nase hinwegblickten. Raffley hatte ihn gewöhnt, nie anders als nur in den kürzesten Worten zu sprechen. Er erkannte mich sofort, und als er erfuhr, daß ich mitfahren werde, schlug er mit der rechten Faust in die linke Hand und rief dabei aus: »Das ist ein Wort! Macht mir Freude!« Das war sein ganzer Herzenserguß, dafür aber um so aufrichtiger gemeint.
Nach dem Kaffee suchten wir das Bureau der Hongkong and Shanghai Banking Corporation auf. Als Raffley seinen Namen nannte, konnte ich den Eindruck wohl bemerken, den dieser auf alle Anwesenden machte. Er trat auf, als ob er der Chef dieser Filiale sei, und es erfüllte sich, was er gestern abend vorhergesagt hatte: in zehn Minuten war die Sache abgemacht. Mein Auftraggeber konnte zufrieden sein!
Eben wollten wir gehen, da trat eine Dame ein, deren Anblick mich zu einem Ausrufe freudigster Ueberraschung zwang – – – Mary Waller. Sie war außerordentlich bleich, sah sehr abgespannt aus und schien sich in einer nicht gewöhnlichen Lage zu befinden, denn ihr Anzug zeigte die Spuren einer Vernachlässigung, welche ihr sonst nicht eigen war, jetzt aber von ihr gar nicht beachtet wurde. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, daß sie meinen Ausruf gar nicht auf sich bezog, mich überhaupt nicht sah, sondern mit schnellen Schritten auf den Disponenten zuging und ihm die kurze, hastige Frage vorlegte:
»Kennen Sie mich noch?«
Er sah sie an. Ihr zwar seidener, aber sehr zerknitterter und mit einigen Rissen versehener Mantel wollte ihm nicht gefallen; aber Mary war eine Persönlichkeit, welche man nicht leicht vergessen konnte. Er besann sich und antwortete höflich:
»Ja, ich kenne Sie. Sie sind Amerikanerin und haben vor einiger Zeit zweitausend Gulden bei uns entnommen. Ich glaube, Ihr Herr Vater war dabei.«
»Richtig! Heute brauche ich etwas über fünfzigtausend.«
»Gern. Darf ich bitten!«
Selbstverständlich erwartete er, daß sie ihm irgend ein Kreditpapier vorlegen werde, und hielt ihr die Hand entgegen. Sie aber stieß, halb verlegen und halb zornig über ihre gegenwärtige Situation, die Worte hervor:
»Ich bitte, mir diese Summe auf mein Wort und meine Ehrlichkeit zu geben. Ich habe keine Anweisung!«
Tut mir leid; ist prinzipiell unmöglich!«
»Mein Himmel! Ich muß und muß es haben! Mein Vater befindet sich in der Gefangenschaft der Malaien von Atjeh, drüben auf Sumatra. Sie haben uns überfallen und Alles abgenommen, auch die Kreditpapiere. Sie verlangen fünfzigtausend Gulden Lösegeld und haben mich in dieser Nacht in einer Praue herübergebracht, um diese Summe zu holen. Die Papiere aber verweigerten sie mir!«
Sie hatte diese Worte stoßweise, in wachsender Angst hervorgebracht. Der Disponent schüttelte den Kopf und erwiderte, zwar teilnehmend aber mit geschäftlicher Bestimmtheit.
»Ohne Unterlage wird Ihr Wunsch bei jeder Bank vergeblich sein. Das Unglück, welches Sie betroffen – – –«
Er wurde unterbrochen, denn Raffley, welcher keine Ahnung davon hatte, daß ich die Bittstellerin kannte, stellte sich mit einigen schnellen Schritten an ihre Seite und erklärte:
»Ich eröffne dieser Dame hiermit bei Ihnen einen Kredit über sechzigtausend holländische Gulden, und bin überzeugt, daß ich sie wiederbekomme. Zahlen Sie sofort aus, was sie verlangt!«
Und sich vor ihr verbeugend, nannte er seinen Namen und fügte in seiner, sobald er wollte, herzgewinnenden Weise hinzu:
»Mylady, Sie schreiben Ihren Namen auf irgend einen Zettel, den man Ihnen geben wird, und können ihn wiederbekommen, so bald oder so spät es Ihnen gefällt.«
Sie wendete sich ihm zu und sah ihm stumm in das gütig lächelnde Angesicht. In ihrem glücklichen Erstaunen fand sie keine Worte. Nun sie der Stelle, an der ich mich befand, den Rücken nicht mehr zukehrte, sah sie auch mich. Sie erkannte mich natürlich sofort, doch war die Wirkung eine ganz andere, als ich wohl hätte vermuten dürfen. Der plötzliche Uebergang von der schwersten Sorge zu der Erkenntnis, daß sie nun geborgen sei, hob die übermäßige Anspannung ihrer Nerven aus; die Kräfte verließen sie. Sie ließ einen lauten Schrei erklingen, schloß die Augen, streckte die Arme aus, um nach einem Halt zu suchen, und wäre hingestürzt, wenn Raffley sie nicht gestützt hätte. Ich sprang hinzu. Sie war ohnmächtig geworden,
Da eilte der Disponent hinaus und kam nach noch nicht einer Minute mit einigen Malajinnen zurück, welche Mary auf eine leichte Bambusbank betteten und diese mit ihr hinaustrugen.
»Kannte Euch die Dame, Charley?« fragte mich Raffley, ohne sich um die Aufregung zu kümmern, in welcher sich sämtliche Bankbeamten befanden. »Fast schien es so!«
»Ja, wir kennen uns,« antwortete ich. »Kommt her; ich muß Euch das erklären!«
Ich führte ihn in das nebenan liegende Wartezimmer, in welchem sich grad jetzt Niemand befand, und klärte ihn so auf, wie die uns nur kurz zugemessene Zeit es mir erlaubte. Ich sagte ihm natürlich auch, daß ich Wallers unter einem andern Namen bekannt geworden sei, und bat ihn, mich ja nicht bei dem richtigen zu nennen.
»Well! Das verleiht Euch einen Anflug von Romantik, den ich Euch nicht rauben werde,« lächelte er. »Ihr seid ja, »ein Sihdi welcher Gedichte macht,« und solche Leute soll man – – –«
»Halt!« unterbrach ich ihn. »Grad daß ich mich auch mit Gedichten befasse, dürfen Wallers am wenigsten erraten. Ich bitte also, besonders auch hierüber zu schweigen! Den Grund dazu werde ich Euch mitteilen, sobald wir Zeit dazu haben. Ich glaube, man verlangt jetzt nach uns.«
Ich sah eine der Malajinnen kommen, welche uns mitteilte, daß die fremde Njonja wieder zu sich gekommen sei und bitte, mit uns sprechen zu dürfen. Sie führte uns nach einer gegen den Hof liegenden Veranda, wo Mary, auf einem bequem ausgezogenen Sessel ruhend, uns erwartete.
Ich darf mir wohl erlauben, über die erste Viertelstunde dieses Zusammenseins hinwegzugehen. sie war der Freude des Wiedersehens und unseren Bemühungen gewidmet, Mary zu beruhigen und sie zu überzeugen, daß für sie und ihren Vater alles nur denkbar Mögliche geschehen werde. Hierauf hielt sie es für ihre Pflicht, zu erzählen, was mit ihr und ihm geschehen war. Raffley aber bat sie in seiner mir so wohl bekannten, rücksichtsvollen Weise, sich zu schonen und uns einstweilen nur zu sagen, wo ihre Wohnung sei. Sie nannte unser eigenes Hotel, worauf er ihr, als sie sich stark genug dazu erklärte, einen Wagen bringen ließ und sie bat, uns nach meinem Zimmer melden zu lassen, wann sie sich ausgeruht habe.
Als sie fortgefahren war, ließ er sich die von ihr gewünschte Summe auszahlen, worauf wir ihr per Rickschahs nachfolgten. Im Hotel angekommen, teilte ich dem Sejjid mit, daß Miß Mary Waller hier sei; er möge sich unauffällig nach ihrem Zimmer erkundigen.
»Die Miß aus Amerika?« fragte er erfreut. »Die liebe ich! Ich werde das sehr schnell erfahren.«
Es dauerte allerdings nicht lange, bis er wiederkam. Sein Bericht lautete:
»Sie ist heut in der nacht zu Fuß und ganz allein vom Hafen hergekommen und hat sehr lange läuten müssen, ehe man ihr geöffnet hat. Sie ist sehr schwach und elend gewesen, hat weder gegessen noch getrunken, sondern sich gleich auf das Bett geworfen und vor Müdigkeit bis vor einer Stunde geschlafen. Dann ist sie in die Stadt gegangen und vor einigen Minuten in einem Wagen zurückgekehrt. Sie wohnt drüben im großen Haus und hat nach einem Arzte geschickt. An ihrer Zimmertür steht die Nummer zwanzig.«
»Gut! Geh hin, und warte, bis der Arzt bei ihr gewesen ist; dann bringst du ihn zu mir. Aber sie soll nichts davon wissen.«
Ich vermutete, daß dieser Arzt einer von den beiden sei, welche ihren Vater behandelt und nach Atjeh geschickt hatten, und ich hatte Recht, denn als er kam, war er derselbe, den ich besucht hatte, um mich nach Wallers Krankheit zu erkundigen. Er war von Mary gerufen worden, um über den Zustand ihres Vaters, welcher sich in Atjeh verschlimmert hatte, gefragt zu werden, und wir wollten mit ihm sprechen, um, ohne die Tochter damit belästigen zu müssen, etwas über die gegenwärtige Lage des Vaters zu erfahren.
Er konnte uns natürlich nur sagen, was er von ihr gehört hatte, und das war nichts Zusammenhängendes, nichts Ausführliches gewesen. Wallers waren zunächst nach Uleh-leh und von da hinauf nach Kota Radscha gefahren, wo ihnen der Gouverneur infolge eines Empfehlungsschreibens eine Wohnung im Kratong, der früheren Zitadelle der Eingeborenen, gegeben hatte. Da dort aber die militärische Besatzung der Holländer liegt, so hatte der Kranke dort die ihm so notwendige Stille und Ruhe vermißt. Aus diesem Grund, und weil Kota Radscha immer noch zu nahe an der fieberschwangeren Küstenniederung liegt, hatte er sich durch keine Vorstellung und keine Warnung abhalten lassen, noch höher hinaufzugehen, und war mit seiner Tochter und einigen Trägern nach den wilden Höhen des Barissangebirges aufgebrochen. Was nun Alles unterwegs und dann auch oben unter den für unbotmäßig gehaltenen Bergmalajen geschehen war, das hatte Mary nicht erzählt, wahrscheinlich um nicht sagen zu müssen, wie falsch ihr Vater sich zu diesen Leuten verhalten hatte, welche die Weißen als die Räuber ihres Landes und die Unterdrücker ihres Glaubens betrachten und darum eine unversöhnliche Feindschaft gegen sie hegen. Aber Schlimmes, sehr Schlimmes mußten sie erlebt haben, bis es schließlich zu der Katastrophe gekommen war, deren Folge in der Gefangennahme Wallers und seiner Tochter bestand. Er hatte getötet werden sollen, doch war es ihr gelungen, durch unausgesetzten Bitten und Tränen die Bitjara zu dem Versprechen zu vermögen, ihn gegen ein Lösegeld von fünfzigtausend Gulden freizugeben. Sie hatte den Auftrag bekommen, dieses Geld zu holen, und war zu diesem Zwecke quer durch das ganze Bergland bis hinunter zur Ostküste geschleppt worden, von wo aus man sie quer über die Malakkastraße gebracht hatte, und zwar in einem malajischen Fahrzeug, dessen Beschaffenheit und Besatzung ihr geradezu zur Hölle geworden war. Bei der nächtlichen Landung hatte sie noch einmal versprechen müssen, keinen Namen zu verraten, weil man das mit dem Tode ihres Vaters rächen werde.
»Er ist aber trotzdem verloren,« fügte der Arzt hinzu, »denn ich vermute, daß sie ihn trotz des Lösegeldes umbringen werden, wenn sie es nur erst haben. Diese Malaien sind schon zu gewöhnlicher Zeit ganz treu- und gewissenlose Menschen, und jetzt, wo wir wissen, daß sich unter ihnen eine blutige Empörung gegen alle Europäer vorbereitet, werden sie erst recht keinen Pardon erteilen. Und selbst wenn sie ehrlich handelten, was aber ganz ausgeschlossen ist, so könnte man das Leben Wallers nicht mehr retten; er wird der Krankheit und den Anstrengungen und Entbehrungen erliegen, die er so unvorsichtiger Weise auf sich genommen hat.«
»Sie selbst haben ihn aber ja hinübergeschickt!« warf ich ihm, der die Malaien haßte, ein.
»Ich habe vom Bergland gesprochen, aber nicht von den einsamen Höhen und Schluchten des Barissangebirges, wo keiner der feindseligen Malaien ihn aufnimmt, um ihn gesund zu pflegen!« antwortete der Arzt. »Er war so schwach, daß er getragen werden mußte. Denken Sie sich eine solche Tour durch wildes Gebirge! Keine Bequemlichkeit, keine Nahrung, keine Ruhe, kein Trost! Wenn er heute noch lebt, ist es ein Wunder zu nennen! Dieser Herr hat einen fürchterlichen Eigenwillen und scheint von der Gefährlichkeit der Dysenterie nicht eine Spur von Ahnung zu besitzen!«
Er ging. Kurze Zeit später ließ Mary fragen, ob sie zu mir kommen könne, und folgte dem Boten auf dem Fuße. Raffley ergriff ihre Hand, führte sie zu einem Sitze und nahm ihr, ehe sie zu sprechen begann, das Wort aus dem Munde:
»Mylady, schonen Sie sich! Wir brauchen nur sehr wenig zu wissen, und ich bitte um die Erlaubnis, Sie fragen zu dürfen. Es wurde ihnen von den Malaien eine Zeit gesetzt?«
»Ja,« antwortete sie. »Ich habe spätestens mit der »Coen«, Kommandant Wilkens, möglichst aber noch eher nach Uleh-leh zurückzukehren.«
»Well! Sie werden eher zurückkehren! Wohin sollen Sie das Geld bringen?«
»Man sagte mir, daß man mich beobachten werde, sobald ich im Hafen angekommen sei. Es werde ein Eingeborener zu mir treten, um mir die Hälfte einer zackig zerschnittenen Betel-Nuß zu geben, deren andere Hälfte ich bekommen und hier in meiner Tasche habe. Wenn ich sehe, daß die beiden Hälften genau zusammenpassen, sollte ich ihm das Geld geben und dabei sagen, wohin man meinen Vater bringen solle. Aber ich möge ja ehrlich sein und keine Hinterlist planen, weil der Häuptling, dem mein Vater übergeben worden sei, sein Wort auch halten werde.«
»Das genügt für jetzt, Mylady. Mehr brauchen wir nicht zu wissen. Ich habe nämlich eine allerliebste, kleine, hübsche Jacht, und auf ihr eine ebenso allerliebste Wohnung für eine Dame. Ich dampfe von jetzt an in vier Stunden nach Uleh-leh. Unser Freund hier geht auch mit, und zwar mit Sejjid Omar, seinem Diener.«
»Wie herrlich!« rief sie aus, für den Augenblick trotz ihrer Lage ganz entzückt.
»In diesen zwei Worten liegt Ihre Zustimmung, daß Sie sich uns anschließen wollen,« lächelte er befriedigt. »Diese vier Stunden bieten Ihnen hoffentlich hinreichend Zeit zur Ergänzung Ihrer Toilette. Ich eile, meinen Befehl zur Jacht zu senden und einen Verwandten zu holen, den ich Ihnen vorstellen muß, weil er auch mitfährt.«
Er entfernte sich. Sie sah mich verlegen fragend an. Ich erriet, was sie wollte. Sie war vollständig mittellos, und er hatte von der allerdings sehr gebotenen Ergänzung ihrer Toilette gesprochen.
»Haben Sie keine Sorge, Miß Mary!« bat ich sie. »Dieser Gentleman weiß immer, was er sagt. Und das, was er tut, stimmt stets und ganz genau mit dem zusammen, was er sagt. Das Lösegeld hat er bereit, und was sonst noch nötig ist, wird Ihnen werden, ehe Sie es brauchen.«
»Welch ein Mann! Als er in der Bank so plötzlich entscheidend zu mir trat, war es mir, als habe Gott ihn mir gesandt!«
»Nur durch solche Menschen wirken Engel, weil sie auf Böse niemals wirken können.«
Hierauf benutzte ich dieses kurze Alleinsein mit ihr, über Raffley einstweilen so viel mitzuteilen, wie für sie und die ersten Tage nötig war. Er kam sehr bald zurück und brachte den Governor mit, welcher gegen sie die ganze Liebenswürdigkeit entfaltete, die einem gewesenen Governor von Ceylon nur möglich ist. Wie ich später erfuhr, hatte Raffley trotz seiner kurzen Abwesenheit doch Zeit gefunden, eine Summe in Papiergeld in ein Kouvert einzuschließen und auf den Tisch ihres Zimmers legen zu lassen. Sie ahnte das nicht, und als sie sich erhob, um fortzugehen, tat sie das vielleicht mit schwerem Herzen, weil er kein Wort von dem gesagt hatte, worüber man gegen Damen keine Worte macht, obgleich es doch so wichtig und so nötig ist.
Kaum hatte sie sich entfernt, Raffley und der Governor waren noch bei mir, so kam Omar, um den Chinesen Tsi anzumelden. Er war heut nun frei, und da ich ihn noch nicht aufgesucht hatte, so war er so klug gewesen, sich auf den Weg zu mir zu machen. Zufälligerweise hatte ich den beiden Engländern gestern Abend bei Tische von ihm und seinem Vater erzählt. Sie kannten mein Zusammentreffen mit ihm und seinem Vater in Kairo, und so wurde er, als er kam, wenigstens von Raffley als halber Bekannter behandelt. Der »dear uncle« aber verhielt sich reserviert. Chinesen waren eben in seinen Augen kein gleichwertiges Menschenmaterial.
Ich ließ den jungen Mann nicht lange im Unklaren über Wallers, sondern teilte ihm die Verhältnisse, soweit wir sie kannten, aufrichtig mit. Er erschrak.
»Dysenterie!« rief er aus. »Schon so lange Zeit! Vielleicht gar schon in Indien! Und da oben auf Sumatra keine Kost, die ihn stärkt, statt dessen aber leibliche und seelische Anstrengung im höchsten Grade! Meine Herren, ich muß mit!«
»Muß! Muß?« fragte der Governor tadelnd.
»Ja! Dieses Wort mag nicht wie eine Bitte, nicht höflich klingen; aber ich bin erregt. Wenn Sie Waller retten wollen, so müssen Sie mich mitnehmen! Nur ich allein kann ihn retten!«
»Sie allein? Wieso?«
»Weil nur ich allein ein sicheres, untrügliches Mittel gegen den Würgengel Dysenterie kenne. Wissen Sie, was Ko-su ist?«
»Nein,« antwortete der Governor.
»Oder Sie, Mylord?«
Er richtete die Frage an Raffley.
»Nein,« antwortete dieser.
»Oder Sie?« fragte er mich.
»Ko-su ist Brucea sumatrana, allerdings das Spezifikum gegen Dysenterie,« sagte ich.
»Aber wissen Sie, wie dieses Mittel in so schweren Fällen zu geben ist?«
»Nein.«
»Kennen Sie die Pflanze überhaupt? Haben Sie sie gesehen?«
»Nein.«
»Sie wächst da drüben in Atjeh, stellenweise sogar massenhaft; aber Sie werden sie niedertreten, ohne zu ahnen, daß Sie das Leben Ihres Freundes mit ihr retten konnten! Ich bitte also, mich mitzunehmen! Tun Sie es nicht, so werde ich mir einen Extradampfer mieten, denn auch ein Chinese kann opferbereit sein. Aber Ihre Jacht ist schneller als jedes Schiff, welches ich bekommen könnte, und wenn Sie mich nur an Bord zu sich lassen, so will ich mit dem äußersten Winkel fürlieb nehmen, und Sie werden mich nicht eher wieder zu sehen bekommen, als bis in Uleh-leh an das Land gegangen wird. Wo es sich um ein Menschenleben handelt, sollte man doch nicht an Rassenfragen denken!«
Er stand hoch aufgerichtet vor dem Governor, der ihn beleidigt hatte. Seine Augen funkelten.
»Na, so nimm ihn mit!« sagte dieser in einem Tone zu Raffley, als ob es ihm schwer werde, diese Einwilligung zu erteilen.
»Aber ganz selbstverständlich!« rief dieser aus. »Sie sind mir sehr willkommen, Mr. Tsi. In drei Stunden dampfen wir ab. Ist das Zeit genug für Ihre Vorbereitungen?«
Wenn es einen Freund zu retten gilt, habe ich keine Vorbereitungen zu treffen. Ich würde mitfahren jetzt, gleich, so wie ich hier stehe! Ich danke Ihnen, Mylord!«
Er machte ihm eine tiefe Verbeugung. Mir reichte er die Hand. Dann drehte er sich nach dem Governor um. Er ließ den Oberkörper langsam, steif und förmlich niedersinken, aber nur bis zu einem halben rechten Winkel; das tat er dreimal, ohne ein Wort zu sagen; dann entfernte er sich.
»Fataler, gelber Kerl!« meinte der »Uncle«. »Gebärdet sich wie eine Fürstlichkeit!«
Die war er vielleicht auch, wenigstens sein Vater; nur durfte ich es nicht sagen! Da ließ Raffley seinen Klemmer auf der Schärfe der Nase herunterreiten, stieß ein kurzes, heiteres Lachen aus und fragte ihn:
»Wollen wir wetten?«
»Worüber? Etwa über diesen Chinamann?«
»Yes. Ich behaupte, daß Ihr dicke Freunde werdet!«
»Nie!«
»Well! So wetten wir?«
»Einverstanden!«
»Um wieviel Pfund?«
»Zwanzig. Aber eine Zeit setzen!«
»Schön! Ehe er endgültig unsere Jacht verläßt.«
»Das soll ein Wort sein! Ich werde unbedingt gewinnen!«
»Gut, so setze ich noch zwanzig Pfund, daß du nicht gewinnen wirst!«
»Nein! Doppelwetten sind verboten. Du wärst sonst im Stande, deine Einsätze in die Unendlichkeit hinein zu machen. Zwanzig Pfund und damit basta!«
Man kann sich denken, daß ich höchst neugierig auf die Jacht war. Ist es für den Kenner schon eine Freude, ein solches Fahrzeug zu sehen, wie groß muß diese Freude erst dann sein, wenn er mit ihm fahren kann, weil es das Eigentum eines Freundes ist! Schon »Swallow«, die frühere Jacht Raffleys, war ein Muster von Eleganz gewesen, und so war es erklärlich, daß ich mir nun von der »Yin« bedeutende Vorstellungen in Beziehung auf ihre Ausstattung machte; aber Alles, was ich gedacht hatte, wurde von der Wirklichkeit weit, weit übertroffen.
Als wir an Bord kamen, stand die Mannschaft unter Tom, dem »Kapitän«, in Reih und Glied und hieß uns mit einem dreimaligen »Hip, hip, hurra!« willkommen. Raffley wies mir meinen Raum selbst an. Dieser lag hinten am Stern, war hoch, geräumig, luftig und mit allem Komfort der Neuzeit versehen. Elektrisches Licht verstand sich ganz von selbst; die Maschine lieferte es.
Dann zeigte er mir seine eigene Wohnung, welche mittschiffs unter der Kommandobrücke lag. Sie war einfacher ausgestattet. Man sah ihr an, daß ihr Bewohner das Raffinement nicht liebe und diesen Raum nur der Arbeit und der zu ihr erforderlichen Ruhe gewidmet habe. Es gab keine teuren Möbel hier, aber eine kostbare Bibliothek füllte die Wände aus; ein schwer beladener Ständer hatte die besten Karten aller Länder und aller Meere zu tragen, und auf einer Tafel lagen und standen alle erforderlichen nautischen Instrumente wohl geordnet. Der einzige Schmuck, den es hier gab, war ein Gemälde, aber ein wunderbar schönes, ein Meisterwerk allerersten Ranges, schon in Betreff des Sujets, meisterhaft in Beziehung auf die Ausführung.
Es war ein Brustbild jener »Yin«, deren Marmorkopf den Bug des Schiffes zierte. Was der Marmor dort plastisch ahnen ließ, das wurde hier in diesem Farbengedicht entzückend ausgesprochen. Man redet so entschieden von morgen- und abendländischen, von italienischen, englischen, französischen, spanischen, polnischen, deutschen, nordischen, amerikanischen Schönheiten, von Schönheiten aller Länder. Dieses junge Weib hier war unbedingt eine Schönheit und ebenso unbedingt eine Chinesin. Wie kam es doch aber, daß es mir unmöglich war, zu behaupten, daß sie eine chinesische Schönheit sei? Lag der Grund in den Zügen des Originals selbst, oder lag er in der Art und Weise, wie der Künstler diese Züge aufgefaßt und wiedergegeben hatte? War dieser Künstler ein Chinese oder ein Europäer? Beides nicht, und Beides doch! Ein Talent auf jeden Fall, vielleicht noch mehr! Der Rahmen war einfach, aus schmucklosem Holze, und verschwand fast ganz unter der Menge natürlicher, lebender Rosen, Blumen und Blüten, welche ihn bedeckten. Ich sah später den Schiffsraum, in welchem diese Kinder Floras gezogen wurden, um jahraus, jahrein als Schmuck für »Yin« zu dienen.
Das Bild fesselte mich in ganz ungewöhnlicher Weise. Ich stand lange vor ihm, in Anschauen versunken, und sagte nichts. Ich hatte das Gefühl, daß man Worte hier zu vermeiden habe. Als ich mich endlich abwendete, fiel mein Blick auf Raffleys Augen, welche mit einem unbeschreiblich glücklichen Ausdrucke auf das Porträt gerichtet waren. Nun sah er mich an – – und ich ihn. Beide schwiegen wir, dann nickte er mir zu; er hatte mich verstanden.
Als wir wieder auf das Deck traten, legte eben das Boot an, welches Mary Waller geholt hatte. Raffley empfing sie in seiner wohltuenden, dankerweckenden Weise und geleitete sie nach dem für sie bestimmten Logis, welches die ganze Breite des erhöhten Vorderplatzes einnahm. Sie hatte ihre Toilette vervollständigt; eine englisch sprechende Chinesin, welche für diesen Zweck vorhanden zu sein schien, sonst aber in der Küche beschäftigt war, wurde ihr als Dienerin beigegeben.
Der Governor hatte es sich auf einem Liegestuhl bequem gemacht. Er rauchte eine kurze Pfeife von der Art, welche in englischen »Traveller«-Kreisen jetzt so beliebt ist, und schien dieser Beschäftigung seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.
Tsi war schon vor uns an Bord gekommen. Ich kam an der Kabine, welche ihm von Tom zugewiesen worden war, vorüber und sah ihn hinter dem halbzurückgeschlagenen Vorhang sitzen. Da trat er heraus und fragte mich, wann der Anker gelichtet werde. Soeben zog die Maschine die Kette an; ich brauchte also nicht zu antworten, hielt es aber für geboten, ihm aus einem anderen Grunde eine Bemerkung zu machen.
»Sie meiden das Deck, wie es scheint,« sagte ich. »Sie haben keine Veranlassung, auf freie Bewegung zu verzichten.«
»Ich will den Governor nicht stören,« antwortete er.
»Bitte! Dem fällt es gar nicht ein, sich von irgend einem Menschen stören zu lassen! Seien Sie aufrichtig: er stört Sie! Und das lassen Sie sich einfach nicht gefallen! Habe ich Recht?«
Es kämpfte sich ein halb verlegenes Lächeln auf seine Lippen, und ehrlich, wie er immer war, gab er zu:
»Ja; es ist richtig, was Sie sagen. Ich habe ihm sein Verhalten übelgenommen und also nicht so edel gedacht, wie unsere Religion es von uns fordert. Verzeihen Sie! Wie kann ich es dem Einzelnen entgelten lassen, daß er nicht anders denkt, als seine Allgemeinheit denkt! Ich werde ihm Abbitte leisten.«
»Abbitte? Das halte ich denn doch nicht – – –«
»Natürlich nicht so, wie Sie es auffassen wollen,« unterbrach er mich. »Der Wunsch nach Verzeihung braucht nicht grad über die Lippen zu gehen, um sich verständlich zu machen. Darf ich fragen, als wen und was mich die beiden Gentlemen kennen? Selbstverständlich sind Sie nach mir gefragt worden.«
»Sie sind Dr. med. Tsi, der in Deutschland und Frankreich studiert hat. Ihr Vater hat Sie dort abgeholt und ist Ihnen, weil Ihr Beruf Sie veranlaßte, hier zu bleiben, nach China vorausgereist. Ich habe Sie und ihn in Kairo kennengelernt. Hoffentlich stimmen Sie dieser Auskunft, welche ich gegeben habe, bei?«
»Es ist die mir liebste, welche Sie geben konnten. Ein junger Arzt ist ein Mann, mit dem man sich nur dann abgibt, wenn man ihn braucht; ich werde hier also zurückgezogen leben können, und das ist mir lieb. Ich sah Mary Waller an Bord kommen. Weiß sie, daß ich auch mit hier bin?«
»Nein.«
»Sie – – Sie – – – Sie haben ihr nichts, gar nichts davon gesagt?« stotterte er beinahe.
»Kein Wort.«
»Aber, ich bitte Sie! Was soll sie denken, wenn sie sieht, daß ich – – daß – – daß – – –«
Er sprach den angefangen Satz nicht aus. Das Lächeln, welches ich nicht ganz unterdrücken konnte, machte ihn irr. Er errötete sogar.
»Ja, was soll sie denken?« fragte ich. »Daß sie Ihnen Dank schuldet, weiter nichts! Sie haben sich keinen Augenblick besonnen, sondern alle Ihre Verpflichtungen liegen lassen, um mit uns zu gehen und ihren Vater zu retten. Meinen Sie etwa, daß sie darüber zürnen soll?«
»Nein, das nicht; aber ich hätte sie fragen sollen, ob sie es mir erlaubt.«
»Jede gute Tat ist erlaubt; ja, man soll sie sogar ohne Erlaubnis tun! Aber es gab ja auch gar keine Zeit zur Frage. Als Sie zu mir in das Hotel kamen, war Miß Mary soeben von uns gegangen, und wir haben sie nicht eher wiedergesehen, als bis sie vorhin an Bord kam. Es war also unmöglich, ihr zu sagen, daß sie außer mir noch einen zweiten Gefährten aus Kairo hier treffen werde. Wünschen Sie, daß ich sie auf diese Ueberraschung vorbereite?«
»Ich bitte sogar darum! Es würde mir außerordentlich peinlich sein, sie in einer für mich nicht erfreulichen Weise überrascht zu sehen. Auch hege ich meines Namens und Standes wegen gewisse Bedenken. Sie weiß da nicht, woran sie mit mir ist.«
»Nicht? Nun, das soll sie sofort erfahren!«
Mary war soeben aus ihrem Raume getreten, um einen Scheideblick auf Penang zu werfen, denn die »Yin« begann sich zu bewegen. Ich wendete mich von dem Chinesen ab, um zu ihr zu gehen, und hatte meine Worte selbstverständlich nur im Scherze gemeint; da ergriff er meinen Arm und sagte ängstlich:
»Was wollen Sie? Wie wollen Sie zu ihr, zu – – zu – – – –«
»Ich werde ihr Alles sagen, Alles!« fiel ich ihm in die Rede und machte meinen Arm frei.
»Aber ich bitte Sie um – – –!«
Mehr hörte ich nicht, weil ich mich schnell von ihm entfernte. Mary kam mir auf halbem Wege entgegen. Sie wollte irgend eine Bemerkung, eine Frage aussprechen; ich ließ ihr aber keine Zeit dazu, sondern erkundigte mich bei ihr:
»Haben Sie vielleicht grad jetzt grausam viel zu tun, Miß Waller?«
»Nichts, gar nichts,« lächelte sie.
»Ich möchte Ihnen einen Herrn vorstellen.«
»Welchen, wo?«
»Bitte, kommen Sie!«
Ich führte sie nach Tsis Kabine, in welche er wieder geschlüpft war. Er sah uns kommen und war also gezwungen, wieder herauszutreten. Welch eine Ueberraschung für die Amerikanerin!
»Das ist Herr Doktor Tsi, welcher Medizin studiert hat und ein untrügliches Mittel gegen Dysenterie kennt,« sagte ich ernst und feierlich, als ob ich überzeugt wäre, daß sie einander noch nie gesehen hätten. »Dieser junge Arzt,« fuhr ich fort, »ist auch den beiden Englishmen, deren Gäste wir sind, als Doktor Tsi bekannt. Mehr ist wohl auch nicht nötig.«
Hierauf verbeugte ich mich und ging fort. Ich war mir bewußt, Tsi in eine unendliche Verlegenheit gebracht zu haben, doch aber so vollständig gefühl- und gewissenlos, mir nichts daraus zu machen. Die letztere Bemerkung hatte ich nicht unterlassen wollen, weil Mary Waller doch wissen mußte, als was unser chinesischer Freund hier auf dem Schiff zu gelten hatte. Nun wendete ich meine ganze Aufmerksamkeit dem letzteren zu. Raffley kommandierte selbst. Er war der Mann, welcher bei der Ankunft der »Yin« den großen Strohhut auf dem Kopfe gehabt hatte; er trug ihn jetzt wieder, um seine Augen gegen die Strahlen der schon schiefstehenden Sonne zu schützen. Es war eine wahre Pracht, wie willig das schöne Fahrzeug jeder Silbe gehorchte, welche er in das Sprachrohr hauchte. Die See war heute ziemlich unruhig, aber diese »Yin« machte sich nichts daraus; sie nahm die Wogen mit solcher Leichtigkeit, daß von einer Erschütterung ihres Körpers fast nichts zu spüren war.
Man pflegt, wenn man von Penang nach Uleh-leh geht, nach Durchquerung der Malakkastraße in Edi, Lo-Semaweh und Segli anzulegen. Das sind Militärstationen, welche an der fieberhauchenden Küste angelegt sind, um bei den Kämpfen gegen den Herrscher von Atjeh den kriegerischen Vorstößen in das Innere als Stützpunkte zu dienen. Infolge dieses dreimaligen Anlegens sind zwei Tage notwendig, um von Penang nach Uleh-leh zu kommen. Unsere kleine »Yin« aber konnte die direkte Linie nehmen, und da sie pro Stunde zehn Knoten mehr als die »Coen« meines Freundes machte, so brauchten wir nicht einmal einen vollen Tag, um hinüberzukommen.
Das Wetter war geradezu herrlich; die Luft stand fest; die See ging in langgestreckten Wogen, von denen die eine genau der andern glich. Unsere »Yin« lag ein wenig auf die Seite geneigt und ging so leicht, so frei, so scharf wie der zur Wirklichkeit gewordene Wunsch ihres Besitzers über die Straße.
In jenen Gegenden, so nahe dem Aequator, wird es regelmäßig kurz nach sechs Uhr Nacht. Als sich nach zweistündiger Fahrt die Sonne zum Untergange neigte, stieg Mary Waller die Stufen empor, welche auf die Decke ihres Salons führten. Ich befand mich in ihrer Nähe, und sie winkte mir, ihr zu folgen. Da oben, beim Marmorkopfe »Yins« sitzend, konnte man den Uebergang des Tages in die Nacht am besten beobachten.
Wir sprachen zunächst über ihre Freude, Tsi so ungeahnt hier wiederzusehen. Sie war gerührt von seiner, kein Opfer scheuenden Bereitwilligkeit, sofort mit nach Uleh-leh zu gehen, vermied es aber, viele Worte darüber zu machen. Dann beschrieb sie mir ihre jetzige Wohnung. Sie tat dies mit wahrem Entzücken und erklärte mir, so Etwas noch nie gesehen zu haben. Die Einrichtung sei echt chinesisch, reich aber schön, voller köstlicher Gedanken, ein Gedicht, unbedingt von einem chinesischen Weibe gedichtet, so klar im Ausdrucke und im Reime so rein, keine Silbe zu viel und aber auch keine zu wenig, jede Falte ein wohlklingendes Wort, jeder Sessel ein traulicher Vers, jeder einzelne Gegenstand ein Zeichen höchsten Geschmackes und in seinem Verhältnisse zum Ganzen ein Beweis zwar angeborener, aber durch die Ausbildung auch vollendeter Künstlerschaft.
»Ich mochte die Frau kennen, welche diese wunderbare Wohnung, die ihres Gleichen nicht findet, gedichtet hat!« wünschte Mary am Schlusse ihrer Beschreibung. »Sie muß ein schönes, wonniges, harmonisch empfindendes und aber doch scharf und ernst denkendes Wesen sein!«
»Tapezierer!« warf ich hin. »Diese Arbeiten machen in China die Männer, welche sogar waschen und platten.«
»Tapezierer?« wiederholte sie mein Wort. »Ich begreife allerdings, daß Sie das sagen können; aber kommen Sie, und sehen Sie; dann werden Sie anders sprechen. Ich halte es zwar nicht für unmöglich, daß es ein Tapezierer so weit bringt, in Möbelstoff, in Samt oder Seide dichten zu können; hier dieses Gedicht aber ist so deutlich fühlbar das Werk einer echten, reinen, edlen Weiblichkeit, daß es fast wehe tut, nur daran zu denken, ob von einem Verfasser anstatt einer Verfasserin, also von einem männlichen Wesen die Rede sein könne.«
Jetzt berührte die Sonne das Meer, und da flutete in einem einzigen Augenblicke eine solche Fülle goldenen Lichtes auf den Wassern zu uns her, als ob der Ball dort im Westen sich aus Liebe aufzulösen beginne.
»Erinnern Sie sich noch des Sonnenunterganges auf dem Dschebel Mokattam damals?« fragte Mary.
»Den Sie gar nicht gesehen haben,« antwortete ich. »Sie ritten zu zeitig fort. Das war die Folge des bösen Wüstenwindes.«
»O nein, sondern die Folge von etwas ganz Anderem. Ich fühlte ihn ja nicht.«
Sie blickte in die golddiamantene Glut, welche den ganzen Westen bis zu uns her überflammte. Dann sah sie mir mit ihren lieben, ehrlichen Augen so offen und herzlich in das Gesicht und fügte hinzu:
»Wollen Sie mir jetzt eine Bitte erfüllen?«
»So gern!«
»Aber gleich? Ganz gewiß? Ohne sich zu weigern? Ohne zu fragen und zu zögern?«
»Ja.«
»Nehmen Sie sich eine Zigarre aus dem Etui, welches ich da in Ihrer Tasche sehe. Bitte, brennen Sie an!«
Es war ihr ein Herzensbedürfnis, in Erinnerung an das damalige Verhalten ihres Vaters diese Bitte auszusprechen. Dennoch entgegnete ich:
»Da steht die See in Sonnenglut. Denken wir nicht an das Glühen eines Tabakblattes!«
»Und doch; grad jetzt! Ich bitte Sie; Sie haben es mir versprochen. Es liegt in meinem Wunsche kein Gegensatz zu dieser Schönheitsfülle, die wir sehen!«
Ja, wahrlich nicht; sie hatte recht! Wie leicht und doch wie schwer ist ein Frauenherz zu verstehen! Was uns Männern als Widerspruch erscheint, kann schönste Harmonie bedeuten, und was wir für oberflächlich halten, stammt vielleicht aus der tiefsten, verborgensten Seelenfalte. Das Weib weiß es selbst wohl nicht, wie also kann der Mann es wissen!
»Jetzt brennt es,« lächelte sie so liebenswürdig zufrieden, als ich ihrem Wunsche nachgekommen war. »Nun erzählen Sie mir, wie Sie mit ihrem braven Sejjid Omar nach hier gekommen sind! Ich schau dabei gegen West, wo Aegypten liegt, und wahrend Sie erzählen, geht hier die Sonne vollends unter, und dort steigt vor meinem geistigen Auge der Mond hinter den Pyramiden auf und zeigt mir fünf Menschen, welche am Wüstenrande rund um den Tisch sitzen, um von dem zu sprechen, welcher Sonne und Mond über Meer und Wüste führt.«
Ich tat es. Sie sah mich nicht an, aber ihre Seele folgte meinen Worten. Ich legte ihr die ganze, weite Route vor, welche ich mit Omar verfolgt hatte und von der ich für die vorliegenden Blätter bisher nur Aegypten und Ceylon herausgegriffen habe, weil die anderen von uns berührten Punkte zu den Personen und Ereignissen dieser Erzählung in keiner Beziehung stehen. Ceylon aber erwähnte ich des Professors Garden und meines Gedichtes wegen nicht. Es war mir, als ob das auch weiter ein Geheimnis bleiben müsse.
Grad als ich fertig war, wurde mit dem Gong das Zeichen zum Abendessen gegeben, welches auf dem freien, luftigen, elektrisch erleuchteten Deck eingenommen werden sollte. Mary saß als einzige Dame natürlich obenan. Tsi zögerte, zu kommen. Ich wollte wieder aufstehen, um ihn zu holen; da fragte mich der Governor, warum ich meinen Platz verlasse. Ich teilte es ihm mit.
»Ist ihm gesagt worden, daß er bei uns speist?« erkundigte er sich bei Raffley.
»Nein,« antwortete dieser. »Selbstverständliches sagt man nicht.«
»So bin ich schuld, daß er es nicht für selbstverständlich hält. Habe ihn also zu holen, kein Anderer!«
Er ging. Raffley warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu; er dachte an seine Wette mit dem »dear uncle«, dessen für Andere verborgene Eigenschaften er gar wohl kannte. Der letztere kehrte in etwas feierlicher Haltung mit dem Chinesen zurück, den er sogar bis zu seinem Stuhle führte. Der wahre Adel bricht, wenn es geboten ist, durch jede, auch die rauhste Schale!
Ueber das Menü sage ich nichts. Was reiche Leute in jenen Gegenden speisen, das ist ja allgemein bekannt. Hoch über allen diesen Delikatessen stand mir der Ton, in welchem das sehr belebte Gespräch die verschiedenen Gänge begleitete. Besonders hatte ich mich, wenn auch nur im stillen, über Tsi zu freuen. Er aß nur wenig, aber mit Geschmack, und er sprach auch nicht viel, aber was er sagte, das hatte Hand und Fuß. Ueber China wurde geschwiegen; es lag da ein stilles Uebereinkommen vor. Darum mochte der Governor erwartet haben, daß Tsi die für unsere Unterhaltung nötigen geistigen Fonds nicht besitzen werde. Aber da kam, so was man im Volkston einen »Schlager« nennt, bei nächster Gelegenheit noch einer und hierauf wieder einer! Der »uncle« begann, zu staunen, sagte aber nichts. Er hatte gar keine Ahnung gehabt, daß das materielle Wissen dieses jungen Mannes weit, weit über das seinige ging und daß es dann nur des Geistes bedarf, um das zu sein, was selbstbewußte Menschen bei Andern als »nicht unbedeutend« zu bezeichnen pflegen. Und diesen Geist besaß der Chinese; das bemerkte der Governor immer deutlicher. Sein Benehmen gegen den jungen Mann wurde, ohne daß er es beabsichtigte, immer achtungsvoller. Ich sah, wie Mary sich darüber freute. Sie bemühte sich nach kluger Frauenart, Tsi durch Fragen und Gesprächswendungen Gelegenheit zu geben, zu zeigen, daß er den Andern geistig gewachsen sei, und er benutzte das in so bescheidener und diskreter Weise, daß ich wünschte, sein Vater könne bei uns sitzen, um sich über diese schönen Resultate seiner Erziehung mit mir zu freuen.
Nach Tisch steckte sich der Governor sofort wieder seine Pfeife an und spazierte auf dem Decke auf und ab. Als ich mich ihm da für einige Minuten zugesellte, fragte er mich:
»Ist dieser Tsi wirklich nichts als Arzt?«
»Ich weiß nichts Anderes,« antwortete ich ausweichend.
»Schreckliche Menschen, diese Mongolen! Falsch, hinterlistig, treulos, alles Edlen bar und dabei rückständig im höchsten Grade. Kann also gar nicht glauben, daß er einer ist! Habe ihn daraufhin angesehen. Augen nur ganz wenig schief; Backenknochen nur ganz wenig markiert; dazu dieses reiche Wissen und diese Gewandtheit, gradaus zu sagen, was er sagen will, weil Andere es nicht wissen! Bin darum an dieser Rasse ganz irre geworden. Muß mich genau erkundigen, ob er zu ihr gehört. Muß unbedingt einige Tropfen kaukasisches Blut in den Adern haben! Man hört diese Tropfen ja ganz deutlich heraus! Und – – ach, wollte unter vier Augen fragen: haben Sie das Gespenst gesehen?«
»Welches Gespenst?« antwortete ich, obwohl ich wußte, was er meinte.
»Das Bild – – – in der Kajüte.«
»Ja.«
»Wie ist's?«
»Zum Entzücken schön. Sie haben es doch jedenfalls wie oft gesehen!«
»Noch nicht! Komm nie hinein, weil ich weiß, daß es drinnen hängt. Mag es nicht sehen, nie – – nie – – nie! Das heißt, offiziell! Hm! Wollte zwar schon einmal – – –! Werde vielleicht auch – – –! Raffley aber dürfte es nicht wissen – – – dürfte es nicht einmal ahnen! Hm! Ich weiß, Sie können schweigen. Sagen Sie nichts! Kein Wort! Aber auch nicht, daß dieser Mongole mir gefällt! Raffley würde sonst gleich denken, daß er die Wette gewinnen werde! Fällt mir aber gar nicht ein! Nicht einmal im Schlafe! Bin Englishman, Sir. Wette nur dann, wenn ich ganz sicher weiß, daß ich gewinne. Muß Euch also bitten, ja nicht daran zu zweifeln!«
Hiermit wendete er sich von mir ab und ging nach seinem Stuhle. Die Verschiedenheit der Anredeworte bei ihm ebenso wie bei Raffley erklärt sich aus dem Umstande, daß sie sich bald der englischen und bald der deutschen Sprache bedienten. Im Deutschen wurde »Sie,« im Englischen aber »you«, also »Ihr« gesagt. Es kam im lebhaften Gespräche sogar nicht selten vor, daß ein Satz in der einen Sprache angefangen und in der anderen zu Ende gesprochen wurde. Man war das so gewöhnt, daß man nicht einmal mehr darüber lächelte.
Vielleicht hatte Raffley darauf gerechnet, daß sich irgend Etwas ereignen werde, was geeignet sei, das Urteil seines Onkels über den Chinesen umzustimmen; aber nach dem, was ich jetzt gehört hatte, schien ein solches Ereignis gar nicht nötig zu sein. Wir befanden uns ja erst einige Stunden in See, und doch sprach der Governor schon jetzt in einer Weise von ihm, welche er selbst gewiß für unmöglich gehalten hatte.
Raffley saß mit Tsi beisammen. Sie waren in ein Gespräch vertieft, welches ich schon aus Höflichkeit und sodann auch aus dem Grunde nicht stören wollte, weil ich wünschte, daß der Englishman den Chinesen nicht nur achten, denn das tat er schon, sondern auch lieb gewinnen lerne. Mary war wieder auf das Deck ihres Salons gestiegen. Sie konnte so hoch und so ganz vorn sitzen, weil sie nicht zur Seekrankheit geneigt war. Ich wollte sie fragen, ob ich mich zu ihr gesellen dürfe, doch forderte sie mich selbst dazu auf, als sie mich kommen sah.
»Ich möchte Ihnen Etwas erzählen,« sagte sie; »Etwas, was ich den Anderen nicht mitteilen will, weil sie meinen Vater vielleicht falsch beurteilen würden.«
»Wohl den Grund, warum man ihn gefangennahm?« fragte ich, um ihr die Ausführung ihrer Absicht zu erleichtern.
»Ja. Er war so gut, so lieb, so mild geworden, fast ganz so, wie Mutter ihn gern hatte. Da kam die Krankheit, welche ihn mürrisch machte, ihm die Lebensfreude raubte und seine Empfindlichkeit verdoppelte. Je schwächer er körperlich wurde, desto mehr gab er sich Mühe, geistig kräftig aufzutreten. Ich will den Vater ja nicht tadeln; er war ja krank! Er sprach wieder von Heidentempeln und von Säulen. Die vier indochinesischen Träger, welche wir mit in die Berge nahmen, hatten keine Religion. Sie hörten ihn an und gaben ihm Recht, weil sie von ihm bezahlt wurden. Ich warnte ihn; er aber hörte nicht auf mich, weil er überzeugt war, daß er ihre Bekehrung in kurzer Zeit vollenden werde. Die Bergmalaien stellten sich feindlich zu uns. Niemand nahm uns auf. Wir fanden kein Unterkommen, bis wir ganz hoch oben ein Kampong erreichten, dessen Bewohner mit den Weißen noch so wenig in Berührung gekommen und also so friedlich gesinnt waren, daß sie uns gastfreundlich aufnahmen und uns, nicht für Geld, sondern aus reiner, dort gewohnter Gastlichkeit, Alles boten, was in ihren Kräften stand. Wie froh war ich darüber! Aber diese Freude währte nur einen einzigen Tag.«
»Die Malaien von Sumatra sind in den Küstengegenden und ziemlich weit in das Land hinein Muhammedaner,« bemerkte ich. »Welcher Religion gehörten die Bewohner dieses Kampong an?«
»Der des Konfuzius. Es stand ein Tempel da, nur von Holz gebaut, aber mit mühsamen Schnitzereien verziert und im Innern reich vergoldet, was man der Annut dieser Leute eigentlich nicht zutrauen sollte.«
»Sie sind nicht wirklich arm, sondern nur bedürfnislos. Die überreiche Natur bietet ihnen Alles, was sie brauchen, umsonst. Und was die Vergoldung betrifft, so wird das Gold ja auf Sumatra selbst gefunden. Die Berge des Innern, wo Sie waren, bestehen aus vorkarbonischem Schiefer, welcher von goldhaltigen Quarzgängen durchzogen ist. Aber bitte, erzählen Sie weiter!«
»Ich hatte gehört, daß in chinesischen Ortschaften, wo es keine besonderen Gasthäuser gibt, die Fremden in den Tempeln aufgenommen werden. Ganz dasselbe war hier in diesem sumatranischen Kampong der Fall. Man führte uns in den Tempel, welcher zwei Abteilungen hatte, die eine für die Opferungen und die andere für die Besucher. In dieser letzteren sollten wir wohnen. Ich wollte, man hätte uns lieber in die allerkleinste Hütte gesteckt!«
»Ah, ich errate! Heidentempel!«
»Ja. Ihre Vermutung ist leider richtig. Die guten Menschen schleppten Alles herbei, um es uns so bequem wie möglich zu machen; sie brachten mehr als reichlich Speise und Trank, und man sah ihnen an, daß sie es gern taten. Verstehen konnten wir sie zwar nicht, weil wir nicht malajisch sprachen. Unsere Träger übersetzten uns, was gesprochen wurde, so gut sie eben konnten. Aber von dem Augenblicke an, wo wir uns in dem Tempel befanden, bemächtigte sich des Vaters eine Aufregung, welche mir Angst bereitete. Er sprach von nichts als vom Zertrümmern, vom Einreißen, zuletzt gar vom Wegbrennen dieses Tempels; die Lohe dieses Hauses der Abgötterei müsse als ein Gott wohlgefälliges Opfer zum Himmel steigen. Ich gab mir alle Mühe, ihn zu beruhigen; ich bat ihn; ich beschwor ihn, diese entsetzlichen Gedanken, Liebe mit Haß, Gastfreundschaft mit Feuer zu vergelten, fallen zu lassen; aber ich hatte nur den Erfolg, daß er nun gegen mich schwieg. In seinem Innern jedoch schrien die bösen unchristlichen Stimmen fort. Er konnte ihnen nicht widerstehen.«
»Er war krank, sehr krank!« erklärte ich.
»Nichts als nur das! Nur ein Kranker kann glauben, das, was ihm heilig ist, durch die Vernichtung dessen, was Andern heilig ist, zu fördern! Das ist stets meine Ansicht gewesen, die ich dem Eifer des Vaters gegenüber mit allen Mitteln, welche einer Tochter erlaubt sind, vertreten habe, und nun ist ihre Wahrheit ihm und mir bewiesen worden. Ich getraute mich nicht, ihn zu verlassen; aber der nächste Tag war ein konfuzianischer Feiertag, der meine Wißbegierde weckte. Die weite Umgegend sandte eine Menge Pilger, welche ihre Opfergaben brachten, in Backwerk, Fruchten und einer schier ung1aublichen Menge von Blumen bestehend. Der Priester gab uns von allem überreichlich. Das war so rührend, er, dem feindlich gesinnten Missionar, von dem er doch wußte, was er war, denn unsere Träger hatten es ihm gesagt. Vater schien auch gerührt zu sein; er verhielt sich sehr still, und das machte mich so glücklich. Am Nachmittage schlief er sogar ein, was seit einigen Tagen nicht geschehen war. Da glaubte ich, einmal durch das Kampong gehen zu dürfen, wo die Bewohner mit den Festgästen sich an heiteren Spielen erfreuten. Ich wurde überall so freundlich begrüßt, und Jeder und Jede reichte mir Früchte und Blumen dar, so viel, daß ich sie nicht fassen konnte, sondern wieder an Andere verschenken mußte. Da entstand plötzlich große Verwirrung; ich hörte die beiden Worte »Panas« und »Klinting« rufen und sah, daß Alles nach der Gegend eilte, in welcher der Tempel lag. Ich wollte vor Schreck zusammenbrechen, raffte mich aber auf, warf alle Blumen weg und lief, so schnell ich konnte, dorthin zurück, woher ich gekommen war. Als ich hinkam, stand der ganze Tempel in hochlodernden Flammen. Die Hitze war so groß, daß man sich ihm nicht nähern konnte. Unweit davon brannte ein kleineres Feuer, aus welchem der Luftzug verkohlte Zeugreste und glimmende Papierblätter in die Höhe trieb. Mein Vater hatte von den Opfergewändern des Priesters und den heiligen Büchern vor dem Tempel einen Scheiterhaufen errichtet und diesen auch in Brand gesetzt. Er selbst war von einer großen, schreienden Menschenmenge umgeben. Wie es mir gelingen konnte, mich hindurchzudrängen, das kann ich nicht sagen, aber die Todesangst verleiht ja selbst dem schwachen Weibe Riesenkräfte. Ich erreichte ihn grad in dem Augenblick, als man ihn angriff und zu Boden riß. Da wurde ich ohnmächtig und fiel neben ihm hin.«
Sie hielt inne. Ihre Gestalt schauderte noch jetzt, infolge der Erinnerung. Ich sagte Nichts, kein Wort; ich konnte nur denken – – denken – – – denken!
»Als ich wieder zu mir kam,« fuhr sie nach einer Weile fort, »lag ich auf einer Matte. Neben mir saß der Priester und unweit von ihm einer unserer Träger, um den Dolmetscher zu machen. Fern standen oder saßen viele Leute. Der Geruch des niedergegangenen Brandes wurde von Weitem hergeweht. Den Vater sah ich nicht. Ich fragte voller Angst nach ihm. Der Priester antwortete mir in einem so milden Tone, daß ich ihn nie vergessen werde, und der Träger übersetzte es mir:
»Sei ruhig! Er befindet sich wohl, und es ist ihm bis jetzt nichts geschehen. – – – Was hat euch unser Gott, was hat euch unser Land und was hat euch unser Volk getan? Unser Gott ist auch der eurige! Unser Land hat euch vertraut und euch willkommen geheißen! Und wir selbst, wir haben euch Alles gegeben, was wir geben konnten, obgleich wir wußten, daß ihr gegen unsern Himmel wütet! Und was ist euer Dank? Hochmut – – Verachtung – – Zerstörung! Wir gaben euch Blumen – – und ihr gabt uns – – was? O ihr Toren! Wißt ihr denn nicht, daß Alles, was ihr Andern tut, das tut ihr für die Zukunft an euch selbst?! – – – Fürchte dich nicht vor mir! Ich bin Priester, und ein Priester richtet nicht, sondern er verzeiht! Ich habe für deinen Vater gesorgt, daß ihm einstweilen nichts geschehe. Und ich habe dich hierher bringen lassen, damit du Ruhe habest und ich dir bei deinem Erwachen gleich sagen könne, daß du frei bist. Unser Glaube rächt die Sünde nicht an den Kindern bis in das dritte oder vierte Glied. Einen Gott, der den Unschuldigen straft, kann man sich den wohl denken?«
»Hierauf war er still und sprach nicht weiter, doch bewegte er seine Lippen im Gebete. Von dem Träger erfuhr ich, daß die zum Fest anwesenden Häuptlinge zusammengetreten seien, um über meinen Vater zu Gericht zu sitzen. Die Zeit bis zur Entscheidung wurde mir zur fürchterlichen Qual, denn ich fühlte, daß – – –«
»Bitte, Miß Mary,« unterbrach ich sie, »quälen Sie sich nicht auch noch jetzt. Sagen Sie mir das, was Sie mir zu sagen haben, so kurz wie möglich; es genügt!«
Sie gab sich Mühe, sich zu sammeln; dann fuhr sie eng summierend fort:
»Er wurde zum Tode verurteilt. Ich bat, vor die Häuptlinge geführt zu werden. Der Priester wagte es, mich hinzubringen, aber der Vater durfte mich nicht sehen. Sie hörten mich so ruhig, so verständig an. Sie waren gute Menschen. Welche falsche Vorstellung macht sich doch der, der an die eingewachsenen Vorurteile glaubt, von jenen sogenannten »wilden Völkern«! Aber ihre Gesetze forderten den Tod meines Vaters. Welch ein Glück, daß meine Tränen mächtiger als diese Gesetze waren! Man begnadigte ihn zu fünfzigtausend Gulden Schadenersatz für den Tempel, die Gewänder, die Bücher und die Kosten, mich hinunter an die Küste und dann hinüber nach Penang zu bringen. Da aber für einen für reich gehaltenen Mann die Zahlung einer nicht schwer erschwinglichen Summe eine milde Strafe ist, so wurde sie dadurch verschärft, daß ich abreisen mußte, ohne von ihm noch einmal gesehen worden zu sein. Ein Träger begleitete uns als Dragoman. Ich wurde zu Pferde an den nächsten Fluß gebracht, dem wir per Kahn bis an die Küste folgten, um dann für die Fahrt über die Malakkastraße eine größere Praue zu nehmen. Das Übrige wissen Sie. Was ich gelitten habe und noch leide, das ist Nebensache. Ohne Raffley und Sie würde der Vater dennoch sterben müssen. Nun aber ist es mir so frohgewiß, daß er mir erhalten bleibt, wenn – – – wenn ihn nicht die Krankheit inzwischen töten wird.«
»Er wird noch leben, wenn wir kommen,« tröstete ich sie. »Es klingt eine deutliche Versicherung in mir, daß es so ist, und diese Stimme kenne ich. Dann wird Tsi sein Mittel wirken lassen, welches er für untrüglich hält. Ich bin vollständig überzeugt, daß Mr. Waller gerettet wird, nicht nur von dem Spruche der malajischen Richter und nicht nur von dieser zerstörenden Krankheit, sondern auch von ihren seelischen Folgen, auf welche seine Tat und seine jetzige Lage zurückzuführen sind. Werfen Sie alle Besorgnis von sich, und versuchen Sie, zu schlafen! Das ist Ihnen jetzt nötiger als alles Andere!«
Wir sagten uns hierauf »gute Nacht«. Unten winkte mich Raffley zu sich und nahm mich in seine Kajüte. Er hatte uns beobachtet und ganz richtig vermutet, daß sie mitteilsam gegen mich gewesen sei. Ich erzählte ihm, was ich für nötig hielt. Als ich fertig war, sagte er Nichts, sondern öffnete ein Schubfach, aus welchem er nach einigem Suchen ein älteres Zeitungsblatt nahm. Sich mir gegenübersetzend, sprach er dann:
»Ich habe hier eine alte Nummer des »Handelsblad Padangs«, in welcher es kurz und bündig, aber auch ungeheuer deutlich heißt: »Bis jetzt hat der Krieg der Holländer gegen den Sultan von Atjeh 45600000 Gulden gekostet. Dafür sind über 40000 Eingeborene totgeschossen worden; folglich hat jeder derselben den Holländern 1140 Gulden gekostet. Dazu kommen die holländischen Soldaten, welche im Kampfe fielen, zu Krüppeln wurden oder an den verheerenden Krankheiten des Sumpflandes gestorben sind. Falls wir für die verausgabte Summe Grundstücke zum Preis von 1140 Gulden pro Hektar angekauft hätten, so würden wir auf dem friedlichsten Wege zu mindestens 40000 Hektar des besten Landes gekommen sein und wären nicht am Tode von gewiß über 60000 Menschen schuld.«
Raffley legte das Blatt wieder an seine Stelle und fuhr dann fort:
»Das wurde von einem auf Sumatra gedruckten holländischen Blatte vor siebenundzwanzig Jahren geschrieben. In welcher Weise sich die angegebenen Summen während dieser Zeit vergrößert haben, wollen wir nicht versuchen, auszurechnen. Wißt Ihr nun, was wir Europäer unter »zivilisieren« verstehen? Es kann mir nicht beikommen, ein einzelnes Land, eine einzelne Nation anzuklagen. Aber ich klage die ganze sich »zivilisiert« nennende Menschheit an, daß sie trotz aller Religionen und trotz einer achttausendjährigen Weltgeschichte noch heutigen Tages nicht wissen will, daß dieses »Zivilisieren« nichts anderes als ein »Terrorisieren« ist! Was ich, nämlich ich, John Raffley, unter »Zivilisieren« verstehe, das werdet Ihr sehen, wenn wir nach China kommen; mehr darf ich jetzt nicht sagen! Was in der großen Welt da draußen eben auch im Großen geschieht, das ist jetzt da drüben im kleinen Atjeh mit Eurem Freunde Waller eben auch im Kleinen geschehen: der Unzivilisierte hat sich seiner im höchsten Grade zivilisiert angenommen, und er, der Hochzivilisierte, hat sich dafür im höchsten Grade unzivilisiert bedankt! Und wie er nun verloren wäre, wenn wir ihn nicht retteten, so wird auch für unsere Zivilisation einst die Zeit kommen, in welcher sie um Hilfe aus einer Not schreit, die sie selbst verschuldet hat! Und noch mehr: wie es hier auf meiner guten »Yin« eine von überall her zusammengetroffene Gesellschaft ist, welche Hilfe bringt, Engländer, ein Deutscher, ein Araber, ein Chinese, genau so werden einst die Wohlmeinenden aller Nationen sich zu vereinigen haben, um die unausbleiblichen Folgen dieses »zivilisatorischen« Terrorisierens wieder gut zu machen. Denn gut gemacht muß alles Schlimme werden, vollständig gesühnt und bis auf die letzte Ziffer abgebüßt, so will es die göttliche Gerechtigkeit. Dieses scheinbar harte und doch so tröstliche Gesetz gilt für die Gesamtheit des Volkes ebenso wie für den einzelnen Menschen, und wen es nicht schon in der Gegenwart trifft, dem mag für seine Zukunft bange sein! Es gibt für den Schuldigen ein fürchterliches, ein ganz entsetzliches Wort, und das lautet: Sündige ja nicht auf Gottes Langmut hin, denn du rechnest ihm nicht einen einzigen Heller ab! Und nun, mein lieber Charley, wollen wir uns schlafen legen; wir wissen nicht, wie lange wir morgen wachen müssen. Mein alter Tom hält für uns diese Nacht seine Augen offen, und auf ihn können wir uns verlassen.«
Die Nacht verging. Ich schlief sehr gut und lange. Als ich früh auf das Deck kam, erfuhr ich, daß wir die Spitze von Tanjong Perlak schon hinter uns hätten und uns also in den Gewässern von Sumatra befänden. Später sah man backbordseits den Goldberg in blauer Ferne liegen. Segli wurde doubliert, und dann dauerte es gar nicht lange, so machte Raffley uns darauf aufmerksam, daß wir dem Ziele nahe seien.
Uleh-leh ist nicht groß, fast durchweg nur aus Holz gebaut. Der Stil der Häuser ist darauf berechnet, möglichst luftig zu sein und doch genügend Schutz gegen die sehr kräftigen Monsumregen zu gewähren. Ein breiter, aus starken Bohlen zusammengefügter Landungssteg reicht in die See hinein. Große Fahrzeuge können sich ihm nicht nähern. Bei der Ankunft von Passagierdampfern entwickelt sich auf ihm ein außerordentlich buntes, hochinteressantes Treiben, bei welchem man die verschiedensten Typen Sumatras in Bewegung sehen kann. Wir kamen unerwartet; darum war er ziemlich menschenleer.
Es war beschlossen worden, uns im Hafen gar nicht aufzuhalten, sondern mit der Bahn hinauf nach Kota Radscha zu fahren, um womöglich, ebenso wie vorher Waller, im Kratong Wohnung zu nehmen. Die mit der Hafenbehörde zu erfüllenden Förmlichkeiten wurden Tom anvertraut. Wir booteten aus. Am Landungsstege wurden wir von einem Beamten empfangen, dessen erste Frage war, ob wir Waffen bei uns trügen; wir hätten sie abzuliefern und würden sie dann beim Einschiffen wiederbekommen. Die Revolver hatten wir bei uns; die Gewehre sollten uns nachgebracht werden. Als wir uns nach der Ursache dieser Maßregel erkundigten, sah der Mann uns forschend an und fragte, ob wir vielleicht Engländer seien. Raffley antwortete mit einem summarischen Ja.
»So kann ich Ihnen nur sagen, daß wir uns um Ihre Personen nicht kümmern werden,« erklärte der Beamte. »Ich frage nicht einmal nach Ihren Pässen und Namen, denn ich sehe, daß Sie Gentlemen sind. Aber wir haben grad jetzt scharfe Differenzen mit den Eingeborenen, und es gibt eine europäische Nation, welche ihnen heimlich Waffen liefert. Sie verstehen mich? Sie haben die Wahl, Ihre Gewehre und Munition entweder hier zu deponieren oder sie auf dem Schiffe zu lassen.«
»Well, so wählen wir das letztere,« meinte Raffley.
Wir gaben unsern Bootsleuten die Revolver und konnten dann gehen, wohin wir wollten. Nicht einmal nach verzollbaren Gegenständen wurden wir gefragt.
»Holland handelt sehr anständig,« bemerkte Tsi.
»Ja, aber zwischen ihnen und den Eingeborenen scheint gerade jetzt der Ausbruch eines Kampfes zu drohen,« warf der Governor ein. »Wir kommen nicht zu einer für uns bequemen Zeit. Wer weiß, ob wir unsern Zweck erreichen!«
»Unbedingt!«
Tsi sagte dieses Wort in so bestimmtem Tone, daß der Governor sich ihm voll zuwandte und mit einem zwar nicht unfreundlichen, aber überlegenen Lächeln fragte:
»Wie kommen gerade Sie zu dieser mutigen Ueberzeugung? Die Auslösungssumme ist zwar vorhanden, aber wir brauchen sehr wahrscheinlich mehr als Geld, nämlich Einfluß, Klugheit, Mut und noch Vielerlei, was einem Arzte fernzuliegen pflegt.«
Da schaute Tsi ihn frei und heiter an und antwortete:
»Danke, Mylord! Ich kenne Aerzte, welche auch klug und mutig zu handeln wissen; doch das ist Nebensache . Die Hauptsache ist, daß ich mir versprochen habe, daß Miß Waller ihren Vater wieder bekommen soll, falls er noch lebt, und dieses Versprechen werde ich halten.«
»Auch wenn wir nicht dabei wären?«
»Ja.«
»Wollen wir wetten?«
»Da blitzten die Augen des Chinesen auf. Indem der Governor ihm eine Wette anbot, hatte er ihn als gesellschaftlich gleichstehend anerkannt.
»Ja!« erklang die schnelle, kräftige Zustimmung.
»Wie hoch?«
»So hoch Sie wollen!«
Wir haben im Gehen gesprochen. Der Landungssteg lag hinter uns , und wir befanden uns am Beginn der breiten, links von Häusern und rechts meist von schattigen Bäumen eingefaßten Straße, welche vom Hafen aus linker Hand nach dem Bazar der Eingeborenen und auch nach dem Bahnhofe führt. Da blieb der Governor stehen, musterte den Chinesen wie einen ihm völlig Unbekannten von oben bis ganz unten und fragte im Tone inniger Belustigung:
»Wissen Sie, was Sie da wagen?«
»Ich wage nichts!« antwortete Tsi, wobei diese drei Worte unendlich bescheiden klangen.
»Gut! Sagen wir zwanzig Pfund, fünfzig Pfund, hundert Pfund, tausend Pfund?«
»Zweitausend Pfund, fünftausend Pfund, zehntausend Pfund?« fuhr der Chinese lächelnd fort.
»Mann! Mensch! Chinese, Mongole, du bist verrückt!« rief da der Governor aus.
»Warum gerade ich? Ist nicht bei Jedem, der es tut, ein gewisser Teil von Verrücktheit dabei, auf das Wohl oder Wehe, auf Tod oder Leben eines seiner Mitmenschen einen Geldgewinn zu setzen!«
»Mag sein! Aber diese Sache ist so großartig interessant, wie ich noch nie jemals eine andere gefunden habe. Sie muß ausgefochten werden, wenn Sie nicht geradezu wahnsinnig sind! Wenn wir uns doch setzen könnten!«
Er sah sich um, deutete einige Häuser weit nach vorwärts und fuhr fort:
»Dort ist ein Laden. Ich sehe Flaschen. Es stehen Stühle auf der offenen Veranda. Well! Kommt Alle mit!«
Er war im höchsten Grade begeistert und eilte uns voraus. Wir Andern folgten. Raffley machte ein sehr besorgtes Gesicht und sagte mit unterdrückter Stimme zu mir:
»Soll ich etwa befürchten, Charley, daß Euer Bekannter sich einen Scherz mit meinem Verwandten erlaubt?«
»Das ist ausgeschlossen!« antwortete ich.
»Aber diese Summen!«
»Warten wir es ab! Tsi ist ein Ehrenmann.«
»Well! So ist die Sache allerdings kolossal unterhaltend! Endlich einmal eine anständige Wette, bei welcher nicht geknausert wird! Charley, lieber Charley, tut mir doch den Gefallen und wettet mit, daß Tsi nicht genug Geld hat!«
»Fällt mir gar nicht ein! Ich würde ja gewinnen!«
»Nein!«
»O doch! Dieser Chinese ist kein Faxenmacher!«
»Also Ihr wollt nicht?«
»Nein!«
»Schrecklicher Mensch, der Ihr seid! Aber auch nicht im geringsten bildungsfähig!«
»Hört, Sir, sagt das nicht! Sonst wette ich doch einmal mit Euch, aber so hoch, daß dann höchst wahrscheinlich Ihr es seid, der mir nicht parieren will!«
»Was?« rief er erregt aus. »Mit Euch wette ich um Alles, Alles, Alles, was Ihr wollt!«
Wirklich?«
»Ja! Ich gebe Euch mein Wort! Denn Euch, Euch, Euch zum Wetten zu bringen, das wäre ja noch viel, viel kolossaler als dieser Pakt zwischen meinem Uncle und Eurem Tsi. Und ich zwinge Euch, Charley; hört, ich zwinge Euch, indem ich jetzt abermals behaupte, daß Ihr ein ganz nutzloser Mensch seid, der keiner Bildung fähig ist!«
»Gut! So wetten wir also!«
»Euer Ernst?« jubelte er auf.
»Ja.«
»Daß Tsi nicht genug Geld hat?«
»Ja.«
»Um was? Schlagt vor! Ich gehe auf Alles, Alles ein!«
»Abwarten! Wollen uns erst setzen!«
Wir waren an dem betreffenden Hause angekommen. Es hatte, wie die andern neben ihm, ein kleines Vorgärtchen, aus welchem man auf Stufen in die hölzerne Veranda gelangte. Von dieser aus trat man in den sehr sauber eingerichteten Laden, in welchem eine Akkuratesse herrschte, als sei er mehr zur Unterhaltung als zum Erwerb vorhanden.
Der Governor hatte eiligst Stühle um einen Tisch gesetzt. Wir nahmen Platz. Der Sejjid hockte sich draußen auf der Treppe nieder. Wir konnten Limonade bekommen; sie sollte naturell sein, denn wir wollten nicht das fertige, aber fade Brausewasser trinken. Sie mußte also erst zubereitet werden, und da dies der Besitzer selbst übernahm, so waren wir allein und ohne störende Zeugen.
»Also ordnen wir unsere Angelegenheit!« begann der Governor. »Wieviel setzen wir?«
»Soviel Sie wollen!« erwiderte Tsi.
»Gut! Ich will Sie nicht unglücklich machen. Sagen wir also tausend Pfund. Haben Sie – – –«
»Halt! Still!« fiel da schnell Raffley ein. »Bis hierher habt Ihr sprechen dürfen; nun aber komme ich mit Charley an die Reihe.«
»Wieso?«
»Ich werde mit ihm wetten.«
»Fällt ihm nicht einmal im Traume ein!« behauptete der »dear uncle«.
»Ist ihm aber schon eingefallen! Sogar im Wachen!«
»Ich wette aber mit dir, um was du willst, daß er nicht mitmacht!«
Da wollte Raffley schnell zugreifen, um noch eine dritte Wette fertig zu bringen; ich fiel ihm aber dazwischen, indem ich dem Governor erklärte:
»Ich bin allerdings zu einer Ausnahme von der Regel bereit. Es ist aber die erste und zugleich die letzte.«
»Ihr wollt wetten! Wirklich, Ihr wollt?« fragte er ungläubig.
»Ja.«
»Prächtig! Herrlich! Unvergleichlich! Welch ein schöner Tag heut! Fast der schönste meines Lebens! Aber sagt mir da nur nicht, daß dies die erste und zugleich die letzte Ausnahme sei! Wer einmal angefangen hat, der hört nie wieder auf!«
»Pshaw! Dieses Mal nicht! Wer diese unsere Wette verliert, wird niemals wieder wetten; dafür ist gesorgt!«
»Bin sofort bereit, mit Euch zu wetten, daß er wieder wettet! Aber sagt, wie ist das gekommen und worauf bezieht es sich?«
Da antwortete John Raffley an meiner Stelle:
»Das habe ich zu sagen, weil Mr. Tsi es Charley übelnehmen könnte. Ich habe nämlich behauptet, daß Mr. Tsi die Summe nicht setzen kann, und Charley wettet für das Gegenteil. Unsere Wette muß also eher festgestellt werden als die eurige. Also, was setzen wir! Ich bin zu Allem bereit.«
»Kein Geld,« antwortete ich.
»Nicht? Warum?«
»Auf diesem Gebiete stehe ich Euch nicht gleich. Wir müssen uns auf ein anderes begeben, wo der Unterschied nicht so bedeutend ist.«
»Einverstanden! Die Sache wird von Minute zu Minute schöner! Also, weiter!«
»Ja, Ihr strahlt vor Freude am ganzen Gesichte; mir aber ist diese Wette kein Spiel, sondern Ernst. Ich sagte, wer diese Wette verliert, wird nie wieder wetten. Ihr nehmt jeden Einsatz an?«
»Ja. Halte stets Wort!«
»Gut! Setzen wir also Gewohnheit gegen Gewohnheit. Ich fordere nämlich von Euch Eure Gewohnheit, zu wetten!«
Da nahm sein Gesicht schnell einen andern Ausdruck an. Er sah mich einige Zeit lang wortlos an und sagte dann langsam:
»Ah, also ein Attentat, ein echtes, wirkliches, wohlüberlegtes Attentat!«
»Das ist es allerdings!«
»Charley, Ihr wagt da viel! Ihr setzt unsere ganze Freundschaft auf das Spiel!«
»Das weiß ich; ich weiß aber auch, warum!«
»Nun, warum?«
»Das könnte ich Euch höchstens unter vier Augen sagen!«
»Ich will es aber jetzt wissen! Ich befehle Euch, es zu sagen!«
Die vorher so heitere Situation war mit einem Schlage ernst geworden.
»Gut, Ihr befehlt, und ich gehorche, denn – – –«
»Halt, nicht so!« fiel er schnell ein. »Ich danke Euch, Charley, daß Ihr darüber hinweggehen wolltet! Ich habe Euch gar nichts zu befehlen; ich sprach unüberlegt. Aber ich bitte Euch, uns Euern Grund zu sagen!«
»Er lautet sehr einfach: Ihr sollt verlieren, weil diese Wettsucht Eurer nicht würdig ist.«
»So – so – so – – – so! Also doch Attentat!«
»Ja, gewiß! Ihr habt mich gezwungen und müßt es Euch nun gefallen lassen, daß ich das Erzwungene so vollständig tue, daß nichts übrigbleibt. Ich wette nie; das habe ich Euch hundertmal gesagt. Aber wenn ich einmal wette, so will ich nicht nur diese eine, sondern zugleich auch alle zukünftigen Wetten meines Gegners gewinnen.«
»Schauderhaft! Fast teuflisch!«
»Nein, sondern das Gegenteil! Ihr habt mir wiederholt und in vollem Ernst erklärt, daß meine Abneigung gegen das Wetten ein Schandfleck an mir sei. Ich hingegen teile Euch aufrichtig mit, daß es in meinen Augen keinen vollkommeneren Gentleman als Sir John Raffley geben würde, wenn es ihm gelänge, der Gewohnheit zu entsagen, sich bei jeder Gelegenheit gegen den edeln Wert des Geldes zu versündigen. Das Geld ist nicht nur Metall; es stecken in ihm die Arbeiten und Sorgen, die Anstrengungen und Entbehrungen aller Eurer Vorfahren und ihrer Untertanen. In diesen Goldstücken ist der ganze Schweiß und sind alle Tränen verstorbener Generationen materialisiert. Dieses Geld ist Gotteslohn und zugleich auch Teufelslohn, je nach der Weise, in welcher es errungen wurde. Euch allein ist es möglich, es dem Satan zu entreißen und nur allein dem Guten und dem Edlen zu widmen. Ihr könnt die Tränen des Kummers, welche in ihm stecken, in Freudentränen verwandeln. Das tut man aber nicht, indem man wettet. Ich will Euch dieses Wetten abgewinnen, und wenn Ihr es verliert, werdet Ihr in dieser einen Wette mehr gewinnen, als Ihr in Euerm ganzen Leben gewonnen habt und noch gewinnen könntet. Ihr habt Euch Euern Reichtum nicht erworben und kennt also die bösen Geister nicht, die in ihm wohnen. Indem Ihr mit dem Reichtum spielt, spielt Ihr mit diesen Geistern. Ich will Euer Spiel in heilig schönen Ernst verkehren, damit diese bösen Geister sich für Euch in gute verwandeln! Sir John Raffley, Ihr steht vor einem ernsten Augenblicke. Wollt Ihr noch mit mir wetten oder nicht? Ich will Euch erlauben, noch zurückzutreten!«
Da sah er mir mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke in das Gesicht, nickte mir lächelnd zu und antwortete:
Ich halte Wort; ich wette mit; ich setze, was Ihr fordert. Aber was setzt Ihr dagegen? Natürlich auch eine lieb gewordene Gewohnheit!«
»Mehr als das. Ihr wißt, daß ich ebenso gern rauche, wie Ihr gern wettet; das eine hat für Euch genau denselben Wert, wie das andere für mich; aber ich gebe mehr: ich setze meine Gewohnheit, Bücher zu schreiben. Sie ist mehr als nur eine Gewohnheit, sie ist mein Beruf, der mich ernährt. Verliere ich, so bin ich ein armer Mann. Ich setze also mehr, viel mehr als Ihr, und das muß Euch beweisen, wie sehr mir daran liegt, Euch für den wahren Wert des Geldes zu gewinnen. Es kann und wird in Euern Händen dann zum Segen für Tausende werden.«
»Mein Charley!« rief er aus. »Alter, lieber, guter Kerl! Well! Es gilt! Abgemacht?«
»Ja.«
»Und ohne spätern Zorn!«
»Unbedingt!«
»Einschlagen!«
»Wir legten die Hände ineinander. Da hielt der Governor es für an der Zeit, Raffley zu beruhigen:
»Seid unbesorgt, dear nephew; Ihr werdet mit mir gewinnen! Aber es ist heut wirklich wundervoll. Zwei solche Wetten sind noch nie so eng beisammen gewesen. Wollen nun die Bedingungen der unserigen feststellen.«
Jetzt wurden die Limonaden gebracht; sie waren klein, und wir hatten wegen der Hitze Durst; wir tranken aus, bestellten neue und gaben dadurch dem Besitzer des Ladens Ursache, sich wieder zu entfernen. Hierauf wendete sich der Governor an Tsi:
»Also ich setze tausend Pfund.«
»Ich auch,« nickte der Chinese.
»Aber nicht auf Kredit, sondern sofort und bar zu erlegen. Charley macht den Kassierer!«
»Einverstanden!«
»Was? Wie? Wirklich? Ach, Ihr wißt wahrscheinlich nicht, wieviel das in anderem Gelde macht! Also sofort zu erlegen, gleichviel, woher man es nimmt oder bekommt?«
»Ich stimme bei.«
»Well! Und auf welche Bedingungen setzen wir das? Sie behaupteten doch wohl, den Vater von Miß Waller freimachen zu können?«
»Ohne unser Lösegeld?«
»Ja.«
»Ohne unsere Hilfe?«
»Ja.«
»Ganz allein?«
»Ja.«
»Bis wann?«
»Schneller, viel schneller, als Sie es können, Mylord!«
Die Zuversicht des Chinesen irritierte den Governor ungeheuer.
»Was für ein sonderbarer junger Mann!« rief er fast zornig aus. »Und darauf wollen Sie tausend Pfund setzen?«
»Gern!«
»Hören Sie, handeln Sie ja mit Bedacht! Ich werde streng auf Erfüllung dieser Bedingungen bestehen! Noch ist es für Sie Zeit, zurückzutreten. Ich will nachsichtig sein! Ich weiß, daß die Chinesen zuweilen ziemlich unüberlegt handeln.«
Das klang beinahe beleidigend; Tsi aber antwortete in seinem höflichsten Tone:
»China bedarf der Nachsicht Englands auf keinen Fall und in keiner Weise!«
»Gut, also abgemacht!« entschied der Governor in strengem Tone. »Jetzt legen Sie das Geld!«
»Nach Ihnen, denn Sie sind Lord, und ich bin Gast Ihres Schiffes!«
Der »dear uncle« fühlte gar wohl, daß er von seinem Gegner Hieb für Hieb geschlagen wurde. Er zog seine Börse heraus und begann, zu zählen. Dann wendete er sich an Raffley:
»Ich habe natürlich nur soviel mit, wie ich glaubte, hier und für heut zu brauchen. Ich bitte um tausend Pfund.«
Da sah der »nephew« den »uncle« erstaunt an, ließ seinen Klemmer vor bis auf die Nasenspitze rutschen und antwortete:
»Was denkt Ihr, Sir? Auch ich habe natürlich nicht den ganzen Inhalt meiner Kasse mit, sondern nur so viel, wie wir für heut und morgen brauchen werden.«
»Well! Aber das Lösegeld? Das habt Ihr doch sicher wohl bar bei Euch!«
»Allerdings; aber es gehört nicht mir, sondern Miß Waller, und von einer Dame borgt kein Gentleman. Und selbst wenn sie es Euch freihändig anbieten wollte, würde ich dagegen sein, denn wir dürfen es nicht angreifen, weil wir es für ihren Vater brauchen.«
»Fatal! Höchst fatal! Und Ihr, Charley?«
»Mir ebenso fatal!« antwortete ich. »Ich kann hier nur mit zweitausend Gulden dienen, und das ist nichts. Mein Zirkular-Kreditbrief ist doch nicht bares Geld!«
Da holte der Governor tief, tief Atem und sagte:
»Da muß ich freilich eingestehen, daß ich nicht setzen kann! Aber Sie, Sie werden es gewiß auch nicht können?«
Tsi, an den diese Worte gerichtet waren, zog sein Portefeuille aus der Tasche, entnahm ihm zweitausend Pfund in Noten der Bank von England, legte sie auf den Tisch und sagte:
»Tausend für mich und tausend für Sie, Mylord, denn ich hoffe, daß Sie mir gestatten, den Einsatz für Sie auszulegen. Wir haben ja ausgemacht, daß es gleichgültig sei, woher man den Betrag bekommt.«
Der gute Uncle schaute ihn mit großen Augen an. Man sah, daß er sprechen wollte; er brachte aber zunächst kein Wort hervor. Da kam der Ladenbesitzer wieder herein, um die Limonade zu bringen; das gab dem Governor die Sprache wieder. Er schob mir das Geld zu und sagte:
»Nehmen sie es, Charley, und machen Sie den Kassierer, bis die Wette entschieden ist! Und Ihnen, Mr. Tsi, sage ich, daß ich den Backenstreich, den Sie mir soeben gegeben haben, ruhig acceptiere, weil ich ihn verdiene. Es scheint doch nicht so leicht zu sein, mit China eine Wette einzugehen!«
»Zumal wenn man nicht der Einzige ist, der den Backenstreich bekommt,« fiel Raffley ein.
»Wieso nicht der Einzige?« fragte sein Verwandter.
»Denkt doch nicht nur an Euch, sondern auch an mich! Mein Einsatz gegen Charley ist ja nun verloren!«
Da sah ihn der Andere zunächst erstaunt an, denn an diese Wirkung seiner eigenen Wette hatte er jetzt noch gar nicht gedacht. Dann kam ihm das Bewußtsein des Verlustes, der John betroffen hatte. Er sprang erschrocken auf und rief aus:
»Es ist ja wahr! Mr. Tsi hat setzen können! Er hat sogar für mich mitgesetzt! Armer, armer John! Nun dürft Ihr nie wieder eine Wette eingehen!«
»Nie, niemals wieder!« nickte Raffley ernst. Und zu mir gewendet, fügte er hinzu: »Ich habe verloren und halte mein Wort. Es wird mir nicht leicht werden, mich in diesen Gedanken zu finden. Ich möchte zürnen und kann doch nicht. Hier meine Hand. Ihr habt mich ja den Gewinn, den dieser Verlust mir bringen wird, schon ahnen lassen. Also, ich wette niemals wieder; Ihr aber dürft weiterschreiben, so lange es Euch beliebt!«
Da fiel Mary Waller ein, indem sie mich zu meinem Schrecken fragte:
»Sie schreiben Bücher? Das habe ich ja noch gar nicht gewußt! Ich staunte, als Sie vorhin beim Eingehen der Wette davon sprachen, daß Sie diesen Beruf haben. Sie sind also Schriftsteller?«
Welch eine Unvorsichtigkeit von mir! Was sollte ich antworten? Das war wieder einmal ein Beweis, daß jede Unaufrichtigkeit wie überhaupt jede Sünde sich ganz von selbst bestraft! Die beiden Engländer begriffen meine Lage. Sie kannten mich; sie wußten, daß ich, falls ich selbst die Antwort übernehmen müßte, nun unbedingt die Wahrheit sagen würde. Darum antwortete der Governor für mich:
»Wie? Was? Schriftsteller? Fällt ihm ja gar nicht ein. Ja, er hat einmal ein Buch geschrieben, ein sehr gelehrtes sogar; ich glaube über – – über – – über irgend eine astronomische Hauptfrage. Dieses Buch bringt ihm in seinen Auflagen so viel ein, daß er zuweilen eine Reise machen kann; das nennt er nun seinen Beruf oder von seinen Büchern leben! Sie wissen ja, wer einmal ein Buch verbrochen hat, der pflegt nichts lieber zu tun, als von seiner "Feder" und von seinem "Berufe" zu sprechen.«
So fadenscheinig diese Hilfeleistung war, sie genügte doch, mich aus der Gefahr, entdeckt zu werden, zu erlösen. Wie groß diese Gefahr gewesen war, das zeigte Marys Antwort:
»So, so ist es? Schon, glaubte ich, ohne es zu wissen, mit einem Kollegen meines Lieblingsschriftstellers verkehrt zu haben.«
Sie nannte nun meinen Namen.
»Den lesen Sie? Ich auch!« bemerkte John. »Seine Bände stehen alle in meiner Schiffsbibliothek.«
»Wirklich? Das hätte ich wissen sollen! Ich hätte Sie um einen gebeten, den ich noch nicht gelesen habe.«
»Welcher ist das?«
»"Am Jenseits." Man sagte mir, der Inhalt entspreche diesem Titel in einer Weise, daß es gar keiner besonderen Einbildungskraft bedürfe, sich an die Pforte, welche der Engel des Todes uns öffnet, zu versetzen.«
»Sie können diesen Band haben. Sollten wir länger, als ich denke, oben in Kota Radscha bleiben, so werde ich Ihnen das Buch vom Schiffe holen lassen.«
Ich weiß gar wohl, daß es Leute gibt, welche es dem Autor untersagen, in seinen eigenen Werken über diese Werke zu schreiben; aber wie ich als sogenannter Schriftsteller meine eigenen, vorher noch unbetretenen Wege gehe, so lasse ich mich auch in dieser Beziehung durch keinen literarischen Pfändwisch irritieren und bringe ohne Scheu, was ich zu bringen habe. Das erwähnte Buch von mir gehört zur Sache.
Die Wettangelegenheiten waren geordnet. Wir bezahlten also, was wir genossen hatten, und gingen. Es ist von dem Laden gar nicht weit bis zum Bahnhofe, und es fügte sich, daß der Zug, als wir dort ankamen, soeben rangiert wurde. Der Verkehr ist nur bei Ankunft oder Abgang der Dampfer ein größerer. Heut aber waren wir die einzigen Passagiere unserer Klasse.
Man fährt nur sehr kurze Zeit bis hinaus. Unterwegs meinte der Uncle, daß wir nicht alle zugleich zum Governor gehen könnten; er werde ihm diesen Besuch allein machen, und wir könnten im Hotel auf seine Rückkehr warten. Er hatte recht, anzunehmen, daß man ihm, dem gewesenen Governor von ceylonisch Indien, die Bitte um ein anständiges Unterkommen für uns eher gewähren werde, als jedem Anderen. Wir trennten uns also, als wir in Kota Radscha angekommen waren, von ihm und gingen nach dem sogenannten Hotel Rosenberg.
Es liegt an einem freien Platze und ist mit einem Kaufladen verbunden, welcher bedeutend größer als der unten in Uleh-leh ist, wo wir die Limonaden getrunken hatten. Wir setzten uns in den luftigen Laubengang, welcher rund um den Speisesaal führt, und ließen uns wieder Limonade geben, das beliebteste Getränk jener heißen Gegend. Als sie gebracht wurde, fragte Mary den Bediensteten, ob vor einiger Zeit ein Brief aus Colombo für Reverend Waller angekommen sei. Er sei nach Penang, East and Oriental Hôtel, adressiert worden, und sie habe dort erfahren, daß man ihn hierher gesandt habe. Der Mann sagte, daß er nachfragen wolle.
Ich hatte geglaubt, sie habe ihn schon erhalten, noch ehe sie mit ihrem Vater in die Berge gegangen war; nun hörte ich aber, daß ich mich geirrt hatte. Es dauerte nur einige Miauten, so kehrte der Diener zurück und brachte den Brief. Er war, was man einen Doppelbrief nennt, und ich sah gleich an seinem Formate und an seiner Stärke, daß er das Notizbuch enthielt. Indem sie ihn öffnete, machte sie die an mich gerichtete Bemerkung:
»Wir trafen in Indien mit einem lieben Bekannten, einem Professor aus Philadelphia, zusammen, bei welchem ich mein Notizbuch liegen ließ. Der Verlust hätte mir nicht nur seines Inhaltes, sondern auch noch eines andern Grundes wegen leid getan. Erinnern Sie sich der vier Zeilen, welche mir im Kontinentalhotel in Kairo vom Winde zugeweht wurden?«
»Ja,« antwortete ich.
»Nun, dieses Blatt steckt mit in dem Buche. Ich habe diese Zeilen geradezu liebgewonnen. Es spricht mich aus ihnen eine Seele an, die mir bekannt sein muß, obgleich ich mich ihrer nicht erinnern kann. Ja, hier ist es noch. Wie freut mich das!«
Sie legte das Blatt, welches sie aus dem Notizbuch genommen hatte, auf den Tisch und las dann den Brief des Professors. Als sie damit fertig war, steckte sie ihn in das Buch und wollte auch das Blatt dazutun. Da aber kam ihr der Impuls, es zu öffnen. Sie faltete es auseinander. Ich beobachtete ihr Gesicht, natürlich unauffällig. Sie war zunächst nur darüber überrascht, acht Zeilen anstatt nur vier zu finden. Dann las sie. Sie sann und sann.
»Sonderbar, höchst sonderbar!« sagte sie. »Hier, bitte, lesen Sie!«
»Ich kenne es ja schon. Sie zeigten es mir später,« antworte ich.
»Lesen Sie es dennoch, und sagen Sie mir dann, was Ihnen auffällt!«
Ich folgte ihrer Aufforderung.
»Nun?« fragte sie.
»Die Strophe hat jetzt acht Verse, während sie früher nur vier hatte, glaube ich.«
»So ist es. Ich kann mir das nicht erklären!«
»Aber ich! Der Professor hat es gelesen und dann die vier Zeilen hinzugedichtet.«
»Der? Dichten? O nein! Sehen Sie übrigens da seine Schrift und diese hier! Es ist ganz, ganz genau dieselbe Hand! Und nicht nur das, sondern auch derselbe Geist, dieselbe Seele, dieselbe Liebe! Professor Garden würde nie, nie in seinem Leben auf die Wendung kommen:
»Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt,
Lebt sie durch Euch, um weiter fortzulieben.«
Er hat auch Seele, aber diese nicht, nein, diese nicht! Es spricht hier eine Stimme zu mir, fast wie die Stimme meiner verstorbenen Mutter. Ich stehe vor einem Rätsel, welches – – –«
Sie wurde unterbrochen. Es kam ein Malaie über den Platz zu uns herüber und bot ihr einen Blumenstrauß zum Kaufe an. Das war hier etwas ganz Gewöhnliches und fiel uns gar nicht auf. Nun aber folgte Etwas, was wir nicht erwartet hatten. Ich gab ihm nämlich eine hinreichende Münze, worauf er den Strauß vor Mary auf den Tisch legte, aber nicht nur ihn, sondern auch die Hälfte einer eigentümlich zerschnittenen Betelnuß!
In diesem Augenblick kam der Governor. Er sah die halbe Nuß, griff hastig nach ihr und forderte Mary auf, ihm die andere Hälfte zu geben. Beide paßten ganz genau zusammen. Da wandte er sich an den Malaien:
»Sprichst du englisch?«
»So viel, wie ich hier brauche,« antwortete der Mann. Er sah furchtlos zu ihm auf.
»Was tust du, wenn ich dich arretieren lasse?«
»Nichts. Ich komme wieder frei, aber der Tuwan aus Amerika ist verloren!«
Da wendete sich der Governor an Tsi:
»Sie wollen ihn ohne unser Geld und ohne unsere Hilfe befreien. Nun, tun Sie das! Es handelt sich um unsere Wette.«
»Nach Ihnen, Mylord!« lächelte der Chinese. »Ich bitte, diesen Mann auszufragen! Sie müssen doch erst sehen, wie leicht oder wie schwer es ist, Mr. Waller wiederzubekommen.«
Da ergriff Raffley das Wort, indem er den Malaien fragte:
»Woher kennst du die Lady, und wie kommst du hierher?«
»Ich war mit bei dem Brand des Tempels, auch mit bei der Beratung der Häuptlinge und habe die Tochter des Fremden genau gesehen,« antwortete der Eingeborene. »Dann wurde ich hierher geschickt, um sie zu erwarten. Ich wartete in der Nahe des Hauses, wo sie Limonade trank. Ich ging mit nach dem Bahnhofe; ich fuhr mit hierher, und ich kaufte diese Blumen, um sie ihr zu bringen.«
»Wo ist ihr Vater?«
»Das darf ich nicht sagen. Er ist sehr krank; aber er lebt; er sehnt sich nach ihr und wird ihr gebracht werden, wenn ich das Geld bekomme.«
»Du wirst es nicht eher erhalten, als bis du ihn gebracht hast.«
»Das ist nicht möglich. Die Häuptlinge geben mir den Tuwan nur dann, wenn ich ihnen das Geld so hinzähle, daß kein einziger Gulden fehlt.«
»So gehen wir mit dir, um selbst mit ihnen zu sprechen!«
»Es ist mir verboten, Jemand mitzubringen. Ich habe genug gesprochen und sage nun weiter kein Wort. Hier stehe ich und erwarte den Bescheid. In zehn Minuten gehe ich; dann aber wird der Tuwan sterben. Ich sagte die Wahrheit und schweige nun!«
Er trat einige Schritte zurück und steckte die Hand unter seinen Sarong, wo er wahrscheinlich einen Kris stecken hatte. Der Sarong ist ein langes Stück Zeug, welches wie ein Frauenrock um die Hüften geschlungen wird und bis herunter auf die Knöchel reicht
Mary hatte Angst bekommen, doch sagte sie nichts.
»Da ist nichts zu machen,« erklärte Raffley. »Wenn wir Mr. Waller nicht in die größte Gefahr bringen wollen, müssen wir das Geld zahlen.«
»Miserable Situation!« Aber es geht wirklich nicht anders!« stimmte der Governor bei. »Man sieht es diesem Kerl hier an, daß er kein weiteres Wort sagen und sich nach zehn Minuten entfernen wird. Und wenn das Geld fort ist, so können wir tausend gegen Eins wetten, daß sie es nehmen, ohne uns ihren Gefangenen auszuliefern. Was sagt Ihr dazu, Charley?«
»Verlassen wir uns auf Mr. Tsi!« antwortete ich.
Der Chinese nickte mir lächelnd zu und fragte den Uncle:
»Wollen Sie diese Angelegenheit also mir nun überlassen, Mylord?«
»Natürlich! Es gilt ja um die Wette!« antwortete der Gefragte.
»So bitte ich Sie, sich über nichts zu wundern. Ich wußte sehr wohl, was ich tat, als ich diese Wette einging. Ich war, sobald ich von der Betelnuß hörte, meiner Sache gewiß. Passen Sie auf, wie schnell man mir gehorchen wird! Wissen Sie bereits, wo wir wohnen werden?«
»Im Kratong. Der holländische Mijnheer war sehr bereitwillig, Wir haben eine ganze, neben einander liegende Reihe von guten Zimmern, die eigentlich nur für eingeladene Gäste sind.«
»Das ist mir lieb. Ich danke!«
Er zog seine Brieftasche wieder hervor, entnahm ihr ein Kärtchen, feuchtete seinen Tuschestift durch Limonade an und legte die Karte auf den Tisch, um zu schreiben. Hierbei sah ich, daß auf der einen Seite derselben drei fettgedruckte, chinesische Worte standen. Die andere, leere Seite beschrieb er mit fremden Charakteren. Dann rief er den Malaien in gebieterischem Tone zu sich her und fragte ihn:
»Ich sehe an der Betelnuß, daß Ihr unsere drei Worte kennt. Kannst du sie nur sprechen oder auch lesen?«.
Da wurde das Gesicht des Mannes ein ganz anderes. Die Kälte wich; es wurde warm.
»Ich kann sie auch lesen,« antwortete er. »Einem, der sie nur sprechen darf, würde man keine solche Botschaft anvertrauen.«
»Richtig! Aber kannst du aus ihrer Stellung ersehen, was ich bin?«
»Ja, sofort!«
»So nimm, und schau!«
Er reichte ihm die Karte. Kaum hatte der Malaie einen Blick auf sie geworfen, so strahlte sein Gesicht in heller Freude. Er griff nach den beiden Händen des Chinesen, küßte sie, küßte sie wieder und immer wieder und rief dazwischen in froher Erregung aus:
»Unser junger Sahib! Der Sohn unsers Wohltäters, der die Leuchte unserer Verehrung und Liebe ist! Wie glücklich ist mein Herz, daß meine Augen Dich erblicken dürfen! Befiehl mir, was Du willst; es wird gewiß geschehen!«
Hierauf verbeugte er sich dreimal so tief, wie es ihm möglich war. Tsi befahl ihm:
»Trag dieses Papier zu den Häuptlingen! Sie werden Dir den fremden Tuwan geben. Wir wohnen im Kratong, und du wirst ihn uns bringen. Aber du wirst ihn sehr vorsichtig behandeln, wie einen sehr hohen und sehr kranken Gebieter! Wann können wir dich mit ihm erwarten?«
Der Malaie verbeugte sich wieder und antwortete:
»Wir haben ihn sehr vorsichtig in einer Mahala von den Bergen heruntergetragen. Er ist nicht weit von hier. Wenn zwei Stunden vergangen sind, werden wir ihn bringen. Diesen weißen Männern hier hätte ich das nicht mitgeteilt, denn wir trauen keinem Europäer, und Du kannst uns das nicht verargen. Der Tuwan hat uns von neuem bestätigt, was wir längst schon wußten. Wir nahmen ihn wie einen Bruder auf, gaben ihm das Beste, was wir hatten, und zwar nicht für Geld, sondern ganz umsonst, und wie dankte er uns dafür? Er legte Feuer an die Stätte der heiligen Verehrung Gottes und der Gastfreundschaft, die er genoß, und verbrannte unserm Priester hierauf noch alle seine Bücher und Gewänder mit seiner ganzen, übrigen Habe! Diese Fremden müssen entweder wahnsinnig sein oder ganz verkommene Menschen!«
Er ist weder das Eine noch das Andere, sondern krank. Er hat in der Aufregung des Fiebers gehandelt. Ich erkläre den Häuptlingen hiermit, daß ich sein Freund bin, was ich unbedingt nicht sein würde, wenn er ein so gewöhnlicher Mensch wäre, wie Du denkst. Du sollst das Lösegeld in Empfang nehmen?«
»Ja. Ich habe die Weisung, ihn nicht eher auszuliefern, als bis ich es erhalten habe. Aber das ist doch nun anders geworden. Du hast ihn Deinen Freund genannt, folglich ist er auch der unserige. Du hast gesagt, daß er seine Tat im Fieber begangen habe, folglich ist es wahr, denn du bist kein Abendländer und sagst nie ein Wort, das man zu bezweifeln hat. Was der Mensch aber im Zustande des Fiebers tut, dafür kann er unmöglich bestraft werden. Es ist also unsere Pflicht, ihn ohne Bezahlung freizugeben. Den angerichteten Schaden werden wir zu tragen wissen. In zwei Stunden könnt Ihr ihn begrüßen. Ich eile, ihn zu bringen.«
Er verbeugte sich zum dritten Male und ging dann schnellen Schrittes fort. Tsi stand still und schaute ihm ernst, sehr ernst nach, bis er verschwunden war. Er hatte mehr, viel mehr gegeben, als die Summe des Lösegeldes, nämlich sein Wort! War Waller der Mann, dieses Wort zu achten und es nicht etwa später durch weitere Angriffe zur Lüge zu machen?
Mary war von ihrem Sitz aufgestanden. Sie hatte dem kurzen aber für sie hochwichtigen Gespräche stehend zugehört. Sie sagte nichts; aber ihre Hand lag auf dem Herzen, und ihr Blick hing leuchtend an der von ihr abgewendeten Gestalt des Chinesen.
Raffley bog sich mir zu und sagte leise:
»Ist ein tüchtiger Kerl, dieser Tsi! Gewinne ihn immer lieber!« Und nach seinem, uncle deutend, fügte er hinzu: »Bin überzeugt daß ich meine Wette gewinnen werde, die letzte, vor der aller-, allerletzten!«
Obgleich dies nur flüsternd gesprochen worden war, schien der Governor es doch gehört zu haben. Er griff in die Tasche, nahm seine Börse heraus, öffnete sie, zählte den Inhalt und sagte dann:
»Habe fünfundzwanzig Pfund. Um zwanzig aber wetteten wir, nicht wahr?«
»Ja,« nickte Raffley.
»So kann ich zahlen. Mr. Tsi hat die Jacht noch nicht endgültig verlassen, und ich erkläre mich schon für besiegt. Ihr habt gewonnen, John, hier sind die Zwanzig. Auch die Tausend scheinen dahin zu sein! Charley, Eure Theorie in Beziehung auf das Wetten ist nicht übel! Vielleicht stimme ich Euch noch bei, und zwar freiwillig, ohne Zwang!« Raffley steckte die Goldstücke gleichmütig ein, und nun drehte Tsi sich uns wieder zu, denn der Malaie war verschwunden. Der »uncle« sagte halb lachend und halb ärgerlich zu ihm:
»Ihr Orang scheint ein sehr aufrichtiger Patron zu sein. Er traut uns nicht, weil wir Europäer sind, und sagt das ganz offen in unserer höchst eigenen Gegenwart! Sehr ehrenvoll für uns! Ist das nicht ein wenig unerhört?«
»Nicht dieses Mißtrauen ist unerhört,« antwortete Raffley an Stelle des Gefragten, »sondern das Verhalten der Kaukasier, die sich für religiös höherstehend halten und daraus mit verwunderlicher Naivität schließen, daß sie den andern Rassen auch in geistiger und moralischer Beziehung überlegen seien. Vollwichtige Menschen darf es nun einmal außer ihnen gar nicht geben! Dieser Malaie hatte vollständig recht, und ich lobe ihn, daß er es uns so offen und ehrlich sagte. Aber, dear Tsi, ich bin erstaunt über die geheimnisvolle Macht, die Sie über diese Leute besitzen. Haben Sie dieses Geheimnis zu bewahren, oder ist es erlaubt, nach ihm zu fragen?«
Da legte sich ein eigenartiges, fast wehmütiges Lächeln um den Mund des Chinesen, und er sprach:
»Ich komme aus dem Abendlande. Ich studierte es und weiß darum, daß man dort von einer großen, ausgebreiteten Friedensbestrebung redet. Ich maße mir nicht an, ein Urteil über sie zu fällen, denn ich verstehe die laute Art und Weise nicht, in welcher man dort Etwas versucht, was hier bei uns schon längst in aller Stille wirkt, und zwar mit welchem Segen, das haben Sie soeben hier erfahren. Vielleicht teile ich Ihnen später Ausführlicheres hierüber mit. Für jetzt genügt es, daß ich Ihnen zeige, was für eine Karte ich vorhin beschrieben habe. Ich führe davon stets eine Anzahl bei mir, um jederzeit imstande zu sein, meinen menschlichen Verpflichtungen nachzukommen.«
Er legte eine der Karten auf den Tisch und fuhr dann fort:
»Sie sehen, sie ist auf der einen Seite leer. Auf der andern stehen die Zeichen der drei Worte »Schin«, »Ti« und »Ho«. Das heißt Humanität, Brüderliebe und Friede. Jeder, aber auch jeder, der zu uns gehört, hat im Sinne dieser drei Begriffe zu handeln. Wer auch nur ein einziges mal dagegen verstößt, muß als ehrlos aus dem Bunde scheiden. Dieser Bund erstreckt sich weit über China hinaus und wirkt ohne alles Geräusch, in tiefster Stille. Wir fragen nicht, wer oder was der ist, der Hilfe braucht, und bringen sie dem Feinde ebenso gern wie dem Freunde, womöglich ohne daß er es bemerkt. Am allerwenigsten fragen wir nach der Verschiedenheit der Religion. Nicht wer genau so denkt wie wir, sondern ein jeder Mensch, der uns nötig hat, soll unser Bruder sein, der Nächste neben uns, dem wir die Hand zu reichen haben. – So das sei für heut. Und nun lassen Sie uns gehen, damit wir dann imstande sind, den Kranken aufzunehmen!«
Da reichte ihm der Governor die Hand und sagte:
»Mr. Tsi, wahrhaftig, Ihr seid ein ganzer Kerl! Sagt, raucht Ihr vielleicht?«
»Ja, zuweilen, wenn es paßt.«
»So erlaubt mir, Euch eine meiner Tabakspfeifen zu schenken, sobald wir wieder auf die Yacht gekommen sind. Ich hoffe, wir rauchen mit einander noch manchen Kopf in Stücke!«
Da lachte Raffley lustig auf und rief:
»Aber Uncle, er ist ja ein Chinese! Was habt Ihr da getan!«
»Ach was Chinese!« antwortete der Gefoppte. »Er ist ja gar keiner! Sondern ein Gentleman, der mir gefällt! Nun kommt; wir müssen fort!«
Wir bezahlten unser Getränk und begaben uns nach dem Kratong. Mein Sejjid, welcher in einiger Entfernung von uns auch bei einer Limonade gesessen und unser Gespräch mit dem Malaien beobachtet und gehört hatte, folgte uns.
Als wir die Zitadelle erreichten, kam uns der Gouverneur entgegen, um uns unsere Raume anzuweisen. Der Uncle hatte ihn sehr treffend als »holländischen Mijnheer« charakterisiert. Dieser Offizier war überaus höflich, aber auch überaus kühl und zurückhaltend. Er hatte von dem Governor natürlich erfahren, was mit Waller geschehen war, vermied es aber, hiervon zu sprechen. Wir waren so vernünftig, einzusehen, daß dieses Schweigen ein wohlberechtigtes sei. Er hatte den Missionar gewarnt, die freien Malaien hoch oben im Gebirge aufzusuchen, war aber nicht gehört worden. Nun, da es sich herausgestellt hatte, wie wohlbegründet seine Warnung gewesen war, konnten wir nicht von ihm verlangen, daß er sich Mühe zu geben habe, gerührt und mitleidig zu erscheinen. Es war im Gegenteil schon dankbar anzuerkennen, daß er sich so rücksichtsvoll zeigte, den, der nicht auf ihn gehört hatte, wieder bei sich aufzunehmen, und zwar als Schwerkranken, der von der Gastfreundschaft viel größere Opfer forderte als ein Gesunder.
Die uns angewiesenen Zimmer lagen alle nebeneinander. Zwischen einigen von ihnen gab es innere Verbindungstüren, so daß wir uns besuchen konnten, ohne erst hinaus auf den Korridor gehen zu müssen. Und ebenso willkommen war uns der Umstand, daß es an Stelle der Fenster Türen gab, durch welche wir aus unsern Wohnungen direkt hinaus in das Freie treten konnten. Ein Jeder von uns bekam einen holländischen Soldaten zur Bedienung zukommandiert. Diese Leute sprachen alle ziemlich gut malajisch, wenigstens den dortigen Dialekt. Sogar meinem Sejjid Omar wurde einer zugesellt. Diese Beiden wurden gleich am ersten Tage »dicke Freunde«, und es bereitete uns Andern ein stillgenossenes Vergnügen, den Araber mit seinem Nederlander holländisch zu malaien oder malajisch holländern zu hören.
Die beste Stube wurde natürlich für den Kranken bestimmt, und ebenso selbstverständlich war es, daß Mary, seine Tochter, neben ihm zu wohnen kam. Die Möbel waren überall zwar einfach, aber höchst bequem, dem Klima und Gewohnheiten dieser Gegend angemessen. Mit einem Worte, wir sahen uns ganz vortrefflich installiert und hatten das nicht etwa uns oder unsern Vorzügen und Verdiensten, sondern nur der noblen Gesinnung des »Mijnheer« zuzuschreiben, zumal wenn wir an den so rücksichtsvoll versteckten Vorwurf der Hafenbeamten dachten: »Wir haben grad jetzt scharfe Differenzen mit den Eingeborenen, und es gibt eine europäische Nation, welche ihnen heimlich Waffen liefert. Sie verstehen mich!«
Nachdem Mary ihres Vaters Wohnung zu seinem Empfange vorbereitet hatte, war es ihr unmöglich, länger im Zimmer zu bleiben. Sie wanderte draußen im Freien ruhelos hin und her. Tsi war, nachdem er gesehen hatte, wo er wohnen sollte, gleich wieder fortgegangen. Als er wiederkam, folgte ihm ein Malaie, welcher einen großen Pack Pflanzen trug. Es war Brucea sumatrana, das Ko-su der Chinesen, welches der junge Arzt in der Nähe des Kratong in hinreichender Menge gefunden hatte. Er ging damit nach seinem Zimmer, um es zum Gebrauche vorzubereiten.
Ich saß inzwischen mit den beiden Engländern beisammen, und es bedarf wohl keiner Frage, wovon wir uns unterhielten. Das Gespräch ging fast nur zwischen mir und Raffley hin und her. Der Uncle warf nur sehr selten ein Wort hinein, denn er war so mit sich selbst beschäftigt, daß er kaum hörte, was wir sagten. Wir ahnten wohl, worüber er so eifrig nachdachte, bekamen es aber auch zu hören, als er endlich ungeduldig aufsprang und in beinahe zornigem Tone sagte:
»Ich werde diese beiden Kerls nicht los! Sie rütteln an mir, immerfort, immerfort!«
Hierauf begann er, im Zimmer auf und ab zu wandern.
»Welche Kerls, dear uncle?« fragte John lächelnd.
»Dieser Omar und dieser Tsi,« antwortete der Governor. »Sie sind beide so höflich, so bescheiden gegen mich, und doch ist es mir, als ob sie hinter meinem Rücken über mich lachen müßten. Das ist ein Zustand, den ich nicht gut vertragen kann! Und worüber haben sie zu lachen? Ueber meine berühmte Kenntnis fremder Völker, natürlich, ganz natürlich! Die haben bisher alle nichts getaugt! Die waren unbildsam, rückständig, dumm und frech! Kaum als ein lohnendes Kanonenfutter zu betrachten! Die ganze Erde gehörte eigentlich uns, nur uns; sie aber waren nur zu dulden, um das Niedrige zu tun, was sich für uns, die Erhabenen, nicht schickte! Da kommt zunächst dieser arabische Sejjid Omar und schaut mich unausgesetzt mit seinen dunkeln Augen verwundert fragend an. Er wichst, schmiert und salbt seinem deutschen Sihdi die Stiefel, obgleich der Islam ihm das auf das allerstrengste verbietet, liebt ihn beinahe wie eine Braut und würde wohl gar für ihn das Leben lassen. Und außerhalb dieser unendlich rührenden Zuneigung ist er stolz wie ein Spanier und hält auf Ehre wie ein britischer Earl! Es hilft nichts, daß ich mich dagegen sträube, ich muß es eingestehen, daß er mir gefällt, daß ich ihn achte, ja, daß ich ihn sogar liebgewannen habe. Oder gar noch schlimmer, dieser Mensch scheint es darauf abgesehen zu haben, mir auf Schritt und Tritt und so oft er mir vor die Augen kommt, zu imponieren! Er, der Eselsjunge, mir, dem Governor von Ceylonisch Indien!«
»Uncle, Uncle,« lachte Raffley. »Was muß ich von Euch hören! Wer hätte das gedacht!«
»Lacht nur, Sir; immer lacht!« fuhr der Andere fort. »Ihr wißt ja nicht, warum er mir imponiert! Diesem Sejjid ist meine Hautfarbe, meine Nationalität, meine Lordschaft, meine Governorschaft und Alles, Alles, worauf mein ganzer Stolz beruht, schnuppe, vollständig schnuppe! Für ihn bin ich nur Mensch, grad so wie er, nur Mensch, weiter nichts! Und das, grad das gefällt mir von dem Kerl! Ich kann es ihm nicht verdenken, Wahrhaftig nicht, denn als ehrlicher Mann muß ich mir sagen, daß ich an seiner Stelle wohl ganz derselbe Sejjid Omar sein würde, aber leider ohne die rührende Liebe, welche dem beinahe angebeteten Sihdi die Stiefel putzt und salbt! Ich sollte eigentlich diesen Sihdi hassen, der es wagt, mir einen Eselsjungen mitzubringen, damit ich endlich einmal kennen lernen möge, was eigentlich ein Mensch ist und was keiner!«
Er stellte sich vor mich hin und drohte mir in halb jovialer, halb zorniger Weise mit der Faust.
»Das ist kein Kompliment für mich, Mylord,« lächelte ich. »Denn ich selbst bin also nicht genug Mensch gewesen, um Euch zu imponieren!«
»Nein, denn Ihr seid ja zivilisiert! Ich fange nämlich an zu glauben, daß mir von jetzt an nur noch unzivilisierte Leute imponieren können. Ich bitte Euch, denkt auch an den Chinesen, diesen Tsi! Er ist der Andere, den ich meinte. Hat die verachtete gelbe Haut und drängt sich doch auf unsere Jacht, ganz gegen meinen Willen! Setzt sich nicht mit an unsern Tisch und zwingt mich dadurch, ihn ganz ergebenst selbst zu holen! Spricht dann nur, wenn man fragt, doch wie ein Weltprofessor, und zwingt mir Wort für Wort das innerliche Selbstgeständnis ab, daß er nicht nur gescheidter, sondern auch besser ist, als ich bin! Ich verliere Wette um Wette, weil ich mich für vornehmer und reicher halte als ihn! Seine kleine Karte mit den drei chinesischen Worten spricht ganze Bände über die Frage, vor welcher wir trotz unserer sogenannten Intelligenz genau so stehen, wie die Kuh vor der verschlossenen Stalltür! Und während ich wunder denke, wer und was ich gewesen und heut noch bin, zeigt er mir durch einige geschriebene Worte, daß er, der junge Mann, weit außerhalb seines Vaterlandes und sogar bei den vermeintlich Wilden eine Achtung, eine Liebe besitzt, die nicht nur über ganz bedeutende Summen, sondern sogar über Leben und Tod verfügt! Dabei zeigt er sich so gelassen, so ehrerbietig, so bescheiden, so einfach, so anspruchslos, daß ich laut hinausrufen möchte: Wenn das nicht die wahre Bildung, die wahre Gesittung ist, so soll einmal ein Europäer kommen, um ihn zu übertreffen!«
Da schaute Raffley ihm verwundert in das Gesicht und rief aus:
»Dear uncle, was ist mit Euch vorgegangen? Ich kenne Euch nicht mehr. Ihr seid ja begeistert von einem Chinesen! Bedenkt doch, was das heißt!«
»Was soll es heißen! Ich bin nicht begeistert, sondern zornig, einfach zornig, und zwar über mich! Aber es mußte heraus, und es mußte herunter, grad hier und grad jetzt! Es braucht zu dem Araber und dem Chinesen nur noch ein Malaie zu kommen, der mich ebenso beschämt, so habe ich meine Fehler dem ganzen Asien abzubitten! Ich mußte es Euch sagen, damit Ihr Euch nicht über mich wundert, wenn ich Dinge tue, die mir früher fremd gewesen sind.«
»Wieso?«
»Weil davon gesprochen worden ist, daß Waller, Mary und Tsi mit uns auf unserer Jacht nach China gehen sollen. Wenn das geschieht, so will ich vorher Klarheit über mich haben. Darum sprach ich mich aus, um mit eigenen Ohren zu hören, was ich sage. Und nun dies geschehen ist, habe ich mich durchschaut und weiß, woran ich bin!«
»Das ist sehr weislich gehandelt; aber bitte, uns das Ergebnis mitzuteilen! Wir fahren nämlich auch mit, wenn Ihr nichts dagegen habt, und möchten darum gern wissen, woran auch wir mit Euch sind.«
»Das sollt Ihr erfahren, sofort! Ich will, wenigstens auf dieser Reise, auch einmal nur Mensch sein! nichts als Mensch. Nicht Lord, nicht Governor, sondern nur Uncle, höchstens einfach Sir! Ich möchte nämlich sehen, ob ich als Mensch so ganz und gar nichts bin, daß man gezwungen ist, sich auf meinen Stammbaum und auf meine Titel und Würden zu besinnen, wenn man mich achten will. Man hat sich dieser Äußerlichkeiten ja geradezu zu schämen, wenn man so nach und nach erfahrt, was für wirkliche Vorzüge und Verdienste alle hinter dem kleinen, einsilbigen Wörtchen Tsi verborgen liegen!«
Da sprang John auf, umarmte ihn, gab ihm einen herzhaften Kuß auf den Mund und sagte:
»Uncle, alter, lieber, prächtiger Uncle, wenn du wüßtest, was du mir da für eine Freude machst! Es bedarf ja dessen eigentlich gar nicht, denn wir Alle wissen ja, daß du der beste, der allerbeste – – –«
»Still, still!« unterbrach ihn der Alte, indem er sich mit der Hand über die feucht gewordenen Augen fuhr. »Ich mag das jetzt nicht hören. Ich will auch nicht der reiche vornehme »Uncle« sein, das Familienoberhaupt, sondern nur die Person, das Individuum, der Mensch, den man ganz unwillkürlich und aus freiem Herzen Uncle nennt, weil – – – Horch!«
Er hielt inne, denn es war draußen ein jubelnder Schrei erklungen. Mary hatte ihn ausgestoßen. Wir traten an die Fenstertür und sahen hinaus. Vier Träger brachten einen großen, bequemen, malajischen Palankin getragen, aus leichtem Holz gefertigt und mit buntem Kellam-Kellam-Stoff verhangen. Diese Träger waren Malaien, schöne, schlank, aber kräftig gewachsene Gestalten, deren stolzer Haltung man es ansah, daß sie diesen Dienst nur ausnahmsweise verrichteten. Hinter ihnen ging der Bote, mit dem wir gesprochen hatten. Voran schritt ein Greis mit lang herabwallendem, silberweiß glänzendem Haar, hoch aufgerichtet wie ein Jugendlicher. Sein Kopf war unbedeckt. Die einfache, ja fast ärmliche Kleidung, die aus Saway und Badju bestand, unterschied ihn nicht von andern Leuten seiner Rasse, aber man sah ihm doch gleich bei dem ersten Blicke an, daß er gewohnt sei, Achtung, vielleicht gar Ehrfurcht zu erwecken. Der Ausdruck seines faltenlosen Gesichtes war ernst, doch mild und gütig. In der Hand hielt er einen langen, weißen Stab, an welchem oben ein federbuschartiger Strauß von wohlriechenden Binarablättern und weißblühenden Kalessirispen befestigt war, zum Zeichen, daß man im Frieden zu uns gekommen sei. Dieser Mann war der heidnische Priester, der sich Miß Wallers so freundlich angenommen und dem christlichen Brandstifter das Leben gerettet hatte. Die Güte seines Herzens hatte ihn getrieben, den weiten, beschwerlichen Weg trotz seines Alters mitzumachen, damit der Missionar des religiösen Schutzes und der Pflege nicht entbehre. Mary eilte auf ihn zu und küßte ihm die Hand. Sie tat dies im schönen Drang nun auch ihres Herzens, obgleich der Kuß bei den Malaien Sumatras etwas vollständig Ungebräuchliches ist.
Die Sänfte wurde niedergesetzt, und Mary schlug die Vorhänge schnell zurück, um ihren Vater zu begrüßen. Wir gingen hinaus, um dasselbe zu tun, und trafen da mit Tsi zusammen, der dasselbe gesehen hatte wie wir. Die Amerikanerin kniete jetzt, als wir kamen, mit gefalteten Händen und leichenblaß vor ihrem Vater. Er lag starr wie ein Toter, hatte die Augen fest geschlossen und machte nicht die geringste Bewegung. Tsi trat an die andere Seite des Palankin, um den Kranken zu untersuchen. Er brauchte hierzu kaum eine Minute; dann sagte er:
»Ich darf Sie beruhigen, Miß Waller. Er lebt. Er ist nur schwach, unendlich schwach. Ich werde ihm zunächst ein Mittel geben, welches ihn belebt. Dann werden wir, so hoffe ich, weiter sehen, daß wir ihn retten können.«
Er befahl den Trägern, die Sänfte in das Haus und nach dem Korridor zu tragen. Sie taten es. Mary ging mit. Tsi aber blieb noch für einige Augenblicke da, um den Priester zu begrüßen. Er verneigte sich vor ihm wie vor einer hochgestellten Persönlichkeit und fragte:
»Dein Bote kannte unsere drei menschenfreundlichen Worte. Darf ich daraus schließen, daß auch du ein Sohn der großen »Shen«, also ein Bruder Aller bist, die uns der Himmel als Bedürftige sendet?«
»Würdest du mich hier sehen, wenn ich es nicht wäre?« antwortete der Gefragte. »Ich kenne sogar deinen Vater; ich hatte das Glück, mit ihm zu sprechen. Als wir hier oben in den Bergen beschlossen hatten, Kinder Eurer »Shen« zu werden, war ich der von allen Stämmen Auserwählte, der nach Kuang-tscheu-fu geschickt wurde, ihre Lehre zu studieren und ihre Einrichtungen hier auf dieser Insel einzuführen. Die dortigen Schüler deines Vaters wurden meine Lehrer, obgleich ich älter, viel älter war als sie. Einst kam er, sie zu besuchen. Da durfte ich an seinem linken Fuße sitzen und stundenlang nach Allem fragen, was ich noch nicht kannte. Als er dann ging, umschlang ich diesen Fuß mit meiner Hand und drückte ihn an meine Stirn, denn es war der Fuß der ewig gütigen, barmherzigen und duldsamen »Shen«, welche mit dem ersten der Menschen vom Himmel niederkam und mit dem letzten wieder zu ihm aufwärts gehen wird. Wie freute ich mich, als ich von meinem Boten und deiner Karte erfuhr, daß du, sein Sohn, in Kota Radscha seist, und zwar um des Mitonare willen. Ich machte mich sofort mit ihm auf den Weg und bin mit meinem ganzen Volk bereit, dem Sohne zu danken, was der Vater an uns tat. Befiehl, und ich gehorche!«
»Befehlen? Für dich hat die »Shen« keinen Befehl, sondern nur die Bitte: Bleib heute hier bei uns! Du hast den Kranken begleitet und bist der Einzige, der mir ein Bild über die Entwickelung seines gegenwärtigen Leidens ermöglichen kann. Ich brauche es, um ihn zu retten.«
»So bleibe ich! Sollte mein Malajisch hier deinen Freunden unbekannt sein, so kann ich englisch mit ihnen sprechen. Ich habe es während der drei Jahre gelernt, die ich in Kuang-tscheu-fu und Hiang-Kiang gewesen bin, um neben der »Shen« auch den »Segen« zu studieren, den die Fremden dorthin brachten.«
Er hatte das in einem so zufriedenstellenden Englisch gesagt, daß der Uncle ganz erstaunt in die Worte ausbrach:
»Habt Ihr es gehört, dear John? Dieser Mann kennt unsere Muttersprache! Das ist ein Wunder, welches man schleunigst beim Schopfe nehmen muß! Einverstanden?«
Raffley ergriff als Antwort die Hand des Priesters und bat ihn, mit herein zu uns zu kommen. Da sagte Tsi:
»Ich danke Ihnen, Sir! Sie machen es mir damit möglich, nun dorthin zu eilen, wohin meine Pflicht mich ruft.«
Er begab sich also schnellen Schrittes der Sänfte nach. Raffley und der Governor nahmen den neuen Gast in die Mitte, um ihn nach unserer noch offenstehen- den Tür zu führen. Ich aber folgte ihnen nicht, sondern verließ den Kratong, um während eines kurzen Spazierganges die Umgebung desselben kennen zu lernen. Ich wurde ja nicht gebraucht, weder von den beiden Englishmen noch von dem Kranken und seinem Arzte.
Als ich nach ungefähr einer Stunde zurückkehrte, wollte ich direkt nach meinem Zimmer gehen; aber Raffley öffnete das seinige und forderte mich auf, zu ihm zu kommen. Er war allein; aber im Nebenzimmer hörte man sprechen. Dort wohnte der Governor. John machte mir ein Zeichen, nicht zu laut zu reden, und sagte in gedämpftem Tone:
»Tsi war soeben hier. Er brachte Nachricht über Waller. Es steht mit dem Patienten nicht gut. Nur die äußerste Aufmerksamkeit kann ihm das Leben erhalten. Miß Mary darf das natürlich keinesfalls erfahren. Tsi hat ihr Hoffnung gemacht, soweit es möglich war, ohne geradezu zu lügen. Der anstrengende Weg in die Berge hätte unbedingt unterbleiben sollen. Nun sind wir gebeten, uns sowenig wie möglich um den Kranken zu bekümmern, weil seine Tochter sich durch viele Nachfrage beunruhigt fühlen würde. Tsi wacht mit ihr am Lager und ersucht uns, es zu entschuldigen, daß er sich jetzt nur zuweilen sehen lassen könne. Unser Aufenthalt in Kota Radscha wird also von längerer Dauer sein, als wir dachten. Wir haben uns hierauf einzurichten, und so schlage ich vor, nicht hier, sondern auf der Jacht zu speisen und dort Alles einpacken zu lassen, was wir für unsere besonderen Bedürfnisse hier oben nötig haben. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich es dem Uncle mitteilen.«
Ich stimmte bei. Da öffnete er die Tür zum Nebenzimmer und machte diesen unsern Entschluß dem Governor bekannt, der, wie ich lächelnd bemerkte, den alten »Heiden« eng neben sich auf dem Sofa sitzen hatte.
»Sehr gut, lieber John, sehr gut!« antwortete er in deutscher Sprache. »Fahren wir wieder mit der Bahn?«
»Nein; wir nehmen Wagen.«
»Dann aber zwei. Einen für Euch Beide und einen für uns Beide. Außer Ihr wollt diesen meinen neuen Bekannten nicht mitnehmen. Dann bekommt Ihr aber auch mich nicht mit!«
»So lade ihn höflich ein, und kommt uns nach. Wir gehen hinüber nach dem Platze wo vis-a-vis vom Hotel Rosenberg die malajischen Droschken halten, und nehmen zwei von ihnen.«
Es gibt in Uleh-leh und Kota Radscha eine Art sehr leichter Fiaker, welche mit kleinen, aber sehr schnellen, edlen Batak-Ponies bespannt sind. Diese Pferdchen laufen wie ein Wetter und sind von einer Ausdauer, die fast unbegreiflich wäre, wenn man nicht sähe, mit welcher Liebe so ein Malaie an seinem Tiere hängt. Ich habe später von Padang aus mit solchen niedlichen Tieren ganze Tagestouren von doppelter Länge, als man in Deutschland gewöhnt ist, gemacht, und wenn wir des Abends nach Hause kamen, so waren sie noch so frisch und mutig wie am frühen Morgen. Aber welche Behandlung auch gegen die bei uns daheim für richtig gehaltene!
Der Uncle kam mit dem Priester schnell hinter uns her und stieg mit ihm in eine der beiden Kaleschen. Wir taten dasselbe und erreichten den Hafen in weniger Zeit, als der Zug gebraucht hatte, der viel kürzeren Eisenbahn zu folgen. An der Landungsbrücke nahmen wir ein Boot, welches uns nach der »Yin« zu bringen hatte. Dort angekommen, bestellte Raffley das Essen und bezeichnete die Gegenstände, welche uns sodann hinauf nach Kota Radscha geschickt werden sollten. Ich fügte die meinigen bei und der Governor die seinigen. Der Letztere vergaß die für Tsi bestimmte Tabakspfeife ebenso wenig wie John den Band meiner Werke, den er Mary versprochen hatte.
Dann saßen wir, auf das Servieren des Mahles wartend, oben an Deck, noch immer in zwei Paare getrennt, denn der Uncle hatte den ehrwürdigen Malaien so ganz für sich genommen, als ob er das einzige und wirkliche Eigentumsrecht an ihm besitze. Ihre Unterhaltung war eine sehr eifrige, und sie hielten sich dabei so nahe beisammen, als ob sie gute Bekannte aus alten, liebgewordenen Zeiten seien.
»Was da herauskommen wird!« lächelte John, indem er zu ihnen hinüberschaute. »Ich habe fast noch kein einziges Wort mit diesem "Heiden" sprechen können. Der Uncle hatte entdeckt, daß es ein unbewohntes Zimmer neben dem seinen gab, und wies es dem Priester mit einer Selbstverständlichkeit an, als ob er es sei, der im Kratong zu gebieten habe. Ich aber war so vorsichtig, es dem Mijnheer zu melden und um seine nachträgliche Zustimmung zu bitten, die ich auch erhielt. Seitdem haben die Beiden in Einem beisammengesessen, und es soll mich verlangen, das Resultat dieser ebenso plötzlichen wie engen Verbindung so heterogener Elemente zu erfahren!«
»Mir gefällt er ungemein, dieser alte, freundlich ernste, achtunggebietende Sumatraner,« gestand ich ein.
»Mir nicht nur er! Wissen Sie, Charley, als Sie fortgegangen waren, kamen noch einige Malaien nach, die auch zu ihm gehörten, sich aber verspätet hatten, weil ihre Lasten zu schwer gewesen waren. Sie brachten das Gepäck, welches Waller und Mary mit oben im Gebirge gehabt hatten. Der Priester versicherte dem Uncle, daß nichts fehle, keine einzige Stecknadel. Welch eine Ehrlichkeit! Zumal unter den gegebenen Verhältnissen, und nach Wallers Tat, die, wie wir uns aufrichtig zu sagen haben, in den Augen der armen Leute da oben eine ruchlose ist! Doch, kommen Sie, lieber Freund; man winkt zum Essen!«
Es gab nur kalte Speisen. Darum hatte die Tafel keine längere Vorbereitung erfordert. Wir setzten uns, an jeder Seite eine Person, und griffen ohne Weiteres zu, nämlich wir drei. Der Malaie aber sah uns verwundert an, legte dann die Hände zusammen, nicht gefaltet, sondern glatt aneinander, senkte das weiße Silberhaupt und ... betete! Wir schlugen beschämt die Augen nieder, ließen dieses Beispiel aber unbefolgt. Denn es nun hinterdrein dem Heiden nachzumachen, dagegen sträubte sich unsere ganze, europäische Superiorität. Es ist jawohl die allgemeine Regel, daß nur der Niedrigerstehende dem Höherstehenden nachzufolgen hat, nicht aber umgekehrt!
Infolge dieses doch nicht ganz angenehmen Lapsus ging das Essen zunächst sehr still vor sich. Es lag etwas zwischen uns, was nicht schnell weichen wollte. Endlich aber durchbrach der Uncle diese unsichtbare, seelische Barriere mit der an uns gerichteten Frage:
»Lieber Charley, glaubt Ihr, daß es intelligente und gute Menschen nur allein bei uns Weißen gibt?«
»Sonderbare Frage!« antwortete ich. »Sonderbar schon deshalb, weil Ihr sie grad mir vorlegt, der ich doch, so zu sagen, der Hecht im Karpfenteich Eurer Vorurteile gewesen bin, noch heute bin und immer bleiben werde!
»Ja, grad Euch sollte ich am allerwenigsten fragen. Ich habe es aber dennoch getan, weil ich da der wohlverdienten Zurechtweisung am sichersten war. Ich frage Euch, ich habe in Beziehung auf die Beurteilung anderer Menschenrassen in den letzten zwei Tagen mehr gelernt, als während der ganzen Zeit meines vorherigen Lebens. Und warum? Weil ich eben lernen wollte. Das gab es früher aber nicht! Wer sich für vollkommen hält, dem könnt ihr mit Engelszungen predigen; er glaubt Euch doch kein Wort. Er bleibt höchstens still und lacht Euch dabei aber heimlich aus. Doch mir sind glücklicherweise nun endlich die Augen und Ohren geöffnet worden. Wie habe ich bisher über die Malaien gedacht, und wie denke ich jetzt! Sie sind die prächtigsten Menschen, die es geben kann, stolz, klug, einsichtsvoll, mild, versöhnlich, uneigennützig, gerecht und über alle Maßen liebenswürdig. Ich werde immer mehr überzeugt, daß wir alle Ursachen haben, sie uns zum Muster zu nehmen!«
Schon wollte ich antworten, da kam mir der heidnische Priester zuvor. Er saß so bescheiden zwischen uns, aber doch wie Einer, der sehr wohl weiß, daß er dazu berechtigt ist. Man sah, daß er nicht gelernt hatte, auf europäische Weise zu speisen, doch brachte ihn das nicht im Geringsten in Verlegenheit. Er paßte auf, wie wir es machten, und ahmte es in so geschickter, intelligenter Weise nach, daß nichts geschah, was einem Fehler glich. Und wenn er sprach, so tat er es in jenem unaufdringlichen und doch keinesweges befangenen Ton, welcher gebildeten Personen eigen ist, die zwar eine ganz bestimmte, feste Lebensansicht haben, sich aber sehr wohl hüten, sie Andern aufdrängen zu wollen. So machte er auch jetzt dem Governor, als dieser gesprochen hatte, eine höfliche Verneigung und sagte, indem ein verbindliches Lächeln sein Gesicht überflog:
»Ich danke Euch im Namen aller Derer, die dieses Lob verdienen, Sir! Aber leider verdienen es nicht Alle, ja, nicht Alle! Es ist hier bei uns wohl ebenso wie dort bei Euch: Das Niedrige kämpft gegen das Höhere; der Eine neigt zu diesem und der Andere zu jenem, und nicht etwa das schönklingende Wort, sondern nur das lebendige Beispiel des Edlen kann bewirken, daß die Tiefe nach und nach zur Höhe emporgezogen wird. Ich sage, nach und nach. Denn das Steigen aus dem Tale zur Höhe empor ist nicht so leicht und geht nicht so schnell, wie man es wünschen möchte. Viele, Viele stürzen dabei wieder ab. Ja, es gibt sogar welche, die entweder gar nicht wissen oder gar nicht wissen wollen, daß menschliche Höhen vorhanden sind. Ihr freut Euch darüber, daß Euch einige edeldenkende Personen unserer Rasse begegnet sind. Das macht Eurem guten Herzen große Ehre. Dieses Herz breitet nun sofort die beiden Arme aus, um die ganze Nation zu umfassen und an sich zu drücken. Ich möchte Euch dafür umarmen, Sir. Aber die Wahrheitsliebe gebietet mir, zu sagen, daß der Durchschnitt bei uns ganz derselbe ist wie auch bei Euch. Ich liebe alle Menschen, und von ihnen allen steht mir natürlich der Malaju am allernächsten. Ich möchte so gern, daß ich ihn derart loben könnte, wie Ihr es tatet, aber das würde Selbstüberhebung sein und wohl auch Ungerechtigkeit gegen Andere. Wie ein Mensch von dem andern zu lernen hat, so soll auch jedes Volk auf das andere, jede Nation und jede Rasse auf die andere schauen, um ihre Fehler zu vermeiden, ihre Tugenden aber sich anzueignen. Indem wir dieses tun, gestehen wir der großen Menschheit unsere eigenen Fehler ein und erlangen durch ihre Verzeihung die innere und äußere Kraft, sie in das Gegenteil, in Tugenden zu verwandeln. Sobald ein Mensch sich überschätzt, sich für groß, für unerreichbar hält, wird er nicht mehr steigen können, sondern zu sinken beginnen. Die Würdigkeit wird sich in Unwürdigkeit, der Wert in Unwert verwandeln. Das Eine ließ ihn steigen; das Andere läßt ihn fallen. So auch beim Volk, bei jeder Allgemeinheit. Darum wollen und müssen wir uns Alle ja hüten, uns zu preisen oder gar auf Andere herabzusehen. Ihr werdet bei uns nicht weniger Böses finden, als wir bei Euch entdecken würden, wenn wir kommen wollten, um nachzuforschen. Darum habe ich Euch zwar gedankt für Euer liebes Wort, halte es aber für meine Priester- und meine Menschenpflicht, Euch vor Enttäuschung zu warnen. Wir sind Sünder, wir Alle, Alle, ohne Ausnahme, und keines Ruhmes wert. Das sagt ja wohl auch die Bibel, Eure Heilige Schrift, Sir!«
Es war im höchsten Grade interessant, das Gesicht zu sehen, welches der Uncle jetzt machte. Er hatte den Mund halb offen, schaute den Malaien an, dann John, dann mich, dann wieder den Malaien und rief dann aus:
»Aber Mann, Mensch, Ketzer und gar Heide, was sind das für Gedanken! Wo habt Ihr sie eigentlich her? So wie Ihr spricht man bei uns ja nur in den gebildetsten Kreisen! Hierzu gehört der Besuch der höchsten, humanistischen Anstalten, der Gymnasien und Universitäten! Wo habt Ihr das gelesen? Wo habt Ihr das gehört? Und wo steht es bei Euch in Sumatra geschrieben?«
Da war es der Priester, welcher nun Erstaunen zeigte.
»Nur in den gebildetsten Kreisen? Nur in den höchsten Lehranstalten?« fragte er. »Ja, was lehrt man denn bei Euch sonst außerdem? Nicht Humanität? Nicht Menschenliebe und Menschenachtung? Womit belebt, womit beseelt Ihr alles Andere, was Ihr zu lernen habt, wenn nicht mit diesen Beiden? Doch nicht etwa grad mit dem Gegenteil! Womit füllt Ihr die Körper Eurer Wissenschaften aus, wenn nicht mit jenem Geiste, der in den heiligen Büchern aller Völker lebt, auch in den Euren? Bei uns wird schon dem Kinde dieser menschenfreundliche, erlösende Geist gezeigt, der Jedem sagt, daß keiner über dem Andern stehe, sondern alle Welt berufen sei zum Aller-, Allerhöchsten! Dieser Geist ist bei uns vollständig frei; er kann wirken, wo er will. Wir legen ihm keine Fessel an, weder im Hause noch in der Schule noch im Tempel. Darum fühlen wir uns allen Menschen brüderlich verwandt und achten jede Religion, sie heiße, wie sie heiße. Wir schmähen keinen andern Glauben, denn jeder Glaube führt, wenn auch in seiner Weise, doch nirgend hin, als nur empor zu Gott. Ja, wir halten es sogar für unsere Pflicht, der Wahrheit, welche andere Religionen lehren, auch unsere Tür zu öffnen, um uns an ihr zu unterrichten. In meinem eigenen Tempel stand bei andern heiligen Sprüchen in großer, goldener Tobaschrift geschrieben: »Kurna dumkianlah halnya Allah tulah mungasihi orang isi dumia ini, sahingga dikurni akkannya Anaknya yang tunggal itu, supaya barang siapa yang purchaya akan dia tiada iya akan binasa, mulainkan mundapat hidop yang kukal!« Soll ich Euch das übersetzen, Sir?«
»Ich bitte darum,« nickte der Governor.
»Das heißt: "Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn hingab, damit Alle, die an ihn glauben, nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben!" Ich brachte dieses unendlich tiefe und ebenso unendlich erhabene Wort aus Kuang-tscheu-fu mit, wo ich es in einer englischen Bibel fand, die ich während vieler Nächte las, die Sprache zu erlernen. Ich nahm es mit nach Sumatra, hinauf in unsere Berge. Ich lehrte und erklärte es meinen Malaien und ließ es dann an die beste Stelle unsers Tempels schreiben. Dehn wenn Gott der Menschheit eine so große Liebe zeigt, daß er für sie ein so unaussprechliches Opfer bringt, so hat er damit kund getan, daß auch der Mensch zum Menschen nichts Anderes zu sein habe, als nur Liebe. In dem Augenblicke, in welchem Gottes Sohn zur Erde kam, wurde die Gottesliebe als Menschenliebe incarniert. Das sollten meine Malaien wissen; das sollten sie merken; danach sollten sie leben, und darum sollten sie es täglich und stündlich im Tempel lesen können. Es verging kein Tag des Gottesdienstes, an dem ich nicht von diesem Worte sprach. Es war mir teuer, unendlich teuer, und auch sie hatten es liebgewannen und beherzigten es in Allem, was sie taten. Da aber kam der fromme Missionar und vernichtete es, indem er unser Heiligtum verbrannte! Wißt Ihr, was mein Volk mich nun zu fragen hat, und was alle mir unterstellten Priester mich bei der nächsten Zusammenkunft fragen werden? "Wie konntest du uns eine Liebe bringen, die sich als Haß mit eigener Hand vernichtet!" So, so wird es von allen Lippen tönen, und nun bitte ich Euch, Sir, sagt mir, was ich antworten soll!«
Er hatte schon, während er sprach, nicht mehr gegessen; jetzt schob er den Teller weit von sich. Sich von uns abwendend, schaute er auf die weite See hinaus, und es schien mir, als beginne es, in seinen Augen feucht zu werden. Nach einiger Zeit hatte er sich überwunden, drehte sich uns wieder zu und sagte:
»Wir haben mehr verloren, als ihr denkt! Nicht mir, denn ich stehe fest, aber allen denen, welche meinen Worten glaubten, wurde nicht etwa bloß der Tempel vernichtet, sondern mit ihm auch das Vertrauen zu der göttlichen Liebe, die so groß war, daß sie ihren eingeborenen Sohn dahingab, auf daß kein Mensch, kein einziger, verlorengehe. Wir werden einen neuen Tempel bauen; aber darf ich diesen Spruch wieder an eine seiner Wände schreiben? Nein! Denn er ist ein christlicher, und ein christlicher Priester hat ihn ausgelöscht in allen, allen Herzen, außer dem meinen! Ich sagte ja schon: Nicht das Wort, sondern das lebendige Beispiel wirkt und erhebt. Und dieses Beispiel hat zwischen uns und Euch entschieden. Wir geben Euch Eure schönen Worte zurück. Wir brauchen sie nicht, denn wir haben mehr als Ihr; wir haben – – unsere Shen!«
Er machte eine Armbewegung, als ob er etwas wegwerfe, und erhob sich von seinem Sitze. Da standen auch wir auf. Die Lust zum Weiteressen war uns vergangen. Um nur Etwas zu sagen, griff der Governor nach dem zuletzt gehörten Worte und fragte:
»Shen? Wer und was ist denn eigentlich diese Shen?«
»Wißt Ihr das noch nicht? Hat es Euch der Sohn noch nicht gesagt? Es ist die Menschheitsverbrüderung, der große Bund aller Derer, die sich verpflichtet haben, nie anders als stets nur human zu handeln.«
»Wer kann beitreten?«
»Jeder! Doch hat er allem zu entsagen, was gegen die Menschen- und die Nächstenliebe ist.«
»Herrlich, herrlich! John, das ist Etwas für uns! Werden wir Mitglieder! Nicht?«
Da hob der Priester die Hand empor, als ob er abzuwehren habe, und sagte:
»Das ist nicht so leicht und geht nicht so schnell, wie Ihr denkt, Mylord! Man würde Euch prüfen, und diese Prüfung würde strenger sein als jede Selbstprüfung. Seid Ihr überzeugt, sie bestehen zu können?«
»Ich hoffe! An wen hat man sich zu wenden, um aufgenommen zu werden?«
»An Niemand. Ihr habt den Wunsch geäußert, und das ist genug. Das Leben wird Euch prüfen. Vergeßt das nicht. Denkt allezeit daran! Jede einzelne Inhumanität gegen Freund oder Feind, Christ oder Heide, die vor das Auge oder vor das Ohr des Lebens kommt, würde Euch ausschließen. Die "Shen" sieht mehr und hört mehr, als Ihr denkt. Erweist Ihr Euch aber als würdig, so wird Euch die Aufnahme zugehen, wann und wo Ihr es am allerwenigsten denkt. Der Wind sogar kann sie Euch vor die Füße wehen. Oder Ihr findet sie in dem kleinen Täschchen Eures Notizbuches und könnt Euch nicht erklären, wie sie da hineingekommen ist. Unser herrlicher Bund hat tausend und abertausend Wege, zu tun, was er beschließt. Er hat seine Brüder und Schwestern, seine Söhne und Töchter überall, sogar in den Schulen der Knaben und der Mädchen, die in schöner, stolzer, jugendlicher Begeisterung sich zur "Shen" bekennen und alles vermeiden, was ihre Ausschließung herbeiziehen würde.«
»Sogar die Jugend, die Schüler?« rief der Governor aus. »Ein köstlicher Gedanke! Warum gibt es nicht auch bei uns so Etwas wie diese "Shen"? Sobald ich heimkomme, soll es mein Erstes sein, mich an dieses menschenfreundliche, segensreiche Werk zu machen! Nur Humanität, Bruderliebe und Friede! Alles Andere aber, was zum Streite führt, soll ausgeschlossen sein! Ich meine, was die Heiden können, das können wir Christen auch! Gerecht und billig sein! Kommt, Ihr Lieben! Gegessen wird nicht mehr, wie es scheint. Aber hier steht eine volle Flasche. Sie ist vom besten Tropfen, den unsere Jacht in ihrem Keller hat. Den trinken wir auf Shen!«
Er füllte die Gläser, hob das seine empor und fuhr fort:
»Also auf "Shen"! Sie lasse sich von uns heim nach dem Abendlande führen! Sie werde dort nicht Gast, nein, sondern Bürgerin! Sie kehre ein in jeder Stadt, auf jedem Dorf, selbst in dem kleinsten Hause! Sie werde auch bei uns zum großen Bunde, der überall, wo eine Menschheitswunde blutet, sie liebevoll verbindet und dann heilt! Hip, hip, hurra!«
Er leerte sein Glas auf einen Zug und warf es dann über Bord in die See. Man tut das, um damit zu sagen, dieser Toast sei so wichtig und so heilig, daß das Glas zu keinem andern Zwecke mehr von irgend einer Lippe berührt werden dürfe.
»Hip, hip, hurra!« riefen auch John und ich, tranken aus und schleuderten unsere Gläser ebenso weit über die Regeling hinaus in die Flut.
»Hip, hip, hurra!« sagte ebenso der Priester. Er trank in kurzen, bedächtigen Zügen, behielt aber das geleerte Glas dann in der Hand, betrachtete es, indem er es rundum drehte, und sprach: »Nein, nicht verschwinden sollst du mir; dich darf die Woge des Meeres und der Vergessenheit mir nicht entreißen! Ich nehme dich mit. Du sollst mir teuer sein, denn du gehörst der "Shen", die aus dir trank, obgleich mit meinen Lippen! Und kommt zu uns ein Mensch, den sie uns schickt, daß wir an ihm die Herzen im Erbarmen üben mögen, so sei du ihm gereicht zum ersten, heiligen Trunk, gleich: einem Schwur, daß wir ihm Brüder seien!«
Da nahm Raffley eine der köstlich in Gold gestickten indischen Servietten vom Tische, reichte sie ihm hin und bat:
»Schütze es durch diese weiche Hülle! Du hast auch hier das Bessere, das Richtige getroffen. Wir werfen weg; du aber, du bewahrst! Ich danke dir, und zwar im Namen derjenigen, an deren Stelle du jetzt mit uns trankst!«
Da hob der Malaie überrascht den Kopf empor und sah ihn forschend an. John hielt diesen Blick lächelnd aus. Nun lächelte der Andere auch, und wie von einer einzigen Bewegung getrieben, reichten beide einander die Hände. Dem Governor fiel das, wie es schien, gar nicht auf; mir aber kam sofort die heimliche Frage: Warum nannte er ihn bei diesen Worten »du«? Ist Freund Raffley vielleicht schon Mitglied dieses brüderlichen Bundes? – – –
So hatte das Frühstück, dessen Beginn ein beinahe verlegener gewesen war, ein allerseits befriedigendes Ende genommen. Besonders angeregt zeigte sich der liebe, alte, stets impulsive Uncle, der sich so gern und schnell für jede Idee enthusiasmierte, bei welcher auf sein gutes Herz zu rechnen war. Er nahm den Priester sofort wieder für sich allein, saß bei der Rückkehr nach der Landungsbrücke neben ihm im Boote und schob ihn dann so demonstrierend vor sich in den Wagen, als ob einer von uns beiden andern die Absicht geäußert hätte, mit dem Malaien fahren zu wollen. So saß ich also auch während der Heimfahrt mit John beisammen.
»Eine seltsam schnell geschlossene Freundschaft!« sagte dieser, indem er auf die zwei Voranfahrenden deutete. »Der Uncle ist jetzt wirklich ein ganz Anderer als vorher. Kommt diese Sinnesänderung Ihnen nicht als eine zu rasche vor?«
»Nein,« antwortete ich. »Er lebte bisher ganz ausschließlich hinter der Mauer seiner National-, Standes- und sonstigen Vorurteile. Da er aber eigentlich nicht für sie geschaffen ist, hat er sich in diesem Gefängnisse niemals wirklich wohl gefühlt und mußte gleich bei der ersten Bresche heraus in die Freiheit treten.«
»Diese Bresche wurde von Ihrem Sejjid Omar geschossen, nicht?«
»Ja, Tsi aber schoß noch erfolgreicher. Er legte fast die ganze Fronte in Trümmer.«
Und dann kam dieser Priester, dieser Malaie – – – Oh, besinnen Sie sich da einmal auf Uncles Worte: »Es braucht zu dem Araber und dem Chinesen nur noch ein Malaie zu kommen, der mich ebenso beschämt, so habe ich meine Fehler dem ganzen Asien abzubitten!« Ist das nicht sonderbar? Der Malaie, der das fertig bringt, scheint sich eingestellt zu haben! Und was für einer! Der Mann ist jedenfalls Oberpriester. Seine Bescheidenheit verbietet ihm, dies zu sagen; aber es entfuhr ihm absichtslos, als er die andern Priester seine Untergebenen nannte. Er wurde auf drei Jahre nach Kanton berufen, vor allen Andern auserwählt! Das dokumentiert für mich seine Intelligenz zur Genüge! Und was hat er dort gelernt! Wir hören es ja! Kein leeres Wortgeplärr, sondern stets Gedankentiefe! Keinen einzigen Anspruch für sich selbst, für seine Kaste, seine Rasse, aber für das Menschentum nichts weniger als Alles, Alles, Alles! Das fordert zum Vergleiche auf. Doch, schweigen wir!«
Er legte die Hände zusammen, senkte den Kopf und war von nun an still, bis wir nach Kota Radscha kamen, wo wir vor dem Kratong ausstiegen. Als wir durch den Hof gingen, mußten wir an einer langen Bank vorüber, auf welcher Soldaten saßen, mein Sejjid Omar mitten unter ihnen. Als er mich sah, waren wir ihm schon nahe. Er stand schnell auf, und ich hörte ihn sagen:
»Daar komt onze Mijnheer – da kommt unser Herr!«
Sie sprangen ebenso auf wie er und machten ihre Honneur. Also auch hier schon »unser« Herr! Für ihn gab es keinen andern!
Wir traten zunächst in Raffleys Zimmer. Kurze Zeit später kam Tsi herein. Er hatte uns gehört und hielt es für seine Pflicht, uns über Wallers Zustand zu benachrichtigen. Der Kranke hatte Arznei genommen, doch nicht gesprochen. Der Zustand der Lethargie war in Schlaf übergegangen, ein Zeichen, welches Hoffnung schöpfen ließ. Mehr war jetzt nicht zu sagen.
»Hoffentlich gelingt es Eurem Ko-su, ihn uns zu erhalten!« wünschte der Governor. »Aber wenn auch nicht, was ich allerdings nicht hoffe, so habt Ihr doch wenigstens unsere Wette gewonnen. Charley, bitte, gebt einmal das Geld heraus! Es ist sein eigenes. Und ich habe mir vom Schiff die verspielte Summe mitgebracht. Da ist sie!«
Er legte sie auf den Tisch, und ich gab die mir anvertrauten Zweitausend dazu. Tsi sah das Geld zwar an, berührte es aber nicht. Sein Gesicht bekam einen ganz eigenartigen Ausdruck, den ich nicht beschreiben kann.
»Nun, so greift doch zu!« fordert ihn der Uncle auf.
Da antwortete der Arzt:
»Sir, darf ich Euch sagen, wie ich zu dieser Wette gekommen bin?«
»Natürlich! Aber ich weiß es ja bereits!«
»Nein; Ihr wißt es nicht. Euer Gegner war nicht ich, sondern ein Anderer.«
Er richtete sein Auge groß, voll und fest auf den Governor und fuhr dann fort:
»Aus welchem Grunde setztet Ihr gegen mich und meine Zahlungsfähigkeit? Ich frage Euch! Etwa als Gentleman? Nein, sondern als Europäer! Als Gentleman hättet Ihr ganz unbedingt gefühlt und gewußt, daß das Angebot einer solchen Wette und die Voraussetzung meiner Insolvenz eine Beleidigung für mich sein mußte, deren sich kein Mann von wirklicher Ehre schuldig macht. Da ich Euch aber schonen wollte, weil ich Euch achte, so forderte ich Euch nicht, sondern nahm Euch als Europäer anstatt als Ehrenmann. Infolgedessen stand auch ich Euch nicht als der Euch vollständig ebenbürtige Tsi, sondern als Asiat, als Chinese gegenüber. Das Vorurteil des Westens warf dem Osten diese Wette ins Gesicht. Der Osten hielt sie fest, denn es war seine Pflicht. Er hatte zu zeigen, daß er kein Maulheld und kein Prahler sei, der sich vermißt, mehr leisten zu wollen, als er kann, und mit Summen um sich wirft, die andere verdienten, aber keineswegs er! Nicht ich, nicht Tsi, sondern der Osten hat gewonnen. Aber es war ihm nicht um den Gewinn von armseligen tausend Pfund zu tun, sondern um den Beweis, daß er in keiner Art und Weise dem Westen gegenüber rückständig ist, am allerwenigsten in Beziehung auf Eure sogenannte Ehre. Dieser Beweis ist erbracht, und meine wirkliche Ehre verbietet mir also, den vorgeschobenen Wettpreis anzunehmen. Ich verzichte!«
Er nahm nur seine eigenen zweitausend Pfund, steckte sie zu sich, machte dem Governor eine sehr tiefe und sehr höfliche Verneigung und verließ hierauf das Zimmer.
»Das hatte ich erwartet!« lachte John vergnügt und laut. »Genau das und nichts Anderes! China hat gehandelt, wie es als Ehrenmann gar nicht anders handeln konnte!«
Der Governor stand eine ganze Zeitlang starr, wie eine Bildsäule. So Etwas war ihm noch niemals widerfahren! In seinem Gesichte kamen und gingen die Ausdrücke der verschiedensten Gefühle. Da endlich rief er aus:
»Fürchterlich! Entsetzlich! John, soll ich diesen Halunken nur erschießen oder gar beohrfeigen? Oder soll ich diesen ausgezeichneten, goldigen Menschen bloß umarmen oder auch noch küssen? Soll ich ihm in das Gesicht spucken, oder soll ich ihn um Verzeihung bitten? Wer ist der Lump und wer der Gentleman? Ich fühle einen Teufel in mir, doch aber auch einen Engel! Ungeheure Blamage, ganz ungeheure! Vielleicht sind es auch zwei Engel und bloß ein halber Teufel! Oder noch richtiger drei Engel und nur ich selbst! Muß es mir überlegen! Wartet inzwischen! Ich gehe; aber ich komme bald wieder!«
Er verschwand in seinem Zimmer.
»Alter, lieber, lieber, guter Uncle!« sagte Raffley. »Jetzt kämpft er gegen sich selbst. Ich weiß, daß die drei Engel siegen werden. O, er hat nicht bloß drei, sondern viele, viele! – Aber unser Freund hier wird gar nicht wissen, um was es sich handelt. Wir sind verpflichtet, es ihm zu erzählen.«
Er tat es. Der Priester hörte ihm aufmerksam und, wie es schien, im Stillen verwundert zu. Eben als dieser Bericht zu Ende war, ging die Tür zum Nebenzimmer auf, und der Governor trat wieder herein, ernst, fast feierlich, als ob es sich um eine wichtige Staatsaktion handle.
»Charley,« sagte er zu mir. »Ich halte Euch für meinen Freund und werde es Euch nie vergessen, wenn Ihr jetzt das Opfer bringt, mir eine Bitte zu erfüllen. Ich muß mit Tsi sprechen, sofort und zwar hier. Geht zu ihm und macht den Versuch, ihn hierherzubringen! Vielleicht gelingt es Euch.«
Ich war natürlich sehr gern bereit. Er nahm die Angelegenheit genau so, wie er sie nehmen zu müssen glaubte. Man durfte ihre Bedeutung nicht verkleinern. Tsi befand sich in seiner Stube. Er lächelte mich befriedigt an und weigerte sich nicht im Geringsten mitzugehen. Als ich ihn brachte, verneigte sich der Governor sehr tief vor ihm und sprach:
»Sir, ich habe Euch hiermit vor diesen Zeugen zu erklären, daß ich ein Faselhans gewesen bin, ein Faselhans, wie er im Buche steht, aber keineswegs etwas Schlimmeres! Was Euch selbst betrifft, so seid Ihr ein Gentleman, wie – wie – nun, auch wie er im Buche steht. Das kann ich wohl beschwören! Und in Beziehung auf Eure Nation oder Rasse sehe ich von Tag zu Tag mehr ein, daß ich sie falsch, grundfalsch beurteilt habe. Es wird mir gar nicht etwa leicht, dies zu bekennen; aber ich weiß, daß es mir immer leichter werden wird, wenn ich die Ehre habe, noch länger mit Euch zu verkehren und Euch meinen Freund nennen zu dürfen. Darum verhehle ich nicht, daß mir sehr viel an Eurer Verzeihung gelegen ist, und bitte Euch, mir als Zeichen derselben Eure Hand zu reichen. Hoffentlich seid Ihr nicht abgeneigt, Euch mit mir auszusöhnen.«
»Uncle, Uncle, die Engel, die Engel!« rief John Raffley aus.
Der Chinese aber ging auf den Alten zu, ergriff seine beiden Hände, küßte erst die eine und dann die andere und sagte:
»Mylord, ich bin der Jüngere von uns Beiden. Darum beleidige ich meine Ahnen nicht, wenn ich Euch dieses Zeichen meiner herzlichen und aufrichtigen Ehrerbietung gebe. Daß ich Euch persönlich für einen Gentleman halte, brauche ich nicht nochmals zu versichern. Und was unsere beiderseitigen Nationen und Rassen betrifft, so schlage ich vor: Sehen wir ruhig zu, was sie miteinander tun! Und hüten wir uns, von Superiorität und von Inferiorität zu reden, bevor die Weltgeschichte ihr endgültiges, letztes Wort gesprochen hat! Dann werden wir uns Beide nicht nur achten dürfen, sondern es wird sich auch Eurerseits noch das hinzugesellen, was ich meine, wenn ich jetzt sage: Ich habe Euch lieb, Mylord, ja, wirklich lieb!«
Da zog der Uncle den jungen Mann an seine Brust, küßte ihn auf die Stirn und fragte:
»Also ausgesöhnt, vollständig ausgesöhnt?«
»Völlig und ganz! Ohne jeden Rückgedanken!«
»Ich danke Euch! Aber das Geld, das Geld! Nehmt Ihr es wirklich nicht?«
»Nein. Ich kann nicht!«
»Ja, ich begreife! Aber ich darf es doch nicht zurücknehmen! Wie ist das nun zu machen? Ah, da kommt mir ein Gedanke! Ich weiß, wohin damit!«
Sein Gesicht strahlte vor Freude, auf diese Auskunft verfallen zu sein. Er nahm die noch auf dem Tische liegende große Note, hielt sie dem Priester hin und sagte:
»Das ist für Euch! Ihr habt kein Lösegeld erhalten; nehmt also dies dafür! Es ist zwar nicht so viel, aber doch Etwas. Ich gebe es Euch gern!«
Er hatte erwartet, daß der Malaie eilig zugreifen werde. Dieser aber sah das Geld gar nicht an, sondern stand von seinem Platze auf, entfernte sich von der spendenden Hand und antwortete:
»Ich danke Euch, Mylord! Geschenke nimmt man nicht zurück. Das ist bei uns nicht üblich.«
»Geschenke? Ihr habt uns doch wohl nichts geschenkt, sondern Tsi hat Euch gezwungen, auf das Lösegeld zu verzichten.«
»Ihr irrt. Die "Shen" kennt keinen Zwang. Was wir tun, das hat freiwillig zu geschehen, ohne daß man es uns gebietet. Jede Wohltat, die man sich später vergelten läßt, sinkt zum gemeinen Handelsartikel herab. Und wenn die Intoleranz dem Körper unsers Bundes solche Wunden schlägt, wie Euer Missionar es tat, so kann die Heilung nicht durch jene Salbe erfolgen; die Ihr im Abendlande Mammon nennt.«
»Aber Ihr habt ja doch Lösegeld verlangt. Die Summe von fünfzigtausend Gulden, die für Eure Verhältnisse eine fast ungeheure ist. Wie stimmt das mit Euren jetzigen Worten?«
»Sehr gut. Die Erklärung liegt in Eurem eignen Worte "ungeheuer". Als Tsi die Größe dieser Summe hörte und dann später an der Betelnuß den Bund der "Shen" erkannte, wußte er sogleich, daß wir die böse Tat nur mit der hohen Ziffer, nicht aber wirklich mit dem Geld strafen wollten. Fragt den Missionar und seine Tochter, ob wir von dem Gelde, welches sie bei sich hatten, das Allergeringste weggenommen haben! Es waren über sechzehnhundert holländische Gulden. Wir haben sie nachgezählt und ihm dann wieder in die Tasche gesteckt, wo man sie finden wird. Nein, Geld nimmt die "Shen" niemals! Wir forderten diese Summe, weil wir meinten, daß sie unmöglich aufgebracht werden könne. Durch die Angst, ob man sie bringen würde oder nicht, sollte der Täter sein Verbrechen sühnen, und von Penang aus hatte sich die Kunde zu verbreiten, daß wir noch den Mut besitzen, Forderung gegen Uebergriff zu stellen. Kam dann seine Tochter, wie wir sicher erwarteten, ohne Geld zurück, so sollte sie ihn ohne Lösegeld bekommen. Wir freuten uns darauf, scheinbar streng auf unserer Bedingung zu bestehen und dann der töchterlichen Bitte ein offenes Herz zu zeigen. Das ebenso offene Sir Johns aber hat uns diese Freude vereitelt. Freilich, als er die Summe stellte, konnte er nicht wissen, daß es sich – – –«
»Still!« unterbrach ihn Raffley warnend. »Bitte, nicht weiter!« Und als ob er einen scheinbaren Fehler zu rechtfertigen habe, fügte er hinzu: »Ich hörte, daß seine Tochter an der Tat ganz unbeteiligt war, und sah, daß sie vor Angst fast zu vergehen schien. Ich wünschte nicht, daß auch sie mit leide, und stand ihr bei, um sie zu beruhigen. Aber der "Shen" vorzugreifen, ist keineswegs meine Absicht gewesen. Das habe ich dadurch bewiesen, daß ich die Wette des Uncle gegen Tsi geschehen ließ, ohne ein Wort zu sagen.«
Der Malaie nickte ihm befriedigt zu. Tsi sah ihn überrascht an und lächelte dann leise vor sich hin. Nun war es für mich sicher, daß John zur »Shen« gehörte. Dem Governor aber kam auch jetzt noch kein derartiger Gedanke. Er sagte:
»Ja, dieser weichmütige Nephew bringt es nicht fertig, einen Menschen unverschuldet leiden zu sehen. Er hätte das Geld wohl auch sogar dem Schuldigen gegeben!«
»Das wäre wohl nicht nötig gewesen, denn dieser Schuldige ist reich, unendlich reich,« entgegnete der Priester.
»Waller? Unendlich reich? Ich denke, er bezieht, was er braucht, von der religiösen Sekte, die es ihm ermöglicht hat, nach China zu gehen?«
»Das mag sein, gehört aber nicht hierher, weil ich nicht ihn gemeint habe. Diese Angelegenheit steht jetzt, am Schluß meiner Reise ganz anders, als am Anfange derselben. Ich habe mich nämlich überzeugt, daß er unschuldig ist. Wir hätten das Geld also von ihm zurückweisen müssen, selbst wenn es unsere Absicht gewesen wäre, es zu nehmen.«
»Unschuldig?« fragte da der Uncle verwundert. »So hat er Euern Tempel nicht verbrannt? Das Feuer wurde von einem Andern angelegt?«
»Von keinem Andern, sondern von ihm, nur von ihm allein. Er hat das auch offen zugegeben.«
»Und doch nennt Ihr ihn unschuldig? Wie kann er das sein, wenn er der Täter ist!«
»Er handelte als Werkzeug. Seine Tat war nur die Folge. Der eigentliche Täter wohnt im Abendlande.«
»Sehr richtig!« stimmte Tsi ihm augenblicklich bei. Raffley sagte zwar nichts, gab aber durch eine Handbewegung zu erkennen, daß er derselben Meinung sei. Auch ich wußte, was der Priester meinte. Aber der Governor traute dem Letzteren trotz aller Sympathie für ihn doch nicht die psychologische Denkschärfe zu, welche bei den Taten der Menschen zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden weiß. Wahrscheinlich auch besaß er diese Schärfe selbst noch nicht, denn er schüttelte den Kopf und sagte:
»Im Abendlande? Der wirkliche Täter? Ich begreife nicht! Wer kann es sein? Und wie soll er heißen?«
»Ein ungeheuer mächtiger Herrscher, dem alle Millionen des Abendlandes gehorchen, nur wenig Kluge und Verständige ausgenommen! Er ist höchst unduldsamer, kriegerischer Natur, ein Verächter aller Welt, nur nicht seiner selbst. Er hält sich ganz allein für gottbegnadet und für den Allerbesten, den es gibt. Seiner Meinung nach ist er der Weiseste, der Intelligenteste, den man sich denken kann. Er glaubt, daß er berufen sei, das, was er denkt, dem Weltkreis aufzunötigen, und fühlt sich berufen, diesen Zwang mit allen Mitteln durchzuführen, sei es die verschlagenste List oder die roheste Gewalt. Er scheut sich nicht im Geringsten, diese Behauptungen allen Menschen in das Gesicht zu schleudern, und wenn sie es sich nicht gefallen lassen wollen, so ballt er beide Fäuste und schlägt augenblicklich drein!«
»Unmöglich! Das ist entweder lächerlich oder verrückt, Eins von diesen Beiden; ein Drittes gibt es nicht! Der sollte mir kommen! Wie würde ich ihm heimleuchten lassen! Und ein Herrscher soll er sein? Ein ganz gewöhnlicher Rowdy ist er! Ein Lügner und Aufschneider, ein Prahl- und Flunkerhans, ein Rebell gegen die Menschenrechte, ein Renommist und Windbeutel, ein unverschämter Händelsucher, ein frecher Raufbold, ein anmaßender Patron, dem man das Handwerk legen muß! Auf welchem kleinen, europäischen Thrönchen sitzt denn dieser blöde Bombardon? Man möchte seinen Stammbaum kennen lernen, seine Eltern und Erzieher! Denn daß ihm dieser Unsinn nur von ihnen beigebracht worden sein kann, das versteht sich ganz von selbst! Man mag ihn uns doch einmal nach Old England schicken, damit wir ihm den Kopf dahin setzen, wohin er gehört! Besser als wir Andern alle! Das ist geradezu monströs! Er mag diese Andern doch nur erst kennen lernen, seine Augen auftun, seine Ohren öffnen, und wenn er – – –«
Da hielt der Uncle plötzlich mitten in der Rede inne und sah uns an, Einen nach dem Andern, die wir das Lachen kaum verbeißen konnten. Er hatte seine Menschenwürde für beleidigt gehalten und sich in einen sehr ehrlich gemeinten Zorn hineingeredet, ohne sich vorher Zeit zu nehmen, über die Sache nachzudenken. Als er nun bemerkte, daß wir mit unserer Heiterkeit kämpften, erkannte er, daß er in eine Falle gegangen sei, die ihm gar nicht gestellt worden war. Er ging also seinen eigenen Gedankenweg wieder zurück, nahm die Worte, die ihn so in Harnisch versetzt hatten, noch einmal vor, schlug sich dann an die Stirn und rief, nun über sich selbst in Zorn geratend, aus:
»Entsetzlich! Habe mich ganz verrannt! Und zwar wohin! Dachte wirklich, es sei so eine Art von – – hm! – – gemeint! Es war aber nur ein Bild. Das habe ich übersehen! Und statt daß ich mich zu salvieren versuche, gebe ich nicht nur Alles zu, sondern rede mich selbst beinahe um den Kopf und halte nicht eher auf damit, als bis ich Euch alle lachen sehe! Nun brauche ich nur noch aufrichtig zuzugeben, daß auch ich ein Exemplar dieses entweder lächerlichen oder verrückten Kerls bin, so kann der Vorhang fallen, denn die Posse ist zu Ende!«
»Eine Posse? Und zu Ende?« fragte da Raffley, schnell wieder ernst werdend. »Es war das Gegenteil, nämlich eine verschwindend kleine, aber sehr deutlich sprechende Szene aus der großen Menschheitstragödie »Das Vorurteil«. Denn dieses war gemeint, das Vorurteil, unser eigenes Vorurteil gegenüber andern Meinungen und andern Rassen! Und dieses Trauerspiel ist keineswegs zu Ende. Vielleicht fällt der Vorhang erst mit dem letzten Menschen. Denn so lange es mehrere, und wären es auch nur noch zwei, Exemplare dieses Wesens gibt, werden sie sich gegen einander überheben. Und der letzte wird dann höchst wahrscheinlich vor Aerger darüber sterben, daß er Niemand mehr hat, der wertloser ist als er! Und wenn, wie ich hoffen möchte, das falsch sein sollte, so bin ich doch überzeugt, wenigstens über die Gattung homunculus das Richtige gesagt zu haben!«
»Unser Vorurteil!« sagte der Governor nachdenklich. »Ja; ich beginne zu begreifen! Ich gab jawohl schon zu, in diesen letzten Tagen mehr gelernt zu haben, als während der ganzen vorherigen Zeit. Dieses Vorurteil wird nicht mit uns geboren, sondern später in uns hineingetragen, und mit uns groß und immer größer gezogen, bis es uns so vollständig ausfüllt, daß in uns nicht das geringste Plätzchen mehr übrig bleibt, an ihm zu zweifeln. Der Vater sagt uns, daß wir »Weiße« seien, und die Mutter macht uns stolz auf diese Farbe. Dann kommen die Lehrer, einer nach dem andern, und überzeugen uns, gesprochen, geschrieben und gedruckt, daß wir die höchste und begabteste, die beste Menschenrasse seien. Wenn wir dann lesen können, so finden wir diese Offenbarung in jedem Buche, in jeder Zeitung. Und wo es nicht besonders erwähnt wird, hat man es doch als unbestreitbares Kriterium vorausgesetzt. Und fließt hernach das persönliche mit dem allgemeinen Leben zusammen, so treten Handel und Wandel, Kunst und Wissenschaft, besonders aber Geschichte, Politik und Geographie an uns heran, um uns täglich und stündlich wieder und wieder zu versichern, daß nur wir allein die Träger der wahren Gesittung und der von Gott gewollten Erlösung aller Menschen seien. Und wie eifrig sind wir bemüht, dies der anderen, minderwertigen Menschheit mitzuteilen!
Und wie unbedingt verlangen wir, daß sie es glaube und befolge! Nieder mit Euch, Ihr gelben, Ihr braunen, Ihr roten, Ihr schwarzen Gesichter! Denn wir sind weiß, und Weiß ist die Lieblingsfarbe des Schöpfers! Wir sind Euch über in Allem, was es gibt! Ihr seid nichts gegen uns, gar nichts. Wir aber sind Alles, und wir haben Alles, sogar Tausendpfundnoten! Diese Noten brauchen wir nicht etwa zum Leben; nein, o nein; dazu sind wir zu reich, viel zu reich! Sondern wir machen mit ihnen pralerische Wetten, um Euch zu zeigen, wie wenig wir von Euch halten. Und wenn wir ja einmal eine solche Wette verlieren und der Chinese zu vornehm ist, das Geld zu nehmen, so werfen wir es dem Malaien hin, der uns die Hände und Füße küssen wird für diese Gottesgabe!«
Er nahm die Note vom Tische, ballte sie zusammen, warf sie wieder hin, nahm sie abermals weg, warf sie noch einmal hin und fuhr, zu dem Priester gewendet, fort:
»Ich könnte und möchte dieses Papier vernichten, denn es hat mich blamiert, mich und die ganze, weiße Rasse; aber das wäre noch kleiner gehandelt als bisher. Ihr habt mir eine Lehre erteilt, eine große, eine schmerzliche, aber heilsame Lehre, die ich nicht vergessen werde. Darum hebe ich die Note auf. Sie soll mich daran erinnern, daß ich niedrig gehandelt habe und dafür von Euch beiden in hoher Weise zurechtgewiesen worden bin!«
Er nahm sie nun endgültig weg, schob sie zusammengeballt in die Tasche und fügte hinzu:
»Ihr habt einen Sieg über mich errungen, der größer und nachhaltiger ist, als Ihr wahrscheinlich denkt. So wie ich mich überwunden habe, dieses Geld zurückzunehmen, so nehme ich auch das Vorurteil zurück, welches sich für berechtigt glaubte, Euch mit dem Mammon zu beleidigen. Ich fühlte es nur zu wohl; Ihr hattet Recht. Nicht der Missionar war der Schuldige, sondern das Vorurteil, welches der Westen in ihm großgezogen hat. Es kam mir nicht so rasch wie den Andern, zu begreifen, was Ihr meintet; aber nun ich Euch verstanden habe, wird es um so fester sitzen. Leider haben nun nur wir den Nutzen, Ihr aber den Euch zugefügten Schaden. Sagt, fällt auf Waller nicht wenigstens ein kleiner Teil der Schuld?«
»Nein. Ich habe ihn geprüft,« antwortete der Malaie. »Sie kamen grad zur Zeit, als der malajische Herrscher von den Christen verfolgt und gejagt wurde, um ihn gefangen zu nehmen. Diese Jagd ist noch jetzt im Gange. Wir nahmen die beiden Christen trotzdem freundlich auf. Aber wir standen vor unserm großen Feste, welches mir so viel Arbeit machte, daß ich für Anderes keine Zeit übrig hatte. Darum verschwieg ich ihnen meine Kenntnis ihrer Sprache, weil sie mich sonst fortwährend als Dolmetscher in Anspruch genommen hätten. Auch nach dem Brande blieb ich bei diesem Schweigen, welches mir erlaubte, in die Seele der Tochter ganz unbemerkt zu schauen. Ich war sogar dazu still, daß die Träger ihr sagten, ihr Vater sei zum Tode verurteilt, denn ich gönne es ihr, sich später sagen zu können, daß sie ihn von diesem Geschick errettet habe. Als sie den Weg nach Penang angetreten hatte, waren ihre Träger überflüssig geworden. Wir bezahlten ihnen den rückständigen Lohn aus unserer Kasse und schickten sie fort, denn für den Transport des Kranken nach Kota Radscha konnten wir nicht sie sondern nur zuverlässige Leute von uns brauchen. Es sollte einer unserer Häuptlinge mitgehen; aber ich übernahm dieses Amt lieber selbst, weil die Güte der »Shen« mir dies gebot. Ich habe während dieser ganzen Reise kein Wörtchen Englisch mit dem Kranken gesprochen, aber um so mehr gehort. Seine Krankheit ist eine mehrfache, nicht nur eine leibliche. Er sprach sehr viel für sich, oft wie im Fieber, oft vielleicht auch anders, meist englisch, zuweilen aber auch in einer Sprache, die ich nicht verstehe; eine asiatische war es nicht.«
Indem er dies sagte, glaubte ich, annehmen zu müssen, daß er die deutsche Sprache meine.
»Was ich da hörte, gab mir viel zu denken,« fuhr er fort. »Nicht nur sein Körper, sondern auch sein Inneres rang mit höchst gefährlichen Ansteckungsstoffen. Die leiblichen hatte er während seiner jetzigen Reise aufgenommen, die geistigen aber aus seiner Heimat mitgebracht. Es war, als ob zwei unsichtbare Mächte in ihm wohnten, die immerwährend miteinander kämpften. Er sprach wiederholt von einer Wette. Die eine Macht wollte diese Wette unbedingt gewinnen; die andere aber bat ihn flehend, sie zu verlieren. Es schien sich um die Bekehrung einer gewissen Anzahl von Chinesen zu handeln. Heidentempel sollten stürzen! Alle Ungläubigen von der Erde ausgerottet werden! Die gute Macht, die das nicht wollte, war ein Weib. Wenn er mit dieser sprach, wurde er sanft und lieb und gut. Er weinte zuweilen dazu und nannte sie seine Seele. Meist redete er mit ihr in jener Sprache, die ich nicht verstand. Kam aber die andere, die böse Macht, die ihn gewinnen lassen will, so sprach er stets englisch und begann, mit lauter, befehlshaberischer Stimme zu predigen. Dann zerbrach er alle Säulen und Pfeiler, die es in seinen wüsten Krankheitsbildern gab. Das war kein Weib, sondern etwas Männliches, Tyrannisches und über alle Maßen Rücksichtsloses! Er hatte es als Kind nicht gehabt, sondern nach und nach von seinem Vater und von seinen Lehrern empfangen. Das hörte ich. Es bestand in der Verachtung aller fremden Menschenrassen und vorzüglich aller Heiden. Er sprach aber auch davon, daß viele Millionen Christen weiter nichts als Heiden seien, ja, noch viel schlimmer als diese, weil sie nicht ganz genau so glauben wollen, wie er für richtig hielt. Er ging also noch viel, viel weiter, als die Christen gewöhnlich gehen. Sein Urteil war im höchsten Grade streng und ungerecht, das unfreundlichste, das allerunfreundlichste Vorurteil, welches mir jemals zu Ohren gekommen ist! Und damit habe ich den Namen jener bösen, menschenverderbenden Macht genannt, die ihn beherrschte, wenn die andere, die gute, von ihm gewichen war – – das Vorurteil!«
Er wendete sich dem Governor zu, indem er weitersprach:
»Ihr habt dieses Vorurteil vorhin so deutlich beschrieben, als ob Ihr es genau so wie ich bei diesem Kranken beobachtet hättet. Wie Ihr seine leibliche Krankheit nennt, das weiß ich nicht; aber seine geistige besteht ganz unbedingt in diesem Vorurteile, welches eine Macht über ihn besitzt, der er, sobald sie über ihn kommt, unmöglich widerstehen kann. Er ist dann so schlimmer Worte fähig, daß man auch in Beziehung auf die Tat, die aus solchen Worten wächst, zu vermut- – – – –«
Er wurde unterbrochen. Von der Tür her, welche geöffnet worden war, erklang ein lautes, herzbrechendes Schluchzen.
In jener Gegend, so nahe am Aequator, wird es Punkt sechs Uhr Nacht. Die Dämmerung ist außerordentlich kurz. Sie war schon da. Es gab im Zimmer bereits jenes alles Aeußerliche verhüllende Duster, welches die scharfen Linien des Tages verschwimmen und das Unkörperliche, das Seelische um so mehr hervortreten läßt. Draußen im Korridore war es noch dunkler als bei uns. Darum konnten wir die Gestalt Derjenigen, welche da stand, schon nicht mehr erkennen. So hatte auf Grund unsers Gesprächsgegenstandes ihr Schluchzen etwas Unirdisches, etwas außerordentlich Ergreifendes, ja Erschütterndes für uns. Es war, als weine nicht ein Mensch, sondern jene unsichtbare, edle, weibliche Macht, welche in dem Missionar so schwer und so unablässig gegen die bösen Geister seines Vorurteiles zu kämpfen hatte.
Der liebe, alte Uncle handelte am schnellsten von uns allen. Er eilte nach der Tür, nahm die Schluchzende bei der Hand und brachte sie herein, wobei er ganz vergaß, die Tür hinter ihr zu schließen. Es war Mary Waller. Sie hatte Tsi gesucht, des Vaters wegen, und ihn nicht in seinem Zimmer gefunden. Da sie unser lautes Sprechen horte, nahm sie an, daß er bei uns sei. Ihr mehrmaliges Klopfen war überhört worden, und so hatte sie geöffnet, um sich bemerklich zu machen. Von unserm Gespräche festgebannt, hatte sie sich still verhalten; wie lange, das war nicht zu erörtern.
»Weint nicht, weint nicht!« bat der Governor. »Ich kann das nicht vertragen! Menschentränen tun weher, viel weher als alles Andere!«
Da nahm sie sich zusammen, kämpfte ihre Tränen wacker nieder und antwortete:
»Beruhigt Euch, Mylord! Es war nicht Schmerz, was mich bewegte; ich weinte Freudentränen. Oder meint Ihr, es gebe keinen Schmerz, dem es nicht erlaubt wäre, sich auch einmal zu freuen? Auch in mir gibt es zwei Mächte, welche miteinander kämpfen, grad so, wie bei ihm; nur sind sie anderer Art. Die eine ist eine Teufelin. Sie will mich zwingen, ihn zu verurteilen, ihn für schuldig zu halten. Die andere muß ein Engel sein. Sie versichert mir unablässig, daß er freizusprechen sei. Die Teufelin weiß, daß mich Alles anwidert, was gegen die Nächstenliebe und Menschenachtung spricht, und so oft Vater Derartiges getan hat, dringt sie in mich, ihn zu hassen oder gar ihn zu verachten. Das ist fürchterlich! Der Engel aber flüstert mir dann immer mahnend zu, daß mein Vater ganz unmöglich in dieser Weise sprechen und in dieser Weise handeln könne. Mein Herz gebietet mir, dieser letzteren Stimme zu glauben; aber mein angstvoll suchender Verstand fand bisher keine logische Handhabe, das zu tun, was er so unendlich gern täte, nämlich das Herz zu unterstützen. Es war ein stiller, tiefer Jammer, den ich in mir trug und der um so mehr an mir zehrte, als ich ihn niemals, niemals emporkommen lassen durfte. Da trieb mich jetzt die Angst vom Vater fort. Er war erwacht und doch nicht bei Sinnen. Er wollte auf vom Lager, fort, nur fort. Er behauptete, die Heiden warteten auf ihn; er müsse eilen, ihre Götzen zu vernichten. Ich rang mit ihm. Das Fieber gab ihm Kraft, als sei er ein Gesunder, und nur mit größter Anstrengung gelang es mir, sie zu besiegen. Für eine Wiederholung aber fühlte ich mich zu schwach. Darum ging ich, um nach Doktor Tsi zu suchen, und kam, da ich ihn nicht fand, an Eure Tür. Ich öffnete nach öfterem, vergeblichem Klopfen. Ihr saht mich nicht; was aber hörte ich! War es der Engel meines Vaters, oder war es der meinige, der in Gestalt des Heidenpriesters hier mir so ganz unerwartet Alles, Alles gab, was mein Verstand bisher vergeblich suchte; Rechtfertigung des Vaters! Freisprechung von seiner Schuld! Logisch klarer und deutlicher Hinweis auf den eigentlichen, wirklichen Täter! Ich fühlte mich erlöst, erlöst von aller meiner Qual. Sie stieg in mir empor, weil sie das nun doch endlich, endlich durfte. Sie floß aus mir heraus, zu Tränen sich gestaltend – – Freudentranen!«
Warum waren wir still, als sie jetzt schwieg, um sich die Augen zu trocknen? War es nur Rührung? Oder war es noch mehr als das? Selbst Tsi, der doch sonst so außerordentlich Umsichtige, fühlte sich derart angegriffen, daß er in diesem Augenblick nur an die Tochter, nicht aber an den Vater dachte, zu dem sie ihn hatte holen wollen, damit er eine Wiederholung des Paroxysmus verhindere!
Der Priester stand in ihrer Nähe, fast ganz an der Fenstertür. Sein langes, weißes Haar floß ihm wie verwandelter Mondesschimmer von Haupt und Schultern nieder; sein Gesicht aber lag im Dunkel. Und aus diesem Dunkel heraus erklang es jetzt, als ob er beten wolle:
»Ich hörte hier von Engeln sprechen. So ist also der Himmel eingekehrt in diesem Raume. Denn Boten kennt der Himmel nicht; er naht sich uns stets selbst! Wenn wir ihn bei uns fühlen, doch ohne ihn zu sehen, so reden wir von Engeln. Dem Auge sichtbar aber wird er uns, wenn gute Menschen seinen Willen tun und darum sich an uns als Engel erweisen. Mein Kind, mein liebes Kind, ich bin weder der Engel deines Vaters noch der deinige. Aber ich wünschte, daß mir und Euch und der ganzen Erde der Himmel sichtbar werde: Wir Menschen wollen ihm dienen! Ich fühle es in diesem Augenblicke, daß Höheres herniedersteigt und Heiliges hier waltet. Es geht durch mich ein liebevoller Drang, die Hände auszubreiten. Ich fühle, daß sich diese Hände füllen und daß sie schwerer werden, wie von jenem Segen, der aus der Menschenliebe strömt und darum liebend weitergegeben werden soll von Hand zu Hand. Was nützt aber mir und was nützt der Menschheit alle diese meine Liebe! Ich bin ja ein Heidenpriester und darf also nur Heiden segnen, nur Heiden, keine Andern!«
»Nein, nicht diese allein, sondern auch mich!« rief sie in tiefer Aufwallung aus und ließ sich vor ihm nieder.
Da legte er ihr die Hände auf das Haupt und sprach, indem seine Stimme bebte:
»Ich danke dir, du gutes Kind des fernen Abendlandes! Indem du vor mir kniest, hebst du mich auf zu dir und hebst dich doch nur selbst! Auch deine Heimat sollte dir jetzt danken! Sie trägt die Schuld an deines Vaters Tat, die zwar von unserer »Shen« verziehen wurde, doch nicht von jener andern, großen Shen, die Alles in sich faßt, was menschlich ist und nicht bloß, was menschlich heißt. Du aber sühnst, was die Verachtung tat, indem du mich, den Greis, den Menschen achtest. So sei also die Schuld für ewig ausgestrichen, denn du hast sie getilgt!«
Er sprach so ernst so feierlich und doch so mild, so tief eindringlich liebevoll. Unsere Aufmerksamkeit war ausschließlich auf ihn gerichtet, daß wir das Geräusch kaum hörten und noch viel weniger beachteten, welches sich jetzt an der noch immer offenstehenden Tür vernehmen ließ. Wir nahmen an, daß es von einem vorübergehenden Diener verursacht worden sei. Der Malaie fuhr fort:
»So segne ich dich denn als das, was ich dir bin, nicht als der Priester, sondern als der Mensch. Und wenn es ein Heil gibt, welches aus eines Menschen Hand und Leben auf eines andern Menschen Haupt und Leben überzufließen vermag, so sei hiermit Alles, Alles dein, was ich an Menschengüte und Erdenglück besitze! Der Himmel hört, daß ich es dir verleihe, nicht mein Himmel allein, sondern auch der deine, denn beide sind eins!«
Er beugte sich zu ihr nieder und küßte die Stelle, auf welcher seine Hände gelegen hatten. Da gellte von der Tür her ein lauter zeternder Ruf:
»Der Heide – – der Heide! Mein Kind, mein armes, armes Kind! Verloren, verloren – – –! Verdammt und verloren für alle Ewigkeit! Für alle Ewigkeit!«
Wir wendeten uns erschrocken um. Es war vollständig dunkel dort; aber wir hörten, daß Jemand niederstürzte. Der Stimme und den Worten nach konnte es nur Waller sein. Mary sprang mit einem Schrei empor und zu ihm hin. Raffley machte schnell Licht. Ja, es war der Missionar. Er lag draußen vor der Tür, lang ausgestreckt, mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen. Seine Lippen bewegten sich; er wollte sprechen, brachte aber keinen Laut mehr hervor. Raffley griff sofort zu, ich auch, ihn nach seinem Zimmer zu tragen. Wir hörten kaum noch die Worte, welche hinter uns der Malaie zu dem Uncle sprach:
»Ich habe gesegnet, aber nicht verdammt, und dabei wird es bleiben! Denn der Himmel ist dem Kinde gnädiger, als dieser Vater glaubt!« – – –