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»Ich bin Sejjid Omar!«
Wie stolz das klang, und wie beweiseskräftig die Gebärde war, mit welcher er diese Worte zu begleiten pflegte! »Ich bin Sejjid Omar,« das sollte sagen: »Ich, Herr Omar, bin ein studierter, schriftkundiger Abkömmling des Propheten, welcher der Liebling Allahs ist. Mein Name wurde mit allen meinen persönlichen Vorzügen in die heilige Stammrolle zu Mekka eingetragen; darum habe ich das Recht, ein grünes Oberkleid und einen grünen Turban zu tragen. Wenn ich sterbe, wird die Kuppel meines Grabmals grün angestrichen und mir die Tür des obersten der Himmel gleich geöffnet sein. Respekt also vor mir!«
Was aber war dieser Sejjid Omar? Ein Eselsjunge! Er hatte seinen »Stand« an der Esbekije in Kairo, dem Hotel Kontinental, in welchem ich wohnte, gegenüber. Ein schön und kräftig gebauter, junger Mann von wenig über zwanzig Jahren, war er mir durch seinen steten Ernst und die angeborne Würde seiner Bewegungen aufgefallen. Ich beobachtete ihn gern von meinem Balkon aus, und wenn ich unten auf dem prächtigen Vorplatze des Hotels meinen Kaffee trank, konnte ich ihn sprechen hören. Sein Gesicht zeigte zwar auch den Zug von Verschlagenheit, der allen Eseltreibern eigen ist, aber er war nicht aufdringlich und lag seinem Geschäfte in einer Weise ob, als werde Jedem, der sich seines Esels bediente, eine ganz besondere Gunst erwiesen. Er gab sich sowenig wie möglich mit Berufsgenossen ab, und wenn sie ihn für diese Zurückhaltung mit spöttischen Redensarten zu ärgern versuchten, bekamen sie nichts als ein verächtliches »Ich bin Sejjid Omar« zu hören. Wollte ein Fremder mit ihm feilschen, oder wurde ihm irgend Etwas gesagt oder zugemutet, was er für gegen seine Ehre hielt, so wendete er sich mit einem geringschätzenden »Ich bin Sejjid Omar« ab und war dann für den Betreffenden nicht mehr zu sprechen.
Die Folge war, daß ich ihm ein ganz besonderes Interesse schenkte, obgleich sich mir keine Gelegenheit bot, ihm dies in Beziehung auf sein Geschäft zu beweisen. Aber Blicke ziehen einander bekanntlich an. Ich bemerkte, daß auch er sehr oft zu mir herübersah. Er schien unruhig zu werden, wenn ich nach dem Mittag- und dem Abendessen mich nicht sofort auf der Terrasse sehen ließ, und sooft ich beim Ausgehen an ihm vorüberkam, trat er, obgleich ich ihn gar nicht zu beachten schien, einen Schritt zurück und legte, still grüßend, die Hände auf die Brust.
In dem erwähnten Hotel gibt es zu Seiten des Speisesaales zwischen den Säulen kleinere Tische für Gäste, welche es nicht lieben, an der Tafel enggepfercht zu sitzen. Ich hatte mir einen dieser Tische für mich allein reservieren lassen. Der links davon war nicht besetzt; an dem zu meiner rechten Hand gab es seit gestern zwei Fremde, welche nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit, sondern auch die meinige auf sich zogen, obgleich ich mir das nicht so wie die Andern merken ließ. Sie waren Chinesen, und zwar Vater und Sohn. Ich erriet das zunächst aus ihrer Aehnlichkeit und hörte es dann aus ihrem Gespräch, denn ihr Tisch stand dem meinen so nahe, daß ich jedes ihrer Worte verstehen konnte. Sie waren nicht in heimische Tracht gekleidet, sondern trugen weiße Reiseanzüge nach französischem Schnitte. Ihre Zöpfe wurden von den Tropenhelmen verborgen, die sie nur während der Tafel abzunehmen pflegten. Gleich als sie gestern den Speisesaal betraten, war mir die ebenso tiefe wie herzlich aufrichtige Ehrerbietung aufgefallen, welche der Sohn dem Vater entgegenbrachte. Das war eine geradezu rührende Aufmerksamkeit und Dienstfertigkeit, welche sogar dem servierenden Kellner jede Handreichung und jeden Griff abzunehmen strebte, um dem Vater Kindesdank und Kindesliebe zu erweisen. Und man sah deutlich, daß dies nichts Gemachtes, nichts Aeußerliches war, sondern als etwas frei und gern Gegebenes aus dem Innern kam. Der Vater trug Augengläser in schwer goldenem Gestell; der Sohn hatte keine Brille. Sie speisten genau nach unserer Art und taten dies so geläufig und so fehlerlos, so unhörbar und unauffällig, daß manche der übrigen Gäste sich an ihnen hätten ein Beispiel nehmen können. Der mich bedienende Garçon flüsterte mir in Hoffnung auf ein dafür gebotenes Extratrinkgeld zu:
»Monsieur Fu und Monsieur Tsi aus China. Kommen aus Paris. Sind wahrscheinlich verwandt miteinander.«
»Haben sie sich selbst so eingetragen?« erkundigte ich mich.
»Nein, aber dem Portier so gesagt.« Er sprach die beiden Worte nicht in der richtigen Weise aus; aber es war klar, daß Fu Vater und Tsi Sohn bedeutete. Im Chinesischen hat dasselbe Wart oft sehr verschiedenen Sinn. Die beiden Gäste hatten ihre Namen nicht genannt und sich einfach als Vater und Sohn bezeichnet. Da hier im Hause Niemand ihrer Sprache mächtig war, so hatte man sie als Monsieur »Vater« und Monsieur »Sohn« in das Fremdenbuch eingetragen und glaubte noch besonders pfiffig zu sein, indem man sie für Verwandte hielt. Sie aber ließen es sich lächelnd gefallen, daß ihr Verwandtschaftsgrad als Namen ausgesprochen wurde. Dem Personale gegenüber sprachen sie französisch, und zwar so vorzüglich, daß eine langjährige Uebung mit Gewißheit anzunehmen war.
Was ihre Gesichter betrifft, so trat der mongolische Schnitt derselben nur wenig hervor. Bei dem Sohne mochte diese Milderung eine Folge der Jugend sein; bei dem Vater aber war es ganz entschieden der Wirkung geistiger Tätigkeit zuzuschreiben, daß ihn fast nur der echt chinesisch gepflegte Bart als einen »Sohn der Mitte« verriet. Man brauchte kein Menschenkenner zu sein, um diesem Manne anzusehen, daß sein Arbeitsfeld wohl kaum jemals ein materielles gewesen sei.
Nach Tische wurde draußen im Flur während des allgemeinen Speech die Tatsache festgestellt, daß die beiden Chinesen erstens aus Canton, zweitens Onkel und Neffe und drittens in Paris gewesen seien, um dort ein Geschäft für Chinawaren einzurichten, dessen Leitung der Neffe übernehmen werde. Er habe den Onkel nur nach Aegypten zurückbegleitet, um die Trennung zu verzögern, werde aber hier von ihm Abschied nehmen und dann, direkt nach Paris zurückkehren. Es war mir gleichgültig, wer diese Entdeckung gemacht hatte. Ich konnte mir nicht denken, daß dieser so eigenartig, ich möchte sagen, geheimnisvoll geistreich aussehende »Monsieur Fu« ein Kaufmann sei, dessen Bestreben darin bestehe, billige chinesische Fächer und Vasen in Paris teuer an den Mann zu bringen.
Der Zufall war so gütig, mich schon am nächsten Morgen einen heimlichen Blick in diese Verborgenheit tun zu lassen. Ich logierte, um möglichst viel Luft und Licht zu haben, zwei Treppen hoch und saß, mit Briefen beschäftigt, auf dem Balkon, als ich die Chinesen aus dem Hotel treten und hinüber zu Sejjid Omar gehen sah. Dieser besorgte ihnen zu seinem noch einen zweiten Esel, worauf er mit ihnen davontrabte. Dann hörte ich unter mir klopfen und bürsten. Das störte mich und wollte kein Ende nehmen. Ich bog mich über die Brüstung vor und schaute hinab. Es war nicht, wie ich vermutet hatte, das Zimmermädchen, sondern ein chinesischer Diener, welcher einen Koffer geöffnet hatte, um den Inhalt desselben einer Besichtigung resp. Säuberung zu unterwerfen. Die Chinesen wohnten also eine Treppe hoch grad unter mir. Ich ließ den Mann weiter klopfen und bürsten, ohne den Attentäter, was ich eigentlich beabsichtigt hatte, zur Ruhe zu verweisen.
Dann wurde es still unter mir, doch verriet mir wiederholtes Räuspern, daß der Diener noch da sei. Ich schaute wieder hinab. Er war jetzt mit einem andern, kleinen Koffer beschäftigt, den er geöffnet hatte. Er ordnete da verschiedene Gegenstände mit einer Behutsamkeit, die auf ungewöhnlichen Wert schließen ließ, und versicherte sich von Zeit zu Zeit durch einen Blick nach den benachbarten Balkonen, daß er nicht beobachtet werde. Der Inhalt dieses Koffers schien also Dinge zu enthalten, von denen nicht Jedermann wissen durfte. Eben jetzt hatte er einen Gürtel in der Hand, an welchem eine goldene, mit Rubinen besetzte Schnalle glänzte. Diese Art von Schnallen dürfen nur Mandarinen ersten und zweiten Ranges tragen! Dann sah ich ein Putsu erscheinen, dessen Stickerei einen Storch vorstellte. Nach einer Kugelkette, einer Pfauenfeder und verschiedenen anderen Gegenständen, welche ich wegen ihrer Kleinheit nicht deutlich erkennen konnte, kam einer jener Beamtenhüte zum Vorschein, welche nur im Sommer getragen und darum »warme« Hüte genannt werden. Er hatte einen glatten, roten, ungeblümten Korallenknopf. Kugelketten dürfen nur von Mandarinen ersten bis fünften Grades um den Hals getragen werden. Pfauenfedern sind besondere Auszeichnungen; aber der Korallenknopf ist nur den Mandarinen ersten Ranges erlaubt. Diese sind entweder Zivil- oder Kriegsmandarinen. Die ersteren haben ein Putsu mit Storch, die letzteren ein dergleichen Schild mit dem Bild des Einhorns zu tragen. Die Zivilbeamten werden mehr als die militärischen geehrt. Ich hatte also erfahren, daß »Monsieur Fu«, denn nur auf ihn konnten sich diese Auszeichnungen beziehen, ein Zivilmandarin allerhöchsten Ranges war, und nahm mir selbstverständlich vor, dies keinem Menschen mitzuteilen. Mehr zu sehen, wurde mir durch meinen Bleistift unmöglich gemacht. Ich hatte ihn hinter das Ohr gesteckt; er verlor dadurch, daß ich den Kopf vor und nach unten gebeugt hatte, den Halt, fiel hinab und traf grad vor dem Diener auf das Balkongeländer auf. Der Chinese stieß einen Ruf des Schreckens aus, raffte Alles schnell zusammen und war im nächsten Augenblicke verschwunden. Auch dieser sein Schreck war ein Beweis, daß seine beiden Herren ihren Stand nicht zu verraten wünschten.
Wir befanden uns im Vorsommer, also in der Zeit, in welcher der Khamsin jährlich gegen fünfzig Tage lang der höchst ungern gesehene Gast Aegyptens ist. Dieser heiße, trockene Südwestwind, welcher den feinen Staub der Wüste mit sich führt, kann, wenn er stark auftritt, so erschlaffend wirken, daß sowohl der Einheimische als auch der Fremde Alles meidet, was mit einer körperlichen Anstrengung verbunden ist. Am Tage nach der soeben erzählten Entdeckung wehte er ganz besonders entkräftend von Gizeh und Aryahn herüber. Man mied die Straßen, und die sonst so gern besuchten Plätze vor den Kaffeehäusern waren noch um die Zeit des Asr, des täglichen Nachmittagsgebetes, unbesetzt. Dies veranlaßte mich, nach dem Dschebel Mokattam zu reiten. Ich war den Khamsin längst gewohnt; er konnte mich nicht belästigen und hielt im Gegenteile andere Leute ab, mich da oben in dem mir liebgewordenen Genuß zu stören. Der Blick vom Mokattam und dem Dschebel Giyuschi ist unbeschreiblich schön, mir aber doppelt wert, wenn beim Sonnenuntergange die Beleuchtung der Stadt und ihrer Umgegend durch den in der Luft schwebenden Khamsinstaub zu einer, fast mochte ich sagen, märchenhaften wird. Es sind dann alle Härten und Schärfen des Bildes abgemildert, und es liegt ein so undefinierbarer Farbenton rings ausgegossen, daß man meinen möchte, von einer jenseitigen Höhe auf eine ganz andere, un- oder überirdische Welt herabzuschauen.
Eben als ich mich aufmachte, brachte der Kommissioner des Hotels einige Wagen voller Reisende, welche mit dem Zuge angekommen waren. Ich hatte keinen Grund, sie zu beachten, doch fiel mir im Vorübergehen eine junge, blau verschleierte Dame auf, welche einfach in Grau und praktisch knöchelfrei gekleidet war und zu einem mit ihr ausgestiegenen Herrn einige englische Worte sprach. Ich hatte nur selten eine so tiefe, wohlklingende und sympathische Altstimme gehört.
Dann saß ich oben auf dem Berge, in stiller, zunächst ununterbrochener Einsamkeit. Mein Lieblingsplatz war ein Felsensitz in der Nähe der alten, verfallenen Giyuschi-Moschee. Die Sonne hielt sich hinter einem flimmernden, orangefarbenen Dufte halb verborgen. Wie ein im Einschlummern unvollendet gebliebenes Gebet lagen die Mamelukengräber tief zu meinen Füßen. Von der Alabastermoschee bis nach Kasr el Ain hinüber und von der ahnenhaften Amr Ibn el As bis zur früheren ez Zahir hinunter klangen die in Stein gedichteten tausend Strophen der Minarehs zu Allahs Thron empor. Durch Masr el Atika, das einstige Fostat, dampfte, einer Entheiligung gleich, ein Zug hinauf nach Heluan, und hinter den Lebbachbäumen der Dakrurstraße und dem Grün der Kanalfelder lagen am Wüstenrande die Pyramiden – – aus Angst vor der Ewigkeit erstarrte Todesgedanken der Pharaonen. Tod und Leben, Vergangenheit und Gegenwart um und in sich vereinigend, vom Wüstenwind überweht und doch so jugendschön und jugendwarm, so breitete sie sich vor meinen Augen aus, El Kahira, die Siegreiche, die mir nebst Bagdad und Damaskus so lieb geworden ist wie keine andere Stadt des Orientes.
Es kamen von da unten herauf, von den Königsgräbern da drüben und dem Sinai im Osten hinter mir Gedanken über mich, welche ich nicht verloren gehen lassen wollte; darum zog ich Papier und Blei hervor. Ich begann damals, an meinen »Himmelsgedanken« zu dichten, deren erster Band inzwischen erschienen ist. Dieses Buch war auch einer der Gründe, welche mich zur gegenwärtigen Reise veranlaßt hatten. Wer Gedichte über und für die Menschheitsseele schreiben und den Völkern gerecht werden will, denen diese Seele ihre Jugendbegeisterung widmete, der darf nicht meinen, daß er die Gedanken dazu im kalten, selbstsüchtigen Abendlande finden werde, sondern er muß dorthin gehen, wo einst Gott selbst zur Erde kam und seine Engel sich den Menschen zeigen durften, ohne, wie es allerdings ein einziges Mal, und zwar zu Sodom und Gomorrhas Verderben geschah, für ihre Himmelsliebe schlimmen Erdendank zu ernten.
Da, wo die nackt gewordenen Steine Palästinas wieder zu Brot zu werden haben, wo Memnons Kolosse nicht nur leise erklingen, sondern deutlich sprechen sollen, wo zwischen Pison, Gihon, Phrat und Hidekel noch heut die beseligende Idee des Paradieses wieder auszugraben ist, da muß man sein, da muß man sehen und lauschen, äußerlich und innerlich, und dann, wenn in stiller Mondesnacht aus den Wogen des Niles ganz dieselbe Offenbarung wie aus den Fluten des Tigris steigt und um die Minarehs dasselbe linde Säuseln klingt, welches Elias einst auf dem Karmel hörte, dann wird es der Menschenseele klar, daß auch ganz dieselben Strophen wieder zu ertönen haben, welche der Orient einst zu dichten begonnen, der Occident aber als Hoheslied der Gottes- und der Nächstenliebe zu vollenden hat.
Es war mir eine Lust, diese und ähnliche Gedanken in Worte zu kleiden; aber ich brachte es zu keinem Schlusse, denn ich wurde unterbrochen. Vom Felsenwege her erklang das lebhafte Getrappel kleiner Eselshufe. Mich umschauend, sah ich die erwähnte, grau gekleidete Dame und den Herrn kommen, mit welchem sie gesprochen hatte. Als dritten Reiter bemerkte ich einen jener christlichen oder jüdischen Levantiner, welche jedes von ihnen gehörte, wenn auch gänzlich unverstandene, fremdsprachige Wort in dem Mehlwürmertopfe ihres Gedächtnisses sorgfältig aufbewahren, um sich dann, wenn sie mit diesen Würmern nicht mehr allein fertig werden können, für Dolmetscher auszugeben und sie gegen möglichst hohe Vergütung an den Mann zu bringen. Diese Dragomans sind eine Plage, welcher sich zu erwehren der gewöhnliche Tourist weder genug Erfahrung noch die nötigen Kenntnisse besitzt. Wenn sie sich einmal festgesogen haben, so lassen sie nur selten wieder los, und der von ihnen, den ich hier kommen sah, war eine Klette von der allerschlimmsten Sorte. Er hatte sich vor einigen Tagen auch an mich zu machen versucht, war aber, als nichts Anderes half, durch einen Wink mit der Reitpeitsche dann für immer abgewiesen worden. Diese Levantiner werden von dem ehrlichen, charaktervollen Araber verachtet, und da sie meist Christen sind und er durch sein eigenes Leben belehrt wird, welchen großen Einfluß der Glaube auf den moralischen Wert des Menschen ausübt, so ist er leicht geneigt, nicht bei der Person stehen zu bleiben, sondern seine Geringschätzung über die ganze Christenheit auszudehnen.
Die vierte Person war – – – Sejjid Omar, der Eseltreiber, welcher so gravitätisch, als ob er die Hauptperson der ganzen Truppe sei, neben den Dreien hergeschritten kam.
Als der Dolmetscher mich erblickte, kam er grad auf mich zugeritten, stieg bei mir ab und breitete eine mitgebrachte Decke neben mir aus. Er hatte, als er sich mir anbot, französisch mit mir gesprochen; warum, das wußte ich nicht, sollte es jetzt nun aber erfahren, denn er rief, sich umdrehend, Sejjid Omar zu:
»Dieser Kerl sitzt gerad an der besten Stelle! Er ist ein Franzose, denn er hat ein Bärtchen an der Unterlippe. Komm her, und jag ihn fort!«
»Nimm dich in Acht!« warnte der Eseltreiber. »Wenn er arabisch sprechen kann, versteht er deine Worte!«
»Der? Arabisch sprechen? Siehst du denn nicht, daß ihm die Dummheit aus den Augen blickt? Der spricht nicht einmal seine Muttersprache richtig. Ich weiß das ganz genau, denn ich habe französisch mit ihm geredet. Er wollte mich als Dolmetscher haben; ich bin aber nicht darauf eingegangen, weil ich ihm sofort angesehen habe, daß er ein armer Schlucker und außerdem ein Geizhals ist. Jage ihn fort! Wir brauchen diesen Platz für unsere Leute!«
Da machte der Sejjid eine seiner unnachahmlichen, sprechenden Handbewegungen und antwortete:
»Ich bin nicht dein Diener, und Allah und mein Geschäft verbieten mir, unhöflich zu sein. Wenn du als Christ und Grieche grob sein darfst, so geht mich das nichts an. Ich heiße Sejjid Omar; das merke dir!«
Der Levantiner hatte es vielleicht gewagt, aus Rachsucht mit Hilfe des Eseltreibers mit mir anzubinden; aber es ohne diese Unterstützung zu tun, dazu war er, wie die meisten seinesgleichen, zu feig. Er hatte, nur um mich zu ärgern, die Fremden grad her zu mir geführt, obgleich ich vor ihnen der einzige Mensch war, der sich auf dem weiten Plateau des Dschebel Giyuschi befand, auf welchem Platz für ungezählte Tausende gewesen wäre. Ich aber tat, als ob mir diese Flegelhaftigkeit vollständig gleichgültig sei.
Der Hammahr half den Reisenden beim Absteigen. Dann setzten sie sich auf die ausgebreitete Decke, ohne mich zu grüßen oder auch nur mit einem Blicke zu beachten. Das beleidigte mich nicht. Ich kannte ja diese besonders jenseits des Kanales und des Atlantischen Meeres gepflogene Weise, nach welcher fremde Menschen als vollständig abwesend betrachtet werden. Selbstverständlich waren sie nun auch für mich nicht vorhanden, und ich rauchte die Zigarre, welche ich mir angebrannt hatte, ruhig weiter, obgleich ich sah, daß der Wind der Dame den Rauch zuweilen in das Gesicht trieb. Sie saß mir so nahe, daß ich sie mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte.
Nun stellte sich der Dolmetscher in Positur und begann, den Fremden das vor ihnen liegende Panorama zu erklären. Er tat dies in einem Englisch, mit welchem ein Bauer, ohne die Hacke nötig zu haben, die stärksten Rüben hätte aus dem Felde ziehen können, und es war den beiden Zuhörern auch mehr als deutlich anzusehen, daß sie sich von dem, was sie anhören mußten, nichts weniger als erbaut fühlten. Eine Weile ließen sie es sich gefallen, dann aber gebot die Dame dem poliglott-schrecklichen Griechen, still zu sein, zog ein rotgebundenes Buch aus der Tasche und sagte zu dem Herrn, zu meiner Ueberraschung in deutscher Sprache:
»Verstehst du ihn, Vater? Ich nicht! Nehmen wir den Baedeker her! Die Karte wird uns mehr sagen, als wir von diesem Araber erfahren können. Und reden wir deutsch, denn das versteht er nicht!«
Der für einen Araber Gehaltene zog sich beleidigt zurück. Gerade diese unwissenden Menschen sind außerordentlich empfindlich, wenn man ihren vermeintlichen Kenntnissen nicht die erwartete Bewunderung zollt. Sejjid Omar stand, mit dem Ellbogen auf seinen Esel gestützt, unbeweglich wie eine Bildsäule seitwärts hinter uns. Der lange, weite Mantel, den er trug, war nicht imstande, die schöne Plastik seiner Figur ganz unbemerkbar zu machen.
Ich hatte also erfahren, daß die Fremden Vater und Tochter seien. Ich erfuhr noch mehr. Ob sie mir die Kenntnis der deutschen Sprache nicht zutrauten, oder ob ihnen meine Anwesenheit wirklich vollständig gleichgültig war, sie sprachen so ungeniert miteinander, als ob an meiner Stelle nichts als Luft vorhanden sei.
Der Vater war ein ziemlich langer, hagerer Herr mit einem glattrasierten, etwas mehr als nötig in die Länge gezogenen Gesicht. Der Stehkragen seines Rockes paßte zu der salbungsvollen, dabei aber harten und schnellen Weise, in welcher er sprach. Er hatte einen seiner Handschuhe ausgezogen, was mir Gelegenheit gab, seine auch sehr lange, doch weiße und sichtbar wohlgepflegte Hand zu sehen. Nicht angenehm berührte der rücksichtslose, schnarrende Ton, in welchen er fiel, so oft es seine Absicht war, eine bestimmte Meinung auszusprechen. Ich pflege über andere Menschen nicht vorschnell zu urteilen, doch war ich, obgleich ich diesen Mann heut zum ersten Male sah und ihn also noch gar nicht kannte, zu der Behauptung geneigt, daß er von einer einmal gefaßten, wenn auch noch so falschen Ansicht nicht leicht abzubringen sei. Vielleicht war er sonst ein ganz vorzüglicher Mann, aber er machte den Eindruck auf mich, als ob er sich für unfehlbar halte, und mit solchen Leuten ist schwer umzugehen.
Die Tochter wurde von ihm Mary genannt. Sie hatte, um besser Umschau halten zu können, den Schleier zurückgeschlagen. Ich hütete mich natürlich, meine Beobachtungen merken zu lassen, doch genügte ein kurzer Blick, mich ein liebes, rosig angehauchtes Gesicht sehen zu lassen, in welchem ein Paar helle, klare, sehr verständige Augen glänzten. Ihre tiefe, schöne Altstimme habe ich schon erwähnt. Wenn sie sprach, so war ihr anzuhören, daß sie es nicht mit dem Munde, sondern mit der Seele tat. Es klang ganz so, als ob über diese Lippen nie ein liebloses Wort gekommen sei oder kommen könne. Vom Vater hatte sie das nicht geerbt; es konnte nur die Gabe einer vortrefflichen, an Herzensbildung reichen Mutter sein.
Der Vater war Amerikaner, und zwar Missionar, nach China bestimmt, wohin die Tochter ihn begleitete; die Mutter war tot, eine Deutsche gewesen, wie es schien. Sie waren über London, Köln, Wien und Triest nach Aegypten gekommen, um einige Zeit hier zu bleiben und sich dann zunächst Indien anzusehen. Große Eile schienen sie nicht zu haben.
Sie kannten die Wirkung des Khamsin noch nicht und waren trotz desselben gleich nach ihrer Ankunft hier herauf geritten, weil Mary gewünscht hatte, zunächst das Gesamtbild von Kairo vor sich zu sehen. Und der Eindruck desselben war, wenigstens bei der Tochter, ein so tiefer, daß der ermattende Wind auf sie ohne sichtbare Wirkung blieb.
Sie hatte die entfaltete Karte auf ihrem Schoße liegen, ohne aber zunächst nach speziellen Punkten zu suchen. Es schien ihr vor allen Dingen um den Totaleindruck zu tun zu sein. Dabei machte sie dann und wann eine Bemerkung, die mich aufhorchen ließ. In diesem Mädchen schien ein seltsames, ungewöhnlich reiches Seelenleben zu pulsieren! Einmal hätte ich beinahe verraten, daß ich ihr aufmerksam zuhörte. Sie nannte nämlich meinen Namen.
»Weißt du, Vater, an wen ich jetzt denke?« sagte sie. »An Karl May. Ich habe seine drei Bände ›Im Lande des Mahdi‹ gelesen, und – – –«
»Lies nicht das dumme Zeug von diesem May!« unterbrach er sie rasch und schnarrend. »Dieser Schriftsteller hat nichts als Phantasie, und du weißt, daß mir seine weichliche Frömmigkeit widerwärtig ist! Wie kommst du dazu, grad jetzt an ihn zu denken?«
»Er nennt Kairo "Bauwaabe el bilad esch schark, das Tor des Orientes", und sagt, dieses Tor sei altersschwach geworden und könne dem Einflusse des Abendlandes kaum mehr widerstehen. Es wird mir schwer, das zu glauben. Ich habe den Orient noch nicht gesehen, aber ich liebe ihn und wünsche, daß er sich stärker erweisen möge, als zum Beispiel du, Vater, mit so vielen Anderen denkst. Er ist für mich ein schlafender Prinz im stehengebliebenen Saale einer eingefallenen, morgenländischen Königsburg. Seine Bestimmung ist, von einer abendländischen Jungfrau aufgeweckt zu werden. Wenn dann durch Beide der Osten mit dem Westen in selbstloser Liebe vereinigt ist, werden alle Völker der Erde glücklich sein.«
»Du bist eine Träumerin, ganz wie deine Mutter war! Die Wirklichkeit aber sieht ganz anders aus als so ein Märchentraum. Das Morgenland hat uns um das Paradies gebracht; es hat den Erlöser gekreuzigt und bis auf den heutigen Tag niemals erkennen wollen, was zu seinem Frieden dient. Nun kommen wir, die Himmelsboten, ihm diesen Frieden zu bringen. Nimmt es ihn an, so soll es ihn haben; stößt es ihn aber von sich, so wird es trotz aller unserer Mühe nicht zu retten sein. Schau doch hinab und sieh, was zu deinen Füßen liegt! Alles, was da noch orientalischen Ursprungs ist, steht im Begriff, im Schmutze zu versinken. Alles Neue, Praktische und Gute aber hat diese Stadt vom Abendlande bekommen. Dein Karl May, von dem ich sonst nichts wissen will, hat also in diesem einen Falle ausnahmsweise einmal das Richtige gesagt. Ist der Orient der Märchenprinz, von dem du sprachst, so ist es nur uns Sendboten möglich, ihn aus dem Schlafe aufzuwecken. Nur wir allein können ihn erlösen; wir fußen in und auf der Wirklichkeit; deine abendländische Jungfrau aber gehört ins Reich der Phantasie.«
»Phantasie! Das ist vielleicht das richtige Wort,« lächelte sie. »Es gibt Leute, welche behaupten, daß die Phantasie hellere und schärfere Augen habe als der alterssichtig gewordene Verstand.«
»Willst du mich belehren?«
»Nein. Dazu bist du mir ja viel, viel zu gelehrt. Aber weißt du, wir klopfen heut beide an das Tor des Orientes, und wenn man irgendwo anklopft, soll man sich nicht nur fragen "Was willst du hier?" sondern auch "Was bringst du mit?". Denn ob man das, was man will, erreichen wird, das ist wahrscheinlich sehr von dem abhängig, was man mitbringt. Und mitbringen muß und wird Jeder Etwas, und wenn es nichts weiter als seine Persönlichkeit wäre. Fragen wir uns also heut, indem wir an diese Pforte klopfen, was wir für die, welche hinter ihr wohnen, mitbringen!«
»Well, mein Kind! Ich bringe ihnen meinen Glauben. Das ist mehr als genug!«
»Und ich bringe ihnen meine Liebe, meine ganze, ganze, volle Liebe! Ob das genug ist, weiß ich nicht; aber ich besitze ja nichts weiter, was ich geben kann. Und diese Liebe gebe ich so gern, so unendlich gern. Was habe ich gewünscht! Wie habe ich geträumt, gehofft, geschwärmt! Mein Herz ist mir nach hier vorausgeflogen. Es ist mir, als sei mein bisheriges Leben eine Weissagung gewesen, welche von heute an beginne, in Erfüllung zu gehen. Der Orient ist die Heimat des Menschengeschlechtes. Fühlst du nicht auch, was es heißt, am Tore unserer Heimat zu stehen? Im Osten geht der Welt die Sonne auf. Ist es nur dein Glaube, welcher ihr entgegen geht? Bringst du ihr gar, gar nichts anderes mit?«
»Schwärmereien!« antwortete er überlegen. »Das sind nun die Folgen meiner Schwäche, deine Lektüre nicht strenger zu überwachen. Die Gestalten aus "Tausend und eine Nacht" und anderen Büchern spuken in dir; du bist noch ein Kind; ich aber bin ein Mann; ich darf nicht schwärmen wie du, denn ich habe ernste Pflichten zu erfüllen. Denke an meine Wette mit Reverend Burton in London, im Laufe des ersten Jahres fünfzig erwachsene Chinesen zu bekehren und ihm die Beweise darüber vorzulegen!«
»Was diese Wette betrifft, Vater, so wünschte ich, du wärst sie nicht eingegangen. Ich habe das Gefühl, daß es eine Entheiligung ist, die Seligkeit Anderer zum Gegenstande einer Wette zu machen.«
»Nicht über diese Seligkeit, sondern über meinen Erfolg haben wir gewettet, Kind! Und ich werde gewinnen, weil mir die Gabe der überzeugenden Rede verliehen ist. Ich begreife nicht, wie ein Mensch einen anderen Glauben haben kann als den meinigen, welcher doch der einzig richtige, der einzig wahre ist. Schau dir da den Eselsjungen an! Sein Allah ist ein falscher Gott und sein Muhammed ein Lügner. So viele Türme da unten ragen, in so viele Moscheen möchte ich treten, um laut auszurufen, daß es kein anderes Heil als das unsere gibt. Warum werden so wenig Heiden bekehrt? Weil uns der Mut fehlt. Ich werde in China keinen Tempel betreten, ohne mich offen hinzustellen und den Ungläubigen zu sagen, daß sie Heiden sind, denen die ewige Verdammnis sicher ist, wenn sie sich nicht bekehren. Ich werde – – – doch, sieh hin! Was tut dieser Mensch?«
Er hatte sich mitten in der Rede unterbrochen und zeigte auf Sejjid Omar, welcher jetzt Etwas tat, was die Aufmerksamkeit des Amerikaners auf sich zog, weil er es noch nie gesehen hatte. Der Eseltreiber schickte sich nämlich an, sein muhammedanisches Gebet zu verrichten.
Es war zwar jetzt nicht eigentlich Betenszeit, denn das Asr war schon vorüber, und das Moghreb soll erst beim Untergang der Sonne gebetet werden; da aber die Zeit des einen Gebetes bis zum Beginn des nächsten reicht, so kann man die vorgeschriebene Pflicht, wenn man an ihrer Erfüllung verhindert wurde, bis zum Anfang der nächsten Periode nachholen. Sejjid Omar hatte aus irgend einem Grunde das Asr nicht beten können, und da sich ihm hier oben die Gelegenheit bot, seinen religiösen Verpflichtungen völlig ungestört nachzukommen, so tat er dies, ohne sich um den Glauben und die Meinung der Anwesenden zu kümmern.
Er nahm seinen Zeuggürtel ab, faltete ihn auseinander und breitete ihn als Gebetsteppich auf die Erde aus. Nachdem er sich gegen Osten, mit dem Gesicht nach Mekka, gerichtet hatte, hob er die offenen Hände zu beiden Seiten des Gesichts empor, berührte mit den Spitzen der Daumen die Ohrläppchen und sagte:
»Allahu akbar – Gott ist sehr groß!«
Dieser Ruf war es, welcher die Aufmerksamkeit des Amerikaners auf ihn gelenkt hatte. Hierauf ließ er die Hände sinken, legte die linke in die rechte, richtete den Blick auf die Stelle des Teppichs, wo sein Kopf beim späteren Niederwerfen ihn berühren sollte, und fuhr fort:
»Lob und Preis sei Gott, dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrscht am Tage des Gerichts. Dir wollen wir dienen, und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich erfreuen, nicht aber den derer, über welche du zürnest, und nicht den Weg der Irrenden.«
Das war die heilige Fatcha, das erste Kapitel des Korans, welches jedem Gebete vorauszugehen hat. Dann folgte das kurze 112. Kapitel, welches lautet:
»Sprich: Gott ist der einzige und ewige Gott. Er zeugt nicht und ist nicht erzeugt, und kein Wesen ist ihm gleich!«
Hierauf legte er die Hände auf die Knie, neigte den Kopf, verbeugte sich dreimal und sagte:
»Allahu akbar! Ich preise die Vollkommenheit meines Herrn, des Großen. Gott erhöre den, der zu ihm betete. Preis sei dir, o Herr!«
Nachdem er Kopf und Körper wieder aufgerichtet hatte, kniete er langsam nieder, legte seine Hände vor den Knieen auf den Boden und berührte mit Nase und Stirn die zwischen den Händen liegende Stelle. Dann hob er den Körper wieder empor, wobei aber die Knie sich nicht vom Boden trennten, sank rückwärts auf die Fersen und legte die Hände auf die Schenkel. Während dieser streng und genau vorgeschriebenen Bewegungen betete er:
»Allahu akbar! Ich preise die Vollkommenheiten meines Herrn, welcher der Allerhöchste ist. Gott ist sehr groß.«
Nun erhob er sich ganz, um stehend fortzufahren, kam aber nicht dazu, denn der Amerikaner sprang jetzt auf und zu ihm hin, zog ihn beim Arme vom Teppich zurück und rief dem Dolmetscher fragend zu:
»Ja,« antwortete der Gefragte.
»Muhammedanisch?«
»Ja.«
»Sagen Sie ihm, daß ich das nicht dulde! Sagen Sie ihm, daß ich ein Christ bin, ein Missionar, welcher zu den Heiden geht, um sie zu bekehren. Ich kann und darf nicht dulden, daß in meiner Gegenwart anders als christlich gebetet wird. Er hat sofort aufzuhören, sofort!«
Es gilt bei den Muhammedanern schon für eine Sünde, an einem Betenden nahe vorüber zu gehen. Ihn mit Worten zu unterbrechen, ist gar nicht denkbar. Ihn aber in der Weise zu stören, wie der Yankee es tat, das würde man nur einem Wahnsinnigen oder einem Todfeinde zutrauen, welcher eine Beleidigung plant, die nur mit Blut abzuwischen ist. Dabei ist es ganz gleich, wes Standes der Betende ist. Beim Besuche der Moschee und auch während der Gebete außerhalb derselben wird der niedrigste dem höchsten und umgekehrt dieser jenem vollständig gleich geachtet. Sejjid Omar war zunächst starr vor Erstaunen, doch seine Augen blitzten. Dann fragte er den Dolmetscher, was der Fremde ihm gesagt habe. Der Levantiner berichtete es ihm mit hämischer Genauigkeit. Da hob Omar die Arme, um den Beleidiger anzufassen, beherrschte sich aber schnell, ließ sie wieder sinken, trat einen Schritt zurück, maß den Amerikaner mit einem unaussprechlichen, halb verächtlichen, halb mitleidigen Blick, warf die Hand leer in die Luft, was ein Zeichen der größten Geringschätzung ist, und richtete an den Dolmetscher die Worte:
»Ich wollte ihn hier vom Felsen hinunterwerfen, und sein Widerstand wäre gegen die Kraft meiner Arme nichts gewesen; aber ich bin Sejjid Omar und will mich nicht durch die Berührung mit einem so großen Schmutz besudeln. Jeder Heide hat mehr Verstand als dieser Nasrani; sage ihm das. Wehe jedem, der zu dem Glauben und zu den Sitten eines so rücksichtslosen Verächters und Störers des Gebetes übertritt! Ich habe nichts mehr mit ihm zu schaffen. Das Geld für meinen Esel schenke ich ihm. Ich mag es nicht berühren!«
Er hob den Teppichgürtel auf, schwang sich auf sein Grautier und ritt im Trabe davon, indem er den Gürtel in vielsagender Weise hinter sich her ausschüttelte. Dem Levantiner war es ein Vergnügen, die Worte Omars in einer Weise zu übersetzen, welche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Als die Tochter, welche von ihrem Platze aufgestanden war, das hörte, rief sie dem Vater vorwurfsvoll zu:
»Was hast du getan! Ich wollte dich zurückhalten; du warst mir aber zu schnell. Dieser Araber gefiel mir so sehr! Er war so ernst, so still und so bescheiden. Sein Gebet rührte mich. Hieltest du dich wirklich für verpflichtet, es zu unterbrechen?«
»Natürlich!« antwortete er. »Du sollst keine andern Götter haben neben mir, gebietet die heilige Schrift. Elias hat die Pfaffen Baals geschlachtet. Sein Eifer soll ein Vorbild sein für jeden, der als Glaubensbote zu den Heiden geht!«
»Meinst du nicht, daß unser Gott und Allah ganz derselbe sei?«
»Wer einen anderen Glauben hat, hat auch einen andern Gott! Und andere Götter zu haben ist verboten; das hast du ja gehört!«
»Aber die Liebe, von welcher ihr predigen sollt, macht es euch doch – – –«
»Sei still mit dieser Liebe, von der du nichts verstehst!« unterbrach er sie schnarrend. »Erst glaube ich; dann liebe ich. Wir haben hinaus in alle Welt zu gehen und alle Völker zu belehren. Von dem Worte aber, welches wir verkünden, sagt die Bibel, daß es ein Hammer sei, der Felsen zerschmettert. Nur dadurch, daß wir diese Macht des Wortes zeigen, können wir den Heiden imponieren. Und dann, wenn sie die Unseren geworden sind, werden wir ihnen unsere Liebe schenken. Wir haben endlich eingesehen, wie weit man mit der Liebe allein kommt. Es ist erwiesen, daß in neuerer Zeit der Islam mehr Fortschritte macht als das Christentum. Das Heidentum wird dem gehören, der es zum Gehorsam zwingt!«
Das klang so entschieden und so hart, daß sie es vorzog, still zu sein. Sie setzte sich wieder nieder, schien sich aber vergeblich zu bemühen, die frühere Stimmung zurückzurufen. Das, was sie vorher begeistert hatte, war ihr gleichgültig geworden, und da der Vater sich übel gelaunt und wortkarg zeigte, so bat sie ihn schließlich, aufzubrechen.
»Sehr gern!« stimmte er ihr bei. »Es ist eine drückende Hitze hier oben, und wie du es neben der qualmenden Zigarre dieses ungebildeten, rücksichtslosen Menschen aushalten konntest, habe ich mir nicht erklären können.«
»Es ist freilich nichts so widerwärtig wie der Tabaksgeruch; für ihn aber scheint es ein Genuß zu sein; ich habe nicht darauf geachtet.«
Dieser Ausdruck der Herzensgüte und Selbstüberwindung ließ es mich bereuen, daß ich mich nicht so verhalten hatte, wie ich nun wünschte, es getan zu haben. Später fand ich eine erfreuliche Veranlassung, mich an diese ihre jetzigen Worte lebhaft zu erinnern.
Sie ritten fort, wie sie gekommen waren: ohne mir irgendeine Beachtung zu schenken. Der Levantiner mußte laufen, da nun nur noch die beiden Esel da waren, die er besorgt hatte. Es tat mir um der Dame willen leid, daß sie nicht länger blieben, denn die Sonne stand bereits dem Horizonte nahe, und ich hätte den Anblick ihres heutigen Unterganges dem lieben, freundlichen Wesen herzlich gern gegönnt.
Ich war seinetwegen hierher gekommen, hatte mich auf ihn gefreut und machte aber dann, als er eintrat, die Bemerkung, daß ich heut nicht fähig sei, ihn so, wie früher stets, auf mich wirken zu lassen. Die häßliche Szene, deren Zuschauer ich gewesen war, hatte mein Inneres auch überschattet. Das Vorgefallene machte es mir unmöglich, mich dem Eindrucke des herrlichen Naturschauspieles frei und gänzlich hinzugeben. Der Amerikaner hatte einige Aeußerungen getan, welche geistig unterzubringen oder zu überwinden ich mir erfolglos Mühe gab.
So oft ich mich hier auf dieser Höhe befand, sah ich zwei Welten vor mir liegen, die aber in ihrem Zusammenhang doch nur eine einzige waren, und ebenso sah ich zwei Zeiten, welche durch Jahrtausende getrennt zu sein scheinen, im jetzigen Augenblick zu einer wunderbaren, ergreifenden Vereinigung zusammenfließen. Die Gegenwart ist unsere Vergangenheit gewesen und wird auch unsere Zukunft sein. Wer das begreift, der hat nicht nötig, das Innere der Pyramiden zu durchforschen, und braucht auch nicht vor den Rätseln der Sphinx zu bangen, deren Lösung er klar und deutlich in seinem Herzen trägt. Die Menschheit gleicht der Zeit. Beide schreiten unaufhaltsam vorwärts, und wie keiner einzelnen Stunde ein besonderer Vorzug gegeben worden ist, so kann auch kein Mensch, kein Stand, kein Volk sich rühmen, von Gott mit irgend einer speziellen Auszeichnung begnadet worden zu sein. Eine hervorragende Periode ist nur das Produkt vorangegangener Zeiten, und es gibt in der Entwicklung des Menschengeschlechtes keine Geistesrichtung oder Geistestat, welche aus sich selbst heraus entstanden wäre und der Vergangenheit nicht Dank zu zollen hätte. Die Weltgeschichte, welche wir ja das Weltgericht nennen, hat bisher noch jedes Kapitel der Selbstüberhebung mit einem bestrafenden Schluß versehen und diesen Akt der Gerechtigkeit zur Warnung für spätere Generationen in der ernsten, eindringlichen Sprache der Ruinen aufbewahrt. Und diese sprechenden, ja predigenden Ruinen haben uns die Lehre zu erteilen, daß, was im Oriente für uns gestorben ist, im Abendlande für ihn wieder auferstehen soll.
Das war ganz derselbe Gedanke, dem die Tochter des Amerikaners nur einen andern Ausdruck gegeben hatte, als sie von dem schlafenden Prinzen sprach, welchen eine abendländische Jungfrau aufzuwecken habe. Und wie einverstanden war ich mit ihrer Frage: »Was bringe ich mit?« Wollen wir ehrlich sein, so müssen wir zugestehen: Wer nach dem Morgenlande kommt, der will ihm nicht etwa dankbar sein, sondern noch mehr, immer mehr von ihm haben, als er schon von ihm bekommen hat. Der Osten hat gegeben, so lange und so viel er geben konnte. Wir haben uns an ihm bereichert fort und fort; er ist der Vater, der für und an uns arm geworden ist. Denken wir doch endlich nun an unsere Pflicht! Wir ahnen gar nicht, welche geistigen Summen wir ihm schuldig sind. Wir werden sie ihm, und zwar mit Zinsen, zurückzahlen müssen, gleichviel, ob wir wollen oder nicht. Die Vorsehung ist gerecht. Sie gibt Kredit, doch nicht für ungezählte Generationen oder gar für Ewigkeiten, und wird weder die Backschischgaben zudringlicher Touristenströme noch die Kurspapiere europäischer Geldgeschäfte, am allerwenigsten aber die aus unseren sogenannten Interessensphären erhofften materiellen Werte als gültige Zahlung anerkennen.
Was haben wir dem Orient bis heute gebracht? Was für Schätze glauben wir überhaupt ihm bringen zu können? »Ich bringe ihm meine Liebe, meine ganze, ganze, volle Liebe,« hatte die Amerikanerin gesagt, ohne sich dabei bewußt zu sein, daß nur und grad diese Liebe die erlösende Jungfrau ist, welche den schlafenden Prinzen zu neuem Leben zu erwecken hat. – –
Die Sonne war untergegangen; es drohte, schnell dunkel zu werden, und der Weg nach dem Bab el Karafe hinab ist kein angenehmer zu nennen. Darum trat ich nun auch den Heimweg an, der mich durch die Scharia Mohammed Ali und die Tahir-Straße nach dem Hotel führte.
Die öffentlichen Laternen brannten; die Hitze begann, sich zu mildern, und so hatten die Straßen sich belebt. Auf dem Platz Ibrahim Pascha erklang schrille, arabische Musik. Von der Wallfahrt nach Mekka zurückgekehrte Pilger hielten einen Umzug durch die Stadt. Je weiter entfernt von Kairo die Heimat dieser Leute ist, desto lieber geht man ihnen aus dem Weg. Sie haben sich, oder werden auch, in eine fanatische Erregung hineingearbeitet, durch welche sie für Andersgläubige gefährlich werden können. Ich hütete mich also, mich quer durch diesen Zug zu drängen, und wartete lieber, bis er vorüber war. Später am Abend war zu hören, daß am Meidan Abdin einige nicht so vorsichtige Europäer von diesen Leuten halb totgeschlagen worden seien. Ich erwähne das, weil ich noch Weiteres von ihnen zu berichten habe.
Als der Gong die Gäste des Hotels zum Abendessen rief, fand ich den bisher leer stehenden Tisch zu meiner linken Hand besetzt. Der Amerikaner hatte mit seiner Tochter daran Platz genommen. Als ich mich setzte, hörte ich ihn in deutscher Sprache sagen:
»Da ist der unangenehme Mensch ja wieder! Glücklicherweise darf hier nicht geraucht werden!«
»Aber, Vater, ist es nicht möglich, daß er deutsch versteht?« warnte Mary.
»Das fällt ihm gar nicht ein. Der Dolmetscher sagte doch, als wir vom Mokkatam herunterritten, daß der Fremde, der da oben saß, ein Franzose sei, und einem Franzosen kommt es bekanntlich gar nicht in den Sinn, deutsch zu lernen.«
»Ich würde mich aber doch lieber bei dem Kellner erkundigen. Du weißt ja, wie wenig man sich auf das, was dieser Dolmetscher sagt, verlassen kann. Ich möchte nicht, daß der Fremde von uns beleidigt wird.«
»Hast du eine Schwachheit für ihn?«
»Nein; aber man hat überhaupt mit jedem Menschen möglichst gut zu sein, und dieser hier im besonderen hat ein so – so – so – ich finde den passenden Ausdruck nicht und will daher sagen, er hat ein so loyales Aussehen, daß es mir leid tun würde, wenn er sich durch uns gekränkt fühlen sollte.«
»Ich finde, daß du heut ungewöhnlich zart und ängstlich bist. Daran ist vielleicht der Khamsin schuld, auf den wir leider zu spät aufmerksam geworden sind. Doch, da ist die Suppe!«
Es wurde ihnen serviert und dann auch mir. Während ich das Menu studierte und also auf die Karte sah, hörte ich, daß der Missionar einen Ausruf des Erstaunens ausstieß:
»Heavens! Ein Chinese! Noch einer! Zwei Chinesen, zwei ächte, wirkliche Chinesen, hier in Kairo, in Aegypten! Wer hätte das gedacht! Wo werden sie Platz nehmen?«
»Monsieur Fu« und »Monsieur Tsi« kamen langsam durch den Saal gegangen und schritten ihrem Tisch zu. Zwei Kellner eilten herbei, um ihnen die Stühle bequem zu rücken; der eine von ihnen ging dann nach dem Tische der Amerikaner, um dort die leer gewordenen Suppenteller wegzunehmen. Das benutzte der Missionar zu der Erkundigung:
»Sind das dort Chinesen oder vielleicht nur Japaner?«
»Chinesen,« lautete die Antwort.
»Woher?«
»Aus China.«
»Das ist nicht sehr geistreich von Ihnen. Ich meine natürlich, aus welcher Stadt.«
»Aus Canton.«
»Sind Ihnen vielleicht die Namen bekannt?«
»Monsieur Fu und Monsieur Tsi.«
»Fu heißt Mann, auch Mensch, auch Vater. Tsi ist Abkömmling, auch die Folge von Etwas. Sonderbar! Kennen Sie den Stand?«
»Kaufleute. Onkel und Neffe. Sind in Paris gewesen. Machen in Chinawaren.«
»Es ist dort Platz für vier Personen. Wir werden uns zu ihnen hinübersetzen. Hier ist meine Karte, die Sie ihnen hinübertragen!«
»Hm! Ich weiß nicht, ob ich darf!«
»Darf? Warum nicht?«
»Sie wollen allein sein, ganz ungestört speisen.«
»Das geht mich nichts an! Ich bin Missionar, gehe nach China und werde die Gelegenheit natürlich sofort ergreifen, diese für mich hochinteressante Bekanntschaft zu machen. Also ich bitte, geben Sie meine Karte ab!«
Der Kellner bewegte den Kopf bedenklich hin und her, überlegte ein Weilchen und entschied dann:
»Ich kann das nicht auf mich nehmen und werde Ihnen also den Herrn Direktor schicken.«
Als er sich entfernt hatte, hörte ich, daß die Tochter im Tone der Besorgnis fragte:
»Aber, Vater, ist das nicht vielleicht ein gesellschaftlicher faux-pas von dir?«
»Wieso faux-pas?« erwiderte er. »Ist es ein Fehler, Jemand kennen lernen zu wollen?«
»Aber auf diese ungewöhnliche Weise! Das ist schon bei uns und in Europa verboten, und in China soll man in Beziehung auf neue Bekanntschaften noch viel strenger sein!«
»Du vergissest, daß wir nicht in China, sondern in Kairo sind. Hier gelten die Regeln aller und also eigentlich keiner Welt. Ferner bin ich Missionar, und sie sind Heiden. Ich denke an meine Wette mit Reverend Burton. Welch ein Erfolg, ihm schon von hier aus berichten zu können, daß ich zwei Chinesen bekehrt habe, noch ehe ich in China angekommen bin!«
»Aber, wir sitzen hier so gut, so allein, so ungestört. Ich bitte dich!«
»Die Unterhaltung mit ihnen steht mir höher als unser Alleinsein!«
»Aber ich, was werde ich sagen, die ich kaum hundert Worte chinesisch kenne?«
»Du wirst schweigen, was für euch Damen bekanntlich das Allerbeste ist.«
»Ich befürchte doch, daß wir zudringlich sind!«
»Zudringlich? Pshaw! Sie sind Kaufleute, handeln mit Chinawaren. Es ist also eine Ehre für sie, wenn wir uns zu ihnen setzen.«
Der Direktor kam. Das Verlangen des Amerikaners schien auch ihm ungelegen zu kommen, doch nahm er schließlich die Karte, um sie dem älteren Chinesen zu geben. Dieser las den Namen, hörte das, was der Direktor ihm sagte, an, ohne eine Miene zu verziehen, und gab dann seine Einwilligung durch ein kurzes Neigen seines Kopfes zu erkennen. Das hatte ich nicht erwartet. Doch als er hierauf seine beiden kleinen, feinen Hände an den tief herabhängenden Spitzen seines Bartes herniedergleiten ließ, leuchtete aus seinen Augen ein kurzer, fast unbemerkbarer Blick zu seinem Sohne hinüber, den dieser mit einer leisen, zitternden Bewegung seines Fächers erwiderte. Ostasien kam dem Wunsch der Vereinigten Staaten jovial entgegen.
Der Direktor überbrachte die Antwort. Mary erhob sich, wie sie nicht verbergen konnte, nur höchst ungern von ihrem Platze; ihr Vater aber schritt einem Sieger gleich mit ihr an meinem Tisch vorüber, den Chinesen zu, welche langsam und feierlich aufstanden und ohne irgend eine Bewegung der Höflichkeit ihnen stumm entgegenblickten. Der Missionar verbeugte sich vor ihnen und redete sie in einer Sprache an, welche er wahrscheinlich für gutes Chinesisch hielt. Sosehr ich aufpaßte, so verstand ich nur den Namen Waller, welcher jedenfalls der seinige war, und dann noch das Wort tschui, welches »sich an Jemand anschließen« bedeutet. Als er geendet hatte, schienen die Chinesen grad auch so viel oder so wenig verstanden zu haben, denn sie gaben zunächst keine Antwort, sondern Fu deutete an Stelle derselben auf die beiden Stühle, welche Vater und Tochter einnehmen sollten. Sie setzen sich, Mary in außerordentlicher Verlegenheit. Da die Chinesen beharrlich schwiegen und unbeweglich wie Statuen saßen, so begann der Missionar, eine zweite Rede zu halten, deren Wirkung keine andere als die der ersten war, denn als er mit ihr zu Ende war, fragte Fu in einem weit besseren als dem gewöhnlichen Canton-Englisch:
»Bitte, mir zu sagen, in welcher Sprache Sie soeben zu uns gesprochen haben!«
»Es ist ja chinesisch!« antwortete der Gefragte, ganz erstaunt über diesen unvermuteten Erfolg seiner Sprachfertigkeit. »Ich habe gehört, daß Sie Chinesen sind, und hoffe sehr, daß man mir nicht falsch berichtet hat!«
»Ja, wir sind aus China; aber dieses Land ist ungeheuer groß. Wir haben es noch nicht in allen seinen Teilen bereist und sind also wohl noch nicht in der Gegend gewesen, wo man den Dialekt spricht, den Sie sich angeeignet haben. Darf ich fragen, in welchem Teil des Landes diese Gegend liegt?«
Im ersten Teile dieser Rede war Fu so rücksichtsvoll gewesen, für die Unkenntnis des Amerikaners nach einem Grunde der Entschuldigung zu suchen. Aus seiner letzten Frage aber sprach der Schalk. Ohne dies zu bemerken, antwortete der Missionar:
»Ich bin noch nicht in China gewesen und reise jetzt zum ersten Male hin.«
»So haben Sie sich diesen Dialekt auf einer Universität der Vereinigten Staaten angeeignet?«
»Nein, sondern auf eine viel leichtere und bequemere Art. Sie wissen wahrscheinlich wohl, daß wir Amerikaner praktisch sind, und es ist Ihnen auch nicht unbekannt, daß sehr viele Chinesen, fast mehr, als uns lieb ist, in unseren Staaten wohnen. In meinem Hause waren zwei beschäftigt, der eine als Wäscher und der andere als Barbier. Der Wäscher stammte aus Nord- und der Barbier aus Südchina, und da ich nicht wünschte, in Beziehung auf die Sprache einseitig ausgebildet zu sein, habe ich von Beiden Unterricht genommen.«
Hierauf trat eine momentane Stille, ja, eine Mäuschenstille ein. Die Gesichtszüge der Chinesen blieben vollständig unbewegt; aber Mary errötete bis an die Stirn hinauf. Sie ahnte wohl, wie unsterblich sich ihr Vater soeben blamiert hatte; dieser aber wendete sich ganz heiter und unbefangen dem Kellner zu, welcher ihm jetzt den nach der Suppe folgenden Gang servierte.
»Sie sind also Missionar, wie ich auf Ihrer Karte gelesen habe?« fragte Fu nach einer Weile.
»Allerdings,« antwortete der Gefragte. »Ich hoffe, daß Sie wissen, was das heißt!«
»Das heißt, Sie kommen zu uns, um unsere Religion zu studieren und sie dann in den Vereinigten Staaten zu verbreiten?«
Da legte Waller – denn dies war allerdings der Name des Missionars – schnell das Messer und die Gabel weg, warf einen Blick der Ueberraschung auf den Sprecher und antwortete:
»Ich gestehe, daß ich noch nie in meinem Leben eine so unbegreifliche Frage gehört habe! Ich bin ein Christ und habe also denjenigen Glauben, welcher der einzig wahre und richtige ist. Sie aber, der Sie sehr wahrscheinlich Confucianer sind, sollten dem Ihrigen, der ein falscher ist, entsagen und sich entschließen, ein Christ zu werden!«
»Ich bin ja Christ,« antwortete der Chinese, indem über sein Gesicht ein ungemein höfliches, ja verbindliches Lächeln glitt.
»Sie – – sind – – – Christ – – –?!« wiederholte der Amerikaner die Worte des Andern mit dem Ausdrucke des Erstaunens. »So sind Sie also schon bekehrt?«
»Bekehrt? O nein! Wozu das? Eine Aenderung des Glaubens würde vollständig überflüssig sein. Wer etwas tut, was gar nicht nötig ist, der verdient, ein Tor genannt zu werden.«
»Ich verstehe Sie nicht. Sie sind nicht bekehrt, also noch Confucianer, und behaupten doch, ein Christ zu sein. Wollen sie mir dieses Rätsel lösen!«
»Es ist kein Rätsel, sondern eine Sache, welche in China Jedermann schon längst begriffen hat. Ich bitte Sie, mir die Summe des christlichen Glaubens zu nennen!«
Mr. Waller setzte sich auf seinem Stuhle zurecht und begann zunächst, vom Sündenfalle zu sprechen. Während dessen brachte der Kellner den Chinesen die Suppe. Fu wies sie mit der kurzen Bemerkung zurück, daß er mit seinem Begleiter später oben im Zimmer speisen würde. Dann wendete er seine Aufmerksamkeit dem Yankee wieder zu. Er ließ ihn eine lange, lange Zeit sprechen, ohne ihn zu unterbrechen, und erst dann, als sich nach der Verheißung Abrahams eine Pause einstellte, sagte er:
»Ich bat Sie nicht um eine ausführliche Geschichte, sondern um die kurze Summierung Ihres Glaubens!«
»Aber Sie kennen doch unseren Glauben nicht; Sie würden mich also nicht verstehen, wenn ich Ihnen anstatt seiner ganzen Entwicklung nur eine kurze Aphorisme brächte!«
»O bitte! Was deutlich ist, kann vielleicht auch wohl von einem Chinesen begriffen werden. Christus ist der Gründer Ihres Glaubens, und Petrus wurde mir als derjenige Apostel bezeichnet, welchem die größte Macht des Christentums, das Amt der Schlüssel, übergeben wurde; Sie werden also das, was diese Beiden sagen, anerkennen. Christus gibt uns die Summe im Evangelium Johannes, wo er sagt, daß das ganze Gesetz und die Propheten in dem Gebote enthalten seien: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten! Und Petrus befiehlt in seinem ersten Briefe: »Fürchtet Gott; habt die Brüder lieb, und ehret alle Menschen!« Das ist es, was ich von Ihnen hören wollte.«
Es war interessant, jetzt das Gesicht Wallers zu sehen. Das Erstaunen über die unerwartete Belesenheit des Chinesen lag nicht nur in seinen Zügen, sondern auch in seiner ganzen Haltung deutlich ausgedrückt. Er öffnete zwar den Mund, antwortete aber nicht. Fu tat, als ob er diesen Eindruck seiner Worte gar nicht bemerke, und fuhr fort:
»Das war also die Summe Ihres Glaubens nach den Worten Christi und seines obersten Apostels. Die Summe unseres Glaubens aber lautet: »Die wahre Glückseligkeit kommt uns vom Himmel hernieder, und die Menschen sollen sie neidlos und friedlich unter sich verteilen.« Das ist doch genau dasselbe. Ihr Glaube und unser Glaube sind einander also gleich. Wenn ich dem meinigen gehorche, handle ich, wie ein Christ zu handeln hat, und wenn Sie tun, was der Ihrige gebietet, so sind Sie das, was Sie vorhin einen Confucianer genannt haben.«
Diese Art der Auffassung brachte dem Amerikaner die Sprache wieder.
»Bitte sehr!« rief er aus. »Ich, ein Confucianer! Welch eine Logik! Zwar scheint Ihnen unsere Bibel nicht unbekannt zu sein, aber Sie können unmöglich eine Ahnung von den zahllosen Verschiedenheiten haben, welche zwischen Ihrem Glauben und dem christlichen vorhanden sind!«
»Das tut nichts!« lächelte Fu. »Diese Verschiedenheiten müssen vorhanden sein, weil die Menschen verschieden sind. Ihr Christen liegt ja untereinander selbst im Streit! Es kommt nur auf den Ertrag, auf das Ende, auf den Abschluß, auf die Summe an. Wenn zwei Rechnungen genau dieselbe Summe ergeben, so ist das ein Beweis, daß beide richtig sind. Vielleicht sind einzelne Posten anders benannt; einige hier zusammengezogen, dort aber auseinander gehalten worden; die eine ist mit lateinischer Schrift, die andere in chinesischen Zeichen geschrieben; man hat die eine von links nach rechts, die andere aber umgekehrt zu lesen. Das ist Alles, Alles zwar nicht gleichgültig, aber doch nur Nebensache. Die Hauptsache ist, daß die Summen stimmen. Und wenn sie gleich sind, so ist die eine Rechnung genau so viel wie die andere wert, und keiner von Denen, die sie geschrieben haben und dem Himmel präsentieren, darf behaupten, daß die Buchführung des Anderen eine falsche sei. Sie haben gesehen, daß unsere Religionen ganz genau dieselbe Summe ergeben. Daß die einzelnen Posten geschichtliche oder nationale Verschiedenheiten zeigen, gibt der Berechnung Leben und Interesse, und es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Richtigkeit der einen Rechnung gar nicht ohne die Richtigkeit der anderen zu beweisen wäre. Indem Ihr Glaube ganz dieselben Früchte wie der unsere bringt, beweisen Sie uns, daß er auf keinem Irrtume beruht, und wir würden ebenso unhöflich wie unklug handeln, wenn wir behaupteten, daß es für Sie notwendig sei, ihm zu entsagen und sich zu dem unsern zu bekehren.«
Der Missionar war den Worten des Chinesen mit einer Aufmerksamkeit gefolgt, welche sich nach und nach immer mehr in Verwunderung verwandelte. Er hatte nicht für möglich gehalten, daß der Spieß auf eine solche Weise herumgedreht werden könne, und da es ihm an Gedanken und also auch an Worten zu einer Entgegnung fehlte, so wandte er sich in seiner Verlegenheit an seine Tochter:
»Hast du es gehört, Mary? Man ist so höflich und so klug, mich nicht bekehren zu wollen! Diese "Summe" der Religionen kommt mir ungemein verdächtig vor. Man hat darüber nachzudenken!«
»Das können Sie sich ersparen«, bemerkte der Chinese. »Christus sagt im Matthäus zweimal kurz hintereinander: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!" Die Früchte aber ergeben doch die Summe von des Baumes Tätigkeit und Wert. Sie hören, daß ich als Christ zu Ihnen spreche!«
»Aber woher kommt Ihnen denn diese Kenntnis unserer Heiligen Schrift?«
»Aus dem Gehorsam gegen unsere heiligen Schriften, welche es mir zur Pflicht machen, alle Wege kennen zu lernen, die zum Heil führen. Ueberall, wo ein Tempel oder eine Kirche steht, ist ein solcher Weg geöffnet. Der Eine geht ihn von dem Tempel, der Andere von der Kirche aus; Beide aber wandern nach derselben Stelle, wo die Ernte abzuliefern und die Rechnung vorzulegen ist.«
»Sie meinen den Tod? Aber das ewige Leben nach demselben? Die Seligkeit? Was wissen Sie von dieser?«
»Wir wissen, daß unsere Ahnen sich dort befinden, und wir verehren sie. Sie glauben, daß Ihre Seligen, Ihre Heiligen dort wohnen, und senden ihnen Ihre Gebete zu. Ist das nicht ganz dasselbe?«
»Was das betrifft, so werden Sie auf diese Ihre Ahnen wohl verzichten müssen, denn – – –«
»Müssen? Müssen?« fiel ihm da Fu schnell in die Rede.
Er sah aus, als ob er zornig aufspringen wolle. Es war gewiß, daß der Amerikaner gar nicht ahnte, wie viele Fehler er gemacht hatte. Waren ihm denn die Sitten der Chinesen wirklich so unbekannt, wie man aus seinem Verhalten schließen mußte? Dann hätte er zu Hause bleiben sollen! Oder fühlte er sich von seinem Berufe in der Weise begeistert, daß es außer seinen Bekehrungswünschen keine anderen Rücksichten für ihn gab? Oder gehörte er zu der gar nicht seltenen Sorte von Kaukasiern, welche meinen, daß die Angehörigen anderer Rassen nicht nur gegen körperliche, sondern auch gegen seelische Mißhandlungen weniger empfindlich sind als wir? Daß er in dieser Weise über die Ahnen sprach, war eine Rücksichtslosigkeit, die gar nicht größer sein konnte, und ich war überzeugt, daß die Chinesen entweder ihn von ihrem Tisch weisen oder sich selbst entfernen würden, zumal sie von ihm infolge ihrer Gebräuche gezwungen worden waren, auf das Essen zu verzichten, was er aber gar nicht beachtet zu haben schien. Doch geschah nicht, was ich vermutet hatte. Fu beherrschte sich. Er fuhr in demselben freundlichen Tone, in welchem er früher gesprochen hatte, fort:
»Wer auf seine Verstorbenen verzichtet, der ist nicht wert, daß sie für ihn gelebt haben. Er würde ja dadurch auf sich selbst verzichten, weil er sein Dasein nur dem ihrigen verdankt.«
Da traf ihn ein warmer Blick aus Marys Augen. Es war ihr wahrscheinlich nicht entgangen, daß es ihm Ueberwindung gekostet hatte, ruhig zu bleiben, und es drängte sie, ihm ein zustimmendes Wort zu sagen:
»Wer könnte einen solchen Verzicht verlangen! Wie wäre es mir möglich, der verstorbenen Mutter zu vergessen, deren Liebe mir eine ganze Welt gegeben hat! Ich kann sie mir nicht tot denken. Ich weiß, sie ist noch heut bei mir, wie sie stets bei mir gewesen ist. Der Unterschied ist nur, daß ich sie früher sah, jetzt aber nicht mehr sehen kann. Aber ich fühle sie. Seit ihrem Scheiden wohnt und wirkt in mir Etwas, was vorher nicht vorhanden war. Die, welche der Sprachgebrauch so fälschlich Tote nennt, haben vielleicht größere Macht über uns, als wir uns denken können.«
»Mary, du sprichst sehr sonderbar!« antwortete ihr Vater in verweisendem Tone.
Tsi, welcher aus Hochachtung vor seinem Vater bisher noch kein Wort gesprochen hatte, hielt die Augenlider halb gesenkt und den Kopf ihr leise zugeneigt, als ob er wünsche, daß sie weitersprechen möge. War es nur der tiefe Wohllaut ihrer Stimme oder auch der Inhalt ihrer Worte, der dies bewirkte? Fu, welcher sie nur einmal mit einem flüchtigen Blick gestreift, dann aber nicht mehr beachtet hatte, wendete ihr jetzt sein Gesicht voll zu, betrachtete das ihrige mit offenem Interesse und sagte dann in einer Weise, mit welcher er wohl noch kein chinesisches Mädchen ausgezeichnet hatte:
»Ich danke Ihnen, Miß Waller! Nichts kann so falsch sein, wie die Vorstellungen, welche man sich bei Ihnen über unsern »Ahnenkultus« macht, der aber gar kein »Kultus« ist. Man legt dabei die abergläubischen Gepflogenheiten unserer untersten Volksklasse zu Grunde, doch ist das grad und genau so falsch, als wenn wir Ihre Seligen und Heiligen mit den Augen des Gespensterglaubens betrachten wollten, der in den niederen Kreisen Ihrer Bevölkerung vorhanden ist. Es kann uns nicht einfallen, an Sie die Forderung zu stellen, auf den Himmel dieser Seligen zu verzichten; aber ebensowenig wird uns eine Macht der Erde dazu bringen, der beglückenden Ueberzeugung abtrünnig zu werden, daß auch unsere Abgeschiedenen nicht gestorben sind. Was Sie von Ihrer Mutter sagen, das klingt in meinem Herzen freudig wieder. Auch wir Chinesen haben Mütter, die in unserer Liebe noch nach dem Tode weiterleben, und ein Volk, welches seine Mütter, seine Väter, seine Ahnen nicht vergißt, wie der Europäer sie vergißt, der oft die Vornamen des Großvaters seines Vaters oder seiner Mutter nicht mehr kennt, ein solches Volk schlägt seine Wurzeln so tief in die Vergangenheit, aus der es Kraft und Nahrung zieht, daß es um seine Zukunft nicht zu bangen braucht. Nur der, welcher den geistigen Boden nicht kennt, auf dem wir leben, kann von der »Greisenhaftigkeit des gelben Mannes« sprechen. Sie sehen, der Ruf, in dem wir stehen, ist mir nicht unbekannt. Aber wer die Vergangenheit nicht achtet, der hat für die Zukunft keinen Wert. Die Stammbäume auch Ihrer alten Geschlechter sind nicht nur von genealogischer Bedeutung, sondern es steigt ein sich stets verjüngendes Leben in ihren Zellen auf und nieder, und in ihrem Schatten können sich alle Jene sammeln, welche ihren inneren Zusammenhang mit der Nation verloren haben, weil sie ihre Zugehörigkeit zum Stamm nicht pflegten und nun nur verwehte Blätter längst entlaubter Bäume sind, Völkerhumus, in welchem das Gedächtnis so manches edlen Geistes und so mancher schönen Tat den Erstickungstod gefunden hat. Eines solchen Todes haben wir Chinesen das Andenken Derer, von denen wir stammen und deren geistige Hinterlassenschaft wir zu pflegen und zu wahren haben, nicht sterben lassen. Wir sind uns des Zusammenhanges mit ihnen bewußt; wir gedenken ihrer; wir feiern ihre Erinnerungstage, und wenn dies von dem gewöhnlichen Manne, der für geistige Opfer und Liebesgaben kein Verständnis hat, in mehr materieller Weise geschieht, als es eigentlich im Sinne dieser Ehrung der Vorfahren liegt, so wird doch nur Jemand, dem es an Einsicht fehlt, behaupten können, daß es sich um eine abergläubische Verirrung oder gar um eine Abgötterei handele, durch welche unsere Intelligenz sich bis auf unter Null herabgesunken zeige. Sie sind eine Dame, Miß Waller, und halten das Andenken Ihrer Mutter heilig; ich bin ein Mann und sage, wir bleiben dem Gedächtnisse unserer Väter treu. Ist das nicht ganz dasselbe? Wollten Sie mich verurteilen, so müßte ich auch Ihnen Unrecht geben, und ich denke doch, daß weder Sie noch ich eine Ursache haben, uns in dieser Weise wehe zu tun!«
Er hielt ihr seine Hand hin, und sie legte, froh über diese Vertraulichkeit errötend, die ihrige hinein. Ich muß gestehen, daß der Chinese mich, so zu sagen, gefangen genommen hatte. Nicht nur Alles, was er tat und was er sagte, sondern auch wie er es tat und wie er es sagte, war so aristokratisch, so vornehm, ohne jedoch gekünstelt oder überhaupt gemacht zu sein. Er hatte jene seltene Art, zu sprechen, welche bei dem Zuhörer die Ueberzeugung erweckt, daß es gar nicht anders und besser gesagt werden kann, als es gesagt worden ist. Ich stand nicht an, ihn für einen Mann zu halten, welcher im stande war, das, was er beabsichtigte, mit kühlster Ueberlegung zu berechnen, und doch hatte er auch einen so warmen, so aufrichtigen Herzenston, daß mir es gar nicht als schwer erschien, ihm Liebe und Vertrauen zu schenken. Er war Krystall. Ich finde kein Wort, den Eindruck, den er auf mich machte, deutlicher zu bezeichnen. Und was für Kenntnisse mußte dieser Mann besitzen! Wenn ich jemals einen Menschen getroffen hatte, welcher genau wußte, was er wollte, und auch das Zeug dazu hatte, es zu wollen, so war es dieser Chinese hier, der sich so einfach Fu nennen ließ!
Als er der Dame seine Hand gereicht hatte, erhob er sich, um den Speisesaal zu verlassen. Sein Sohn folgte dem Beispiele des Vaters, der Miß seine Rechte hinzustrecken.
»Ich danke Ihnen auch,« sagte er. »Halten Sie uns nicht für gelber und für sonderbarer, als wir wirklich sind!«
Vor ihrem Vater verbeugten sie sich nur; dann gingen sie fort. Er sah ihnen nach, bis sie verschwanden; dann meinte er, mit der Hand über das Tischtuch streichend:
»Weg! Aufgeblasenheit und Mangel an Einsicht! So, genau so sind die Völker kurz vor ihrem Untergange! Wie soll man solche Leute fassen? Wenn der Heide behauptet, ein Christ zu sein, ist jedem Versuche, ihn zu bekehren, die Kraft genommen!«
»Ich fürchte, Vater, daß Fu nicht der einzige Chinese sein wird, von dem du diesen Einwand hörst,« bemerkte die Tochter.
»Pshaw! Laß uns nur erst in China sein! Ich werde von Tempel zu Tempel ziehen und meine Stimme erschallen lassen, daß die Götzen, die rings an den Wänden stehen, zittern! Du weißt ja, daß mir die Macht des Wortes gegeben ist, welches Felsen zerschmettert! Man wirft uns Amerikanern in neuerer Zeit den Cäsarismus vor. Nun wohl, wir bekennen uns zu ihm. Und wie auf äußerem Gebiete, so wollen wir auch auf dem Gebiete des Glaubens Herrscher sein! Schau in die Weltgeschichte der neuen Zeit! Ueberall, wo eine Eroberung gemacht worden ist, sind ihr die Boten des Christentums vorangegangen. Wir sind die kühnen Pioniere der geistlichen und infolgedessen auch der weltlichen Macht. Die Diplomatie der Vereinigten Staaten richtet schon seit einiger Zeit ihren Blick über den Stillen Ozean. Wir haben uns auf Inseln festgesetzt; es gilt, nun auch in China besser Position zu nehmen, als es bisher geschehen ist. Ich werde an dieser Aufgabe arbeiten und glaube, nicht der unrichtige Mann dazu zu sein!«
»Aber, Vater, Liebe, bitte, mehr Liebe mußt du zeigen!«
»Bemühe dich nicht, klüger zu sein, als dein Vater ist! Es haben die Tempel der Heiden in aller Welt zu fallen. Ihre Säulen müssen zerstört und ihre Mauern eingestürzt werden. Es darf keinen Allah und keinen Muhamed, keinen Zoroaster, keinen Brahma, keinen Confucius und Mencius mehr geben!«
Er sprach erregt, erregter, als der öffentliche Ort, an dem er sich befand, es eigentlich erlaubte. Sie legte ihm begütigend die Hand auf den Arm und bat:
»Sprich leiser! Du bist so unruhig jetzt, gar nicht so still und heiter, so überlegend und bedächtig, wie du warst, solange die Mutter lebte. Ich hoffte, daß die Reise dich zerstreuen werde; aber die »Heidentempel« kommen dir fast gar nicht mehr aus dem Sinn.«
Sie sprach so eindringlich und so ernst, und ihr Auge hatte dabei einen so tiefen, dunklen Blick. Sie schien noch besorgter zu sein, als sie sich merken lassen wollte. Die Wirkung ihrer Worte war keine nachhaltige. Ein Weilchen war er still oder sprach wenigstens in so gedämpftem Tone, daß ich ihn nicht verstehen konnte. Aber bald war er wieder so deutlich wie vorher geworden. Und, sonderbar, die Heidentempel bildeten das Thema, auf welches er so oft wie möglich zurückzukommen strebte, obgleich Mary sich Mühe gab, ihn immer wieder davon abzubringen. War dies nichts Anderes zu nennen, als nur ein bevorzugter Gesprächsgegenstand? Ließ es sich einfach nur aus seinem Beruf als Missionar erklären, daß dieses Wort sich in seinem Ideenkreise so fest eingenistet hatte? Oder sollte – –? Nein! Den Gedanken an eine geistige Störung mußte ich in Rücksicht auf eben diesen Beruf von mir weisen. Wer nach China geht, um »Heiden zu bekehren,« bei dem ist doch wohl eine vollständig gesunde Psyche vorauszusetzen. Jedenfalls aber war im Verlaufe dieses Abendessens mein Interesse nicht nur für die beiden Chinesen, sondern auch für den Amerikaner und seine Tochter um ein Bedeutendes gesteigert worden.
Nach Tische ließ ich mir den Kaffee, wie gewöhnlich, hinaus auf den elektrisch beleuchteten Vorplatz bringen und saß noch kaum einige Minuten da, als Waller und Mary das Hotel verließen, um einen Spaziergang zu machen. Sie kamen nahe an mir vorüber und – ob ich mich irrte, weiß ich nicht, aber es war mir, als ob er schon wieder über irgend einen Tempel mit ihr spreche.
Sejjid Omar, der Eselsjunge, stand drüben auf seinem Platze. Nach einiger Zeit band er seinen Esel an und kam herüber bis an die breiten Aufgangsstufen, welche Dienstpersonen, die nicht in das Hotel gehören, nicht ohne Erlaubnis betreten dürfen. Als er den dort befindlichen zweiten Portier um diese Erlaubnis bat, sah ich, daß er nach mir herüberzeigte. Sie wurde ihm gewährt, und dann kam er auf mich zugeschritten, langsam und würdevoll wie ein Ambassadeur des Padischah von Stambul. Vor mir stehenbleibend, kreuzte er die Hände auf der Brust, verbeugte sich und grüßte:
»Guttakk!«
Ich sah ihn fragend an und antwortete nicht.
»Guttakk!« wiederholte er, und als ich auch dann noch nichts sagte, besann er sich eines Besseren und fügte noch eine Silbe hinzu: »Guttertakk!«
Er hatte »Guten Tag!« gemeint.
»Iis'id masak!« antwortete ich, ihm dadurch andeutend, daß er arabisch sprechen solle, weil meine Sprachkenntnisse für sein Deutsch nicht ganz ausreichend seien. Da er hörte, daß ich seiner Muttersprache mächtig war, holte er erleichtert Atem und erkundigte sich:
»Ich bin Sejjid Omar. Welchen Titel soll ich dir geben, wenn ich mit dir spreche?«
»Man hat mich stets Sihdi genannt,« antwortete ich.
»Nun wohl, Sihdi; ich hörte von dem Kellner, der dich auf deinem Zimmer bedient, daß du eine sehr lange und sehr weite Reise machen willst und einen arabischen Diener brauchst, der dich begleiten soll. Es haben sich schon Viele gemeldet, doch Keiner hat dir gefallen. Wenn Allah will und du stimmst bei, so gehe ich mit dir.«
Es war so, wie er sagte. Ich wollte zunächst nach dem Sudan hinauf; und deshalb mußte der Betreffende arabisch sprechen können.
»Wie kommst denn du dazu, dich mir anzubieten?« fragte ich. »Bringt dir dein Esel zu wenig Geld ein? Gefällt es dir nicht mehr in Kairo?«
»Ich habe mein gutes Auskommen und bin mit dieser meiner Vaterstadt zufrieden. Ich wäre nie von hier fortgegangen, aber mit dir möchte ich gern reisen, weil ich dich liebgewonnen habe.«
»Liebgewonnen? Weshalb?«
»Aus vielen Gründen. Ich sah, daß du mich beobachtetest, und erkundigte mich nach dir. Einer kannte dich. Du bist nicht zum ersten Male hier und nennst dich im Hotel ganz anders, als du heißest, weil du Bücher schreibst, die von den Leuten gelesen werden, welche dann zu dir gelaufen kommen und dich stören. Das willst du nicht. Ich soll den, der mir das sagte, nicht verraten; er reitet oft auf meinem Esel und hat gemeint, du seist zwar ein Christ, müssest aber ein besonderer Liebling Allahs sein; er wisse das genau, denn er habe alle deine Karten gelesen; die Briefe dürfen leider nicht geöffnet werden.«
»Ach! Es ist der alte Ibrahim Effendi auf der Post, der mich freilich schon seit langer Zeit kennt.«
»Maschallah! Wie kannst du das erraten?«
»Du hast von Karten und Briefen gesprochen; er pflegt sie mir gern selbst zu bringen. Was deinen Wunsch betrifft, so komm morgen früh um acht Uhr auf mein Zimmer. Ich werde dir Bescheid sagen. Jetzt kannst du gehen.«
Er verbeugte sich, grüßte und ging, kehrte aber nach einigen Schritten wieder um und sagte:
»Sihdi, ich will dir meine Bedingungen lieber gleich jetzt sagen!«
»So? Du hast Bedingungen?«
»Ja. Ich werde dir ein treuer, zuverlässiger Diener und du wirst mir ein strenger, aber guter Herr sein. Ich weiß das ganz genau, denn ich will dir gestehen, daß Ibrahim Effendi mir mehr von dir erzählt hat, als du denkst. Du zahlst mir, was du willst; ich bin zufrieden. Du kannst von mir verlangen, was du willst, ich werde es tun. Aber verlange nichts, was gegen meinen Glauben ist; laß mich keines meiner Gebete je versäumen, und sprich nie von deiner Religion! Ich liebe dich, aber ich liebe nicht das Christentum. Leletak sa'ide – deine Nacht sei gesegnet!«
Nach diesen Worten drehte er sich um und entfernte sich. Man denke ja nicht, daß ich die Pflicht gehabt hätte, ihm wegen der an mich gestellten Wünsche zu zürnen. Sie waren nicht so unbegründet, wie man vielleicht denken mag. Um dies einzusehen, muß man wissen, von welcher Art die Christen sind, auf die sich Omars Worte bezogen.
Da sind zunächst die Touristen. Man gehe einmal durch die Scharia Bab el Hadid nach dem Bahnhofe, um diese Leute bei ihrer Ankunft aussteigen zu sehen. Sie kommen eigentlich nicht, sondern sie werden gebracht; sie steigen nicht aus, sondern sie werden ausgestiegen. Sie bilden Cook- oder Stangen-»Herden«, welche sich jeder Selbständigkeit begeben und ihren Hirten zu parieren haben. Sie sind nicht mehr Personen oder gar Individualitäten, sondern einfach Gegenstände des betreffenden Reisebureaus. Im Bahnhof aus- und vor den Hotels wieder abgeladen, haben sie die Zimmer zu nehmen, die man für sie bestimmt, zur vorgeschriebenen Zeit zu essen und zu schlafen, um zwischen diesen Zeiten truppweise auf die touristische Weide getrieben zu werden. Sie machen den Eindruck der Unwissenheit und der Hilflosigkeit, und jeder Eingeborene, dessen Dienste sie in Anspruch nehmen müssen, hält es für sein gutes Recht, ihre Unkenntnis möglichst auszubeuten. Sie mögen sich nun gegen ihn verhalten, wie sie wollen, höflich oder grob, freigebig oder nicht, auf alle Fälle betrachtet er sie als Personen, die sich mit ihm nicht messen können und deren Heimat eine so traurige ist, daß sie weite und kostspielige Reisen machen müssen, um einmal etwas Schöneres und Besseres zu sehen. Er sieht und hört ihre laute Bewunderung für Alles, was für ihn zu den Alltäglichkeiten gehört; er wird von ihnen als halbes Wunder photographiert; er steht dabei, wenn sie bei ihren Einkäufen für Dinge, welche aus Deutschland kommen und dort eine Mark kosten, vielleicht den zehnfachen Preis bezahlen; kurz, was sie ihm einflößen, ist nichts weniger als das Gefühl der Hochachtung, und wenn sie von Jedermann mit den Worten »Bakschisch« angerufen und verfolgt werden, so dürfen sie sich nicht etwa denken, daß man unter dieser »Gabe« ein unverdientes Almosen versteht, sondern sie als einen Tribut betrachtet, welchen der Einheimische zu fordern berechtigt und der Fremde aber zu geben verpflichtet ist. Ich habe noch keinen Wirt, Händler, Führer, Dolmetscher und Eselsjungen gesehen, der nicht überzeugt gewesen ist, diesen ihrem Erklärer immer hilflos nachlaufenden Christen weit, weit überlegen zu sein. Und dieses Urteil ist stets ein verallgemeinerndes. Der Orientale braucht nur einen einzigen Punkt zu bemerken, in Beziehung auf welchen er dem Abendländer über ist, so steht sofort in ihm die Ueberzeugung fest, daß dieser Vorzug auch in jeder anderen Hinsicht vorhanden sei. Natürlich wird diese falsche Annahme vor allen Dingen auch auf den Glauben ausgedehnt. Der Tourist, besonders der sogenannte »Herdentourist«, hat seine Individualität daheim gelassen und bringt nichts als nur seine Neugierde und seinen Geldbeutel mit; er ist ein personifiziertes Bakschisch, welches das Abendland dem Morgenlande bringt. Dieses Bakschisch zieht dort den Betrug, die Habsucht und die Lüge groß, fließt meist in die Kassen nicht einheimischer Geschäftsleute und bringt dem eigentlichen Oriente wohl keinen, am allerwenigsten aber einen geistigen Nutzen. Seine Seele aber bleibt nicht unberührt.
Das Sträuben Sejjid Omars war nichts als eine Aeußerung dieser Seele, welche sich dagegen empört, ihre Heiligtümer der fremden Neugierde gegen ein Trinkgeld von einigen Halbpiastern preiszugeben. Und es fand seine mehr als genügende Begründung in dem moralischen Werte oder Unwerte desjenigen Christentums, welches er kennen gelernt hatte.
Wer ein scharfes, offenes Auge besitzt, der wird von Alexandrien und Port Said oder Suez an bis nach Assuan hinauf in unzähligen Fällen die Behauptung bestätigt finden, daß überall, wo von einem Gewinn um jeden Preis die Rede ist, ein Christ die Hand im Spiele hat. Zwar handelt es sich da meist nur um griechische, levantinische oder überhaupt morgenländische Christen, aber dem Mohammedaner ist dieser Unterschied nicht geläufig; Christ gilt als Christ bei ihm, und der abendländische hat es sich zunächst gefallen zu lassen, daß er genau so wie der orientalische beurteilt wird. Sejjid Omar war kein dummer Mensch; er hatte sogar, wie ich später erfuhr und was bei den dortigen Verhältnissen selbst für Eselsjungen möglich ist, einige Jahre lang in der Azharmoschee Theologie studiert, doch mangelte auch ihm die nötige Einsicht, Christ von Christ zu unterscheiden. Lernte er in einem Christen zugleich auch einen guten Menschen kennen, so lag die einzige Lösung dieses Rätsels für ihn in der Annahme: »Er muß, obgleich ein Christ, ein Liebling Allahs sein, denn Allahs Sonne scheint ja auf die, die sich von ihm gewendet haben.« Die Bedingungen, welche er mir gestellt hatte, konnten mich keineswegs abhalten, ihn zu engagieren; sie bildeten vielmehr eine Empfehlung für ihn. Wer das, was ihm heilig sein soll, nicht achtet, wird höchst wahrscheinlich kein treuer, zuverlässiger Diener sein. Ich nahm mir vor, zunächst seine Sattelfestigkeit auf dem Pferde zu prüfen und zu diesem Zweck morgen mit ihm nach Gizeh und dann nach Sakkara zu reiten. Mancher Eselsjunge, welcher wahre Kunstreiterstückchen ausführt, ist aber, solange er lebt, nicht auf ein Pferd gekommen und mit der Behandlung desselben vollständig unbekannt. Ich brauchte einen Diener, der sich vor monatelangem Reiten auf jeder Art von Pferden nicht zu fürchten hat.
Kurz nachdem Omar bei mir gewesen war, ging ich auf mein Zimmer, um noch ein Stündchen zu arbeiten, brachte aber nichts fertig, denn die vier Personen an meinen Nachbartischen kamen mir nicht aus dem Sinne. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu ihnen und ihrem Gespräch zurück, und besonders war es der Missionar, der mich in Anspruch nahm, weil ich mir das unerlaubt selbstbewußte Gebaren eines Mannes nicht erklären konnte, dessen Beruf ihn das Wort des Jesaias hätte beherzigen lassen sollen, daß die Schritte der Boten, welche auf den Bergen Gottes den Frieden predigen und das Heil verkündigen wollen, leise und lieblich zu klingen haben. Ich ließ also Papier, Tinte und Feder sein und legte mich schlafen.
Ich schlief auch bald ein; aber die Gedanken waren nicht auch eingeschlafen; sie beschäftigten mich im Traume fort. Ich sah diesen Mr. Waller die verschiedensten und unglaublichsten Arbeiten verrichten, die aber alle zerstörend waren. Er riß Häuser ein, stürzte Pfeiler um, schlug Bäume nieder und hatte stets und stets eine Axt, ein Brecheisen oder sonst ein derartiges Werkzeug in der Hand. Ich sah Kruzifixe stehen, Kapellen, Kirchen, griechische, indische, assyrische Tempel, Moscheen, Statuen von heidnischen Göttern und christlichen Heiligen; er schlug sie alle, alle nieder, ohne das Christliche zu schonen. Er arbeitete wie ein Verrückter, im Schweiße seines Angesichts, bis eine Stimme donnernd rief: »Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich!« Da brach er zusammen, und ich erwachte.
Der Mond schien so hell, daß alle Gegenstände, auch die kleinsten, zu unterscheiden waren, zur offenen Balkontür herein, und ich war so froh, daß ich nur geträumt und nicht etwas Wirkliches gesehen hatte. Dennoch dachte ich darüber nach. Der Saulusruf paßte nicht für einen christlichen Missionar, aber wer kann von einem Traume die Ueberlegung verlangen, ob das, was er bringt, auch passend sei! Ich hoffte, bald wieder einzuschlafen, und schloß die Augen wieder zu, mußte aber gleich wieder an den Traum und seine zertrümmerten Tempel und Kirchen denken. Da stieg ein warnendes Wort und noch eins in mir auf; beide gestalteten sich zum Verse, dem sich ein zweiter, dritter und dann auch vierter zugesellte; sie fügten sich zur gereimten, vierzeiligen Strophe zusammen, und ich stand auf, um sie niederzuschreiben. Ich hielt diese Strophe für geeignet, den Anfang eines Gedichtes zu bilden, welches später in meine »Himmelsgedanken« aufgenommen werden konnte. Als ich im Mondscheine die Zeilen auf das Papier geworfen hatte, legte ich mich wieder nieder. Die Nachtluft war nach dem Khamsin des vorigen Tages so erquickend kühl, ein Hochgenuß, den man im Schlaf nicht mehr bewußt genießen kann, und so nahm ich mir vor, zu der aufgezeichneten Strophe noch eine zweite, dritte und vierte zu schreiben. Ich zerlegte den Hauptgedanken in seine Teile und sann über die Verbindung zwischen ihnen nach, um zu einer festen, logisch klaren Disposition zu kommen; aber der unverwüstliche, alte und wohlbekannte Papa Morpheus schien sich aus den Tempeltrümmern meines Traumes heraus- und über mich hergemacht zu haben, und er wurde mit mir eher fertig, als ich mit meiner Disposition. Und er gab mich für dieses Mal nicht eher frei, als bis ein lautes Klopfen an meiner Tür ihn zwang, von mir hinweg und nach Griechenland zu eilen, wo im »hohen Olymp« noch einige unbeschädigte Tempel stehen sollen, welche die Nachwelt als Auszüglerwohnungen oder Altenteil der einst dort Thronenden zu respektieren hat.
Ich sah nach der Uhr. Punkt acht! O wehe! Wahrscheinlich stand Sejjid Omar schon draußen!
»Istan'ni schubai'je – warte ein wenig!« rief ich so laut, daß er es hören konnte, und machte mich schnell fertig, ihn hereinzulassen.
Obgleich ich mich im Zimmer befand, bemerkte ich, daß der Khamsin heut noch schärfer wehte als gestern, wenn auch jetzt am Vormittage noch nicht mit der erst später zu erwartenden Hitze. Als ich das Zeichen gab, daß der Wartende kommen könne, trat er ein. Ja, es war Sejjid Omar. Er hatte sein bestes Gewand angelegt und den Turban aufgesetzt, während er für gewöhnlich den roten Tarbusch trug. Das geschah in der Absicht, mir zu zeigen, daß die zu besprechende Angelegenheit für ihn eine ungewöhnlich wichtige sei. Nach Art der Araber, welchen bei dem hiesigen Klima ein Verschließen der Wohnräume nicht geläufig ist, ließ er, als er hereingekommen war, die Tür weit offen stehen. Draußen auf dem Korridore stand wahrscheinlich ein Fenster auf, und da meine Balkontür auch offen war, so entstand ein Luftzug, dessen plötzlicher Stoß so stark war, daß er die auf dem Tisch liegenden Papiere emporhob und eines derselben hinaus auf den Balkon führte, wo es zwar zunächst liegen blieb, aber so lebhaft bewegt wurde, daß es jeden Augenblick weiter fliegen konnte. Omar sprang sofort dienstfertig hinaus. Er hob es auf, betrachtete es und warf es dann in die Luft, die es wirbelnd mit sich nahm.
»Es stand wohl nichts darauf?« fragte ich.
»O ja, es war beschrieben,« antwortete er.
»Aber, warum hast du es da nicht hereingebracht, sondern weggeworfen?«
»Es war ja nicht arabisch!«
Er sagte das im Tone der unendlichsten Selbstverständlichkeit, daß alles nicht arabisch Geschriebene für das ganze Reich der Schöpfung vollständig gleichgültig und wertlos sei. Dabei lag auf seinem Gesichte eine solche Befriedigung, als ob es für mich gar keine Möglichkeit gebe, hierüber anders als er zu denken.
»Höre, Omar,« belehrte ich ihn, »ich schreibe deutsch, aber trotzdem ist Alles, was ich geschrieben habe, mehr wert, als wenn zum Beispiel du es arabisch geschrieben hättest. Auch das Papier kostet Geld, und dieses Blatt gehörte mir, aber nicht dir. Wie kommst du dazu, es wegzuwerfen? Wenn ein Franzose dich mit einem goldenen Napoleon bezahlt, wirfst du diesen auch weg, nur weil die darauf zu lesende Schrift nicht arabisch ist?«
Er errötete, was seinem Gesichte bei dessen dunklem Teint eine eigentümliche Färbung gab, ließ die Arme wie ganz kraftlos sinken und hielt den Blick zu Boden gerichtet. Er besaß ein sehr stark entwickeltes Ehrgefühl, und mein Verweis wirkte bei ihm tiefer, als er bei einem andern gewirkt hätte.
»Sihdi, was soll ich sagen!« stieß er hervor. »Es ist der Wunsch meines Herzens, dein Diener werden zu dürfen, und jetzt, wo ich es noch gar nicht bin und dich noch nicht einmal begrüßt habe, mache ich mich schon eines solchen Fehlers schuldig! Kannst du denn deine Bücher nicht arabisch schreiben, damit ich, wenn ich die Blätter liegen sehe, gleich lesen kann, ob sie wichtige sind oder ob ich sie wegwerfen darf?«
»Du hast in Zukunft nichts, gar nichts wegzuwerfen, sondern grad die von mir beschriebenen Blätter mit der größten Sorgfalt zu behandeln! Sie sind mehr Geld wert, als du denkst!«
»Maschallah! So habe ich Geld weggeworfen?«
»Wahrscheinlich. Ich werde dann nachsehen, was mir fehlt.«
»So verzeihe mir, Sihdi! Oder, ich werde auch etwas auf ein Blatt schreiben; das wirfst du weg, und dann sind wir quitt!«
Das war im vollsten Ernst gesagt. Ich konnte natürlich gar nicht anders, ich mußte herzlich lachen. Das gab ihm wieder Mut. Er hob die Arme und den Blick wieder empor und fragte:
»Was hast du über meinen Wunsch, mit dir zu gehen, beschlossen?«
»Kannst du reiten?«
»Ja.«
»Auch zu Pferde?«
»Ja; prüfe mich! Ich weiß vom alten Ibrahim Effendi, was für Ritte du schon hast machen müssen. Du wirst mich brauchbar finden.«
»So komm am Nachmittag um drei Uhr wieder. Ich werde Pferde besorgen. Wir reiten nach Gizeh und morgen nach Sakkara, Bedraschehn und vielleicht auch nach Heluan. Aber denke nicht, daß wir uns auf Touristenwegen halten werden! Wie du reitest, und wie bald oder spät du ermüdest, davon wird es abhängen, ob dein Wunsch erfüllt wird oder nicht.«
Da holte er tief Atem und versicherte in frohem Tone:
»Hamdulillah!. Ich werde dein Diener sein; ich weiß es ganz gewiß! Hast du jetzt noch einen Befehl für mich?«
»Nein. Du kannst gehen.«
»Allah jesallimak – Gott segne dich!«
Er griff nach meiner Hand, beugte sich zu ihr nieder und drückte sie an seine Lippen. Das geschah in einer Weise, der man es ansah, daß ihm diese herzliche Art der Ehrenerweisung ganz und gar nicht geläufig sei. Ich war geneigt, sie ihm hoch anzurechnen. Wenn ein Araber, der so wie dieser Sejjid Omar um die Erfüllung seiner religiösen Pflichten besorgt ist, einem Christen die Hand küßt, so ist ganz gewiß sein Herz dabei im Spiele. Daß Omar ein gewöhnlicher Eseltreiber war, kann nichts an dieser Sache ändern; da gibt es keinen Unterschied, sondern da handelt der Niedrigste genau so wie der Höchste. Aber wie kam gerad ich, der ich doch vor gestern abend nie mit ihm gesprochen hatte, zu dieser ganz besonderen Zuneigung? Der alte Ibrahim Effendi kannte mich ziemlich genau und mochte viel von mir erzählt haben; aber auch das war für mich noch kein hinreichender Grund. Wahrscheinlich lag dieser in irgend einem Umstande, den ich gar nicht beachtet und also wohl vergessen hatte.
Als er fort war, sah ich nach den Papieren auf dem Tisch. Zunächst glaubte ich, daß kein beschriebenes fehle; dann aber dachte ich an die vier Zeilen, welche ich heute Nacht geschrieben hatte, und bemerkte nun, daß diese fehlten. Das war mir fatal, denn ich konnte nun nachdenken, soviel ich wollte, so war es mir unmöglich, mich der Strophe so, wie sie gewesen war, genau zu entsinnen. Ich erinnerte mich zwar des Hauptgedankens, daß es dem Christen nicht zieme, Tempel zu entweihen, da selbst auch dem heidnischen Götterdienste eine von der Erde emporhebende Idee zu Grunde liege, welche zu achten sei und nicht entheiligt werden dürfe; aber dieser Sinn wollte absolut nicht so leicht, ungezwungen und rein in die Reime fließen, wie er es in den verloren gegangenen Zeilen getan hatte.
Ich trat also hinaus auf den Balkon, von welchem man den ganzen, großen Vorplatz übersehen konnte; aber es war leider nirgends ein Papier zu sehen. Der kräftige Wind hatte es wohl in die Scharia Kahmel oder hinüber nach dem Platze Ibrahim Pascha getrieben.
Nun ging ich hinunter, um das Frühstück einzunehmen . Im Büro ließ ich nach dem Menahouse-Hotel in Gizeh um das Zimmer telephonieren, welches ich zu bekommen trachte, sooft ich draußen bin. Es führt aus demselben eine gut verschließbare Türe direkt ins Freie, so daß man zu jeder Tages- und auch anderer Zeit nach den Pyramiden gehen kann, ohne von den anderen Gästen beachtet zu werden oder den Schließer belästigen zu müssen. Es wurde mir zugesagt.
Im Speisesaale angekommen, sah ich, daß die Chinesen schon gefrühstückt haben mußten. Sie waren nicht da, aber das gebrauchte Geschirr stand noch auf ihrem Tische. An dem zu meiner andern Hand saß Mr. Waller ganz allein. Er hatte die leere Tasse vor sich, sah höchst gelangweilt aus und schien auf seine Tochter zu warten. Als der Kellner mich bediente und dabei an ihm vorüberging, fragte er ihn nach Monsieur Fu und Monsieur Tsi.
»Stehen eben im Begriff, abzufahren,« lautete die Antwort.
»Was? Sie reisen ab?«
»Nein. Sie bleiben noch für längere Zeit hier, um die Umgebung Kairos ebenso genau wie die Stadt selbst kennen zu lernen. Heut wollen sie nach Gizeh. Sie schlafen in Menahouse und gehen morgen nach den Pyramiden von Sakkara.«
Das interessierte nicht nur den Missionar, sondern auch mich. Ich hatte also Gelegenheit, sie heut und morgen an den angegebenen Orten zu sehen, und nahm mir vor, einer etwaigen Gelegenheit, mit ihnen dort zu verkehren, nicht aus dem Wege zu gehen.
Nach einiger Zeit kam Mary, und ihr Vater ließ servieren. Ich erfuhr, ohne die Absicht zu hegen, sie zu belauschen, daß die Miß von einem Ausgange zurückkehrte . Sie hatte einige kleine Einkäufe gemacht. Als die Gegenstände betrachtet worden waren, teilte ihr der Vater mit, daß die Chinesen nach den Pyramiden seien, und fragte sie, ob sie nicht Lust habe, heut auch hinauszufahren. Sie schien nicht sehr dafür gestimmt zu sein, vermutlich aus Rücksicht auf Fu und Tsi, auf welche es ihr Vater wahrscheinlich wieder abgesehen hatte; aber sie war gewöhnt, sich seinen Wünschen zu fügen, und so beschlossen sie, seinen Gedanken auszuführen und gleich nach Tisch und trotz der dann großen Hitze hinauszufahren.
Die üble Laune Mr. Wallers schien durch diese Fügsamkeit der Tochter gehoben worden zu sein. Er begann, gesprächiger zu werden, und nun, wo ich meine Aufmerksamkeit nicht zu teilen brauchte, wie gestern, fiel mir an ihm ein eigentümliches, nervöses, ich möchte fast sagen ängstliches Springen von einer Idee auf eine andere, ihr völlig fremde, auf. Es war, als ob sich seine Psyche auf der Flucht vor einer anderen, aber auch in ihm lebenden, befinde. Das war ein ruheloses Haschen und Jagen von einem Gegenstande zum andern. Er erwähnte seine verstorbene Frau, die er sehr lieb gehabt zu haben schien, auffällig oft und unterließ es natürlich nicht, auch von seiner zukünftigen Missionstätigkeit zu sprechen. Als ihn das mit unfehlbarer Sicherheit auf die einzustürzenden Säulen und Tempel brachte, fiel ihm die Tochter in die Rede. Sie griff in die Tasche, zog ein zusammengefaltetes Papier heraus und sagte:
»Ich habe dir etwas mitzuteilen, was hierauf Bezug hat, lieber Vater. Du sagst, daß Alles, was an eine andere Verehrung als unseres christlichen Gottes erinnere, fallen müsse, und magst vielleicht recht haben. Mir ist, wie du weißt, dieser Gedanke als zu streng erschienen, denn ich halte diesen Dienst für das ganz natürliche und noch unbewußte Lallen der Menschheit in ihrem frühesten Kindesalter. Nun habe ich hier einige Zeilen, die sich in ganz eigener Art und Weise mit dieser unserer Streitfrage beschäftigen.«
»Wer hat sie geschrieben?«
»Das weiß ich nicht.«
»Also wohl gedruckt? Ein Blatt aus einem Buche?«
»Nein. Es ist geschrieben; eine vierzeilige Strophe, welche ich für den Anfang eines Gedichtes halte.«
»Du mußt doch wissen, von wem du sie hast!«
»Vom Winde!« lachte sie mit ihrer lieben, tiefen Stimme, indem sie das Blatt hoch emporhob und die Bewegungen nachahmte, mit denen ihr das Papier zugeflogen war. »Als ich vorhin fortging, brachte er es mir zugetrieben und legte es mir fast gerad vor die Füße hin. Ich hob es auf, da es so rein und sauber war, und las die Zeilen, welche darauf stehen. Denke dir meine Verwunderung, als ich sah, daß sie sich gerad mit deinem Hauptthema beschäftigen. Willst du sie hören?«
Er nickte und sie las:
»Tragt Euer Evangelium hinaus,
Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden,
Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus,
So stehe es für Euch im Völkerfrieden!«
Sie hatte langsam und so gelesen, daß man hörte, ihr Herz stimme diesen Worten bei. Dann blickte sie ihren Vater fragend an. Wenn ich der Ansicht gewesen war, daß er aufbrausen werde, so hatte ich mich geirrt. Er saß still, ganz still da und sagte zunächst kein Wort. Dann legte er die Hände auf der Kante des Tisches zusammen und forderte sie in beinahe bittendem Tone auf:
»Lies noch einmal, Mary!«
Sie folgte seiner Aufforderung:
»Tragt Euer Evangelium hinaus,
Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden,
Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus,
So stehe es für Euch im Völkerfrieden!«
Und wieder wurde es still. Mary sah, daß diese ihr vom Winde zugewehten Zeilen auf ihren Vater eine Wirkung ausübten, die sie wohl nicht erwartet hatte, und hütete sich, diese Wirkung zu unterbrechen. Und er saß mit gefalteten Händen da, ohne sich zu bewegen. Seine Augen sahen geradeaus, wie in eine weite, nur ihm bekannte Ferne. Im Saale ging und kam man hin und her; Tassen und Teller klirrten, Messer und Löffel klapperten; es wurde viel und laut gesprochen, doch das Alles schien ihn nicht zu stören. Er beachtete nicht, daß das Frühstück noch fast unberührt vor ihm stand, denn er hatte bisher weit mehr gesprochen als gegessen oder getrunken. Er hörte es auch gar nicht, daß der Kellner, an ihm vorüberstreichend, ihn nach etwaigen Wünschen fragte. Er schien, mit einem bezeichnenden Worte gesagt, geistig vollständig abwesend zu sein.
War ich überrascht gewesen, das verloren gegangene Blatt in Marys Hand zu sehen, so war ich es nun fast noch mehr über den Eindruck, den es gerad auf den Mann machte, welcher die eigentliche Ursache war, daß ich es beschrieben hatte. Es war ganz selbstverständlich, daß ich schweigen, am allerwenigsten aber es zurückverlangen würde. Ich hatte ja nun seinen Inhalt wieder, den ich mir nicht einmal zu notieren brauchte, denn das zweimalige Vorlesen war mehr als hinreichend, ihn mir so einzuprägen, daß ich ihn nicht wieder vergessen konnte.
Da endlich regte sich der Amerikaner wieder. Er sah sich im Saale um, als müsse er sich besinnen, wo er sei; dann fragte er in einem für ihn gewiß ungewöhnlich weichen Tone:
»Und dies hat dir der Wind gebracht, wirklich nur der Wind?«
»Ja, mein lieber, lieber Vater!«
Ich sah, daß ihre Augen feucht zu werden begannen.
»Ich denke,« fuhr er fort, »an den hundertunddritten Psalm und an das erste Kapitel des Buches an die Hebräer; es kann auch der hundertundvierte Psalm sein; ich weiß es nicht genau. Dort steht geschrieben: »Er macht seine Engel zu Winden und seine Diener zu Feuerflammen.« Steht kein Name auf dem Blatte? Keine Seitenzahl? Gar nichts, woraus man schließen könnte, wem oder wohin es gehört?«
»Gar nichts, Vater.«
»So dürfen wir es also als unser Eigentum betrachten und wollen es aufheben für – – für spätere Zeit, wo wir es vielleicht brauchen.«
»Willst du es haben?«
»Nein; behalte es! Und wenn – – wenn – – – wenn ich wieder einmal lieblos von denen spreche, die ich Heiden nenne, so sage mir die beiden letzten Zeilen: Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus, so stehe es für Euch im Völkerfrieden. Ich denke, das wird gut für Etwas sein, was in mir ist, was siegen will und doch nicht siegen kann.«
Es trat wieder eine Pause ein, nach welcher Mary die Vermutung aussprach:
»Der Verfasser ist wahrscheinlich ein Deutscher. Und weil ich das Blatt innerhalb der Vorstufen zum Hotel fand, so nahm ich an, daß er hier wohnt und es im Kommen oder Gehen draußen verloren hat. Ich erkundigte mich darum vorhin bei meiner Rückkehr im Bureau, ob vielleicht ein deutscher Dichter hier logiere, und habe eine verneinende Antwort erhalten.«
»Mag der, welcher es geschrieben hat, sein, wer und was er sei, er wird den kleinen Verlust entweder aus dem Konzepte oder aus dem Gedächtnisse leicht wieder ersetzen können. Er bekommt das Blatt nicht wieder, und selbst wenn er mir bekannt wäre, würde ich ihn bitten, es behalten zu dürfen. Ob die Zeilen als Gedicht gut sind, das weiß ich nicht; ich bin kein Kritiker; aber der Inhalt ist für mich von Wert, und im Ausdruck liegt Etwas, dem ich nicht widerstehen kann. Ich bin so alt geworden und habe doch nie und nicht gewußt, wie sich ein schönes, liebes, reines, klares Wort so schnell und tief ins Herz hinunterheimeln kann! Und Eins noch ists, was ich dir sagen muß, mein Kind.«
Aber er sagte es noch nicht, sondern er legte, das Gesicht seiner Tochter zugewendet, den Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Hand, sah sie liebevoll prüfend an, machte dann die Augen zu, als ob er sich etwas zu vergegenwärtigen habe, und sprach erst hierauf weiter:
»Du bist deiner Mutter so überaus ähnlich, äußerlich und innerlich, und das hat mich über ihren Verlust, wenn auch nicht beruhigt, aber doch getröstet. Sie ist mein Engel gewesen, und du glaubst ja, daß sie heut ebenso wie früher bei uns weilt. Ich weiß, daß ich ein streitbarer Theologe bin, vielleicht streitbarer, als die Bibel will, und es ist stets das Hauptbestreben der Toten gewesen, dieses mein aggressives Wesen zu mildern . Sie warnte mich vor China, und als ich trotzdem meine Absicht, dorthin zu gehen, nicht aufgab, trübte sich die Zeit, welche, für uns so schrecklich unerwartet, die letzte ihres Lebens sein sollte. Als ich an ihrem Todestage zum letzten Male mit ihr allein war, – du hattest draußen mit dem Arzt zu sprechen – mußte ich ihr die Erfüllung ihres Abschiedswunsches geloben. Ich tat es, indem ich ihre Hand in die meine nahm, und dann sprach sie ihn aus: »Sei stets ein echter Christ, und halte Frieden!« Und nun trägt heut der Wind dir fast genau dieselben Worte zu! Deine Stimme gleicht der ihrigen, und als du vorhin diese Zeilen lasest, da tauchte plötzlich ihr Sterbezimmer vor mir auf und – – –«
Weiter hörte ich nichts, oder vielmehr weiter wollte ich nichts hören. Die anderen Gäste saßen drin im eigentlichen Saale und wir, durch Säulen von diesem getrennt, allein im Seitenraum; sie brauchte er also nicht zu beachten. Aber mein Tisch stand dem seinen so nahe, daß ich seine Worte hören mußte, wenn ich auch nicht wollte. Mochte er mich nun wirklich für einen Franzosen halten, der nicht deutsch verstand, oder galt ich als Fremder faktisch für ihn als gar nicht vorhanden, jetzt durfte mir das nicht mehr gleichgültig sein. Er berührte eine Angelegenheit von solcher Diskretion, daß es mir meine Pflicht verbot, noch länger zuzuhören. Ich stand also auf und ging, wobei ich zu meiner Genugtuung bemerkte, daß er nicht die mindeste Notiz davon nahm.
Hatte ich gestern gemeint, daß er vielleicht ein ganz guter Mensch sei, so war mir dieses Vielleicht jetzt zur Gewißheit geworden. Nur wohnte und wirkte leider ein Dämon in ihm, der ihn selbst um den Frieden brachte, den er Andern doch so gern geben wollte; er hatte ihn ganz richtig als Aggressivität bezeichnet. Dieser Teufel ist es, der Menschen, Korporationen und Völker immer vorwärts drängt, um neuen Raum zu gewinnen, dabei aber auf dem alten, wohlerworbenen keinen Frieden und keinen Segen aufkommen läßt!
Während des Mittagessens wurde es mir nicht schwer gemacht, diskret zu sein, denn meine Nachbarn sprachen außerordentlich wenig. Später bemerkte ich von meinem Fenster aus, daß sie einen Hotelwagen bestiegen, um den beabsichtigten Ausflug zu unternehmen.
Punkt drei Uhr klopfte Sejjid Omar an meine Tür. Die Pferde wurden schon bereit gehalten; wir konnten aufbrechen. Natürlich beobachtete ich ihn schon beim Aufsteigen. Das ging so leicht und glatt vonstatten, als ob es seine tägliche Gewohnheit sei. Auch hielt er sich eine volle Pferdelänge hinter mir, was ich dadurch belohnte, daß ich ihn aufforderte, an meine linke Seite heranzukommen. Ich konnte ihn doch nicht beobachten, wenn ich ihm vorausritt. Er hielt sich nun still und ruhig neben mir, ohne, was ein Anderer wahrscheinlich versucht hätte, mir zeigen zu wollen, daß er sein Pferd zu beherrschen verstand. Doch wurde, als wir uns dem Kasr en Nil näherten, der Straßenverkehr trotz der Hitze ein so lebhafter, daß ich leicht Gelegenheit fand, ihn, ohne daß er es bemerkte, auf die Probe zu stellen. Die uns begegnenden Wagen, Reiter, Kamele und Fußgänger bildeten mir willkommene Hindernisse, und ich wich ihnen in einer Weise aus, welche es einem mittelmäßigen oder gar schlechten Reiter sehr schwer gemacht hätte, nicht von mir abzukommen; er aber überwand diese Schwierigkeiten, ohne daß er sie zu bemerken schien.
Nachdem wir die Nilbrücke passiert hatten, ging es im Trab. Er saß wie angegessen. Jenseits des Museums , als wir das bekannte Eckcafé hinter uns hatten, mußten wir wieder langsam reiten, denn es begegneten sich da zwei Reihen aneinander gebundener Lastkamele, zwischen denen, gerad als ein Doppelwagen der Tramway von Gizeh kam, sich eine Schar schwatzender Fellachenfrauen befand, welche Körbe auf ihren Köpfen trugen. Das gab wahrscheinlich einen kritischen Augenblick.
Wie gedacht, so geschehen! Die Tramway erschreckte die Kamele; sie blieben stehen; das eine zerrte nach rechts, das andere nach links; dieses stand lang und jenes quer, und da sie zusammengebunden waren, so entstand für einige Zeit ein straßenbreites Hindernis von blökenden Kamelen und schreienden Weibern, in deren Mitte wir steckten.
»Komm, Omar!«
Mit diesem Rufe drängte ich mein Pferd zwischen zwei Frauen hindurch, hinter denen zwei Kamele so standen, daß sie eine schmale Lücke bildeten, welche durch den sie verbindenden Strick geschlossen war. Ich nahm mein Pferd hoch und kam glücklich über den Strick hinweg. Die Frauen kreischten; die Kameltreiber schimpften; Omar aber lachte fröhlich auf und nahm das Hindernis ganz in derselben Weise. Das war für dieses Mal genug, und es handelte sich nur noch darum, seine Ausdauer kennen zu lernen.
Auf der Straße von Kairo nach den Pyramiden kommt man an zwei Fellachendörfern vorüber, welche links liegen. Rechts dehnen sich grüne Flächen aus, welche von Kanälen bewässert werden. Die Pyramiden hat man gerade vor sich liegen. Sie erscheinen von weitem als dreieckige Flächen, treten aber, je mehr man sich ihnen nähert, um so plastischer hervor. Das Menahouse-Hotel liegt am Fuß derselben. Es führt von ihm aus ein ziemlich breiter, auch fahrbarer Weg hinauf, welcher, um nicht vom Sande verschüttet zu werden, zu beiden Seiten mit Mauern versehen ist. Er gleicht einem Hohlwege, weil der Sand die Höhe der Mauern erreicht. Auf diese Höhe gibt es keinen eigentlichen Weg, doch führte aus dem von mir bestellten Zimmer eine Tür heraus auf sie, und man konnte da, allerdings nur über ungebahntes Geröll, direkt nach den Pyramiden kommen, ohne unterwegs von den in dem Hohlwege befindlichen Passanten gesehen zu werden. Es ist nicht ohne Absicht, daß ich diesen Umstand besonders in Erwähnung bringe.
Am östlichen Fuße der Pyramiden liegt das arabische Dorf el Kafr, dessen Bewohner, von den Touristen vollständig verdorben, in rücksichts- und charakterloser Aufdringlichkeit das Menschenmöglichste leisten. Sie halten, vereinzelt aufgestellt, schon in weiter Entfernung von den Pyramiden auf der Straße Wache, um über die aus der Stadt kommenden Fremden herzufallen und, wenn sie auch nicht engagiert werden, doch wenigstens ihre falschen Münzen, geschickt nachgemachten Skarabäen und andere wertlose Imitationen an den Mann zu bringen.
Heut sah ich keinen einzigen von ihnen auf der Lauer stehen. Es mußte irgend ein Grund vorhanden sein, der sie abhielt, ihrer einträglichen Herumlungerei jetzt obzuliegen. Ich erfuhr ihn sogleich, als ich das Hotel erreichte. Die gestern auf dem Platze Ibrahim Pascha beobachteten fremden Pilger waren heut heraus nach den Pyramiden gezogen, um ihnen, die für den Wüstenbewohner noch größere Wunderwerke als für uns zivilisierte Menschen sind, einen Besuch abzustatten. Sie hatten in das Hotel eindringen wollen, waren aber abgewiesen worden, was freilich mit der allergrößten Vorsicht hatte geschehen müssen, um ihre Rachgier nicht herauszufordern. Der mich nach meinem Zimmer führende Kellner teilte mir lachend mit, daß man mit einigen wie zufällig vorübergetragenen, geräucherten Würsten und Schweineschinken diesen Zweck sehr schnell und ohne alle üblen Folgen erreicht habe. Die über diesen Anblick ganz entsetzten Mohammedaner waren schreiend davongelaufen und hatten es nun ganz gewiß aufgegeben, das für sie jetzt für verpestet geltende Haus zu betreten. Sie hatten dann zunächst el Kafr einen Besuch gemacht, um sich Nahrungsmittel zu erbetteln, und waren dann nach dem Granittempel gestiegen, um an der Sphinx vorüber nach der Cheopspyramide zu kommen und diese zu besteigen. Natürlich hatte sich Alles, was in Kafr wohnte und laufen konnte, diesen Pilgern angeschlossen, welche im Bahr bela Ma zwischen Setrah und dem Dschebel Burgheh zu Hause waren.
Es verstand sich nun eigentlich ganz von selbst, daß es keinem der Bewohner oder Gäste des Hotels einfallen konnte, nach den Pyramiden zu gehen, solange sich diese fanatischen Menschen oben befanden, doch als ich mich nach den beiden Chinesen erkundigte, erfuhr ich, daß sie hinauf gegangen seien, und Mr. Waller war ihnen mit seiner Tochter später nachgefolgt.
Welch eine Unvorsichtigkeit! Freilich nur von dem Amerikaner, denn als die Chinesen aufgebrochen waren, hatten sich die Pilger noch nicht eingestellt gehabt; Waller aber war erst nach deren Ankunft weggegangen und durch keine Warnung von diesem Wagnisse abzuhalten gewesen. Es war mir ganz, als ob ich ihnen folgen müsse, doch konnte ich dadurch leicht den Anschein erwecken, als ob ich für sie ein größeres Interesse besitze, als sie mir erlauben wollten, und so unterließ ich es. Ich öffnete die erwähnte Tür meines Zimmers; nahm einen Stuhl mit hinaus und saß nun oben auf dem hoch aufgewehten Sand. Der tief in demselben eingeschnittene Weg nach den Pyramiden lag so weit von mir entfernt, daß ich seinen Grund nur an derjenigen Stelle sehen konnte, wo er einer Krümmung nach links herüber folgte.
Der eigentliche Körper der Pyramiden wurde in Stufenform aufgebaut und dann mit einer platten Bekleidung belegt, unter welcher die Stufenform verschwand. Von dieser Bekleidung ist jetzt nur noch an der Spitze der zweiten, derjenigen des Chefren, ein Rest zu sehen, während von der Cheopspyramide die Spitze ganz verschwunden ist, wodurch sich oben eine vielleicht zehn Quadratmeter große Fläche gebildet hat, zu welcher man von der nordöstlichen Kante aufsteigen kann, weil dort die vielleicht einen Meter hohen Stufen am gangbarsten sind. Der Aufstieg geschieht gewöhnlich mit Hilfe dreier Beduinen, von denen zwei stets voran sind, um zu ziehen, während der dritte schiebend hinterher zu folgen hat.
Ist man oben angelangt, so hat man, in umgekehrter Richtung der Aussicht vom Dschebel Mokattam, nach Osten zu das Grün des kanalisierten Landes in der Nähe, die Stadt aber in ziemlich weiter Ferne liegen. Nach Nordwest, West und Süd dehnt sich die Wüste mit ihren braungelben Sandflächen, aus denen hungernd und dürstend nackte Klippen ragen. Nach Südwest steigen die andern Pyramiden auf; tief unten aber schaut die Sphinx nach Osten, doch kann sie den Aufgang der Sonne nicht mehr sehen, weil der Sand von Jahrhunderten rund um sie her so hoch »gewachsen« ist, daß es für sie einen Morgen nicht mehr gibt.
Der Name Sphinx ist für die ägyptischen Steingebilde falsch angewendet; er ist griechisch, und sie aber hatten mit der thebaischen Tochter des Typhon und der Schlange Echidna nichts zu tun. Sie hießen bei den Aegyptern »Neb«, d. i. »Herr«. Ihre aus dem Felsen herausgewachsene, für unzerstörbar gehaltene und in majestätischer Einfachheit und Größe vor den Tempeln ruhende Vereinigung der Tier- mit der Menschenform sprach wohl auch ein tiefes, schweres Rätsel aus, fügte aber, sie durch sich selbst verratend, sogleich die Lösung hinzu, daß nur die aus dem Geist geborene Kraft die Welt regiere. Materialisten also waren die alten Aegypter nicht, und gerade darum gelang es ihnen, den Stoff selbst in seiner gewaltigsten Schwere mit Hilfe der einfachsten Gesetze zu beherrschen.
Wo Sejjid Omar jetzt war und was er tat, das wußte ich nicht. Er hatte mich bei unserer Ankunft gefragt, was er nun vornehmen solle, und von mir den Bescheid erhalten, daß er die Pferde gut zu versorgen und sich erst am Abend wieder bei mir zu melden habe. Jetzt brauchte ich ihn ja nicht; heut Abend aber sollte er mich begleiten; ich wollte beim Mondschein einen längeren Spaziergang nach den Pyramiden unternehmen.
Da standen sie vor mir, so nahe und doch so fern.
Nur drei Minuten trennten mich von der mir nächsten, der großen, und doch waren es eigentlich nicht drei Minuten, sondern viertausend und neunhundert Jahre. Die Gestalten der Araber, welche ich deutlich an ihr auf- und niederklettern sah, so pygmäisch, so ameisenwinzig, sie gehörten diesen drei Minuten an. Was bleibt nach ihrem Tode von ihnen übrig?! Aber das Andenken derer, welche diese Quadern aufeinander türmten, es ist nach fast fünftausend Jahren noch nicht vergessen. Ihr Leben ist nicht spurlos an der Welt und an den Tafeln der Geschichte vorübergegangen. Und doch sind diese fünftausend Jahre im Verhältnis zu der Ewigkeit auch nichts Anderes als diese drei Minuten, und wenn die große Frage kommt, welche ein Jeder einst zu beantworten hat, wird Cheops wahrscheinlich um keinen Zoll größer sein als einer der Beduinen, welche die Perspektive mir jetzt so zwergenhaft erscheinen ließ.
Indem ich zu ihnen hinaufschaute, glitt mein Auge auch über die Stelle des Weges, welche, wie schon bemerkt, die einzige war, die ich sehen konnte. Da kam Jemand sehr eilig herabgelaufen. Obgleich ich ihn nur einen Moment sehen konnte, erkannte ich doch Sejjid Omar in ihm. Er lief so schnell, daß sein langes Gewand hinter ihm her wehte. Es mußte etwas für ihn sehr Wichtiges sein, was ihn, der in allen seinen Bewegungen so gern die ihm eigene Würde zeigte, jetzt veranlaßte, es so außerordentlich eilig zu haben. Nur wenige Schritte nach links von mir ging die Sandhöhe, auf welcher ich mich befand, in das platte Dach eines zum Hotel gehörigen Nebengebäudes über. Von diesem aus konnte ich Omar aus dem tief eingeschnittenen Wege herauskommen sehen. Ich ging hin und schaute hinab. Auf dem Vorplatz saßen und standen viele Herren und Damen, welche diesen Aufenthalt den schwülen, dumpfen Zimmern vorgezogen hatten. Omar hemmte seine Schritte nicht, sondern rannte zwischen ihnen hindurch, ohne daran zu denken, daß ihm seine direkte Abstammung vom Propheten bei dieser Art von Schritten höchstwahrscheinlich nicht angesehen werden könne. Ich ging nach meinem Zimmer und hatte es kaum erreicht, so hörte ich ihn auch schon klopfen. Er wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern trat ein, ließ die Tür ganz selbstverständlich offen stehen und sagte, indem er mit dem Atem rang:
»Sihdi, es wird über sie Gericht gehalten. Du mußt sofort kommen und ihren Fakih machen!«
»Von wem redest du?« fragte ich.
»Von den Chinesen. Sie sind gute Menschen und wohnen in demselben Hotel mit dir. Ich hoffe, daß dies genug Gründe für dich sind, ihnen beizustehen!«
»Ich bin kein Fakih. Wer klagt sie an? Was haben sie getan?«
»Sie haben den Amerikaner in Schutz genommen, dem es wahrscheinlich an das Leben gehen wird. Das geschieht ihm recht! Du hast es ja gesehen, wie er mein Gebet unterbrochen hat!«
»Weshalb soll es ihm an das Leben gehen?«
»Das erzähle ich dir unterwegs; komm nur schnell, sonst wird es vielleicht zu spät, dich der Chinesen anzunehmen!«
Er faßte mich am Arm, um mich mit sich fortzuziehen. Ich wehrte ihn ab und sagte:
»Beherrsche dich! Man kann durch zögerndes Ueberlegen weiter kommen als durch übermäßige Eile. Erzähle, wenn auch kurz, aber Alles, was geschehen ist.«
Er versuchte, seinen fliegenden Atem zu beruhigen, und folgte meiner Aufforderung:
»Als ich die Pferde in den Stall geschafft und ihnen Futter gegeben hatte, ging ich hinauf nach den Pyramiden. Ich wollte die fremden Mekkapilger sehen, vor denen ich mich nicht zu scheuen brauche, weil ich weder Christ noch Jude, sondern nicht nur Moslem, sondern sogar Sejjid Omar bin. Ihre Gewänder sind zwar während der weiten Reisen zerrissen und sehr, sehr schmutzig geworden, aber das hindert nicht, daß diese Beduinen vom Bahr bela Ma sehr fromme Männer sind, welche Mekka gesehen haben und viel von ihm erzählen können. Als ich kam, waren sie dabei, die große Pyramide zu besteigen. Da aber auf der Höhe derselben nur gegen dreißig Personen stehen können, mußte dies in Abteilungen geschehen. Es dauerte sehr lange, ehe die erste wieder herunterkam. Mit dieser ging ich nach der Sphinx hinunter, denn sie sollte auch bestiegen werden. Du weißt, daß man da am Granittempel vorüberkommt. Indem wir dies taten, hörte ich Stimmen in dem Treppengang desselben, achtete ihrer aber nicht. Hätte ich gewußt, wer es war, so wäre ich hineingegangen, um sie zu warnen.«
»Wer war es denn?« unterbrach ich ihn.
»Die beiden Chinesen, der Amerikaner und seine Tochter. Wir stiegen alle auf den Rücken des Sphinx, von wo aus einige der jungen Leute von el Kafr gegen ein Bakschisch auch noch auf den Kopf zu klettern pflegen, was so gefährlich ist, daß ich nicht versuchen möchte, es nachzumachen. Einer von ihnen führte dieses Kunststück aus, und der Schech der fremden Pilger behauptete, es ihm nachmachen zu können. Man glaubte es ihm nicht; es wurde hin und her gestritten und ihm schließlich eine Wette angeboten, auf welche er einging. Er zog seinen Mantel aus und nahm auch sein Hamaïl vom Halse, weil es während des Kletterns leicht beschädigt werden konnte. Die Schnur, an welcher es hing, war zu eng, sie über den Kopf zu bringen. Er zog zu sehr; sie zerriß, und da er sie nicht festhielt, flog das Hamaïl seitwärts auf den Boden nieder, wo sich der Fels nach unten rundet. Es glitt weiter und fiel in die Tiefe hinab.«
»Das hat nichts zu sagen. Die Hamaïls werden in Futteralen getragen, und unten gibt es lockeren Sand; das Buch wird also nicht beschädigt worden sein.«
»Das ist richtig; aber höre, was gleich weiter geschah! Der Schech kümmerte sich jetzt nicht um sein Hamaïl, welches er sich dann ja holen konnte; er dachte nur an seine Wette. Es war ausgemacht worden, daß noch einmal Jemand von el Kafr hinaufzuklettern habe, damit der Fremde sich die Stellen merken könne, wo die Finger und die Zehen einzusetzen sind. Diese Bedingung wurde auch erfüllt. Es gab also bis zum Austrag der Wette ein zweimaliges Hinauf- und wieder Herunterklettern. Das dauerte natürlich lange, weil jede Bewegung äußerst vorsichtig unternommen werden mußte, und während dieser Zeit geschah unten Etwas, was wir nicht beachteten, weil unsere ganze Aufmerksamkeit nach oben gerichtet war.«
»Ah, ich errate! Der Amerikaner und das Hamaïl!«
»Ja, so ist es, Sihdi! Die vier Personen hatten den Granittempel verlassen und waren dann auch nach der Sphinx gegangen, obgleich sie sahen, daß deren Körper von Beduinen geradezu wimmelte. Doch hatte dieser Umstand sie wenigstens abgehalten, sie auch zu besteigen; sie waren vielmehr den schmalen Pfad, welcher von ihrem westlichen Teile nach dem östlichen führt, hinabgegangen und hatten dort bei dem Vorderfuße das Hamaïl liegen sehen. Anstatt es nun gar nicht anzurühren, weil sie doch keine Muhammedaner waren, und sich auch gewiß denken konnten, daß es einem oben auf der Sphinx befindlichen Pilger gehören werde, hatten sie es sogar aus dem Futterale gezogen, geöffnet und durchblättert. Inzwischen hatte der fremde Schech, der ein sehr kühner Kletterer ist, seine Wette gewonnen, und wir stiegen von der Sphinx herunter, was, wie du weißt, an ihrem Hinterkörper geschieht. Dort trafen wir mit dem wieder nach hier gekommenen Amerikaner zusammen. Als der Schech sein Hamaïl in den Händen dieses Mannes sah, war er zunächst so erschrocken, daß er kaum sprechen konnte; bald aber verwandelte sich der Schreck in Zorn. Er riß es ihm aus der Hand und fragte, ob er im Menahouse wohne, wo man Wurst und Schinken esse. Als der Gefragte mit einem Ja antwortete, mußte die Heiligkeit des Hamaïl für vernichtet gelten. Du kannst dir nun die Wut des Schechs denken, welcher den Amerikaner am liebsten vernichtet hätte. Dieser war aber nicht etwa so klug, zu schweigen, sondern er verteidigte sich und nannte das Hamaïl ein Lügenbuch.«
»Er kann aber doch nicht arabisch sprechen!«
»Der Dolmetscher war bei ihm, den du auf dem Dschebel Mokkatam mit ihm und mir gesehen hast. Er ist vom Hotel weg zu ihm gefahren, um ihn abzuholen und mitzunehmen.«
»Und dieser Mensch war so unvorsichtig, das Wort Lügenbuch zu übersetzen, ohne ein anderes, weniger beleidigendes an seine Stelle zu nehmen?«
»O, er hat noch ganz Anderes übersetzt! Ich kann dir nicht Alles so ausführlich erzählen, wie es geschehen ist, denn ich habe schon jetzt zu viel Zeit versäumt und will dir nur noch sagen, daß der Amerikaner es in seinem Zorne gewagt hat, dem Schech das Hamaïl wieder zu entreißen und unter schlimmen Ausdrücken, welche auch übersetzt worden sind, ihm vor die Füße zu werfen.«
»Es ist wahr. Ich stand dabei und habe es selbst auch gesehen. Der Schech riß das Messer heraus, um ihn zu erstechen; die Tochter wollte sich dazwischen werfen; der junge Chinese riß sie zurück und hat den Stich in den Arm bekommen. Der fremde Scheich wollte wieder stechen, und seine Leute griffen auch nach ihren Messern. Es wären wenigstens drei Menschenleben zu Grunde gegangen, wenn nicht der Scheich el Beled von el Kafr eingeschritten wäre. Diesem ist von der Regierung die Aufsicht über das Gebiet der Pyramiden übertragen worden, und er mußte sich sagen, daß die Ermordung von Christen, die überdies noch Ausländer sind, für ihn und die Bewohner seines Dorfes von sehr schlimmen Folgen sein werde. Aber es kostete ihm sehr viel Ueberredung, bis die Fremden ihre Messer wieder einsteckten, doch verlangten sie Sühne, und zwar blutige Sühne, weil eine solche Behandlung eines Hamaïl ein größeres Verbrechen ist, als selbst ein zehnfacher Mord sein würde. Diese Sühne soll auch sofort und ohne Zeitverlust gegeben werden, und darum drangen sie auf das Zusammentreten einer Dschemma, welche den Fall ohne Zögern zu besprechen und das Urteil zu fällen habe.«
»Sind die Beisitzer dieser Dschemma bereits gewählt?«
»Nein. Es werden lauter Fremde sein, und von den Hiesigen darf nur der Schech el Beled beitreten. Dieser hat einen seiner Leute heimlich nach Kairo um Hilfe geschickt. Bis diese kommt, will er versuchen, die Verhandlung hinauszuziehen; aber ich glaube nicht, daß ihm dies gelingen wird.«
»Ich auch nicht. Die Fremden scheinen den Fall nach dem Gesetz der Wüste behandeln und von der hiesigen Polizei nichts wissen zu wollen. Ja, es kann zwischen dieser und ihnen sehr leicht zum Kampfe und Blutvergießen kommen!«
»Daran dachte ich auch, und darum bin ich zu dir geeilt, um dich zu holen. Du wirst diese Sache auf gutem Wege zu enden wissen!«
»Ich? Wie kommst du zu dieser Idee?«
»Ich habe dir ja schon gesagt, daß mir der alte Ibrahim Effendi mehr von dir erzählt hat, als du denkst. Ich bitte dich um Hilfe. Wirst du sie den Chinesen verweigern?«
»Du sprichst nur von ihnen, obgleich ihnen direkt keine Gefahr droht. Für den Amerikaner bittest du nicht?«
»Nein! Er mag bekommen was er verdient hat! Ich habe ihn auf dem Mokattam verschont; hier aber darf er keine Schonung finden!«
Da legte ich ihm die Hand auf die Schulter, sah ihm ernst in die Augen und sagte langsam, indem ich jedes Wort betonte:
»Du bist Sejjid Omar, aber du bist kein guter Mensch! Und wer kein guter Mensch ist, der kann auch kein guter Anhänger des Propheten sein! Ich wollte dich jetzt mitnehmen, weil du mir helfen solltest, dem Amerikaner beizustehen. Du kannst aber hierbleiben!«
Ich tat, als ob ich gehen wolle; da rief er aus:
»Sihdi, nimm mich mit! Ich will dir beweisen, daß die Güte eines Moslem größer sein kann als sein Wunsch nach Rache. Brauchen wir Waffen?«
»Nein, sondern nur Klugheit und Entschlossenheit. Unsere Pferde sind nicht mehr gesattelt?«
»Nein. Reiten wir denn?«
»Ja, doch haben wir keine Zeit, vorher zu satteln. Ich kenne die Gesetze der Wüste sehr genau. Diese fremden Beduinen werden sich von dem Schech el Beled nichts vormachen lassen. Sie sind auf den Zusammentritt der Dschemma bloß deshalb eingegangen, weil sie derartige Szenen lieben; das Urteil aber wird auf den Tod des Amerikaners lauten, und sie werden es ausführen, ohne sich um die Meinung irgend eines anderen Menschen, sei es auch der Khedive von Aegypten, zu bekümmern. Wo wird diese Versammlung abgehalten?«
»Ein wenig oberhalb der Sphinx.«
»So wird der Missionar diese Stelle nicht lebend verlassen, wenn wir ihn nicht herausholen. Da er zu Fuß nicht entkommen kann, sondern von ihnen eingeholt würde, reiten wir. Merke dir diese Tür, welche hinaus in das Freie führt! Sie ist von Wichtigkeit. Ich lasse sie um eine Lücke offen, und der Schlüssel bleibt von innen stecken.«
»Warum, Sihdi?«
»Das erfährst du unterwegs. Jetzt komm!«
Ich muß bemerken, daß wir sehr schnell sprachen und daß diese Unterredung also nicht halb so lange währte, als wenn man sie vom Papiere liest. Ein Hamaïl ist ein in der Stadt Mekka geschriebener und unter gewissen Feierlichkeiten erworbener Kuran, der nur an solche Pilger verkauft wird, welche nachweislich allen Verpflichtungen getreulich nachgekommen sind. Es gilt als das köstlichste Andenken an die Pilgerschaft, wird für heilig gehalten und darf nie mit irgend Etwas in Berührung kommen, was dieser Heiligkeit nicht angemessen ist. Mr. Waller hatte nach den Begriffen derer, in deren Händen er sich befand, unbedingt ein todeswürdiges Verbrechen begangen. Wenn man hierzu die unter diesen Leuten gewöhnliche Christenverachtung und die durch die Pilgerfahrt bis zur Brutalität gesteigerte religiöse Aufregung rechnet, so kann man sich die Gefahr wohl denken, in welcher der Genannte gegenwärtig schwebte. Eine Dschemma über einen Christen, nebst dem an ihm vollstreckten Todesurteil, ein besserer Schluß konnte nach Ansicht dieser Fanatiker ihrer Reise nach Mekka ja gar nicht gegeben werden!
Wir eilten nach dem Stall hinüber, zogen die Pferde heraus, stiegen auf und ritten den Hohlweg nach den Pyramiden hinauf. Ich hielt es nicht für geraten, im Hotel zu sagen, warum wir diesen Ritt unternahmen. Je weniger Aufsehen erregt wurde, desto größer war für mich die Hoffnung des Gelingens.
Als wir oben bei der Cheops-Pyramide ankamen, war dort kein Mensch zu sehen, denn Jedermann war nach der Sphinx geeilt, um bei der Dschemma anwesend zu sein. Das war mir lieb, weil ich nun, ohne gesehen zu werden und Verdacht zu erregen, Omar unterweisen konnte, was er zu tun hatte.
»Hier trennen wir uns,« sagte ich. »Wenn der Amerikaner reiten kann, ist er zu retten, sonst wahrscheinlich nicht. Ich reite hier links an den kleinen Pyramiden nach der Sphinx hinunter, dränge mich an die Dschemma heran und suche, mit dem Pferd möglichst nahe an den Amerikaner heranzukommen. Dann steige ich ab und spreche mit den Beduinen.«
»Aber du wagst dein Leben!« fiel Omar ein.
»Nein. Da ich heut nicht den Hut, sondern den Tarbusch trage, wird man mich für einen Effendi halten, und ich werde nichts sagen, wodurch ich mich als Christ bezeichne. Während ich die Aufmerksamkeit der Dschemma ganz auf mich ziehe, steigt er schnell auf das Pferd und reitet fort.«
»Ich meine, daß sich keine anderen Tiere dort befinden werden, als die kleinen Esel und die langsamen Kamele der Leute von el Kafr?«
»Das ist richtig!«
»Man kann ihn also nicht einholen, aber man wird auf den klugen Gedanken kommen, ihn nicht nach dem Hotel zurückzulassen. Man wird also diesen Hohlweg hier besetzen und ihm die Annäherung auch von den anderen Seiten unmöglich machen. Aber an die Tür zu meinem Zimmer wird Niemand denken.«
»Maschallah! Ich beginne, zu begreifen, Sihdi. Ich soll ihn nach dieser Tür bringen?«
»Ja.«
»Aber wo und wie treffe ich ihn?«
»Du reitest hier an der großen Pyramide entlang, genau nach West, halb über das hinter ihr liegende Totenfeld, und wendest dich dann links nach der Pyramide des Chefren hinüber, an deren Südwestecke du wartest, bis der Amerikaner kommt.«
»Wird er wissen, daß ich dort bin?«
»Ja; ich sage es ihm. Wenn er zu dir gestoßen ist, reitet ihr zurück, quer über das Totenfeld, aber ja nicht her zur großen Pyramide, sondern stets nach Nord, von der Höhe nach der Niederung herab, bis ihr in gleicher Linie mit dem Hotel seid. Es gibt dort keinen Weg; der Sand ist tief; man wird den Flüchtling dort gewißlich nicht vermuten. Dennoch sage ich, daß ihr Begegnungen möglichst zu vermeiden habt, bis das Hotel zu sehen ist. Dann reitet ihr, ganz gleich, ob ihr gesehen werdet oder nicht, schnell auf dasselbe zu, biegt aber ja nach keinem Wege ein, sondern eilt oben auf der Düne bis hin an meine Zimmertür, welche ich offen gelassen habe. Seid ihr drin und habt den Schlüssel umgedreht, so ist nichts mehr zu befürchten. Die Pferde müssen freilich draußen stehen bleiben. Ich hoffe übrigens, daß ich dort bin, wenn ihr kommt. Beeilt euch aber, denn es wird bald dunkel werden!«
»Und was geschieht mit der Tochter des Amerikaners und mit den Chinesen, Sihdi?«
»Das laß meine Sorge sein! Ich rechne auf die ganz gewiß entstehende Aufregung und Verwirrung, welche ich möglichst gut benutzen werde.«
»Aber du selbst, Sihdi! Du begiebst dich wirklich in Gefahr!«
»Das hat nur den Anschein so. Ich werde die Fremden durch eine so große Dreistigkeit verblüffen, daß sie gar nicht daran denken, etwas gegen mich zu tun.«
»Was wirst du zu ihnen sagen?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich habe mich nach den Umständen zu richten, welche ich vorfinde. Wie aber steht es mit der Verwundung des Chinesen?«
»Sie ist nur leicht. Ich sah wohl Blut, doch aber nicht viel. Sein Vater verband ihn eben, als ich ging, mit seinem Taschentuche.«
»So habe ich von ihm keine Störung zu befürchten. Jetzt wird es Zeit, daß wir uns trennen. Mach deine Sache gut!«
»Von dem Augenblicke an, wo er bei mir ist, wird ihm nichts geschehen, darauf kannst du dich verlassen, Sihdi. Du hast von mir verlangt, ein guter Mensch zu sein, und nun macht es mir Freude, ihm seine Beleidigung durch Liebe zu vergelten!«
Nach diesen Worten ritt er in der ihm von mir angegebenen Richtung davon; ich aber nahm meinen Weg zwischen der großen und den ihr gegenüberliegenden kleinen Pyramiden hindurch, welche für Angehörige des Cheops bestimmt gewesen sein sollen. Hinter der letzten von ihnen teilt sich der Weg. Links führt er nach der Sphinx hinab, fast geradeaus nach Campbells Grab hinüber. Ich zog es vor, nach diesem Grabe zu reiten, denn ich hatte von dort aus einen besseren Ueberblick, und ich konnte mir den Anschein geben, als ob ich von dem Vorgefallenen gar nichts wisse und nicht etwa vom Hotel her, sondern von der zweiten oder gar dritten Pyramide komme. Ich wich also nach Westen zu von den durch den Sand führenden Stapfen ab und hielt mich so lange in den Einsenkungen des Terrains, bis ich die unterhalb der Chefren-Pyramide liegenden Tempelreste vor mir hatte. Hierauf wendete ich mich nach links, trieb das Pferd eine steile Schuttböschung hinauf und sah den Ort, den ich erreichen wollte, in nicht allzu großer Entfernung vor mir liegen.
Es genügte ein Blick, die Szene zu erfassen. Die für die Dschemma Ausgewählten saßen an der Erde, einige Schritte davon Mary und die Chinesen. Der Amerikaner stand und neben ihm der Dolmetscher, welcher mit den Händen gestikulierte, also zu sprechen schien. Hören konnte ich es nicht. Die Stelle, an welcher ich mich befand, lag höher als diejenige, an welcher die Beduinen ihre Beratung hielten. Die Zuhörer hatten die Dschemma nicht ganz eingeschlossen, sondern sie bildeten, was mir außerordentlich lieb war, des abfallenden Terrains wegen nur einen Halbkreis, welcher nach mir zu offen stand; das machte es mir möglich, sofort ganz an die Beratenden heranzutreten.
Man wurde auf mich aufmerksam. Als ich näher kam, hörte ich den verwunderten Ruf: »Ein Reiter ohne Sattel!« Diejenigen, welche von mir abgewendet saßen, drehten sich nach mir um. Man zeigte Neugierde, doch fiel es Keinem ein, seinen Platz zu verlassen.
Die Angelegenheit stand genau so, wie ich vermutet hatte, denn den Scheich el Beled von el Kafr ausgenommen, hatten alle Beisitzer der Dschemma ihre Messer vor sich bis an die Hefte in die Erde gesteckt, ein für den Kenner sicheres Zeichen, daß es sich um das Leben des Angeschuldigten handelte. Ich tat, als ob er mir sehr gleichgültig sei, ritt aber fast bis ganz zu ihm heran, sprang ab, legte die Hände, doch nur für einen kurzen Augenblick, um nicht als gewöhnlicher Mann zu gelten, auf die Brust und grüßte die am Boden sitzenden Personen.
Es war leicht zu erraten, welcher von ihnen der fremde Schech war, denn er hatte das Hamaïl, um welches es sich handelte, vor sich liegen. Sein Anzug befand sich, wie auch diejenigen aller seiner Leute, in einem Zustand, den Omar sehr richtig als »schmutzig und zerrissen« bezeichnet hatte, doch war seinem ernsten, sonnenverbrannten Gesichte die Gewohnheit des Befehlens deutlich aufgeprägt. Er nickte stolz mit dem Kopf und ließ nur ein kurzes »Sallam!« als Antwort hören. Wenn ich mir diesen Mangel an Höflichkeit gefallen ließ, so hatte ich von vornherein verspielt. Er mußte mich für einen Mann halten, der sich das nicht bieten zu lassen brauchte, darum sagte ich in strengem Tone:
»Du bleibst sitzen, indem du mit mir sprichst, und siehst doch, daß ich stehe? Ich vermute, daß ihr in Mekka gewesen seid, über welchem das Andenken des Propheten glänzt. Hast du etwa dort deine Höflichkeit im Sand von Chandamah vergraben?«
»Wo liegt Chandamah?« fragte er schnell und erstaunt.
»Geh zwischen dem Suq el Lel und dem Schib el Maulid, wo das Geburtshaus des Propheten steht, vor die Stadt hinaus, so siehst du es zur linken Seite des Dschebel Qubehs liegen.«
Da stand er auf, und alle Andern mit ihm, kreuzte die Hände auf der Brust, verbeugte sich tief und sagte:
»Verzeih! Ich wußte nicht, daß du ein Kenner der Heiligtümer bist. Du wirst mir erlauben, deinen Namen zu erfahren!«
»Allerdings, doch nicht eher, als bis ich dich nach dem deinigen gefragt habe. Vorher aber will ich das Wichtigere wissen. Sind wir bei den Pyramiden von Gizeh, oder befinden wir uns im Wadi Fatimeh, wo das Gesetz der Wüste gilt? Ich sehe eine Dschemma versammelt und Messer in der Erde stecken. Wer hat hier zu richten, und wer soll gerichtet werden?«
Ich sah ihm so scharf und fest ins Auge, daß mir sein Blick nicht ausweichen konnte. Die Erwähnung von Oertlichkeiten, welche nur dem Kenner von Mekka geläufig sind, tat das Ihrige. Er antwortete in nicht ganz sicherem Tone:
»Es ist eine Beleidigung geschehen, welche nur mit Blut gesühnt werden kann. Ich will es dir erzählen.«
Nichts konnte mir willkommener sein als diese seine Bereitwilligkeit, denn sie sagte mir, daß ich ihm imponiert hatte. Er berichtete mir, natürlich in seiner mohammedanisch gefärbten Weise, was geschehen war. Als er geendet hatte, sagte ich:
»Der Kuran ist dir jedenfalls bekannt. Nach ihm und der Sunna muß Recht gesprochen werden. Aber weißt du auch, was Khalil Ibn Ishak, der berühmte Erklärer derselben, über die Pflichten der Dschemma sagt?«
»Nein; das weiß ich nicht,« sah er sich gezwungen, einzugestehen.
»Nicht? Aber ihr habt bedacht, daß dieser Fremde die Heiligkeit des Hamaïl nicht kennt und dich vielleicht gar nicht hat beleidigen wollen? Habt ihr ihm erlaubt, sich zu verteidigen?«
»Er hat es durch den Mund seines Dragoman getan.«
»Ist dieser Dragoman gerecht und vorsichtig gewesen? Ich werde das sogleich erfahren.«
Der Dolmetscher stand höchst verlegen da. Er hörte mich arabisch sprechen und wußte nun also, daß ich Alles verstanden hatte, was auf dem Dschebel Mokattan von ihm über mich geäußert worden war. Ob er mich wohl auch jetzt noch für einen Franzosen hielt?
»Imschi, ia Budala- Pack dich, Dummkopf!« fuhr ich ihn an, denn ich wollte ihn nicht hören lassen, was ich dem Amerikaner zu sagen hatte.
Er zog sich erschrocken bis unter die Zuschauer zurück, und nun wendete ich mich an Waller, und zwar in deutscher Sprache:
»Sagen Sie schnell: Können Sie reiten?«
»Ja,« antwortete er, indem er mich verwundert ansah.
»Galopp und ohne Sattel, so daß Sie ja nicht etwa herabfallen?«
»Ich sitze fest. Sie reden deutsch? Good lack! Warum fragen Sie?«
»Es handelt sich um Ihr Leben. Die Situation ist ernster, als Sie meinen, und nur die Flucht kann Sie retten. Wenn Sie das vielleicht bezweifeln, so fehlt mir die Zeit, es Ihnen zu erklären.«
»Ich glaube es,« versicherte er. »Das sind ja ganz desparate Menschen hier!«
»So passen Sie auf, was ich Ihnen sage! Ich werde jetzt zu diesen Leuten weitersprechen. Sobald Sie sehen, daß ihre Aufmerksamkeit ganz auf mich gerichtet ist, springen Sie auf mein Pferd und reiten so schnell, wie Sie können, fort – – –«
»Man wird mich verfolgen,« fiel er ein.
»Allerdings; aber die paar Esel und Kamele, welche hier stehen, haben Sie nicht zu fürchten. Da oben steht die zweite Pyramide. An ihrer linken, hinteren Ecke treffen Sie auf meinen Diener. Er erwartet Sie dort und wird Sie so führen, daß, wenn Sie ihn nur erst erreicht haben, die Gefahr für Sie vorüber ist. Werden Sie tun, was ich Ihnen vorgeschlagen habe?«
»Natürlich! Aber ich habe nicht nur an mich, sondern auch an meine Tochter zu denken. Was soll –«
»Ihr wird nichts geschehen,« unterbrach ich ihn; »ich gebe Ihnen mein Wort. Also, tun Sie, was ich gesagt habe, aber plötzlich, schnell, und ohne daß Sie es etwa durch Blicke oder Bewegungen vorher verraten!«
Ich hatte während dieser kurzen Unterweisung den fremden Schech im Auge behalten und bemerkte zu meiner Beruhigung an ihm kein Zeichen des Mißtrauens. Als ich mich ihm jetzt wieder zuwendete, sagte er:
»Es ist ganz überflüssig; daß du diesen Christen fragst, denn er kann dir nichts Anderes erzählen, als was ich dir schon gesagt habe. Der Schech el Beled will nicht, daß er getötet werde, aber wir sind freie Beduinen, die sich um die Gesetze des Beherrschers von Aegypten und um die Ansichten fremder Konsuln nicht zu kümmern brauchen, und werden also nur nach den Vorschriften handeln, welche jeder Bekenner des Islam zu befolgen hat. Du hast unsere Beratung unterbrochen; wir setzen sie jetzt fort und werden schnell ein Ende machen. Habe die Güte, dich zu setzen, damit auch wir uns wieder setzen können!«
Diese Aufforderung hatte ich nicht erwartet. Sie bewies mir, daß er mich nicht nur unbedingt für einen Mohammedaner, sondern auch für eine Person hielt, nach deren Stand und Namen er nicht wieder fragen könne, ohne gegen die ihr schuldige Achtung zu verstoßen.
Der Araber setzt sich in Gegenwart eines Fremden nicht so kurz und einfach nieder, wie wir es tun, sondern es geschieht mit einer Umständlichkeit, welche um so größer ist und um so mehr Zeit in Anspruch nimmt, je mehr er diesen Fremden ehren und sich selbst als wohlerzogenen Mann betrachtet sehen will. Da vorhin alle seine an der Dschemma beteiligten Stammesgenossen mit ihm aufgestanden waren und nun auch wieder mit ihm Platz zu nehmen hatten, so gab es eine Menge von Verbeugungen, welche ich zu wiederholen hatte, worauf abermals Verneigungen folgten, welche jeder gegen seine Nachbarn richtete und mit einigen höflichen Worten begleitete. Das lenkte die Augen von dem Amerikaner in der Weise ab, daß er schon jetzt den richtigen Augenblick für gekommen hielt, den ihm gegebenen Rat zu befolgen.
Ich kehrte ihm den Rücken zu und hütete mich, mich nach ihm umzudrehen, als mir ein plötzliches Stampfen der Pferdehufe sagte, was geschah; aber der Schech sprang wieder auf und mit ihm alle, welche sich vorher unter so viel Umständen in die Stellung niedergelassen hatten, welche der Orientale »das Ruhen der Glieder« nennt. Waller war auf das Pferd gesprungen, welches sich nur einige Augenblicke sträubte, seiner Führung zu gehorchen, und dann mit ihm davonschoß, nach aufwärts, der zweiten Pyramide zu. Nun stand ich natürlich auch rasch auf und sah zu meiner Genugtuung, daß er allerdings kein schlechter Reiter war.
Zunächst gab es eine allgemeine Anstrengung, so laut zu schreien, wie es Jedem möglich war; dann folgte der Gedanke, dem Fliehenden nachzueilen. Man riß sich um die vorhandenen Esel und Kamele; die ersteren ließen sich sofort lenken; die letzteren aber wurden durch den vielstimmigen Lärm störrisch gemacht; sie waren nicht von der Stelle zu bringen. Wer einen Esel erwischt hatte, trabte schleunigst fort; den Kamelen versuchte man, durch Schläge Gehorsam beizubringen. Das gab eine Szene, welche nicht weniger lebhaft war, als ich erwartet hatte. Der Schech war am schnellsten gewesen und als erster dem Amerikaner auf einem Esel nachgeritten; er zeigte sich auch als der Umsichtigste von allen, denn er kehrte schon nach kurzer Zeit wieder um, kam zurück und rief seinen Leuten zu:
»Seid still, und gebt euch keine Mühe! Das sind keine Kamele, wie man sie braucht, um ein Pferd einzuholen. Dieser Hund ist uns entschlüpft, aber nur einstweilen! Sein Ziel ist das Hotel; aber wir lassen es ihn nicht erreichen. Es war eine Torheit von ihm, nicht direkt dorthin zu reiten. Der Bogen, den er macht, ist so groß, daß wir ihm zuvorkommen werden. Vorwärts alle! Wir laufen!«
Er schwang sich von seinem Esel, ließ ihn stehen und rannte fort; seine Leute alle hinter ihm her. Die meisten der Fellachen von el Kafr folgten; die Besitzer der zurückgebliebenen Tiere wollten diese besteigen und auch fort; ich hinderte sie daran, weil ich nicht wünschte, daß die beiden Chinesen und Mary laufen sollten, und sie waren gegen die gewöhnliche Bezahlung und ein Extrabakschisch damit einverstanden.
Ich hatte den drei Genannten bis jetzt natürlich keine besondere Aufmerksamkeit schenken können; nun war es mir möglich, mich auch ihrer anzunehmen. Da sie nicht arabisch verstanden und sie, als ich mit Waller redete, nicht so nahe gewesen waren, um meine Worte deutlich hören zu können, so befanden sie sich über den Zusammenhang zwischen meinem Erscheinen und seiner Flucht im Unklaren. Mary war leichenblaß. Sie hatte unbeschreibliche Angst um ihren Vater ausgestanden und war auch jetzt noch nicht befreit von ihr. Ich versuchte, sie zu beruhigen.
»Haben Sie keine Sorge! Wir reiten jetzt nach dem Hotel. Ihr Vater wird, wenn wir dort ankommen, entweder schon da sein oder sehr bald eintreffen.«
»Wissen Sie denn, wohin er ist?« fragte sie.
»Ja. Ich habe ihm das Pferd gebracht, damit er fliehen könne, und Sejjid Omar hat an der zweiten Pyramide auf ihn gewartet, um ihn sicher nach dem Menahouse zu bringen.«
»Sejjid Omar, der Eseltreiber, den er so schwer beleidigt hat?«
Sie sah mich an, als ob sie sich dies gar nicht denken könne. Dann fügte sie, indem ihre Blässe einer tiefen Röte wich, hinzu: »Und Sie, Sie sprechen deutsch! Sie haben also gehört und verstanden, was – – was – –«
»Ich habe,« unterbrach ich sie, »nichts verstanden und nichts gehört als nur das Eine, daß Mr. Waller in Gefahr sei und aus derselben herausgeholt werden müsse. Er befindet sich jetzt vollständig in Sicherheit, während aber wir daran zu denken haben, daß wir nicht hier bleiben dürfen, wenn der Zorn der Mekkapilger sich nicht nun auch gegen uns richten soll. Bitte, steigen Sie auf! Wir müssen uns beeilen, heim zu kommen; dann werden Sie Alles erfahren, was Sie jetzt noch nicht wissen.«
Sie folgte dieser Aufforderung. Die Chinesen hatten schon zwei Kamele in Beschlag genommen. Sie sprachen nicht, doch sah ich ihnen an, daß ich für sie nicht mehr bloß der fremde, gleichgültige Tischnachbar war.
Wir schlugen den geraden Weg nach den kleinen Pyramiden ein. Als wir uns ihnen näherten, kam der Schech el Beled von da, wo links die Gräber der fünften Dynastie liegen, herbeigeritten. Er hatte sich den Verfolgern beigesellt gehabt, um nötigenfalls Unheil zu verhüten, und erkundigte sich bei den uns begleitenden Treibern, wo der fremde Schech sei. Sie unterrichteten ihn über die Absicht dieses Mannes, die ihn wieder mit Besorgnis zu erfüllen schien. Er kam an meine Seite, sah mir aus halb zugekniffenen Augen in das Gesicht und fragte, indem er leise lächelte:
»Du bist ein Christ?«
»Ja,« antwortete ich ruhig. Der Wohlstand seines Dorfes hing von den Besuchern der Pyramiden ab, und von Fanatismus konnte bei ihm keine Rede sein. Ich brauchte also nicht heimlich gegen ihn zu tun.
»Und du bist schon öfters hier gewesen?« erkundigte er sich weiter.
»Ja.«
»Ich kannte dein Gesicht, hielt dich aber doch für einen Moslem, für einen vornehmen Effendi. Nun aber habe ich es mir überlegt. Du bist mit Absicht zu Pferde gekommen? Du hast gewollt, daß der Angeklagte auf ihm fliehen soll?«
Da reichte er mir seine Hand und sprach:
»So habe ich dir zu danken! Diese Flucht hat mich von einer schweren Sorge befreit. Man hätte den Amerikaner gegen meinen Willen getötet, von der Behörde in Kairo aber wäre die ganze Verantwortung auf mich geworfen worden. Du scheinst ein kluger Mann zu sein, und so darf ich vielleicht deine Einsicht bitten, mir einen Wunsch zu erfüllen?«
»Sprich!«
»Verschweig in der Stadt, was hier geschehen ist und was vielleicht noch geschehen wird! Auch die Leute des Hotels werden nicht davon sprechen, weil das Gerücht, daß die Besucher der Pyramiden ihres Lebens nicht sicher seien, die Zahl der Gäste sehr vermindern wurde. Dieser zornige Schech aus dem Bahr bela Ma wird sich zwar nicht ganz bis zum Menahouse wagen, aber seine Leute doch von Weitem so aufstellen, daß der Amerikaner ihm in die Hände fallen muß. Das macht mir schwere Sorge. Konntest du ihm denn nicht sagen, daß er direkt nach dem Hotel fliehen solle?«
»Nein. Als ich mit ihm sprach, hatte ich schon eine andere, bessere Vorbereitung getroffen, welche der Angelegenheit ein ruhiges, unbemerktes Ende geben wird. Ich wollte verhüten, daß dieser Vorfall in den Mund der Leute gebracht werde. Denke dir aber im Gegenteile, welches Aufsehen es erregt hätte, wenn der Flüchtling von seinen Verfolgern gerad nach dem Hotel gejagt worden wäre!«
»Du hast Recht! Schau! Da stehen schon Zwei, welche aufzupassen haben!«
Wir waren an der Cheops-Pyramide vorbeigekommen und lenkten in den nach dem Menahouse führenden Hohlweg ein. Da waren zwei von den Pilgern postiert. Ihr Schech hatte also wirklich seine Absicht ausgeführt und das Hotel, wenn auch nur aus der Ferne, vollständig eingeschlossen. Die beiden Männer sahen uns finster an, sagten aber nichts, als wir an ihnen vorüberkamen. Wir erreichten unbelästigt das Haus, stiegen ab, und ich zahlte den Treibern, was ich ihnen versprochen hatte. Als ich das getan hatte, trat der ältere Chinese zu mir, verbeugte sich sehr höflich und sagte, zu meinem Erstaunen deutsch:
»Mein Herr, ich ahne, daß wir Ihnen Etwas zu verdanken haben, was uns noch nicht ganz bekannt geworden ist. Wir wünschen natürlich, es zu erfahren, und bitten um die Erlaubnis, Ihnen unsern Besuch machen zu dürfen. Kann das geschehen, ohne daß wir unsere heimatlichen Namen zu nennen haben? Ich möchte nicht eine Unwahrheit sagen und wünsche doch nicht, die Namen aussprechen zu müssen. Ich werde hier Fu und mein Sohn wird Tsi genannt.«
Das war höflich und ehrlich zugleich. Es widerstrebte ihm, einen Mann zu täuschen, dem er Dank zu schulden glaubte. Eine echt und wahrhaft vornehme Gesinnung, die mich nach meinen bisherigen Beobachtungen freilich nicht überraschen konnte! Ich sagte ihm, daß er und sein Sohn mir nach dem Abendessen willkommen seien, da grad die Umstände, von denen er gesprochen habe, mich verhinderten, sie eher zu empfangen. Dann trennten sie sich von mir, nachdem ich auf mein Befragen die Versicherung erhalten hatte, daß die Verwundung des Sohnes eine ganz leichte sei und zu keiner Besorgnis Veranlassung gebe.
Die Tochter des Missionars bat ich, mich nach meinem Zimmer zu begleiten, obgleich diese Aufforderung unter anderen Umständen fast so viel wie eine Beleidigung für eine Dame sei; ich wollte ihr aber die Freude machen, die Erste zu sein, von der ihr Vater bei seiner glücklichen Ankunft empfangen werde. Sie zögerte nicht, mir diesen Wunsch zu erfüllen.
Als wir hinaufkamen, stand die Tür genau so weit offen, wie ich sie offen gelassen hatte; es war also noch Niemand von draußen in das Zimmer getreten. Der Stuhl, auf welchem ich gesessen hatte, stand noch im Freien; ich nahm einen zweiten mit hinaus, und wir setzten uns nieder. Die Sonne nahte dem Untergang, es war nur noch kurze Zeit bis zum Eintritt der Dunkelheit, und ich nahm an, daß Omar sein Möglichstes tun werde, mit seinem Begleiter noch vor derselben das Hotel zu erreichen. Es handelte sich dabei auch um die Gefährlichkeit der Bodenverhältnisse in der Nähe der Pyramiden, wo es so viele eingestürzte oder nur schlecht wieder zugeschüttete Gräber und unterirdische Gänge gibt, daß nach Sonnenuntergang ein Ritt für den, der solche Stellen nicht ganz genau kennt, tunlichst zu vermeiden ist.
Wir saßen fast ganz still neben einander. Miß Mary war verlegen, und ich befand mich nicht in der Stimmung, die Zeit mit einem Gespräch über irgend einen gleichgültigen Gegenstand auszufüllen. Ich sagte ihr kurz, daß ich von Sejjid Omar die Bedrängnis ihres Vaters erfahren und was ich ihm hierauf für eine Weisung gegeben hatte. Sie tat, als ob sie durch diese Mitteilungen beruhigt worden sei, war es aber wahrscheinlich nicht, wenigstens nicht ganz, wie mir ja gerad durch ihre Wortkargheit bewiesen wurde.
Wir mochten wohl über eine Viertelstunde, nur zuweilen ein kurzes Wort sprechend, nebeneinander gesessen haben, als wir aus der Richtung, aus welcher die beiden Reiter zu erwarten waren, einen Fußgänger kommen sahen. Er war genau wie Omar gekleidet, war aber Omar nicht, welcher einen gravitätischeren Gang und eine geradere Haltung als dieser Ankömmling hatte. Was hatte er hier oben auf dieser unwegsamen Düne zu suchen, welche zum Hotel gehörte und von den Fellachen nicht betreten werden durfte? Es gab hier gar nichts Anderes; sein Ziel konnte nur die Außentüre meines Zimmers sein!
Die Augen der Kindesliebe waren schärfer als die meinen. Mary sprang auf.
»Mein Vater, ja, mein Vater ists!«
Mit diesem Ausrufe eilte sie von mir fort und ihm entgegen. Er blieb stehen, und als sie ihn erreichte, sah ich, daß er sie mit einer Umarmung empfing und sie küßte. Ich hätte mich so gern entfernt, mußte aber bleiben, weil sie gezwungen waren, durch meine Wohnung zu gehen. Auch mußte ich doch erfahren, wo Omar mit den Pferden steckte, für welche ich um so mehr verantwortlich war, als man sie mir nicht gegen Bezahlung, sondern aus Gefälligkeit geliehen hatte.
Ich sah, daß die Tochter mir den Vater schnell zuführen wollte; aber er hatte zu fragen; sie mußte antworten, und so dauerte es einige Zeit, bis sie zu mir kamen, sie leicht und schnell, mit frohem Lächeln im Gesicht, er langsamer, zögernd und in sich wohl ungewiß darüber, wie er sieh gegen mich verhalten solle. Da aber packte ihn seine eigentliche bessere Natur: Er tat einige rasche Schritte auf mich zu, streckte mir beide Hände entgegen und sagte in einem Tone, den ich nicht anders als aufrichtig herzlich nennen kann:
»Ieh bitte um Verzeihung! Von Dank will ich nicht sprechen; den brauchen Sie ja nicht. Aber die andere Schuld, in der ich Ihnen gegenüber stehe, die müssen Sie mir abnehmen, wenn Sie mit mir nicht auf halbem Wege stehen bleiben wollen!«
Ich erwiderte den Druck seiner Hand und antwortete, sehr froh über diese liebe, gute Aufwallung seines Innern:
»Sprechen wir jetzt nur von der Gegenwart, zunächst von diesem Tarbusch und von diesem Mantel! Ich vermute, daß beide meinem Sejjid Omar gehören?«
»Ja, sie sind vom ihm. Ich habe natürlich kein Wort von ihm verstehen können, aber was ist dieser Eseltreiber doch für ein braver, prachtvoller Kerl!«
»Bitte, kommen Sie mit in das Zimmer, damit man Sie nicht von unten aus in diesem Anzug stehen sieht!«
Sie folgten beide dieser Aufforderung, und dann erzählte der Amerikaner von seinem Ritte:
»Ich lasse alles Vorhergehende weg; wir sprechen später darüber; aber es ist mir klargeworden, daß dieses Abenteuer ohne Sie ein schlimmes Ende für mich genommen hätte. Dieser aufgeregte Muhammedaner stach ja sofort mit dem Messer zu! Und daß seine Leute die Messer vor sich in die Erde steckten, das hatte Blut zu bedeuten. Ich erinnere mich, darüber gelesen zu haben. Da kamen so plötzlich Sie und fragten mich, ob ich reiten könne. Glücklicherweise habe ich es gelernt. Ich sitze ziemlich fest, auch ohne Sattel. Als ich die zweite Pyramide erreichte, sah ich Sejjid Omar dort halten. Er sagte Etwas, was ich nicht verstand, und deutete mir durch Gesten an, daß ich ihm folgen solle. Es ging nach West; links lag die dritte der großen Pyramiden. Dann wendete er sich mehr nach Norden. Wir kamen an alten, zerstörten Felsengräbern vorüber. Es gab keinen Weg; das Terrain war ungemein schlecht zum Reiten. Er suchte die besten Stellen aus, aber es ging trotzdem nur langsam vorwärts. Gut, daß wir keine Verfolger hinter uns sahen! Dann folgte tiefer, tiefer Sand, in dem wir abwärts ritten. Ich bemerkte, daß Omar einen weiten Bogen nach dem Hotel beabsichtigte. Wir sahen es einige Male liegen, aber immer wieder kehrte er um; ich wußte nicht warum. Als ich ihn fragte, verstand er zwar nicht meine Worte, dafür aber meine Gesten, und als er mir antwortete, brachte ich ihm ganz dasselbe Unverständnis für das, was er sagte, und aber auch dieselbe Einsicht für die sprechenden Bewegungen seiner Arme und Finger entgegen. Er sagte mir durch diese Zeichen, daß das Hotel ringsum eingeschlossen sei, weil ich von den nach meinem Blute dürstenden Pilgern abgefangen werden solle.«
»Sie haben ihn richtig verstanden,« bemerkte ich, als er eine Pause machte. »Diese Leute stehen überall, woher Sie kommen könnten, und werden wohl die ganze Nacht hindurch stehen bleiben, wenn sie nicht durch einen Zufall erfahren, daß Sie entschlüpft sind.«
»Was dieses Entschlüpfen betrifft, so war es gar nicht leicht,« fuhr er fort. »Ich weiß nicht, was für eine Weisung Sie Omar gegeben hatten, aber er schien mich nicht nur überhaupt sondern auch ganz unbemerkt durch die Reihen dieser Posten bringen zu wollen. Einmal, als wir wieder hinter einer Erhöhung hervorlugten und mehrere Wachen stehen sahen, schien ihm ein guter Gedanke zu kommen. Er sprach lange und eindringlich auf mich ein und nahm dabei alle Fremdwörter zu Rate, deren er in seinem Gedächtnisse habhaft werden konnte. Als ich trotzdem so unwissend blieb, wie ich war, stieg er ab und forderte mich auf, dasselbe zu tun. Dann deutete er nach der Gegend, in welcher das Hotel lag,und machte eine Zeichnung in den Sand. Auf einen Punkt dieser Zeichnung deutend, wiederholte er mehrere Male die beiden Worte "Bab" und "Chambre". Daß Chambre das französische Wort für "Zimmer" ist, weiß Jedermann, und aus dem Plan von Kairo ist mir zufällig bekannt, daß Bab soviel wie Tür oder Tor bedeutet. Der Sejjid sprach also von einer Zimmertür, aber von welcher denn? Wie es ihm gelungen ist, mich endlich klug zu machen, das weiß ich nicht, aber es kam doch der Augenblick, an welchem ich ihn mit Hilfe seiner Zeichnung begriff: Ich hatte den Haupteingang zu vermeiden und mich oben nach der von der Cheops-Pyramide abfallenden Sanddüne zu wenden, auf welcher das erste Stockwerk des Hotels auf dieser Seite ein Paterre bildet. Dort gibt es eine offenstehende Tür, nach welcher ich zu gehen hatte. Als ich ihm unter fleißiger Anwendung von "Bab" und "Chambre" klar gemacht hatte, daß er verstanden worden sei, strahlte sein Gesicht vor Freude. Er zog seinen Mantel aus, unter welchem er ein langes, helllbraunes, hemdartiges Gewand trägt, und gab ihn mir um. Dann ballte er meinen neuen Hut zusammen, schob ihn in seine weite Hosentasche und setzte mir dafür seinen Tarbusch auf, an dessen Stelle er sich mein Taschentuch um den Kopf wickelte. Dann stieg er auf sein Pferd, nahm das meinige am Zügel und ritt davon, absichtlch so, daß ihn die Posten bald bemerkten. Sie rannten auf ihn zu, wodurch sie mir den Weg freigaben. Er ließ sie nicht an sich herankommen. Sie schrien ihm zu und verdoppelten ihre Eile, mit ihm zu reden. Dadurch lockte er sie immer weiter fort, und ich ging langsamen Schrittes nach der mir vorgeschriebenen Gegend. Sie sahen mich von Weitem, achteten aber nicht auf mich, weil sie mich infolge des Tarbusch und des Mantels für einen Araber hielten. Ich erreichte die Düne, ging ihr entlang und kam an die bewußte Tür, welche, was ich freilich nicht geahnt hatte, die Tür der Wohnung meines Retters ist.«
Nun hielt der Erzähler inne. Er hatte in einem heiteren Ernste gesprochen, der ihm weit besser zu Gesichte stand als der selbstbewußte, schnarrende Ton, der ihm sonst so eigen war. Er kam mir jetzt ganz anders vor, gar nicht so ungesund fromm und salbungsvoll, wie ich ihn bisher gesehen hatte. Welchen viel, viel besseren Eindruck macht doch der Mensch, wenn in ihm die gute Natur über das künstlich Gemachte siegt!
»Und nun aber der Dank!« erinnerte seine Tochter. »Oder war es wirklich dein Ernst, nicht von ihm sprechen zu wollen?«
Ich wehrte mit der schnellen Bitte ab, dies Wort weder jetzt noch später zu erwähnen. Da klopfte es an, und als ich ein lautes »Fut!« gerufen hatte, kam der Sejjid herein, welcher meldete, daß er glücklich angekommen sei und die Pferde nach dem Stalle geschafft habe. Ich wußte, wie man Orientalen seines Standes und seiner Art zu nehmen hat, reichte ihm meine Hand, was an und für sich schon eine Auszeichnung war, und sagte:
»Du hast deine Sache gut gemacht, Omar. Ich engagiere dich; du wirst mein Diener sein und mich begleiten dürfen. Stände Mohammed, dein Prophet, an meiner Stelle, so würde er dir ganz dasselbe sagen, was ich dir schon gesagt habe: Du sollst vor allen Dingen ein guter Mensch sein, und du bist es heut gewesen. Bleibe stets und immer so, wie du an diesem Tage warst!«
Mr. Waller gab ihm den Mantel und den Tarbusch wieder, wofür er sein Taschentuch und den freilich sehr zusammengedrückten Hut zurückbekam, und bat mich, dem Sejjid die Worte zu übersetzen, die er ihm zu sagen habe. Sie lauteten:
»Ich habe dich um Verziehung zu bitten. Gieb mir deine Hand!«
Omar befand sich infolge meiner Rede in gebobener Stimmung. Die Bitte des Amerikaners aber schien ihm noch tiefer zu gehen. Seine Augen bekamen einen feuchten Glanz. Er streckte ihm die Hand in bescheiden zögernder Weise hin und antwortete:
»Ich habe dir meine Hand, wenn auch nur die Unsichtbare, schon draußen an der Pyramide gegeben, als du geritten kamst, um dich von mir führen zu lassen. Und ich habe dir dann noch mehr gegeben, indem ich dir meine Kleider gab, welche ich wieder anlegen werde, ohne sie reinigen zu lassen, obgleich ein Christ sie getragen hat. Wenn Allahs Hand an die Güte eines Menschen klopft, soll dieser nicht nach dem Glauben seiner Brüder fragen. Das ist es, was ich heut gelernt habe. Und daß ich es gelernt habe, das macht mich so froh, wie ich noch nie gewesen bin!«
Er ging.
Waller sah mich, als ich ihm diese Worte übersetzt hatte, erstaunt an und sagte:
»Der spricht ja genau wie ein Christ! Sollte man das für möglich halten? Uebrigens ein prächtiger Mensch, den man lieb haben muß!«
Ich hütete mich, zu seinen Worten irgend eine Bemerkung zu machen. Es hatte ihn in diesem Augenblick die Hand eines lieben, von allem Erdenstaube reinen Engels berührt, und solche Momente lassen nur dann die Spur der Engelshand zurück, wenn sie durch keine Störung unterbrochen werden. Er schien von einem Gefühl hierfür geleitet zu werden, indem er aus dem Zimmer hinaus in das Freie trat.
»Bitte, stören wir ihn nicht!« bat seine Tochter. »Ich möchte, daß dieses Erlebnis in dem friedlichen Tone ausklinge, in welchem das – – –«
Sie sprach den Satz nicht aus, sah mir halb verlegen, halb erwartungsvoll in das Gesicht und fragte dann:
»Sie haben wohl Vieles oder gar Alles gehört, was an unserm Tisch gesprochen worden ist?«
»Das Meiste,« gab ich aufrichtig zu.
»Auch die Strophe, welche ich gefunden habe?«
»Auch diese.«
»Nun wohl: So wie diese möchte der heutige Tag für Vater ausklingen! Sie wissen nicht, warum ich mich nicht scheue, Ihnen das zu sagen, und ich weiß es auch nicht. Es ist Etwas in mir, was Sie schon früher gesehen hat. Bitte, lächeln Sie nicht! Ich bin keine Phantastin; aber es ist mir, als ob ich Sie schon irgendwann und irgendwo getroffen und da so recht in vollem Vertrauen mit Ihnen gesprochen hätte. Nehmen Sie dies offene Wort aber ja als eine Seltenheit von mir, als wenn Sie es nicht abweisen, eine kleine Vergeltung für das, was Sie heut für uns gewagt und getan haben!«
Da kam ihr Vater wieder herein und machte die Bemerkung, daß es ihre Pflicht und nun wohl auch an der Zeit sei, sich nach dem Befinden des verwundeten Chinesen zu erkundigen. Dann lud er mich ein, das Abendessen nicht so allein, wie in Kairo, sondern an seinem Tische einzunehnen, und ich sagte zu.
Als ich niich dann unten im Speisesaale einstellte, waren die Chinesen nicht da; sie speisten in ihrem Zimmer. Es sprach sich durch die Bedienung von Tisch zu Tisch herum, daß mit der Tramway ein Leutnant mit Soldaten aus Kairo angekommen sei, um die fremden Mekkapilger noch am Abend von hier fortzubringen. Das war jedenfalls die Folge davon, daß der Schech el Beled von el Kafr einen Boten in die Stadt geschickt hatte. Die eigentliche Ursache dieser Maßregel schien man noch nicht zu kennen, und wir hatten keinen Grund, gegen Andere von ihr zu sprechen.
Waller verhielt sich überhaupt sehr schweigsam, und das Gespräch wurde nur von Mary und mir in der Weise wach erhalten, daß es nicht ganz zum Einschlafen kam. Doch als ich erwähnte, daß Monsieur Fu und Monsieur Tsi zu mir kommen würden, bat er mich, ihn, wenn sie bei mir seien, zu benachrichtigen, ob auch er sich einstellen könne, ohne uns zu stören.
Als wir nach dem Essen in den Flur kamen, saß der erwähnte Leutnant da. Man machte sich an ihn, um Näheres zu erfahren, doch sagte er weiter nichts, als daß er die Pilger heut hinein nach Bulak zu bringen habe, worauf sie dann morgen früh per Bahn nach Wasta abgeschoben würden. Das war mir lieb, zu hören, weil nun die Tour nach Sakkara unternommen werden konnte, ohne daß Waller eine Fortsetzung der heutigen Fährlichkeit zu befürchten hatte.
Was meinen Besuch betraf, so sollte er nicht im kleinen, dumpfen Zimmer sitzen. Ich ließ einen Tisch mit Stühlen hinaus vor die Tür bringen, um die Genugtuung zu haben, ihnen das Beste zu bieten, was Gizeh demjenigen Besucher bieten kann, welcher das geistige Auge und die seelische Empfänglichkeit dafür besitzt: den von den anderen Gästen nicht gestörten Anblick der Pyramiden beim Mondesschein.
Als die beiden Erwarteten kamen, führte ich sie hinaus, und sie waren herzlich gern damit einverstanden. Der Mond war eben erschienen, und die ernste, schwere Poesie des ägyptischen Altertums stand aus den Gräbern auf, um bleich, doch nächtlich schön von den Riesenbauten vergangener Jahrtausende auf uns, die winzigen Gäste der Gegenwart, herabzuschauen.
Die Chinesen hatten wohl nur einen kurzen Höflichkeitsbesuch beabsichtigt, aber der Eindruck, dem sie sich nicht entziehen konnten, war so gewaltig und so fesselnd, daß sie garnicht daran dachten, diesen besten Platz, den das Menahouse-Hotel besitzt, so bald wieder zu verlassen. Und mir wurde außerdem die Freude, daß sie, als ich ihnen den Wunsch des Amerikaners mitteilte, mir die Erlaubnis gaben, nicht nur ihn, sondern auch seine Tochter zum Kommen aufzufordern.
Dann saßen wir wohl bis über Mitternacht beisammen, China, die Vereinigten Staaten und Deutschland, oder Asien, Amerika und Europa, in Eintracht und Frieden auf afrikanischem Boden, von allem Guten, Edlen, Schönen und Erhabenen sprechend, aber nicht vom Unterschiede der Religionen, von den Gegensätzen der Volksinteressen und von dem Vortrittsrechte besonderer Nationalitäten. Es war ein Abend, den ich nie vergessen werde, und als wir uns trennten, taten wir es in dem Bewußtsein, daß alle Menschen so zusammengehören, wie wir in diesen unvergleichlichen Stunden sowohl äußerlich wie auch innerlich vereint gewesen waren.
Dem Amerikaner drückte ich ganz besonders warm die Hand. Er war so rücksichtsvoll, so mild, so weich gewesen und nicht ein einziges Mal in seinen schnarrenden Ton gefallen.
»Es klingt so aus, wie ich es wünschte,« flüsterte mir seine Tochter zu. »Ich segne die, die heut durch diese Steine so gewaltig und doch so lieb, so wunderbar zu uns gesprochen haben. Jawohl, es ist gewiß und sicher so: Der Tote ist nur dann und darum tot, wenn und auch weil er Niemand hat, zu dem er sprechen kann!«
Am anderen Morgen waren die Pilger fort, und der Ritt nach Sakkara wurde ein ganz anderer, als ich ihn geplant hatte. Wir fünf schlossen uns zusammen; ein Dolmetscher wurde nicht mehr gebraucht, und mein Sejjid Omar war ganz stolz darauf, der Einzige zu sein, der uns bediente.
So wurde es auch nach unserer Rückkehr nach Kairo gehalten. Wir machten alle Ausflüge gemeinsam, bis ich mich als der Erste gezwungen sah, zu scheiden. Meine Vorbereitungen waren getroffen; es zog mich nilaufwärts, dem Sudan zu.
Als ich den festen Entschluß kundgab, übermorgen abzureisen, machte Fu den Vorschlag, den letzten Abend wieder bei den Pyramiden zuzubringen, und wir Andern stimmten alle bei. Das Hotel war nicht sehr besetzt, und so bekamen wir leicht dieselben Zimmer, welche wir bei unserer vorigen Anwesenheit gehabt hatten. Das Abendbrot nahmen wir auf der hohen Düne vor meiner Wohnung ein.
Der Mond schien dieses Mal nicht; aber das magische Licht der Sterne zeigte uns die Flächen und Konturen der Pyramiden in jener Schärfe, in welcher grad das irdisch Große vom Himmel abzustechen pflegt, und ließ sie also in einer ganz andern, ernsteren Sprache zu uns reden, als diejenige war, in welcher sie jüngst zu uns gepredigt hatten.
Es war keineswegs meine Absicht, in die Geheimnisse der beiden ebenso hochgebildeten wie liebenswürdigen Chinesen einzudringen, aber eine Aeußerung Fu's gab mir Veranlassung, anzunehmen, daß er Dipolmat sei. Und Tsi sprach, wenigstens zu uns, ganz aufrichtig davon, daß er längere Zeit erst in Berlin und dann auch in Paris studiert habe, um die Anschauung des Westens mit derjenigen des Ostens vergleichen und über das Verhältnis beider zu einander zu einem klaren Resultate kommen zu können. Er hatte sich besonders, wie auch daheim, mit der Heilkunde beschäftigt; sein Lieblingsfach aber war Psychologie.
Wie kam es wohl, daß Waller, seit er mit uns verkehrte, sein Lieblingsthema fast gar nicht mehr berührte? Er schien vollständig vergessen zu haben, daß es Heidentempel gebe, welche zu zerstören seien. Lag der Grund hiervon nur in ihm allein oder auch in uns? Fu und Tsi waren Personen, in deren Gegenwart es sich ganz von selbst verbot, gehässig zu sprechen. Es fiel von seiten des Amerikaners nichts Peinliches mehr vor. Mary war rührend glücklich hierüber. Und als wir am Schluß dieses friedlich schönen Abends Abschied voneinander nahmen, taten wir es alle mit dem Wunsche, uns irgendwann und irgendwo einmal wieder treffen zu dürfen. Es soll aber Menschen geben, bei denen der Wunsch der Vater der Erfüllung ist! – – –