Karl May
Am Stillen Ocean
Karl May

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Zweites Kapitel

»Im Lung-keu-siang«

AIs ich erwachte, war es bereits Morgen. Ich hätte aber wohl noch länger geschlafen, wenn mir nicht bei einer Drehung des Kopfes das Gesicht in das Wasser geraten wäre. Alle Müdigkeit und jede Folge des Ruderschlages war verschwunden. Ich erhob mich. Tiefe Fußtritte in dem weichen Boden waren die einzigen Ueberreste, welche von dem nächtlichen Kampfe zu bemerken waren, und trotz aller Aufmerksamkeit konnte ich keinen Tropfen Blutes entdecken, welcher mir verraten hätte, daß eine unserer Kugeln getroffen habe.

Drüben am nördlichen Horizonte sah ich die Mauern des Kuang-ti-miao liegen, und auf der entgegengesetzten Seite zeigte eine langgedehnte Nebelschicht, wie weit wir vom Flusse entfernt waren. Wir hatten höchstens eine halbe Stunde zu gehen, um ihn zu erreichen.

Ich weckte den Kapitän:

»Schiff, ahoi – ihhh!«

Er sprang mit gleichen Beinen empor.

»Ahoi –! Barke ›The wind‹ aus – – alle Wetter, Ihr seid es, Charley? Ich will doch nicht hoffen, daß Ihr mich zum Narren – – hm, in welchen Breiten liegen wir hier denn eigentlich vor Anker?«

»Bitte, Kapt'n, legt Euern Kopf ein wenig hier in mein Wasserloch, dann wird die nötige Besinnung sofort eintreten!«

»Ah, richtig! Da drüben liegt der Götzentempel, dort der Fluß und hier – hier die niederländische Lady, welche zwei Scheffel Melonen, Oliven und Nüsse verzehren kann.«

»Dafür aber auch ihr Ruder brav zu führen versteht, Kapt'n.«

»Weiß es! Ist ein prächtiges Weibsbild: hat ja zugeschlagen, wie ein Hochbootsmann. Wollen wir sie wecken?«

»Wird wohl notwendig sein.«

»Schön; werde es selber machen.«

Er trat zu der Schlafenden.

»Pst, Mylady, Mis'siß, Miß – – ! Wollt Ihr nicht so gut sein und die Augen aufmachen? Die Sonne hat schon längst die Anker gelichtet.«

Sie erhob sich.

»Goeden Morgen, mijne Heeren! Heb ik zu lang geslapen?«

»Good morning! Nein, denn ich bin auch gleich erst unter Segel. Aber der da ist schon länger auf.«

»Mynheer, hoe gaat het mit Ihrem Kopf?« fragte sie besorgt.

»Danke, Mejeffrouw; er ist vollständig hergestellt. Wollen wir aufbrechen, Kapt'n?«

»Ich denke nicht, daß wir hier noch etwas zu thun haben. Wir können mit Ehren abziehen, denn wir haben das Schlachtfeld behauptet.«

»Aber eine unangenehme Affaire war es doch, und von allzu großem Ruhme ist keine Rede, denn wir haben unsere ganze Bagage und auch das eroberte Boot eingebüßt.«

»So ganz unrichtig ist dies allerdings nicht; aber wir haben eine Lady befreit, Charley, grad so, wie es in Romanen zu lesen oder im Theater zu sehen ist. Das haben Tausende in ihrem ganzen Leben nicht fertig gebracht, und das ist also etwas, wovon man sprechen kann, wenn man zu Hause ist. Seht, Charley, es ist doch richtig, was Ihr sagt: Man muß in die weite Welt gehen, um Land und Leute kennen zu lernen, und wenn man nun gar eine so schwere Sprache gelernt hat, wie die chinesische ist, so gehört gar nicht viel dazu, solche Bücher und Geschichten zu schreiben, wie Ihr sie macht.«

»Irrt euch nicht, Kapt'n! Die chinesische Sprache ist auch nicht schwieriger als jede andere; daß sie so ungemein schwer sein soll, ist nur eine Annahme, die einer von dem andern übernommen hat, ohne den Gegenstand näher zu kennen.«

»Well! Aber wir beide kennen ihn durch und durch, nicht wahr? Es soll mich verlangen, was sie in Hoboken bei Mutter Thick in der Kapitänsstube sagen werden, wenn der alte Frick Turnerstick anfängt, geläufig chinesisch zu reden. Das ist ganz sicher das Absonderlichste, was seit langen Jahren dort passiert sein wird. Meint Ihr nicht auch, Charley?«

»Ich bin vollständig überzeugt, daß sie alle staunen werden. Doch vorwärts; denn ein längeres Bleiben hat keinen Zweck.«

»Am liebsten möchte ich jetzt noch nicht nach dem Flusse, sondern zurück nach dem Tempel, um noch einmal mit diesen Drachenmännern zu reden.«

»Kann vielleicht geschehen, denn wir werden das erste europäische oder amerikanische Fahrzeug, welches wir treffen, um Hilfe bitten.«

»So wollt Ihr bei den Chinesen selbst keine Anzeige machen?«

»Muß sich erst finden.«

Wir schritten nach dem Hauptkanale zu und folgten ihm, dem Flusse entgegen. Grad als wir diesen erreichten, kam eine holländische Pinasse herbei, welche stromabwärts segelte. Das traf sich sehr glücklich. Wir riefen sie an, und sie folgte unserm Rufe.

»Wohin das Fahrzeug?« fragte der Kapitän, als sie anlegte.

»Nach Macao, Schiff ›De valk‹ aus Amsterdam.«

»Wollt Ihr uns einen Gefallen thun?«

»Welchen?«

»Hier ist eine Lady aus Macao, welche die Strompiraten in die Gefangenschaft schleppten. Wir haben sie frei gemacht. Wollt Ihr sie mitnehmen?«

»Eine Holländerin, nicht wahr?«

»Yes; ein sehr braves Weibsbild; das kann ich Euch versichern.«

»Herein mit ihr!«

»Und die Passage? Werde sie abmachen.«

»Wer seid Ihr?«

»Kapitän Turnerstick vom ›The wind‹ New-York.«

»Seid ein Ehrenmann, Mynheer. Die Passage soll Euch nichts kosten; es ist ja eine Landsmännin, die wir einnehmen.«

»Well; seid ebenso brav, ihr Leute. Grüßt mir euren Kapt'n!«

»Danke! Wollt ihr nicht mit?« »Nein; wir gehen stromauf.« »Habt auch sonst keine Besorgung?« »Keine.« »Dann met God, Kapitein!« »God bye!«

Unser ›Meisje‹ konnte sich gar nicht so schnell von uns trennen; es dauerte noch einige Minuten, bis sie uns den tausendsten Teil von dem gesagt hatte, was sie uns unbedingt noch sagen mußte, und die Pinasse befand sich beinahe in der Mitte des Stromes, als uns die tapfere Köchin noch immer lauten Dank für ihre Rettung herüber rief. Die letzte Versicherung, welche ich vernahm, endete damit, ›de slechte Gezelschap hängen laten!‹

jetzt konnten wir nichts anderes thun, als ruhig am Ufer warten, bis sich ein passend bemanntes Fahrzeug sehen ließ. Bei dem regen Verkehre, welcher auf dem Strome herrscht, konnte unsere Geduld voraussichtlich gar nicht lange auf die Probe gestellt werden, und wirklich kam auch bereits nach kurzer Zeit eine kleine englische Privatyacht den Fluß heraufgedampft und hielt auf unser Zeichen auf das Ufer zu und legte an.

»Was giebt's?« fragte der Kapitän vom Deck herab. »Wollt ihr mitfahren?«

»Wohin der Kurs, Kapt'n?« »Nach Wampoa und Canton.« »Gehen mit, wenn Ihr eine Stunde hier halten wollt.« »Weshalb?« »Werdet es hören. Laßt uns ein Tau herab!« In der nächsten Minute standen wir oben vor dem Kapitän. »Seid ein Amerikaner der Sprache nach?«

»Yes, Sir. Kapitän Turnerstick vom ›The wind‹ aus New York, vor Anker in Hongkong.«

»Ah! Habe das Schiff gesehen. Und dieser Mann?«

»Mein Freund, ein Kerl, der in aller Welt umherläuft, um Land und Leute kennen zu lernen. Habe das bisher für eine riesige Dummheit gehalten; bin aber jetzt dahinter gekommen, daß diese Sache gar nicht zu verwerfen ist.«

»Und wollt jetzt hinauf, um Euch Canton anzusehen?«

»Yes, Sir. Vorher aber wollten wir Euch bitten, uns einige Mannen mitzugeben, um eine Gesellschaft von Flußpiraten auszuheben, welche ganz hier in der Nähe sind.«

»Drachenmänner vielleicht?«

»Richtig, Sir. Sie haben uns gestern überfallen, mit Stinktöpfen betäubt und nach einem Tempel geschafft, wo sie jetzt wohl noch zu finden sind.«

»Ist's so, dann sollt Ihr meine Jungens haben und mich dazu. Allerdings kann ich den Steamer nicht unbewacht lassen, aber zwölf Mann stehen zur Verfügung.«

»Ist mehr als genug, Kapt'n.«

»Wie weit ist der Ort von hier?«

»Nicht viel über drei Meilen.«

»Wird in einer halben Stunde gemacht. Meine Boys verstehen zu rudern. Wie viele Drachenmänner sind es wohl?«

»Hm, so zwanzig oder dreißig; hat aber nichts zu sagen, denn ein guter Englishman wiegt zehn von ihnen auf.«

»Weiß es bereits. Kommt in die Kajüte und nehmt zwei Bissen und einen Schluck, denn ich glaube nicht, daß Ihr Euch bei diesem Gesindel den Magen verdorben habt. Muß Euch übrigens meinen Namen auch sagen: heiße Tom Halverstone aus Greenock am Clyde; wißt's schon, wo die schärfsten und adrettesten Dampfer gebaut werden.«

»Kenne den Ort und muß ihm seine Ehre lassen. Also vorwärts, Kapt'n, denn ein Frühstück ist für den Menschen das, was eine gute Maschinenkohle für den Dampfer ist: ohne beides ist von einer sauberen Fahrt gar niemals die Rede.«

Während wir unten tüchtig zulangten, traf der Kapitän an Deck seine Vorbereitungen, und nach einer Viertelstunde saßen unser fünfzehn wohl bewaffnete Männer in einem langen, schmalen Cuttingboote, welches über das Wasser des Kanales flog, als ob es aus einer Kanone geschossen worden sei.

»Was war der Anführer der Drachenmänner für ein Kerl?« fragte Halverstone.

»Ein Mongole vom Stamme der Dschiahurs.«

»Dachte, die Leute gehörten vielleicht zur Bande des Kiang-Lu, der so viel von sich reden macht.«

»So ist es auch, denn dieser Dschiahur ist nur ein Unteranführer von ihm.«

»Well, so ist mir die kleine Expedition desto interessanter. Ich hoffe, daß wir sie treffen werden!«

»Ich bezweifle und bin nicht der Meinung meines Freundes Turnerstick. Nach dem, was heut in der Nacht vorgefallen ist, werden die Piraten jedenfalls so klug gewesen sein, den Kiang-ti-miao zu verlassen.«

»Erzählt doch einmal die Geschichte ausführlicher, wenn ich Euch darum bitten darf.«

Ich erstattete ihm so weit Bericht, wie es mir nötig schien, that aber meines Talismans und auch einiger anderer Umstände keine Erwähnung. Turnerstick war so klug, es dabei bewenden zu lassen.

»Das ist ja nicht nur ein Ereignis, sondern ein förmliches Abenteuer gewesen,« meinte Halverstone. »Nun glaube ich auch, daß sich diese Schlingel aus dem Staube gemacht haben. Aber ganz umsonst wird unsere Fahrt doch nicht sein, denn ich werde wenigstens Gelegenheit haben, einen dieser chinesischen Tempel in Augenschein zu nehmen.«

Es war kaum eine halbe Stunde vergangen, so legten wir an derselben Stelle an, an welcher wir gestern ausgestiegen waren. Gestern war es mir im Dunkel des Abends schwierig erschienen, die Richtung zu merken, heut aber war es uns sehr leicht geworden, den Tempel zu finden, den wir am Morgen ja bereits gesehen hatten.

Zu meiner Ueberraschung hielten am Eingange zwei Männer Blumen und Räucherstäbchen feil. Wir stiegen eine breite Steintreppe zu ihnen empor.

»Tsing-tsing!« grüßte ich. »Ist hier der Zutritt erlaubt?«

»Hier kann jeder eintreten, der dem Diener des Gottes ein Kom-tscha giebt,« lautete die Antwort.

»Ist dieser Diener zugegen?«

»Er ist im Innern des Miao; du wirst ihn sehen, wenn du hineingehst. Doch mußt du dem Gott auch ein Opfer bringen.«

»Worin besteht dies?«

»In Blumen und Tsan-hiang, welche du anbrennst.«

Der Mann wollte natürlich etwas verdienen. Ich ließ ihm seine Blumen und Tsan-hiang und gab ihm lieber ein kleines Kom-tscha, welches er mit großem Danke annahm und sofort mit seinem Gefährten teilte.

»Sind viele Kuang-ti-dse in diesem Miao?« fragte ich.

»Es ist noch keiner hier.«

»Seit wann steht ihr heute hier?«

»Seit die Sonne aufgegangen ist.«

»Wird auch des Nachts der Gott von seinen Gläubigen angebetet?«

»Ja.«

»Da seid ihr auch hier?«

»Nein. Des Nachts kommen nur diejenigen Gläubigen, welche sich nicht vor den bösen Geistern fürchten, mit denen der mächtige Kuang-ti kämpft, sobald es dunkel geworden ist.«

»Kommen diese bösen Geister alle Nächte herbei?«

»Ich weiß es nicht; aber heut sind sie hier gewesen, denn sie haben dem Stallmeister des Gottes das Schwert entrissen. Kuang-ti aber ist stark und mächtig; er hat sie vertrieben.«

»Was sagt der Mensch?« fragte Turnerstick. »Er spricht ja ein ganz armseliges Chinesisch!«

»Er sagt, daß wir chinesische Kriegsgötter sind.«

»Er hat wohl einige Speichen zuviel oder zu wenig im Steuerrade?«

»Möglich. Er meint, daß diese Nacht böse Geister hier gewesen seien, welche dem Götzen das Schwert entrissen haben; aber der mächtige Kuang-ti hat sie vertrieben. Folglich sind wir Kuang-tis oder Kriegsgötter.«

»Diese beiden Männer wissen vielleicht ebenso gut wie wir, was vorgegangen ist, werden sich aber hüten, es zu sagen.«

»Kann sein.«

»Sind die Drachenmänner noch hier?«

»Nein.«

»Well, so werden wir diese Rinaldinibude einmal genau untersuchen!«

Wir traten durch den Eingang in einen Hof, welcher ein Rechteck bildete und nichts zeigte, als zwei kleine achteckige Pagoden, welche je im Mittelpunkte seiner beiden schmalen Seiten standen. Durch ein zweites Thor gelangten wir in einen andern Hof, wo wir rechts und links zwei kleine offene Nebentempel erblickten, in denen die dicke Figur des Kuang-ti nebst der gewöhnlichen Gesellschaft seines Sohnes und Stallmeisters saß. Durch ein drittes Thor traten wir sofort in den Haupttempel, den wir gestern abend bereits betrachtet hatten. Hinter der Bildsäule des Götzen befand sich die auch schon erwähnte Rumpelkammer, an den beiden hintersten Ecken des Raumes aber führte je eine Thür in einen Hof, in welchem nichts als ein viereckiges Wasserloch zu erblicken war. Das Ganze wurde von einer starken, vielleicht fünfzehn Fuß hohen Backsteinmauer umgeben und bildete ein Rechteck, dessen Riß nebenstehend beigefügt ist, weil der Plan eines chinesischen Götzentempels vielleicht von Interesse sein dürfte.

Erst als wir aus dem Haupttempel in den letzten Hof traten, erblickten wir den gesuchten ›Diener des Gottes‹, und zu meiner lebhaften Ueberraschung erkannte ich in ihm den Mann, welcher gestern mit der berühmten Luntenflinte so ausgezeichnet manövriert hatte. Er trug jetzt einen Bonzenanzug.

»Erkennt Ihr den Menschen, Kapt'n?« fragte ich Turnerstick.

»Blitz und Knall, ist das nicht der famose Artillerist, der die fürchterlich krumme Feldschlange hatte?«

»Also irre ich mich nicht, denn Ihr erkennt ihn auch.«

»Dieser Priester ist einer der Drachenmänner?« fragte Halverstone.

»Ja.«

»Nicht übel! An Anerkennung soll es nicht fehlen. Ihr müßt nämlich bedenken, daß Ihr bei keinerlei chinesischer Gerichtsbarkeit Hilfe und Unterstützung oder gar Gerechtigkeit findet. Wir müssen den Mann selbst bei den Ohren nehmen.«

»Einen Priester? An einem Ort, der hier für ein Heiligtum gilt?« fragte ich.

»Pshaw!« antwortete Turnerstick. »Habt Ihr gestern abend etwas Heiliges bemerkt? Hiebe, ganz gewaltige Hiebe soll der Kerl haben. Sein Kriegsgott mag ihm dann den Rücken salben!«

In jedem andern Lande wäre ein solcher Vorsatz lebensgefährlich gewesen, bei den hiesigen korrumpierten Zuständen schien auch mir keinerlei Gefahr aus einer solchen Lynchjustiz hervorzugehen.

Der Diener des Kriegsgottes hatte uns noch gar nicht bemerkt; er stand an dem Wasserloche und fütterte die Schildkröten, welche sich in demselben befanden. Wir gingen auf ihn zu. Beim Schalle unserer Schritte drehte er sich um, und es war deutlich zu sehen, wie sehr er bei unserm Anblick erschrak. Doch faßte er sich sofort wieder, und in seinen listigen Zügen war nicht die mindeste Unruhe zu erkennen.

»Bist du der Sing, dieses Kuang-ti-miao?« fragte ich ihn.

»Nein,« antwortete er stolz.

»Ah, so bist du wohl gar ein Ho-schang

»Ja.«

»Schön! Man darf doch diesen Tempel besuchen?«

»Es darf jeder kommen, welcher dem Gott opfert und seinen Diener nicht vergißt.«

»Wir werden dich nicht vergessen! Aber, du scheinst auch Männer herbeizulassen, welche dem Gott nicht opfern, sondern seine Feinde sind!«

»Weshalb denkst du dies?«

»Ich sah, daß deinem Gott das Schwert entrissen worden ist.«

»Das hat der Tschüt-gurDieses Wort heißt »Teufel«. Es ist aus der mongolischen Sprache in die chinesische übergegangen. gethan.«

»Der Tschüt-gur? Was hat der in diesem Kuang-ti-miao zu suchen?«

»Weißt du nicht, daß er ein Feind der Götter ist und sie überfällt, um mit ihnen zu kämpfen? Aber sie sind mächtiger als er; er kann ihnen wohl das Schwert entreißen, aber sie besiegen ihn dennoch und jagen ihn in den Ta-kangWörtlich »Riesenofen«, heißt Hölle, ein Begriff, den die Chinesen aus dem Christentum berübergenommen haben. zurück.«

»Hast du einmal einem solchen Kampfe zugesehen?«

»Nein; selbst ein Priester würde getötet, wenn er dies wagen wollte.«

»So hast du auch den Tschüt-gur noch nicht erblickt?«

»Nein.«

»Ich habe ihn gesehen. Soll ich ihn dir zeigen?«

»Das vermagst du nicht!«

»Ich vermag es, sogar jetzt gleich.«

»Wo ist er?«

Ich deutete auf Turnerstick.

»Hier! Blicke ihn genau an, und du wirst finden, daß du den Teufel bereits einmal gesehen hast.«

»Du sprichst so, daß ich dich nicht verstehe!«

»Ich rede sehr deutlich. Du sagst, der Tschüt-gur habe deinem Gott das Schwert entrissen, folglich ist dieser der Tschüt-gur, denn er ist es gewesen, der es ihm entnommen hat.«

»Ich verstehe dich wieder nicht!«

»Und bist doch selbst dabei gewesen! Dein Gedächtnis ist sehr kurz; es reicht nicht von der Nacht bis zum Morgen; ich muß ihm zu Hilfe kommen: Wo ist der Dschiahur?«

»Ich kenne ihn nicht. Was ist ein Dschiahur?«

»Du fühlst dich beleidigt, wenn ich dich einen Sing statt einen Ho-schang nenne; du willst ein Weiser, ein Priester, ein Schriftgelehrter sein und weißt nicht, was ein Dschiahur ist?«

»Nur Fo ist allwissend, der Mensch aber kann nicht alles erfahren.«

»Du bist als Ho-schang in einem Kloster gewesen und hast dort das Schan-hai-king und das Hoan-yü-ki studieren müssen; auch das Fo-kue-ki muß dir bekannt sein, und du willst nicht wissen, was ein Dschiahur ist? Ich bin ein Si-yin, und in den Si-ti hat man ein sehr gutes Mittel, das Gedächtnis zu stärken.«

»So gieb mir es!« lächelte er verschmitzt.

»Du sollst es haben!«

Ich wandte mich an einen der Matrosen.

»Drin in der Kammer liegen Bambusrohre, die als Laternenstöcke gebraucht werden. Hole einen oder zwei herbei; dieser Mann bekommt zehn Hiebe.«

»Aye, Sir; wird schleunigst besorgt!«

Er sprang davon und kehrte sehr schnell mit einigen Bambusrohren zurück.

»Haltet ihn, und schlagt zu zweien, je fünf gute Hiebe auf seinen Rücken!« gebot ich.

Dieses kleine Intermezzo war allerdings sehr nach dem Geschmacke der kräftigen Matrosen. Sie erfaßten den Bonzen und legten ihn auf die Erde nieder. Er wehrte sich aus vollen Kräften, und als dieses nichts half, griff er zu seinem letzten Mittel:

»Ihr wollt es wagen, einen Priester zu schlagen! Der große Fo wird den Tschüt-gur senden, der euch in die Hölle bringt.«

»Der Tschüt-gur ist ja bereits hier und hat nichts dagegen, daß du Streiche bekommst,« antwortete ich ihm.

»So werde ich euch beim Hing-pu verklagen!«

»Thue es, aber bedenke, daß wir keine Tschia-dse sind und deinen Hing-pu nicht zu fürchten brauchen! Kennst du den

Dschiahur?«

»Nein.«

»Schlagt los!«

Beim ersten Hiebe stieß der Zopfmann einen lauten

Schrei aus; beim zweiten war seine Widerstandskraft bereits

gebrochen.

»Halt, ich kenne ihn!«

Ich winkte, einzuhalten.

»Siehst du, wie prächtig mein Mittel das Gedächtnis

stärkt? Wo ist der Dschiahur?«

»Fort.«

»Wann?«

»Gleich nachdem er vom Kanale zurückkehrte.«

»Wo ist er hin?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wo sind die andern?«

»Sie sind mit ihm.«

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du lügst!«

»Ich lüge nicht. Sie kommen und sagen nicht woher; sie

gehen, und sagen nicht wohin.«

»Dein Gedächtnis ist noch nicht lang genug; ich werde es

dir verlängern lassen.«

»Du wirst es nicht thun, denn ich bin ein Priester!«

»Ich werde es thun, denn du bist ein Lung-yin!«

»Ich kenne die Lung-yin nicht.«

»Dein Gedächtnis wird immer kleiner. – Macht weiter!«

Gleich beim nächsten Hiebe brüllte er:

»Halt, ich weiß, wo er ist!«

»Wo?«

»Beim Tsiang-ki-um.«

»Wo wohnt dieser?«

»In Li-ting.«

»Wie heißt er?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich sehe, daß mein Mittel noch immer nicht vollständig geholfen hat.«

»Es kann nicht weiter helfen, Herr. Alle Lung-yin wissen, daß der Tsiang-ki-um in Li-ting wohnt, aber kennen dürfen ihn nur die obersten Anführer.«

Das leuchtete mir ein, und übrigens merkte ich es dem Bonzen an, daß er jetzt nicht die Unwahrheit sagte. Ich fragte ihn daher weiter:

»Aber die andern sind nicht mit ihm nach Li-ting?«

»Nein.«

»Wohin sonst?«

»Nach Kuang-tscheu-fu.«

»Unter Anführung des Lieutenants?«

»Ja.«

»Wo sind sie da zu finden?«

»Im Scham-Pan-fu»Große Stadt der Schampans«. Schampans sind schwirranende Wohnungen, auf Flößen, Booten oder auch alten Dschunken errichtet.

»Gieb den Ort genauer an!«

»In der Nähe der Schi-san-hang der Ing-kie-li liegt ein Herbergs-Scham-pan, welcher Wan-ho-tien heißt. Dort sind die Drachenmänner stets zu finden.«

»Halten sie in allen Kuang-ti-miao ihre Zusammenkünfte?«

»Nicht in allen, sondern nur in denen, welche nahe am Strome liegen.«

»Du kennst die, welche gestern hier waren, alle beim Namen?«

»Nicht einen einzigen. Es dürfen nur solche kommen, welche unbekannt sind. Sie zeigen ihr Erkennungszeichen vor, und man muß ihnen gehorchen, wenn man nicht getötet sein will.«

»Ich werde die Wahrheit deiner Worte prüfen. Hast du mich belogen, so komme ich wieder und fordere Rechenschaft von dir!«

»Nun, Charley, wie ist es?« fragte Turnerstick, als er bemerkte, daß ich mit dem Manne zu Ende war.

»Die ganze Gesellschaft ist fort.«

»Alle Wetter; das ist unangenehm! Wohin?«

»Teils nach Canton, teils auch weiter.«

»Das konnte man sich denken,« bemerkte Halverstone. »Diese Leute werden sich nicht hierher setzen und warten, bis wir kommen. An diesem alten Mauerwerke ist auch nicht viel zu sehen. Laßt uns wieder aufbrechen!«

»Ich denke, dieser Feldschlangenmann soll vorher erst seine volle Portion bekommen!« meinte Turnerstick.

»Kann uns nichts nutzen, Kapt'n!«

»Well, so werde ich mir wenigstens dadurch Genugthuung verschaffen, daß ich das Schwert dieses Götzen als Andenken mitnehme.«

»Das würde Diebstahl oder gar Tempelraub sein, und da die Verehrung des Kriegsgottes direkt vom Kaiser befohlen wurde, so könnten wir durch eine solche That in die ärgste Verlegenheit geraten.«

»Ganz wie Ihr wollt, Charley! Aber Rache muß ich haben. Ich werde jeden Drachenmann, der mir begegnet, auf der Stelle erschlagen; darauf könnt Ihr Euch verlassen!«

Was konnte ich gegen den Bonzen thun? Ihn anzeigen? Das wäre sicher ganz erfolglos gewesen. Persönliche Rache an ihm nehmen? Das war nicht nach meinem Geschmacke. Und so stand es auch mit den Lung-yin überhaupt. Eine Anzeige hätte mir nichts gefruchtet, davon war ich überzeugt. Mich an die Gesandtschaft zu wenden, dazu hatte ich auch keine Lust; ich kannte die mit diesem Rechtswege verbundenen Weitläufigkeiten zu genau, und grad hier in China hatten damals die Vertreter fremder Mächte eine so schwierige Stellung, daß es mir gar nicht einfiel, ihnen oder wenigstens einem von ihnen diese noch mehr zu erschweren. Mein Abenteuer hatte mir bis jetzt keinen andern Schaden gebracht, als den Verlust einer Decke und eines kaum erbsengroßen Stückchens aus dem Ohrläppchen, und beides war nicht schwer zu verschmerzen. Halverstone fragte:

»Was gedenkt Ihr weiter zu thun in dieser Angelegenheit?« Ich antwortete:

»Nicht, Sir, gar nichts. Ich habe die Ueberzeugung, daß bei dem Geschäfte der Lung-yin hochgestellte Mandarinen mit beteiligt sind. Was kann da ein Ausländer thun?«

»Das ist richtig. Aber sollen sich zwei Männer wie ihr von diesen Menschen um die Freiheit und noch um anderes bringen lassen, ohne wenigstens bei den Vertretern ihrer Nationalitäten einen Schritt zu thun?«

»Diese Vertreter sind oft recht froh, wenn ihnen die Macht bleibt, nur sich selbst zu vertreten. China ist auf dem Papiere und in den Grundzügen seines Regierungssystems ein außerordentlich despotisch beherrschtes Land; aber in keinem Staate ist der Demokratismus in dieser Weise so ausgebildet, wie hier. Sozialdemokraten gab es in China schon vor vielen Jahrhunderten, und in keinem Staate haben so viele revolutionäre Umwälzungen, die stets mit einem Thronwechsel verbunden waren, stattgefunden, wie in dem Reiche der Mitte. Das korrumpierte Beamtentum regiert das Land, und das Geld ist mächtiger, als der vielbeneidete ›Sohn des Himmels‹, der sogar drei Tage lang fasten muß, ehe er das Todesurteil eines Mörders oder Majestätsverbrechers unterschreibt. Welche Macht soll da der Konsul eines fernen, fremden Landes besitzen! Oder soll wegen Kapitän Turnerstick und meiner Wenigkeit ein Seekrieg zwischen den Vereinigten Staaten und China hervorgerufen werden?«

Halverstone lachte.

»Ihr habt nicht so ganz unrecht; aber ärgerlich ist es doch, gegen diese Kerls nichts thun zu können!«

»Nichts thun? Ich denke, wir beide haben gethan, was zu thun möglich war und was wohl kein Konsul fertig gebracht hätte: wir haben die Strompiraten gezwungen, eine Gefangene und auch uns selbst wieder frei zu geben, und zwar ohne Lösegeld. Ich bin der angenehmen Hoffnung, noch einmal mit ihnen zusammen zu kommen, und dann wird es mir vielleicht gelingen, noch weiter mit ihnen abzurechnen.«

»Begebt Euch nicht mutwillig in Gefahr, Sir. Wo jährlich Tausende von Menschen spurlos verschwinden, da ist es sehr geraten, nur immer vorsichtig zu sein!«

»Zounds,« rief Turnerstick; »sehen wir etwa aus, als ob wir verschwinden wollten oder verschwinden könnten?«

»Nein!«

»Also! Ich wünsche nur, diesen Kerls nochmals zu begegnen, um vollständig quitt zu werden. Aber laßt uns aufbrechen, da wir hier doch nun fertig sind!«

Ich wandte mich zu dem Bonzen.

»Ich sagte dir, daß ich dich nicht vergessen werde, und habe Wort gehalten: dein Kom-tscha hast du, wenn auch in anderer Weise, als du dachtest. Ich gehe, ohne dich weiter zu züchtigen. Hast du mich aber belogen, so komme ich wieder!«

Er verbeugte sich so tief, als er konnte.

»Ich sagte die Wahrheit, und du wirst also nicht wiederkehren. Tsing lea-o, Herr!«

Das Boot trug uns ebenso schnell nach dem Flusse zurück, als es uns hergebracht hatte. Wir bestiegen die Yacht und dampften stromaufwärts nach Wampoa zu, welches nicht mehr weit entfernt war und sich zu Canton ebenso verhält, wie Bremerhaven zu Bremen oder Cuxhaven zu Hamburg. Das seichte Wasser des Flusses gestattet nämlich größeren Schiffen nicht, den Fluß weiter hinaufzugehen, sondern die Güter müssen hier in Boote und Dschunken umgeladen werden.

Von hier bis nach Canton sind es zwölf englische Meilen, welche die Yacht zurücklegen konnte, da ihr Tiefgang nur ein sehr geringer war. Sie legte in der Nähe der englischen Faktorei an, deren Banner weithin zu sehen war.

Von der Stadt selbst hatte man bisher wenig zu sehen bekommen, als am Ufer hin eine zahllose Menge von Bambushütten und auf dem Wasser jene verankerten Wohnungen, welche die Chinesen Sam-pan nennen. Der Fluß wimmelte förmlich von kleineren Fahrzeugen jeder Bauart. Von hervorragenden Gebäuden, wie sie ja sonst in größeren Städten zu finden sind, war kein einziges zu sehen, außer einer alten Pagode und einigen hinter der Stadt auf Hügeln gelegenen Baulichkeiten, die entweder Tempel oder Befestigungen zu sein schienen.

Die Sam-pans sind in Straßen oder Reihen geordnet und stehen unter einer sehr ordnungsliebenden Platzpolizei, welche jede entstandene Lücke sofort wieder schließen läßt. Sie sind an Pfähle befestigt, und der Besitzer darf ohne vorhergehende Meldung oder Erlaubnis seinen Platz nicht verlassen, um einen neuen aufzusuchen.

Die ärmlichsten bestehen aus einem Floße, auf welchem die Wohnung errichtet ist. Diese Wohnung ist aus Bambus gebaut und mit Bambus gedeckt, wie überhaupt der Chinese ohne seinen Bambus gar nicht bestehen könnte. Die Fugen sind mit einer Art von Cement verstrichen, und als Bindemittel dient gespaltenes Rohr, womit alle Teile, sozusagen, zusammengenäht sind.

Andere Wohnungen von derselben Bauart sind auf richtigen Booten errichtet und gehören gewöhnlich armen Fischerfamilien, welche des Erwerbes wegen öfters ihre Stelle wechseln. Man sieht diese Sam-pans sehr oft mit dem Strome treiben, quer über denselben gehen oder auch gegen das Wasser halten. im Stern des Fahrzeuges steht gewöhnlich die Frau und steuert dasselbe mit einem langen Ruder, welches sie nach Art eines Fischschwanzes hin und her bewegt. Im Vorderteile hilft der Mann mit einem ähnlichen Ruder, welches er gelegentlich beiseite legt, um sein Netz auszuwerfen, welches entweder aus dünnen Rohrfäden oder aus Kokosnußfaser geflochten ist. In der Mitte befindet sich das Bambushäuschen mit der Küche. Dort halten sich auch die entwickelteren Kinder auf, während das jüngste gewöhnlich auf dem Rücken der Mutter oder einer älteren Schwester festgebunden ist.

Auf keinem dieser Boote fehlt ein kleiner Hausaltar, vor welchem sich eine stets brennende Lampe befindet.

Die wohlhabenden Klassen der Sampanbevölkerung bewohnen alte, unbrauchbar gewordene Dschunken, die oft mehrere Stockwerke besitzen und einen geräumigen Landungsplatz haben, dem einige Zierpflanzen in Töpfen das Aussehen einer Veranda geben.

Die Schi-san-hang oder Faktoreien sind auf einem den Chinesen abgekauften Stück Landes im modern europäischen Baustile aufgeführt und von einer starken Mauer umgeben. Dort giebt es geschmackvoll angelegte und gut unterhaltene Gartenanlagen, inmitten deren eine kleine recht hübsche Kirche steht. Diese Anlagen bilden den einzigen Spaziergang für Fremde, wo sie sich unbelästigt bewegen können.

Vom Quai der Faktoreien erstrecken sich Reihen von Palissaden vierzig bis fünfzig Fuß weit in den Fluß hinaus und bilden eine Art von geschlossenem Hafen mit einer schmalen, für Boote berechneten Einfahrt. Dies ist halb als eine kriegerische Maßregel, halb aber auch aus dem Grunde geschehen, um die Zudringlichkeit sowohl der chinesischen Beamten als auch des Publikums abzuwehren. Aus demselben Grunde sind auch überall, wohin man blickt, starke Türme angebracht, die ein deutliches Zeugnis geben, daß die Europäer die Erfahrung gemacht haben müssen, dem Volke der Mitte sei nicht zu trauen.

Halverstone entschuldigte sich, daß er jetzt uns nicht Gesellschaft leisten könne, da er von geschäftlichen Rücksichten in Anspruch genommen sei. Wir beruhigten ihn, indem wir ihm unsern Entschluß zu erkennen gaben, ihm überhaupt keine weitere Störungen bereiten, sondern die Yacht sofort verlassen zu wollen. Der brave Mann nahm für Passage keine Bezahlung, dafür aber war Turnerstick so ›gentlemanlike‹, der Mannschaft für ihre Begleitung nach dem Kuang-ti-miao seine Dankbarkeit durch die milde Stiftung eines Extragrogs und einiger blanken Dollars zu beweisen.

Dann verließen wir den kleinen Dampfer und ließen uns an das Ufer rudern. Sofort fielen eine Menge Agenten und sonstige böse Geister über uns her. Der eine brüllte uns an, als wollte er uns das Trommelfell zersprengen; der andere faßte uns beim Arme; der dritte versuchte, uns durch einen kräftigen Stoß nach der Richtung zu dirigieren, welche in seiner Absicht lag; ein vierter hielt einen mehrere Quadratellen großen Zettel empor, auf weichem in riesigen Buchstaben stand, was er nicht sagen konnte; ein fünfter schlüpfte gewandt wie ein Aal zwischen all den vielen Armen und Beinen hindurch und überreichte uns eine gelbseidene Khata, um uns durch diese in Tibet und der Mongolei gebräuchliche Höflichkeit zu veranlassen, sein Opfer zu werden; ein sechster reckte die Arme empor, spreizte die zehn Finger auseinander und zog mit seinen schiefen Augen, seiner Stumpfnase und dem breiten, zahnlosen Munde die undenklichsten Grimassen, um uns aus seinen Pantomimen erraten zu lassen, was er uns mitzuteilen habe.

Ich stand inmitten dieser Rotte Korah, Dathan und Abiram und ließ die Brandung geduldig über mich ergehen; die Flut mußte sich ja legen, sobald die Leute merkten, daß wir nichts von ihnen wissen wollten. Diese Geduld aber entging dem heißblütigen Turnerstick gänzlich. Er schob und stieß, puffte und schlug auf die Zudringlichen ein, als gelte es, sein Leben zu verteidigen, und versuchte dabei, mit seiner gewaltigen Kommandeurstimme ihr Geschrei zu übertönen:

»Fort vong mir! Zurück, Jungens! Wir könneng euch nicht gebrauchang; wir wisseng selbst, was wir zu machung habeng! Weg, sage ich, sonst werdang wir euch lehrung, den Kurs frei zu gebing!«

Durch die Bewegungen, welche ich machen mußte, um die verschiedenen Stöße zu parieren, geriet mir die Kleidung in Unordnung und das Lung-yin-Zeichen kam zwischen zwei Knopflöchern zum Vorscheine. Der Mann mit der Khata sah es.

»Kiang!« raunte er mir zu.

Ich konnte in dem Lärm das Wort nicht hören; ich las es ihm mehr von den Lippen ab.

»Lu!« antwortete ich, auch mehr durch die Stellung der Lippen als mit der Stimme.

Er winkte, drängte sich durch die Umstehenden und wartete von fern auf uns.

»Vorwärts, Kapt'n. Wollen sehen, ob wir diese Blockade zu brechen vermögen!« sagte ich da.

»Well, das Zeug dazu haben wir ja!«

Er schien bis jetzt bloß mit ›halbem Dampf‹ gearbeitet zu haben, denn als er nun die muskulösen Arme ausstreckte, flogen die Dränger wie die Fliegen auseinander, wir bekamen wieder freie Bahn und schritten in die nächste Gasse hinein. Der Chinese folgte uns und trat zu mir heran.

»Herr, warum trägst du die Kleidung eines Fremden?« fragte er.

»Weil ich fern von Tschina war,« antwortete ich.

»Für unsere Hui?« »Hast du einen Yeu-ki zu fragen?«

»Verzeihe, Herr! Ich sah noch keinen Lung-yin in einem fremden Gewande.«

»Warum winktest du mir?«

»Ich habe allen Hui-dse, welche ich treffe, eine Botschaft zu geben.«

»Welche?« »Sie sollen in die Wan-ho-tien kommen.« »Wann?«

»Heute um Mitternacht.

»Weshalb?«

»Es kommen heute oder morgen zwei Feinde an, welche gefangen werden sollen.«

»Was für Männer sind es?«

»Ich weiß es nicht. Du weißt ja selbst, daß die Anführer nicht alles sagen.«

»Wer gab dir den Auftrag?«

»Du weißt, daß ich das nicht sagen darf, obgleich du höher stehest als er.«

»Es ist ein Tü-ßü?«

»Ja.«

»So ist's der Dschiahur, der heut in der Wan-ho-tien eingekehrt ist.«

»Herr, jetzt glaube ich erst, daß du ein Yeu-ki bist, denn du weißt, wo sich dein Untergebener befindet.«

»Warum glaubtest du es vorher nicht?«

»Du trägst fremde Kleidung; du trägst keinen Pen-tse, und es sind unsere vorigen Zeichen oft nachgemacht oder entwendet worden, was jetzt wieder der Fall sein könnte.«

»Du weißt, daß du deinen Offizieren unbedingt zu gehorchen hast?«

»Ich weiß es.«

»Ich gebe dir einen Befehl, einen strengen Befehl: Der Dschiahur darf nicht wissen, daß ich bereits in Tschina angekommen bin; du wirst ihm verschweigen, daß du mich getroffen hast.«

»Ich werde gehorchen.«

»So sehen wir uns um Mitternacht wieder. Hast du mir noch etwas zu sagen?«

»Nein.«

»So sind wir fertig. Tsching lea-o!«

»Lea-o!«

Er entfernte sich. Der Kapitän machte mir verwunderte Augen und fragte mich:

»Charley, seid Ihr etwa schon früher einmal in China gewesen?«

»Nein. Warum diese Frage?«

»Weil Ihr mit dem ersten besten Zopfmanne, der uns begegnet, so vertraut thut, als ob Ihr ihn bereits getroffen hättet.«

»Wir gehören zu einander.«

»Ihr und der? Inwiefern?«

»Habe ich Euch nicht gestern abend gesagt, daß ich für einen Obersten der Lung-yin gelte?«

»Das stimmt.«

»Und dies war ein Lung-yin.«

»Ein Drachenmann? All devils, da habt Ihr mir einen ganz verteufelten Streich gespielt!«

»Warum?«

»Ihr hättet mir sagen Sollen, daß er ein Pirat ist.«

»Ah!«

»Natürlich! Oder habt Ihr vergessen, daß ich jeden Drachenmann, der mir begegnet, totschlagen will?«

»Schlagt dafür bei der nächsten Begegnung zwei tot!«

»Das werde ich auch! Was wollte denn der Kerl?«

»Er hat mir gesagt, wo ich den Dschiahur treffen kann.«

»Wo?«

»Hier in der Nähe, in der Herberge zu den zehntausend Herrschern.«

»Wann?«

»Heute um Mitternacht.«

»Da gehen wir hin! Ich habe mit diesem Mongolen noch ein Wort zu reden.«

»Er ist nicht allein; es werden viele Lung-yin da sein.«

»Und wenn alle zehntausend Herrscher zugegen sind, ich gehe hin. Fürchtet Ihr Euch etwa vor diesen Zopfmännern?«

»Ihr wißt ganz genau, ob ich furchtsamer Natur bin; aber bedenkt einmal erstens, daß wir uns in einem fremden Lande befinden, in welchem ganz eigentümliche Verhältnisse herrschen, und bedenkt zweitens, daß viele Hunde des Hasen Tod sind, was ich Euch bereits einmal sagte. Was würde aus unserm guten ›The Wind‹ werden, wenn Kapitän Frick Turnerstick hier in irgend einer Spelunke kalt gemacht würde?«

Die Erinnerung an sein Schiff wirkte.

»Das ist wahr, Charley. Was habt denn Ihr für eine Ansicht in dieser Sache?«

»Noch keine. Wir haben noch lange Zeit bis Mitternacht, und bis dahin wird wohl ein Entschluß zu fassen sein, was wir thun und was wir lassen werden.«

»Darüber könnte es eigentlich gar keinen Zweifel geben. Erstens haben sie sich an uns vergriffen und müssen ihre Strafe leiden, und zweitens ist es allgemeine Menschenpflicht, die Welt vor solchem Gesindel zu schützen.«

»Sehr richtig, Kapt'n. Aber daß sie sich an uns vergriffen haben, haben wir ihnen mit unsern Rudern mit Zinsen wieder heimgezahlt, und der andere Punkt hat auch seine zwei Seiten. Was geht uns China an? Warum sollen grad wir beide unser Leben riskieren, um eine Bande von Räubern zu vernichten, welche den guten Chinesen ganz willkommen zu sein scheint? Wenden wir uns an einen Konsul, so wird er die Achseln zucken; er hat sich gar nicht in die Angelegenheiten des Reiches zu mischen und darf nur dann einschreiten, wenn die Angehörigen seines Staates beeinträchtigt werden, und auch in diesem Falle wird seine Bemühung so ziemlich aussichtslos sein. Und wenden wir uns an einen Mandarinen, so müssen wir gewärtig sein, daß er auch zu den Lung-yin gehört und uns danach behandelt.«

»Das klingt ganz verzweifelt vernünftig. Aber es wäre mir ein Gaudium gewesen, dieser Gesellschaft eine Klippe in das Fahrwasser zu wälzen!«

»Ich bin dabei, wenn ich sehe, daß es überhaupt geschehen kann und uns keinen unverhältnismäßigen Schaden bringt.«

»Well, so wollen wir uns die Sache erst noch überlegen. Was aber thun wir zunächst jetzt?«

»Die Stadt ansehen, und zwar erst von außen, denn der Zutritt in das Innere ist fremden Barbaren streng untersagt.«

»So können wir nicht hinein?«

»Eigentlich nicht, doch wollen wir sehen, ob es möglich zu machen ist. In diesem Falle werden wir, wenn sich auch nicht grade die Polizei um uns kümmert, doch mit dem lieben Pöbel zu thun haben.«

»Da helfen Nasenstüber.«

»Möchte nicht dazu raten, Kapt'n, wegen des Aufruhres, der dadurch entstehen könnte.«

Wir wanderten Arm in Arm weiter. Wenn man die Zahl der Sam-pans in den Wasserstätten Cantons auf sechzigtausend schätzt, so finde ich diese Zahl noch keineswegs zu hoch gegriffen. Sie waren so zahlreich, daß sie von der Vogelschau aus das Aussehen von Wasserlinsen haben mußten, welche Flüsse, Weiher und Kanäle förmlich bedeckten.

Die Straßen, durch welche wir gingen, waren sehr eng gebaut, und was mir auffiel, war der Hundetrab, mit welchem sich sämtliche Passanten vorwärts bewegten. Besonders zahlreich vertreten waren die Lastträger, welche durch ihr lautes 0-hé, o-hé die Begegnenden vor einem Zusammenstoße warnten. Wie in den muselmännischen Bazars waren die einzelnen Gewerbe je in besondere Straßen und Gassen vereinigt, ein Umstand, welcher die Konkurrenz belebt und dem Publikum sehr zu statten kommt.

Vor einem Geflügelladen blieb Turnerstick stehen.

»Was sind das für Vögel, Charley?«

»Schnepfen und Reiher.«

»Fein herausgeputzt, wahrhaftig! Das macht Appetit. Wollen wir uns nicht eine Tabagie oder Restauration aufsuchen, um etwas zu genießen?«

»Bin dabei.«

»Ihr seid natürlich mein Gast.«

»Werde Euch durch eine abschlägige Antwort nicht unglücklich machen. Aber wie wollen wir speisen, billig oder wie vornehme Chinesen?«

»Vornehm, vornehm, das versteht sich ganz von selbst! Bestellen werdet Ihr, aber nur nicht etwa Igelbraten, eingelegte Regenwürmer, schwarze Wegschnecken, Käferragout und so ähnliches Zeug, wie es die Chinesen gewöhnt sind!«

»Habt keine Sorge, Kapt'n! Daß die Chinesen solches Zeug essen, ist bloß Fabel. Nur die Zubereitungsweise ihrer Speisen ist eine von der unserigen verschiedene.«

»Habe aber doch davon gelesen!«

»Glaube es! Aber Schwarz auf Weiß ist auch nicht immer wahr. Zunächst hat wohl die Zubereitungsart ihrer Speisen zu dem Glauben Veranlassung gegeben, daß sie Dinge verspeisen, die unserm Gaumen nicht geläufig sind, und wenn nun einmal ein lustiger Chinese veranlaßt gewesen ist, irgend einen befangenen Ausländer zu Gaste zu laden, hat er sich den Spaß gemacht, ihm allerlei seltsame Sachen vorzusetzen, um den Mann ein wenig zu foppen. Das ist das Ganze.«

»Aber solche Sachen wie Schwalbennester und Seetang essen sie doch ganz gewiß!«

»Allerdings. Aber der Seetang ist auch wirklich ein sehr nahrhaftes Gewächs, und ein Schwalbennest in obligater Sauce würdet Ihr auch nicht verachten.«

»Junge Hunde!«

»Auch! Aber warum sollen sie das nicht? Ist das Fleisch eines jungen Hundes nicht ebenso appetitlich wie das einer jungen Ziege oder eines Kaninchens? Und wenn die Chinesen Haifischflossen essen, so ist dies nicht so widerwärtig wie zum Beispiel unser Käse, der eigentlich doch nur aus in Fäulnis übergegangener Milch besteht. Denkt an unsere Austern und Weinbergschnecken, an das beliebte Kalbsgekröse, an die ›sauern Flecke‹, an Froschschenkel und vieles andere, so werdet Ihr sicher zu der Ansicht kommen, daß der Chinese nichts Schlimmeres verspeist, als wir.«

»Well, das klingt tröstlich. Sucht also ein Gasthaus!«

»Dort ist ja gleich eins und zwar mit englischer Aufschrift: ›Hotel zu allen guten Sachen‹. Gehen wir hinein?«

»Yes!«

Bereits an der Thüre wurden wir von einem chinesischen Kellner empfangen, und in der Restauration stand ein zweiter am Eingange, welcher in ausgesuchter Höflichkeit nach unsern Namen fragte. Als wir ihm geantwortet hatten, rief er die beiden Namen in englischer und chinesischer Aussprache laut über das Zimmer hin. Dann wurden wir an einen separaten Tisch geführt, welcher mit einem seidenen Tuche behangen war. Auch die Stühle waren mit Seide überzogen. Dann erhielten wir, ohne gefragt zu werden, jeder ein Gläschen echten, süßen, aber außerordentlich starken Reisbranntwein.

jetzt erst trat der Oberkellner zu uns und präsentierte den Speisezettel, welcher aus dem feinsten roten Seidenpapier bestand und so groß war, daß ich mich hätte hineinwickeln können. Die Speisen waren numeriert, und so oft ich ihm eine bezeichnete, rief er die Nummer, so daß man es in der Küche zu hören bekam.

Messer, Gabel und Löffel gab es nicht. Es wurde alles in so zerkleinertem Zustande präsentiert, daß man ein Messer gar nicht bedurfte, und statt Gabel und Löffel dienten elfenbeinerne Speisestäbchen, von den Engländern und Amerikanern Chopsticks genannt.

Ein immerwährendes, unmutiges Brummen des Kapitäns verursachte mir ein Lächeln.

»Was lacht Ihr?« fragte er mich daher.

»Was brummt Ihr?« fragte ich dagegen.

»Soll ich etwa nicht brummen, he? Wer kann denn mit diesen zwei Filetnadeln etwas Gescheites zum Munde bringen! Ich fische in der Brühe herum wie ein Storch, der keine Frösche findet, und Ihr hantiert mit den Dingern grad so, als ob sie mit Euch auf die Welt gekommen wären!«

»Ich habe mich geübt, Kapt'n.«

»Geübt? Wo?«

»Auf Eurem Schiffe. Der Koch mußte mir täglich einen Teller Reis machen; ich schnitzte mir zwei Stäbchen, und wenn ich allein war, versuchte ich, chinesisch speisen zu lernen.«

»Das ist Verrat, das ist die größte Hinterlist und Heimtücke, welche ich mir denken kann! Hättet Ihr mir etwas gesagt, so hätte ich mich an dieser Uebung beteiligt.«

»Oder mir die Chopsticks an den Kopf geworfen. jetzt aber müßt Ihr daran glauben.«

»Fällt mir nicht ein, sonst sitze ich übermorgen noch da und fische in den Schüsseln herum. Verlangt doch einmal ein tüchtiges Stück Brot!«

Ich that dies. Als er es erhalten hatte, zog er sein Messer hervor und schnitt sich daraus einen Löffel, mit Hilfe dessen er nun gleichen Schritt mit mir hielt.

Als wir das wirklich delikate Mahl, welches aus zwölf allerdings kleinen Gängen bestand, beendet hatten, erhielten wir Thee, und dann wurden wir gefragt, ob wir Yen, haben wollten. Ich verdolmetsche Turnerstick diese Frage.

»Giebt es Cigarren hier, Charley?«

Auf meine an den Kellner gerichtete Erkundigung brachte dieser einige echte Manila, welche der Kapitän ausgezeichnet fand. Was mich betraf, so zog ich es vor, eine chinesische Wasserpfeife zu versuchen. Der Kopf derselben hatte etwa die Größe eines Fingerhutes und mußte daher öfters gefüllt werden; der Tabak aber war gut, stark und etwas süßlich.

»Fragt einmal, was wir schuldig sind, Charley! Oder wartet; ich werde selbst fragen. Garçon!«

Er blickte mich bei diesem französischen Worte triumphierend an.

»ja, Ihr meint wohl, daß ich gar nichts verstehe? Seit ich chinesisch spreche, fällt mir die ganze französische Sprache wieder ein. He, Garçon!«

Der Kellner merkte, daß er gemeint sei, und trat herbei.

»Wir habeng sehr gut gegessang, und ich bin mit Euch recht zufrieding. Was muß ich bezahleng?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Was sagt dieser Herr?« fragte er mich.

»Er wünscht zu zahlen.«

Er trat an ein Tischchen, auf welchem ein Suan-pan stand, rechnete den Betrag zusammen und schrieb dann mittels Tusche und Pinsel die Rechnung, welche er dem Kapitän präsentierte.

»Was bedeuten die Kratzfüße, Charley?«

Ich nannte ihm die Summe; sie war so bescheiden, daß sich der Kapitän darüber wunderte.

»Hier werden wir speisen, so lange wir in Canton sind,« meinte er. »Aber einen Löffel muß ich mir mitbringen. Giebt es Trinkgelder?«

»Sehr, Kapt'n.«

»Well, sollen mit mir zufrieden sein. He, Garçon, alle Kellner her!«

Ich mußte auch dies übersetzen. Sämtliche dienstbare Geister des ›Hotel zu allen guten Sachen‹ kamen herbei und erhielten ein Kom-tscha. Den Reverenzen nach, welche sie machten, schienen sie sehr zufrieden mit demselben zu sein.

Wir erhoben uns.

»Bleibt noch einen Augenblick, Herr!« bat der Oberkellner.

Er nahm den Speisezettel zur Hand und wandte sich gegen die übrigen Gäste. Nachdem er unsere Namen nochmals genannt hatte, verlas er alles, was wir genossen hatten, gab die Bezahlung an und veröffentlichte auch die Trinkgelder, welche der Kapitän verabreicht hatte. Dann wurden wir von dem ganzen Personale unter tiefen Bücklingen und mit der Bitte, wiederzukommen, nach dem Ausgange geleitet.

Der Kapitän schien sich durch diese Höflichkeit außerordentlich geschmeichelt zu fühlen.

»Feine und anständige Leute, diese Chinesen!« sagte er. »Sie haben nur gewöhnlich den Fehler, daß sie in ihrer eigenen Muttersprache nicht recht zu Hause sind. Wo bleiben wir heute nacht?«

An irgend einem Gasthause, deren es in der Nähe des Flusses mehrere giebt'.«

Wir setzten unsern Spaziergang fort. Derselbe erstreckte sich durch die äußeren Stadtteile, welche durch eine hohe starke Mauer von der eigentlichen Chinesenstadt, zu welcher der Zugang erschwert ist, getrennt werden. Durch diese Mauer, welche in gewissen Zwischenräumen von Türmen gekrönt wird, führt hie und da ein Thor.

Die Straßen, Gassen und Plätze waren so belebt, als ob wir uns auf einem Jahrmarkt befänden. Da wir nicht stehen bleiben durften, um den Verkehr nicht zu unterbrechen, und weil sich dann sofort ein Haufe Neugieriger um uns versammelte, so wurden wir endlich müde.

»Wollen wir nicht ein wenig ausruhen, Charley?«

»Wo?«

»In einer Restauration natürlich, aber nicht hier außen. Ich muß auch die innere Stadt zu sehen bekommen.«

»Wollen wir das nicht für später aufheben? Wenn wir chinesische Anzüge tragen, werden wir keine Belästigung erleiden.«

»Später? Fällt mir gar nicht ein! Wenn ein Chinese nach New-York oder New-Orleans kommt, kann er hingehen, wo es ihm beliebt, und dasselbe Recht nehme ich als amerikanischer Staatsbürger hier auch für mich in Anspruch. Da ist ein Thor. Kommt!«

»Ich stehe für nichts. Kapt'n!«

»Ich aber für alles. Vorwärts!«

Er schritt rasch voran, und ich war gezwungen, zu folgen.

Gleich in der ersten Gasse sammelten sich die Straßenjungen hinter uns und liefen hinter uns her. In der zweiten Straße begegnete uns ein Leichenzug.

Voran schritten mehrere Männer mit bunten Fahnen und Standarten; dann folgten drei Bahren, auf denen Götterbilder getragen wurden. Hinter diesen kam eine Musikbande, welche auf Flöten, Gongs und Kesselpauken einen bedeutenden Lärm erzeugte. Andere Personen trugen Räucherpfannen, Schwärmer und allerhand kleines Feuerwerk, welches trotz der Enge der Straßen und der Feuergefährlichkeit der Bambushäuser abgebrannt wurde. Dann folgte die Totenbahre, an welcher der Sarg, an Seilen schwebend, befestigt war. Hinter dem Sarge schritt ein Bonze, und ein bunt durcheinander gewürfelter Haufe von Leidtragenden bildete den Schluß.

Wir traten zur Seite und drückten uns hart an die Wand des nächststehenden Gebäudes. Dennoch wurden uns finstere Blicke zugeworfen. Der Bonze blieb sogar vor uns stehen. Sein Gesicht hatte einen stumpfen, nichtssagenden Ausdruck.

»Ihr seid Y-jin. Was wollt ihr hier?« fragte er.

Er hatte diese Frage an den Kapitän gerichtet, welcher ihm am nächsten stand.

»Was sagt er?« fragte mich dieser.

»Er fragt, was wir hier wollen.«

»Schön, mein Junge!« Er zog einige von den Cigaretten, welcher er noch von der Pagode her in der Tasche hatte, hervor und reichte sie ihm entgegen. »Wir sind gekommen, um dir diese Cigarettang zu gebing.«

Der Mann griff zu.

»Tsing!«

Damit beeilte er sich, seinen Zug wieder einzuholen.

Einige Straßen weiter schallte Musik aus einem Hause.

»Was ist das Charley? Leset doch einmal diese Ueberschrift!«

»Jo-schi-siang.«

»Was heißt das?«

»Musik- und Liederpavillon.«

»Hier wird also gespielt und gesungen. Gehen wir hinein!«

»Ich habe mehr Lust, vorüberzugehen. Man weiß nicht, was für ein Publikum wir finden.«

»Publikum? Das Publikum ist mir ganz egal; vor dem Publikum habe ich mich niemals gefürchtet. Vorwärts!«

Der Unvorsichtige ließ sich nicht halten und schritt dem Eingange zu. Dort strömte uns ein nichts weniger als einladender Geruch entgegen, der ganz allein genügt hätte, uns zur Umkehr zu bewegen. Turnerstick aber dachte nicht daran.

Als wir in die Stube traten, sah ich, daß wir in eines der niedrigsten Etablissements geraten waren. Auf schmutzigen und zerrissenen Matten und primitiven Bänken hockte und lag da eine Menge verkommener Gestalten an den Wänden hin und hörte der ohrenzerreißenden Musik zu, welche von einem alten, wackeligen Podium herunterscholl. Sie hatten in kleinen Täßchen Thee vor sich stehen; ein bezeichnender Duft aber, welcher bei einem gelegentlichen Oeffnen der Thür aus dem Nebenraume drang, sagte mir, daß dort eine Opiumbutike sei.

Als wir eintraten, verstummte die Musik sofort, und aller Blicke richteten sich auf uns. Turnerstick nahm auf einem der Bänke mit einer Miene Platz, als ob er hier Stammgast sei, und ich setzte mich neben ihn. Ein verkommenes Subjekt nahte sich uns.

»Was wollt ihr hier?« wurden wir gefragt.

»Trinken,« antwortete ich.

»Was befehlt ihr?«

»Was hast du?«

»Tscha, weiter nichts.«

»So gieb uns Tscha!«

»Wollt ihr dazu rauchen?«

»Nein.«

Es wurden uns zwei Täßchen gebracht, welche mehr Schmutz als Thee enthielten; es graute mir, das Zeug nur anzuriechen.

»Soll dies Thee sein, Charley?« erkundigte sich Turnerstick.

»Ja.«

»Dann ist Schiffsraumwasser der feinste Jamaica-Rum. Seht ihr die Gesichter, welche das Volk uns schneidet?«

»Laßt uns bezahlen und gehen!«

»Fällt mir nicht ein! Sollen diese Kerls etwa denken, daß wir aus Angst vor ihnen davonlaufen?«

Mehrere der Gäste hatten sich erhoben und waren zu dem Wirte getreten. Ich konnte von dem, was gesprochen wurde, nur weniges verstehen.

»Du darfst keine Ing-kie-Ii, keine Meerteufel, bei dir leiden!«

»Mein Haus steht jedem offen, der mich bezahlt. Man hat die Ing-kie-li in die Stadt gelassen; warum soll ich sie nicht dulden?«

»Man wird dich und uns bestrafen, wenn man sie hier findet. Jage sie fort, oder wir gehen!«

»Seht ihr nicht, daß es starke Männer sind? Sie werden sich wehren und mir viel Schaden machen.«

»Wir helfen dir. Gehe hin und jage sie fort.«

»Thut ihr es. Mich gehen die Fremdlinge nichts an.«

»Wohlan, so werden sie hinausgeworfen!«

Turnerstick mußte natürlich merken, daß wir der Gegenstand dieses bedrohlichen Gespräches waren. Er fragte mich:

»Was redet das Volk, Charley?«

»Sie wollen uns hinauswerfen.«

»Blitz und Knall, den Kapitän Frick Turnerstick hinauswerfen! Diese dürren Kröten! Pshaw, sie mögen kommen!«

»Laßt uns lieber gehen, Kapt'n!«

»Charley, ich bin einmal versessen darauf, hier Musik und einige Lieder zu hören, und will den sehen, der mir dies verwehrt. Wenn Ihr Euch fürchtet, könnt Ihr gehen.«

»Ohne Euch nicht.«

»Well, so bleiben wir! Wenn wir einmal Land und Leute kennen lernen wollen, so müssen wir doch auch erfahren, wie es in diesen Theekneipen zugeht. Ah, da kommen sie!«

Sämtliche Gäste hatten sich erhoben. Einer schob den andern näher, bis die vordersten hart vor uns standen. Derjenige, welcher vorhin zum Wirte gesprochen hatte, ergriff auch jetzt das Wort:

»Ihr seid Ing-kie-Ii?«

»Nein, sondern Yeng-kie-li,« antwortete ich, da Reden jedenfalls besser war, als Schweigen.

»Das ist gleich; das ist eines so schlimm wie das andere. Kein Ing-kie-li und kein Yeng-kie-li gehört nach Tschung-kuo. Dieser Jo-schi-siang ist nur für uns und nicht für euch. Geht fort, sonst werfen wir euch hinaus!«

Wäre mir dies in einem andern Lande gesagt worden, so hätte ich den Menschen einfach durch das Fenster geworfen; unter den gegenwärtigen Verhältnissen aber war dies nicht geraten.

»Wer sagt dir, daß wir nicht nach Tschung-kuo gehören? Die Chinesen kommen zu Tausenden in das Land der Yeng-kie-li und haben dort die Erlaubnis, zu thun, als ob sie im Tien-tschao wären. Wir sind gut, freundlich und höflich mit ihnen, und daher werdet auch ihr mit uns so sein.«

»Die Yeng-kie-li sind Verräter, welche die Tschia-dse auf ihre Schiffe und in ihr Land locken, damit sie Tscha-no graben und fern von den Gräbern ihrer Ahnen sterben. Wir locken euch nicht zu uns; wir wollen euch nicht haben. Geht fort!«

Leider hatte dieser Mann nicht ganz unrecht. Es sind einigemale von gewissenlosen, spekulativen Amerikanern Chinesen unter der Vorspiegelung, daß sie zu Bahnbauten oder Farmarbeiten benutzt werden sollten, über das Meer gelockt und nach den verrufenen Guanoinseln geschafft worden, wo sie nach wenigen Monaten elend hinsterben mußten, ohne daß ihre Leichen zurück nach China kamen, was doch das höchste Bestreben eines jeden ausgewanderten Chinesen ist. Dennoch antwortete ich:

»Kannst du dies beweisen? Und wenn es wahr wäre, bin ich es gewesen oder dieser Mann?«

»Ihr seid es gewesen, denn ihr gehört zu ihrem Volke. Erhebt euch, und geht, sonst werdet ihr unsere Arme fühlen!«

»Eure Arme fürchten wir nicht. Wenn ihr Zank und Streit begehrt, so werdet ihr bald sehen, daß unsere Arme stärker sind, als die eurigen. Geht ihr aber wieder an eure Plätze zurück, so werden wir nur eine kurze Zeit warten und dann dieses Haus verlassen.«

»Ihr werdet keinen Augenblick mehr warten dürfen. Hinaus mit euch!«

Er griff nach Turnerstick, der nicht so lang war wie ich. Freilich kam er auch hier an den Unrechten. Der Kapitän packte ihn bei der Brust und fragte:

»Machen Sie Ernst, Charley?«

»Ja.«

»Well, so hat auch bei uns der Spaß ein Ende!«

Er hob ihn empor und warf ihn unter die andern hinein, daß sie auseinander flogen.

»Was fällt euch ein, ihr dummeng Menschang! Wollt ihr euch gleich niedersetzing, sonst werdet ihr vong uns zu Mehl und Pulver geriebeng!«

Im Nu waren mehrere der Bänke auseinander gerissen, welche aus Bambusstangen bestanden, mit denen sich die Angreifer bewaffneten, und es begann ein Handgemenge, aus welchem wir nach einigen Püffen und Schlägen, welche wir erhielten, als Sieger hervorgingen.

Die acht bis zehn schmächtigen, schlecht genährten Gestalten waren uns nicht gewachsen, zumal sie von dem Wirte und den Seinen nicht unterstützt wurden.

Der kurze Kampf aber war nicht ohne Lärm und Geschrei abgegangen, und was ich erwartet hatte, geschah: es traten einige Polizisten ein, bei deren Erscheinen die Ruhe sofort zurückkehrte. Es waren Soldaten. Ihre Uniform bestand aus einem kurzen, roten Kittel mit weißem Besatz, blauen, kurzen, baumwollenen Hosen, groben Tuchschuhen mit Filzsohlen und einem geflochtenen Bambushute. Bewaffnet waren sie mit einem Rohrschilde, auf welchen der kaiserliche Drache gemalt war, mit Pfeil und Bogen und einem kurzen Knüttel. Auf der Brust und dem Rücken trugen sie die weithin leuchtende Inschrift ›Ping‹, und ihre dünnen, lang herabhängenden Schnurrbärte bemühten sich vergebens, ihnen ein kriegerisches Aussehen zu erteilen.

Sie schnitten bei unserem Anblick außerordentlich grimmige Gesichter und nahmen ihre Knüppel zur Hand.

»Wer seid ihr?« fragte der Anführer, indem er sich an den Kapitän wandte.

»Was will er?« fragte dieser mich.

»Er fragt, wer wir sind.«

»Sagt es ihm, Charley! Aber sagt ihm zugleich, daß er auch seine Prügel haben kann, wenn er nicht höflich ist!«

Der ›Ping‹ wiederholte seine Frage mit erhöhter Stimme.

»Dieser Mann ist ein Yeng-kie-Ii, und ich bin ein Tao-dse,« antwortete ich.

»Ihr seid Fremdlinge und Barbaren und wagt es, nach Kuang-tscheu-fu zu kommen?«

»Sei vorsichtig mit deinen Worten! In unserem Lande ist das Wort Barbar eine große Beleidigung, die sich niemand gefallen läßt.«

»Ihr seid Barbaren, sonst hättet ihr keine Schlägerei begonnen.«

»Dann sind die Chinesen die Barbaren, denn sie haben den Streit angefangen.«

»Das ist eine Lüge! Diese Männer sind gut und friedfertig; sie haben euch nichts gethan.«

Da legte ich dem Menschen die Hände auf die Schultern, daß er zusammenzuckte.

»Wenn du noch einmal von Lügen sprichst, streiche ich dir den Barbar über den Rücken, daß dieser die Farbe des Himmels bekommt!«

Er trat zurück.

»Du drohest mir! Weißt du, was dies zu bedeuten hat?«

»Nichts hat es zu bedeuten! Was willst du von uns?«

»Ich werde euch arretieren und zum Tscha-juan führen.«

»Dagegen haben wir nichts einzuwenden, wenn du diese Leute gleichfalls arretierst.«

»Sie sind unschuldig.«

»Das wird der Tscha-juan untersuchen. Wie kannst du wissen, wer schuldig oder unschuldig ist? Du hast ja noch keinen Menschen nach dem Hergange des Streites gefragt.«

»Das geht euch nichts an. Bezahlt, was ihr getrunken habt, und geht voran!«

Der Kapitän sah an der Bewegung des Polizisten, um was es sich handelte.

»Was ist dieser Mensch, Charley?«

»Soldat und Polizist.«

»Er will uns wohl gar arretieren?«

»Allerdings.«

»Tretet einmal auf die Seite; ich will ihm ein Weniges auf den Hut hämmern, damit ihm der Verstand in Bewegung gerät!«

»Das würde uns nur Schaden machen. Wir sind einmal so unvorsichtig gewesen, in das Wasser zu gehen, und müssen nun auch mit dem Strom schwimmen.«

»Soll das ein Vorwurf sein?«

»Nein. Ich bin ja mitgegangen und habe gewußt, daß ich mitgefangen werde. Mithangen aber lasse ich mich nicht. Thut mir den Gefallen und laßt Euch ruhig arretieren.«

»Ich muß ja wohl, wenn Ihr nicht anders wollt!« brummte er.

»Wie viel kostet unser Tscha?« fragte ich den Wirt.

»Zusammen einen Fen

»Hier habt Ihr!«

Ich gab ihm zehn Fen, und wandte mich an den Polizisten:

»Wir sind bereit, verlangen aber, daß du uns zwei Palankins besorgst, denn gehen werden wir nicht. Hier hast du Geld, sie zu bezahlen.«

Ich legte einen Dollar in seine Hand.

»Willst du etwas wiederhaben?« fragte er naiv.

»Nein.«

»Du sollst die Palankins erhalten.«

»Aber ich verlange nochmals, daß auch diese Männer hier arretiert werden. Sie haben den Streit angefangen.«

»Wenn sie ihn angefangen haben, so müssen sie mit.«

»Und der Wirt als Zeuge!«

»Auch dies sei dir gestattet!«

Der Dollar hatte dem Manne also bewiesen, daß wir keine Barbaren waren. Er schickte einen seiner Leute fort, welcher die Palankins herbeibrachte. Wir stiegen ein, und sämtliche Gäste nebst dem Wirte folgten unter Begleitung der ›Pings‹ durch die Menschenmenge, welche sich versammelt hatte.

Wir wurden nach dem Kuang-kuan gebracht.

Dies war ein stattliches Gebäude, dessen Fronte mit hölzernen Säulen verziert war. In dem Vorhofe lungerte eine Menge Soldaten umher, welche ganz dieselbe Uniform wie unsere Begleiter trugen. Hier stiegen wir aus, wobei ich dem Ping noch einen Dollar überreichte. Er schnitt ein ganz verklärtes Gesicht und meinte:

»Ihr seid keine gewöhnlichen Leute. Ich werde euch nicht mit den andern zusammenthun, sondern dafür sorgen, daß ihr in das Zimmer der Vornehmen kommt.«

Er übergab uns einem Yng-pa-tsung, dem er einige Worte zuflüsterte, welche eine Empfehlung zu enthalten schienen. Von diesem wurden wir eine Treppe emporgeführt und gelangten in ein Gemach, welches recht angenehm mit hübschen Teppichen und Rohrmöbeln ausgestattet war.

»Wartet hier!« sagte der Fähnrich.

Er verließ uns und kehrte nach kurzer Zeit mit Thee zurück. Turnerstick merkte natürlich, daß es auf ein Korn- tscha abgesehen war, und überreichte ihm einen Dollar.

Er steckte denselben schmunzelnd zu sich und tröstete uns:

»Fürchtet euch nicht! Der Tscha-juan ist zwar ein mächtiger Mann, aber er liebt die Gerechtigkeit und das Silber. Ihr seid sehr höfliche Leute und werdet euren Prozeß gewinnen.«

Damit ging er ab.

Das war allerdings sehr deutlich gesprochen, so deutlich, daß für uns kein Zweifel übrig blieb, wie wir uns zu verhalten hatten. Ich teilte dies dem Kapitän mit.

»So also, dieser Richter liebt die Gerechtigkeit und das Silber, daß heißt, die Gerechtigkeit durch das Silber! Von mir soll der Mensch keinen Half-Penny erhalten. Gebt Ihr ihm etwas?«

»Keinen Heller.«

»Uebrigens kann er gar nicht über uns urteilen; wir gehören vor unser Konsulatsgericht.«

»Das werde ich ihm natürlich begreiflich machen.«

»Seid Ihr bös, daß ich euch in diese Tinte gebracht habe?«

»Nein, Kapt'n. Diese Sache ist mehr lustig als gefährlich.«

jetzt trat der Ping herein, welcher uns arretiert hatte.

»Ihr seid unschuldig. Ich habe die andern verhört und alles entdeckt. Ich werde die Angelegenheit jetzt dem Tscha-juan melden.«

Er trat durch eine Nebenthür in ein Zimmer, in welchem

sich der Richter zu befinden schien. Wir hörten zwei Stimmen. Nach einiger Zeit kehrte er zurück und sagte uns, daß wir eintreten sollten.

Wir thaten dies und fanden einen Chinesen, dessen nichtssagende, verschwommene Züge kein besonderes Vertrauen erwecken konnten. Wir verbeugten uns. Er nickte gnädig und fragte: »Ihr seid ein Yeng-kie-li und ein Tao-dse. Welcher ist der Yeng-kie-Ii?«

»Dieser,« antwortete ich, auf den Kapitän deutend.

»So bist du der Tao-dse, nicht wahr?«

»Es ist nicht gut anders möglich.«

»Du sprichst chinesisch und er nicht?«

»So ist es.«

»Das wundert mich nicht. Die Ing-kie-li und die Yengkie-li haben eine Sprache und geben sich nicht die Mühe, eine zweite zu lernen. Die Tao-dse aber sind verständige Leute; sie lernen sehr viel und betrüben nicht gern einen andern. Ich habe sie lieb. Zu welcher Religion gehörst du?«

»Ich bin ein Kiao-yu und bete den Himmelsherrn an.«

»Das ist gut von dir, und wir sind Brüder, denn ich bin ein Ta-dse, und die Ta-dse und Kitat haben auch einen Tien-tschu. Lehrt Eure Religion auch, daß die Menschen Sünder sind?«

»Ja. Gott schuf den Menschen gut, aber der Mensch ward ungehorsam.«

»Das lehren wir auch, denn unsere Religion ist eure Religion.«

»Das ist vielleicht doch nicht ganz der Fall. Eure Religion sagt zwar: ›Jen dse thu, sin pen schan‹, doch wie der Mensch die verlorene Heiligkeit wieder erlangen kann, das sagt sie nicht.«

»Das vermag sie auch gar nicht zu sagen, denn der Mensch kann seine frühere Vollkommenheit ja niemals wieder erlangen.«

»Grad darum ist deine Religion nicht die meine, denn die meinige sagt, daß der Mensch fromm, heilig und selig werden könne.«

»Das sagt sie? Nun ja, so ist es die Meinung deiner Religion, und wegen einer Meinung soll man eine Religion nicht verwerfen. ›San kiao, y kiao‹, das hast du wohl schon gehört, und ›Put tun kiao tun li‹»Die Religionen sind verschieden; die Vernunft ist nur eine; wir alle sind Brüder.«, das ist ganz dasselbe.«

Ach muß dir widersprechen. Das größte Unglück für den Menschen war, daß er seine Heiligkeit, seine Vollkommenheit verlor. Giebst du dieses zu?«

»Ja.«

»Dann muß es für ihn ja auch das größte Glück sein, sie wieder erlangen zu können. Nicht?«

»Das ist richtig.«

»Deine Religion spricht ihm dieses Glück ab, die meinige gewährt es ihm aber. Welche ist da vorzuziehen?«

»Du willst sagen, daß deine Religion besser sei, als die meinige? Du bist nicht höflich, und doch glaubte ich bisher, daß die Tao-dse sehr höfliche Leute seien. Aber wir wollen uns deshalb nicht zanken. Du sagst, daß deine Religion besser sei, als die meinige, und ich sage nun auch, daß die meinige besser sei, als die deinige; also sind wir vollständig einig, denn wir haben von unsern zwei Religionen ganz dieselbe Ansicht. Sage mir lieber, was du bist!«

»Ich bin ein Moa-sse

»Ein Moa-sse? Und warum kommst du nach Tien-hia

»Weil ich dieses Land und seine Bewohner kennen lernen will.«

»Und warum willst du sie kennen lernen?«

»Um ein Buch über Tien-hia schreiben zu können.«

»So mußt du ein reicher Mann sein.«

»Ich bin im Gegenteil sehr arm. Aber du mußt wissen, daß in meinem Lande die Schriftsteller bezahlt werden, während bei euch die Moa-sse umsonst schreiben.«

»Dann seid ihr Tao-dse ganz unbegreifliche Leute! Was ist der Yeng-kie-li hier?«

»Ein Yang-scheu-pi

»Hat er ein Schiff?«

»Ja; es liegt in Hong-kong.«

»Warum kommt er nach Kuang-tscheu-fu?«

»Weil er mein Freund ist und mich nicht allein gehen lassen wollte.«

»Ist sein Schiff ein Kriegsschiff?« »Nein, sondern ein Handelsfahrzeug.«

»Das ist ein Glück für ihn, sonst müßte ich strenger gegen euch sein. Seit wann seid ihr in Kuang-tscheu-fu?«

»Erst seit heute.«

»Weshalb seid ihr nicht in der Vorstadt geblieben, sondern in die innere Stadt eingedrungen?«

»Weil wir nicht glaubten, daß wir dort so ungezogene Menschen finden würden.«

»Schreibst du in deinem Buche auch von ihnen?«

»Ja.«

»Und auch, daß du bei mir gewesen bist?«

»Ja.«

»Und wie ich euch aufgenommen und behandelt habe?«

»Ja.«

»Und das werden alle Tao-dse lesen?«

»Nicht bloß diese, sondern auch die Yeng-kie-Ii, die Ingkie-Ii, die Fampa, die O-ro, die Por-tu-ki, die Hi-pan-si, denn das Buch wird auch in ihren Sprachen gedruckt.«

Ich mußte die Sache ein wenig größer machen, als sie war; dies konnte mir nur Nutzen bringen.

»So setzt euch nieder. Ihr sollt sehen, wie ich Gerechtigkeit übe!«

Wir nahmen auf einem Diwan Platz. Er klingelte und der Ping erschien.

»Bringe die Männer herbei!«

»Dieser Kerl spricht wirklich ein schauderhaftes Chinesisch,« flüsterte Turnerstick. »Ich habe kein Wort verstanden. Was wird mit uns geschehen?«

»Nichts. Ich glaube im Gegenteile, daß die andern bestraft werden.«

»Wie käme das?«

»Weil ich ihm gesagt habe, daß ich über China ein Buch schreiben werde und ihn mit darin erwähnen will.«

»Sehr politisch, Charley, sehr klug, Bin neugierig.«

Unsere Gegner wurden gebracht. Das Gesicht des Richters war ein ganz anderes geworden. Seine Stirne lag in schweren Falten, und seine kleinen Augen blitzten zornig auf sie nieder, die nach chinesischer Etikette vor ihm auf den Knieen lagen.

»Ihr wagt es, bloß zu knieen, ihr Hunde?« donnerte er sie an. »Auf den Bauch mit euch, und die Stirn an die Erde! Welcher von euch ist der Wirt, bei dem die Unthat geschah?«

»Ich Siao-ti»Der ganz Kleine«, so muß sich jeder niedrig stehende Chinese einem Mandarin gegenüber nennen.!« antwortete dieser, ohne das Gesicht vom Boden zu erheben.

»Haben diese Tschu den Streit begonnen?«

»Nein. Sie sind ganz ruhig gewesen.«

»Und dennoch habt ihr sie geschlagen! Wenn sie zu ihrem Konsul gehen und Strafe verlangen, so werdet ihr getötet. Sie sind aber gnädig und haben es in meine Hand gelegt. Ihr geht, jeder drei Jahre lang, in die Verbannung und tragt vorher zehn Tage lang den Block!«

»Ich bin unschuldig, Tschin-kuang-fu!« wagte der Wirt zu bemerken. »Ich Siao-ti habe diese Leute gewarnt und ihnen verboten, die Tschu-kuo-ngan zu schlagen!«

»Du hättest es verhindern sollen. Bitte die Y-tschu; vielleicht erlassen sie dir den Block!«

Er kam auf dem Bauche zu uns herbeigerutscht.

»Ihr seid Ti-ta-tschu, und ich bin Siao-ti. Ihr wißt, daß ich unschuldig bin. Habt Erbarmen!«

Ich wandte mich an den Richter:

»Deine Weisheit ist groß, und deine Gerechtigkeit glänzt wie die Sonne. Laß uns nun auch deine Gnade sehen! Dieser Mann ist wirklich unschuldig, und wir bitten dich, ihm die Strafe zu erlassen!«

»Ein Kitat würde anders sein,« antwortete er; »ich aber bin ein Ta-dse und erfülle eure Bitte. Stehe auf, du Hund; gehe heim, und preise meine Gerechtigkeit und die Gnade dieser Y-tschu! Du aber,« sprach er zu dem Ping, welcher im Zimmer geblieben war, »führe diese Menschen fort und schreibe mir ihre Namen auf!«

Sie krochen auf dem Bauche zur Thüre hinaus.

Die Strafe war sehr hoch bemessen; aber einesteils war es ganz gut, einmal Ausländer gehörig in Respekt gesetzt zu sehen und andernteils traute ich dem Mandarinen nicht; vielmehr glaubte ich, er spiele ein wenig Komödie und werde die Leute nach unserer Entfernung wieder entlassen. Diese beiden Gründe hielten mich ab, für sie zu bitten.

»Seid ihr mit mir zufrieden?« fragte er jetzt.

»Vollkommen! Darum sagen wir dir Dank und werden deinen Namen zu rühmen wissen überall, wohin wir kommen.«

»So werdet ihr auch mir den Wunsch erfüllen, nicht wieder das Innere der Stadt zu betreten. Der Schang-ti hat es den Fremdlingen verboten, und seine Diener müssen darauf sehen, daß sein Wille erfüllt werde. Wie lange gedenkt ihr in Kuang-tscheu-fu zu bleiben?«

»Vielleicht nur heute oder morgen.«

»Seid ihr Gäste eines Freundes oder Bekannten?«

»Nein. Wir bleiben in einem Y-fan

»Das werde ich nicht zugeben. Kommt, und folget mir!«

Er verließ das Zimmer und führte uns nach einer andern Seite des Hauses, wo er zwei Thüren öffnete.

»Dies sind zwei Stuben, in denen meine Freunde wohnen, wenn sie mich besuchen. Ihr seid meine Gäste und bleibt bei mir!«

Dies war ein sehr schmeichelhaftes Anerbieten, aber nach chinesischer Sitte durften wir es nicht annehmen, sondern mußten alle möglichen Einwendungen machen. Eine geschriebene oder gedruckte Einladung ist stets ernst gemeint, ein bloß gesprochenes Anerbieten aber ist meist nur eine Höflichkeitsformel, und wer darauf eingeht, der macht sich des allergröbsten Verstoßes gegen die gute Lebensart schuldig. Setzt der Chinese jemandem eine Tasse Thee vor, so muß sie angenommen werden; spricht er aber: ›Bleibe bei mir, und trinke den Tscha mit mir!‹ so muß man unbedingt ablehnen5 selbst wenn es einen Kampf mit Redensarten kostet; das erfordert die Etikette. Geht man aber darauf ein, so wird er mit lauter Stimme den Thee bestellen, doch es wird keiner kommen. Man wartet lange und noch länger; man wird endlich ungeduldig und bittet, den Thee zu erhalten oder gehen zu dürfen. Dann erhält man die sehr beleidigte Antwort: ›Was soll ich von dir denken? Ich war so höflich, dir Thee anzubieten, und du hattest nicht genug Höflichkeit, ihn abzulehnen! Bist du ein Barbar, ein Kirgise, ein Tunguse oder gar ein Russe, der seinen Verstand im Schnapse vertrunken hat?‹

Hier jedoch half uns all unser höfliches Widerstreben nichts. Er eilte schließlich sogar in sein Bureau zurück, schrieb in der Schnelligkeit zwei Einladungen und brachte sie herbei.

»Hier, nehmt und seht, daß es mein Ernst ist! Oder wollt ihr mich wirklich beleidigen?«

»Wenn du zuletzt befiehlst, so müssen wir gehorchen.«

»Gut, so befehle ich es. Tretet ein, und denkt, daß ihr Herren meines Hauses seid. Ich werde euch sofort einen Diener senden, der euch in allem zu gehorchen hat.«

Die beiden Zimmer waren, nach chinesischem Begriffe, sehr fein ausstaffiert und augenscheinlich nur für vornehme Gäste berechnet.

»Das lasse ich mir gefallen, Charley,« meinte Turnerstick. »Es ist doch gut, wenn man in Gesellschaft eines Büchermachers Land und Leute kennen lernt, denn diese Büchermacher sind höchst gefährliche Leute. Ich kann mir nichts Unangenehmeres denken, als wenn man gedruckt blamiert wird; darum muß man höchst zuvorkommend gegen euch Schriftsteller sein, und darum werden wir auch von diesem Mandarinen in einer Weise aufgenommen, als ob wir zu den Größten des himmlischen Reiches gehörten. Weiß er denn auch, was ich bin?«

»Ja; aber wie wir heißen, weiß er noch nicht. Er hat aus reiner Höflichkeit gar nicht nach unsern Namen gefragt.«

»Womit hat er die Kerls bestraft?«

»Mit zehn Tagen Block und drei Jahren Verbannung.«

»Blitz und Knall, das ist streng!«

»Wenn er Ernst macht, ja. Zehn Tage Block ist sehr hart, die Verbannung jedoch ist nicht so schwer als wie man vielleicht denkt. In China giebt es keine Gefängnisstrafe; statt ihrer wird aber die Deportation nach einer der innern Provinzen in Anwendung gebracht. Jeder Verbannte hat das Recht, seine Familie mitzunehmen.«

»Er macht Ernst. Guckt einmal hinunter in den Hof, Charley!«

Die Fenster des Zimmers führten nach dem Außenhofe, und dort standen die Verurteilten bereits, ein jeder mit dem Blocke belastet. Die Blöcke waren aus dem ungemein schweren Agilaholze gefertigt und lagen auf den Schultern der Delinquenten, deren Köpfe durch ein in der Mitte gelassenes Loch hervorblickten.

jetzt kam der Diener, welcher sich uns zur Verfügung stellte und kunstvoll gearbeitete Laternen brachte, um die Zimmer zu erleuchten, da es bereits zu dämmern begann. Er führte uns in ein Bad und stellte uns nach demselben eine leichte und bequeme chinesische Hauskleidung zur Verfügung, deren wir uns auch bedienten.

Dann wurden wir, um uns die Zeit zu kürzen, in die Bibliothek des Richters geführt. Sie war sehr reichhaltig. Ich beschäftigte mich mit den Büchern und Handschriften, Turnerstick aber mehr mit den Holzschnitten, deren viele vorhanden waren. Sie hatten alle die Eigentümlichkeit, daß ihnen die Perspektive fehlte. Ein Mann, welcher auf einer Landschaft weit im Hintergrunde einen Berg bestieg, war noch einmal so groß als der Knabe, welcher sich ganz im Vordergrunde mit Angeln beschäftigte.

Später erhielten wir die Einladung zum Abendessen und begaben uns nach dem Speisezimmer. Unser Wirt erschien allein; entweder wollte er uns unbeeinträchtigt genießen oder er scheute sich, wissen zu lassen, daß er zwei Barbaren mit seiner Gastfreundschaft beehre.

Wir hatten sechzehn Gänge, welche ich der Absonderlichkeit wegen hier aufzählen will.

Die Einleitung bildeten ein ausgezeichneter Thee und eine Schale excellenter Mandelmilch, welche der Chinese. überhaupt außerordentlich liebt. Dann kam als erster Gang ein Frikassee von Hühnerkehlen. Hierauf folgten gefüllte Krabben, welche meinem braven Turnerstick ungemein zu munden schienen. Dann Schinken, Austern und Pickles. Nachher gebratene Ente und gesalzene Schweineschwarte mit Pilzen und gekochtem Seetang aus Wang-hien. Jetzt eine Suppe von Schwalbennestern mit Ei und Schinken. Nun ein Ragout von Haifischflossen und Hähnekämmen. Hierauf Entenzungen mit Bambussprossen und Schinken. Dann allerliebste Hammelfleischpasteten. Dann junge Wasserschnecken aus dem Poyang-See. Nachher geräucherter Schweinebraten in Honigseim. Danach gebeizte Ente in einer delikaten Sauce. Dann Fadennudeln aus Peking mit Eichhornkeulchen, ein ausgezeichnetes Essen. Ferner eine Roulade von Fasan. Nun rote Grütze von Hung-sa. Hierauf Hammelbraten in süßer Sauce mit japanischen Sago-Klößchen. Und endlich junger Stör mit Reis, Melonen, gegorenem Ingwer und Salzgurken aus der Mandschurei.

Getränke gab es außer der Einleitung von Thee und Mandelmilch noch Sam-schonDas chinesische Nationalgetränk aus Reis; es ist sehr stark, für unsern Gaumen aber nicht angenehm schmeckend., frischen Thee, angesüßtes Wasser und zum Schlusse einen Champagner, welcher zwar nicht echt, aber doch recht trinkbar war.

Das war nun allerdings ein Souper, wie wir es nicht erwartet hatten und mit welchem unser Wirt, die Wasserschnecken, welche er selbst verzehren mußte, ausgenommen, bei meinem Turnerstick alle Ehre einlegte.

Der Kapitän war mit unserm Wirte auch ganz besonders deshalb zufrieden, weil dieser so rücksichtsvoll gewesen war, uns außer den chinesischen Speisestäbchen auch Messer, Gabel und Löffel beilegen zu lassen.

»Ist dies nicht ein prächtiger Mann?« fragte er mich. »Ich lerne hier Land und Leute als ganz vorzüglich kennen und habe nur auszusetzen, daß sie ihre Sprache vernachlässigen. Sie reden chinesisch ungefähr so, wie ein Indianer englisch spricht; man kann sie nicht verstehen.«

»Aber ich verstehe sie doch!«

»Ja, wie Ihr das fertig bringt, das ist mir ein Rätsel! Es müßte denn sein, daß Ihr den Fehler begangen hättet, mich das Chinesische nicht verstehen, sondern bloß sprechen zu lehren.«

Bei jedem neuen Gange sagte mir der Tscha-juan, was es sei, und fragte mich, wie es uns schmecke. Ich mußte ihm erklären, wie dieselbe Speise in unserer Heimat zubereitet wird, und fand überhaupt, daß er ein sehr wohl unterrichteter und wißbegieriger Mann sei. Ich mußte ihm von meinen Reisen erzählen; er war in der Länder- und Völkerkunde bewanderter, als man von Chinesen gewöhnlich anzunehmen pflegt, und interessierte sich lebhaft für alles, was ich ihm berichtete, und gestand schließlich: »Du hast so viel gesehen und erlebt, wie in unsern ganzen King und Schuh nicht steht, aber in Schin-ton wird dir kein Abenteuer passieren. Das Land und das Volk sind zu nüchtern dazu.«

»Und doch habe ich bereits ein solches erlebt, und zwar ein ganz und gar großes und interessantes.«

»Willst du es mir erzählen? Du bist erst so kurze Zeit hier und willst schon etwas erlebt haben, was mir selbst vielleicht noch nicht vorgekommen ist!«

»Du sagst, dieses Land sei zu nüchtern für ein Abenteuer. Denke nur an die Lung-yin, und du wirst zugeben, daß es hier genug Gelegenheit zu interessanten Erlebnissen giebt.«

»Die Lung-yin? Bist du vielleicht bereits mit einem von ihnen zusammengekommen?«

Sein Gesicht hatte einen eigentümlichen, mehr als gespannten, ich möchte sagen, aushorchenden Ausdruck angenommen.

»Allerdings.«

»Wann?«

»Gestern.«

»Und wo?«

»Auf dem Flusse.«

»Wie geschah dies?«

»Sie nahmen mich und meinen Freund gefangen und schafften uns nach einem Kuang-ti-miao.«

»Und haben euch wieder frei gegeben?«

»Freiwillig nicht; wir haben sie dazu gezwungen.«

»Das ist unmöglich!«

»Es ist möglich, denn du siehst mich hier bei dir.«

»Das ist viel; das ist stark; das ist außerordentlich! Die Lung-yin haben noch niemals einen Gefangenen ohne Lösegeld freigegeben.«

»Ich habe ihnen sogar eine gefangene Holländerin mitgenommen, welche ich in dem Kuang-ti-miao fand.«

»Wie viele waren es ihrer?« »Dreißig ungefähr.«

»Dann hast du sie nicht durch bloße Gewalt zu zwingen vermocht, sondern dich noch eines besonderen Mittels bedient. Ich schenke dir immer mehr Teilnahme. Willst du die Güte haben, mir deinen Namen zu nennen?«

»Ich wurde hier Kuang-ska-sse genannt.«

Er sprang überrascht vom Sessel empor.

»Kuang-si-ta-sse! Kennst du ein Nian-yan-kui-dse?«

Ich erstaunte. Er kannte meine Ausarbeitung: ›Geschichte der Teufel aus den westlichen Meeren.‹

»Ja.«

»Und ein Pen-tsao-y-jin?«

»Ja.«

»Und ein Hio-thian-ti?«

»Ja.«

»Und du bist es, der diese drei Werke geschrieben hat?«

»Ich bin es.«

»Jetzt weiß ich ganz genau, warum du den Lung-yin entkommen bist!«

»Sage es!«

»Das Zeichen, welches dir Kong-ni gegeben hat, hat dich aus der Gefangenschaft errettet.«

Mein Erstaunen wuchs.

»Kennst du Kong-ni?« fragte ich.

»Ich kenne ihn. Du hast ihm das Leben gerettet, und er hat es mir erzählt, denn er besuchte mich, sobald er nach Kuangtscheu-fu zurückkehrte. Auch deine Arbeiten gab er mir zu lesen. Ich mußte sie sehen, denn ich gehöre zu den Kao-pan-sse, und habe sie mit zu prüfen.«

Das war mir außerordentlich. Ich erkundigte mich:

»Sind sie bereits geprüft?« »Von mir und noch einem.« »Was wird der Erfolg sein?«

Er lächelte leise.

»Ganz derselbe, den dir Kong-ni gesagt hat. Sein Vater ist mächtig im Reiche, obgleich er vom Kaiser die Erlaubnis erhalten hat, sich auszuruhen. Er ist in unserer Provinz der Oberste der Prüfungen und kann den Grad erteilen, ohne vorher beim Ly-pu anzufragen. Er wird aus deinen Arbeiten sehen, daß du ein großer Gelehrter bist, und dich zum Tsia-sse machen, wenn du ihm gehorchest.«

»Ihm gehorchen? In welcher Angelegenheit?«

»Das wird er dir selbst sagen. Er schickt dann deine Schriften dem Ly-pu nur zur Ansicht, und dann werden sie im Wen-tschang-kun niedergelegt. Du bist ein Fremder, aber es kommt ganz auf dich an, ob du ein Ta-kueng-fu werden willst. Dann wirst du mächtig sein und brauchst nicht in dein Land zurückzukehren, wo du Bücher schreiben mußt, wenn du nicht hungern willst.«

Eine solche Wendung unserer Unterhaltung hatte ich allerdings nicht erwartet. Diese Ausarbeitungen waren von mir mehr des Abenteuerlichen wegen gefertigt worden; es war mir kaum eingefallen, an einen Erfolg zu glauben, und nun sagte mir dieser Tscha-juan, der doch ein hochgestellter und einflußreicher Mann war und zur Mandarinenklasse mit dem blauen Knopfe gehörte, daß ich wirklich einen akademischen Grad erhalten werde. Hier mußten ganz besondere Verhältnisse obwalten, ganz besondere Gründe vorliegen, zumal die Angelegenheit mit einer Eile betrieben wurde, welche in China sonst wohl nicht in Anwendung kam. Neugierig war ich dabei auf die Beziehungen, in denen ich dem Vater Kong-nis zu gehorchen hatte. Ich vermutete, daß dieser letztere nicht bloß bekannt, sondern sogar verwandt mit dem Richter sei.

»Kong-ni ist nicht mehr bei dir?« fragte ich daher.

»Nein. Er ist zu Ming-tsu, seinem Vater, gegangen.« »Du kennst auch diesen?«

»Ja. Er ist mein Bruder, und wenn du seinen Willen thust, wirst du sein Sohn werden.«

»Wo wohnt er?«

»In Li-ting. Hat dir Kong-ni dies nicht gesagt?«

»Nein.«

Also der Vater Kong-nis wohnte in demselben Li-ting, wo sich auch der Kiang-lu, der Oberste der Drachenmänner, aufhielt! Das gab mir natürlich Stoff zum Nachdenken. Ich kam auf den Gedanken, daß beide in einer gewissen Beziehung zu einander stehen müßten, und versuchte, darüber einen Anhaltspunkt zu gewinnen, indem ich mich erkundigte:

»Ist es erlaubt, daß ein chinesischer Phy, ein Graf, der ein Fu-yuen war, einen Ausländer, einen Christen adoptiert?«

»Alles, was man thun kann, ist erlaubt.«

Das war ein höchst eigentümlicher Grundsatz.

»Dann wäre es ja auch den Lung-yin erlaubt, Stromräuber zu sein!«

»Sie erlauben es sich Selbst, folglich ist es ihnen erlaubt.«

»Aber das Gesetz, die Gerechtigkeit!«

»Wird sie bestrafen, wenn sie nicht klug genug sind, ihre Vorkehrungen zu treffen.«

»Du bist ein Richter, ein Vertreter des Gesetzes, und dieses gebietet dir, die Lung-yin zu vertilgen.«

»Das werde ich auch thun, wenn das Gesetz es verlangt. Aber es ist noch keiner gekommen und hat es mir befohlen.«

»So will ich dir Gelegenheit dazu geben!«

»Du?«

»Ja. Im Wan-ho-tien versammeln sich heute um Mitternacht viele Drachenmänner, um die Maßregeln zu besprechen, mich und meinen Freund zu fangen und vielleicht gar zu töten. Du hast da die beste Gelegenheit, sie aufzugreifen und zu bestrafen.«

Er lächelte sehr eigentümlich und nickte dann.

»Ich werde es thun; ich werde sie überraschen, weil du es so willst. Also euch wollen sie fangen?«

»Ja,«

»Weil ihr ihnen entkommen seid?«

»Ja.«

»War ein großer Mann, ein Dschiahur, ihr Anführer?«

»Allerdings,« antwortete ich erstaunt. »Kennst du ihn auch?«

»Ich bin ein Richter, und es ist meine Pflicht, alle Leute zu kennen, über welche ich einst zu urteilen haben werde. Sind die Richter deines Landes nicht so klug?«

»O ja. Sie kennen ihre Leute ebenso gut, aber sie warten nicht, bis eine Anzeige gemacht wird, sondern sie handeln selbständig und freiwillig, wenn es gilt, ein Verbrechen zu verhüten.«

»Dann müssen sie sehr wenig Arbeit haben, wenn ihnen Zeit für solche Dinge bleibt. Der Richter hat zu warten, bis man ihm den Verbrecher bringt. Aber weil du es willst, werde ich den Dschiahur im Wan-ho-tien aufsuchen.«

»Darf ich dich begleiten?«

»Nein. Mein Amt verbietet mir, einen Ausländer anzunehmen, und überdies bist du mein Gast, den ich nicht in Gefahr bringen darf. Ich werde so für dich sorgen, daß dir die Lung-yin nicht wieder feindlich begegnen.«

»Steht dies in deiner Macht?«

»Ja. Wie lange habt ihr Zeit, von eurem Schiffe fort zu bleiben?«

»So lange es uns beliebt. Nur wenn Kong-ni zurückkehrt, möchte ich dort anwesend sein.«

»Das ist nicht notwendig, denn ihr werdet morgen früh zu Kong-ni gehen.«

»Wohin?«

»Nach Li-ting. Ihr sollt Palankins haben und eine Begleitung. Oder zieht ihr vor, auf einer Mandarinendschunke zu fahren?«

»Wir ziehen vor, selbst zu bestimmen, was wir thun und wohin wir gehen werden.«

»Das steht euch frei; ihr könnt gehen, wohin es euch beliebt. Aber du mußt doch erkennen, daß ich es gut mit euch meine. Ihr wollt China kennen lernen und könnt dies am besten, wenn ihr thut, was ich euch anbiete. Mein Bruder und Kong-ni schulden euch Dank; sie werden für euch sorgen und alles für euch thun, was ihnen möglich ist. Du hast die Kleidung, welche dir geschenkt wurde, nicht mit. Ich werde euch chinesische Gewänder geben und Mandarinenhüte, so daß man euch überall, wohin ihr kommt, mit Achtung begegnen wird.«

»Darfst du uns die Abzeichen von Mandarinen geben?«

»Ich erlaube es mir. Uebrigens sprichst du chinesisch, so daß du dich nicht verraten wirst.«

Das klang sehr verlockend, und darum ging ich, obgleich verschiedene Bedenken in mir aufsteigen wollten, auf den Vorschlag ein, doch nicht, ohne vorher mit dem Kapitän darüber zu sprechen.

»Wollt Ihr ein Mandarin werden, Kapt'n?«

»Warum nicht, falls es uns Spaß macht und nicht allzu sehr gefährlich ist.«

»Unser Wirt will uns chinesisch kleiden und zu Kong-ni schicken, der sich bei seinem Vater, welcher ein Graf ist, aufhält.«

»Well! ich bin dabei, wenn der Ausflug nicht viel Zeit in Anspruch nimmt. Wenn der Mann ein Graf ist, so hat man alle Hoffnung, daß der jetzige Speisezettel hier und da eine Wiederholung findet!«

Das war also abgemacht, und ich teilte dem Tscha-juan unsern Entschluß mit.

»Ihr thut wohl daran, und ich werde so für euch sorgen, als ob ihr meine Brüder wäret.«

Er erhob sich. Ich dankte ihm für seine Gastlichkeit, und auch der Kapitän konnte nicht unterlassen, einen Dankversuch zu machen:

»Richter, Freund und Gastgeber! Ich muß saging, daß mir noch niemals ein Essong so geschmeckt hat, wie das gegenwärtigeng. Wenn Ihr einmal auf meinang Schiffeng kommung wolltet, so würde ich mir Mühe gebeng, Revanche zu nehmang.«

Der Richter lächelte und nickte ihm für diese Worte, deren Sinn er erriet, sehr freundlich zu und entfernte sich dann. Hierauf brachte uns der Diener Tabak, Pfeifen, Cigarren und Cigaretten, und da es noch nicht spät war, so beschlossen wir, noch gemütlich zu schmauchen.

Noch waren nicht zehn Minuten vergangen, so wurde uns ein Mann gemeldet, welcher uns zu sehen wünschte. Es war der Besitzer eines Kleiderladens. Er prägte unsere Körperverhältnisse seinem Gedächtnisse ein und brachte bereits nach einer Viertelstunde zwei Anzüge, zu denen der Diener dann noch Zopf, Fächer und zwei Mandarinenhüte gesellte, von denen der eine einen vergoldeten und der andere einen Knopf von Krystall hatte. Der erstere war für den Kapitän und der letztere für mich bestimmt. Ich sollte als Mandarin fünfter und Turnerstick als ein solcher neunter Klasse gelten.

»Wollen wir anprobieren, Charley?« fragte letzterer.

»Zeit haben wir.«

»Well; greift zu!«

Wir legten die Gewänder an und steckten einander die langen, falschen Zöpfe an den Kopf. Als ich vor den Spiegel trat, mußte ich hellauf lachen, und auch der Kapitän kam vor Lachen kaum wieder zu Atem.

»Charley, sagt einmal aufrichtig, sehe ich auch so abenteuerlich aus, wie Ihr?«

»Natürlich! Ihr kommt mir vor wie eine Marionette, wie ein Kasperl oder Harlekin, den man chinesisch angezogen hat.«

»Ganz dasselbe ist auch bei Euch der Fall. Aber unsere Bärte passen nicht.«

»Hier ist alles, was wir brauchen, auch Bartwichse, wie es scheint. Wir können uns also helfen.«

»Was thun wir nun mit unsern Kleidern? Der Tausch würde mir denn doch nicht ganz behagen.«

»Wir übergeben sie dem Tscha-juan, der sie uns nach Hong-kong besorgen muß.«

»Well, das ist das Beste. Nun aber wollen wir Schlafen, damit wir morgen beizeiten fertig sind!«

Wir gingen zur Ruhe, und wie während der ersten Nacht in Hong-kong hatte ich wieder im Schlafe mit allerlei wunderlichen Gestalten zu thun. Eine Menge von Lung-yin in Krokodilsgestalt und mit Mandarinenhüten auf den Köpfen sperrten die Rachen auf, um mich zu verschlingen; Kong-ni hatte Pferdehufe, Hörner und einen Schwanz bekommen und streckte seine teuflischen Krallen nach mir aus; der Kiang-lu war ein riesiger Haifisch mit Drachenflügeln; er kam auf mich zugeschossen und verschlang mich, und als ich durch seinen Rachen glitt, sah ich unsern Wirt die Hände freudig zusammenschlagen, und neben ihm stand Mejuffrow Hanje Kelder und schrie: ›Hebt niet Angst, Mynheer, de Haai wird gij niet in de Gorgel behalten!‹

Als ich erwachte, war es noch früh am Morgen, und aus dem Nebenzimmer ertönte das laute Schnarchen des Kapitäns. Vom Fenster aus bemerkte ich, daß die beiden Palankins bereits im Hofe standen. Ich weckte den Kapitän, und wir zogen unsere Mandarinengewänder an.

Da wir die Fenster öffneten, bemerkte man, daß wir erwacht seien, und so kam der Diener, um uns zum Frühstück zu rufen, welches der Tscha-juan mit uns einnehmen wolle. Dieser hatte bereits auf uns gewartet. Er meinte, daß uns die Gewänder gut kleideten, und überreichte mir ein Empfehlungsschreiben, welches ich seinem Bruder Phy-ming-tsu übergeben sollte.

Bis nach Li-ting war es per Palankin eine Tagesreise, und zur Bestreitung der dabei entstehenden Kosten gab er mir zwei Silberbarren, zu deren Annahme er mich förmlich nötigte.

Dann nahmen wir Abschied. Auch Turnerstick erfaßte die Hand des Richters und sprach:

»Geliebter Freund und Bruder! Es will mir scheineng, daß du ein braver und gemütlicher Kerling bist. Habe Dank für alles, was wir gegessang und getrunking habong. Auf der Rückfahrt kommang wir wieder. Adieu, lebing wohl, alter jungeng!«

Wir wurden von ihm bis hinab in den Hof begleitet. Ich gab mir Mühe, Fächer und Regenschirm mit möglichster Bravour und Grandezza zu handhaben; Turnerstick aber schulterte seinen Schirm sehr einfach wie eine Flinte und trug den Fächer in der Faust, als ob er eine Eisenholzkeule zu schleppen habe.

Das Gefolge bestand aus mehr als dreißig Menschen, die sich bei unserem Erscheinen alle zur Erde warfen. Wir nahmen noch einen letzten, kurzen Abschied, stiegen ein, und dann ging es fort, und zwar in eiligem Trabe, wie es die Palakinträger gewohnt sind.

Voran liefen vier Läufer, bewaffnet mit Bambusstäben, um jedem Begegnenden wo möglich durch kräftige Streiche begreiflich zu machen, daß er anzuhalten, auszuweichen, abzusteigen und demütig zu grüßen habe, da ihm die ganz unverdiente Gnade zu teil werde, zwei Tragsessel zu sehen, in denen sich sehr vornehme Kuang-fu befänden. Dann folgten acht Soldaten, bewaffnet mit Luntenflinten, aus denen wohl seit zwanzig Sommern und Wintern kein Schuß gethan worden war; sie hatten vorn auf der Brust den Drachen und auf dem Rücken die Inschrift ›Ping‹. Nun kamen vier ledige Träger, welche die andern abzulösen hatten; dann folgte mein Palankin vor demjenigen des Kapitäns, hinter dem unser Reisemarschall keuchte. Ihm folgten wieder vier ledige Träger, da jeder Palankin von vier Mann getragen wurde. Hinter ihnen liefen wieder acht Soldaten, diese aber mit Lanzen, Pfeil und Bogen bewaffnet. Zu guterletzt folgte ein lang gezogener Schwanz von Straßenjungen, welche aus allen Kräften schrieen und nur immer die beiden Worte ›Tsien‹ und ›Kom-tscha‹ brüllten. Zuweilen blieb einer der Läufer zurück und zog ihnen einen kräftigen Tsien oder ein klatschendes Kom-tscha über den Rücken herüber, was aber nur zur Folge hatte, daß sich das Geschrei verdreifachte. Und wenn ja einmal einer dieser Schlingel zurückblieb, waren mittlerweile bereits zwei andre für ihn eingetreten.

Erst als wir nach anderthalb Stunden die Stadt nebst ihren Vororten im Rücken hatten, löste sich dieser Schweif allmählich vom Kometen ab, und es begann ruhiger hinter uns zu werden.

Die Palankinträger sind die volkstümlichsten Gestalten des ganzen himmlischen Reiches. Sie leisten beinahe Übermenschliches. Immer im Geschwindschritte rennen und laufen sie vorwärts; sie keuchen unter ihrer Last, der Schweiß rinnt ihnen aus allen Poren, aber sie scheinen niemals zu ermüden. Ihnen ist es gleich, ob der Weg gut oder schlecht ist, bergauf oder bergab geht und durch heiße Sandstrecken oder breite Wasserläufe führt. Und dafür bekommen sie einen Tsien für die Meile, also etwas über drei Pfennige die Wegstunde. Gekleidet sind sie in ein sehr kurzes Beinkleid und eine ebenso kurze Jacke, und an den nackten Füßen tragen sie Sandalen aus Reisstroh.

Ich konnte mich für die Reise im Tragsessel nicht begeistern. Man lag wie in einem Sarge, und lieber hätte ich ein gutes Pferd unter mir gehabt; die Pferde aber sind in China, besonders in dem südlichen Teile, außerordentlich selten.

Erst zu Mittag machten wir Halt. Wir befanden uns in einem Dorfe, dessen Sian-yo, uns den Kuang-kuan öffnete und alles Nötige, was wir brauchten, herbeischaffen mußte. Wir hielten eine mittelmäßige Mahlzeit und ruhten noch eine Weile aus.

»Charley, sagt einmal, wie Euch so ein Palankin gefällt?« sagte Turnerstick.

»Nicht sehr.«

»Und mir noch weniger. Das Dings ist aus den köstlichsten Stoffen gemacht, aber man reist ganz niederträchtig darin. Ich lobe mir meine Barke!«

»Und ich mir ein Pferd.«

»Heig-ho, fällt mir gar nicht ein! Ein Pferd, von dem ich alle zehn Schritte zwanzigmal herabrutsche? Das ist noch viel schlimmer als ein Palankin. Sagt einmal, ob es hier am Pe-kiang auch Drachenmänner giebt?«

»Natürlich. Ich habe Euch doch bereits gesagt, daß der Oberdrache in Li-ting wohnt, wohin wir gehen.«

»Well, so werden wir uns den Kerl einmal ansehen!«

»Auch der Dschiahur wird kommen, der sich nur unsertwegen in Kanton länger verweilt hat.«

»Werden auch ihn ansehen, aber nicht allein ansehen, sondern auch noch etwas ganz anderes. Unsere Revolvers haben wir ja hier in diesen ewig weiten Aermeln stecken und – doch, à propos, Charley, weshalb hat man uns denn diesen Regenschirm und diesen Fächer aufgehängt?«

»Mit dem Fächer sollt Ihr Euch Kühlung zuwehen, wenn es Euch zu heiß wird, und dieser Schirm ist ein En-tout-cas; er schützt gegen den Regen und den Sonnenstrahl, dient als Stock beim Gehen, wird gebraucht zum Kokettieren und mag wohl auch den löblichen Zweck haben, jemandem einen guten Hieb zu verehren.«

»Von dem allem leuchtet mir das letztere ein. Wozu der Fächer? Wenn ich schwitze, so knüpfe ich diesen Schlafrock auf, nehme den Zopf mit dem Hute vom Kopfe und puste mich einmal richtig aus. Und wenn es regnet -dumme Erfindung, so ein Schirm! Es ist doch ganz gleich, ob der Rock oder der Schirm naß wird; eines von beiden muß doch daran glauben und wieder getrocknet werden. Kann es jemals tiefer gehen als bis auf die Haut?«

»Nein, Kapt'n, ist aber auch tief genug! Dennoch müßt ihr Euch an den Fächer und den Schirm gewöhnen, wenn Ihr als ein Mandarin gelten wollt!«

»Well! So nennt mich aber auch nicht mehr Kapt'n, sondern Master Mandarinung Turningsticking!«

»Geht nicht, denn das Wort Mandarin giebt es im Chinesischen gar nicht. Der Chinese sagt Kuang-fu statt Mandarin. Ich müßte Euch daher Kuan-fu Tur-ning-stik-king nennen.«

»Und ich Euch?«

»Kong-ni hat mich Kuang-si-ta-sse getauft; ich bin also Kuang-fu Kuang-si-ta-sse.«

»Zweimal Kuang, das ist schwer einzuteilen. Schreibt mir diesen Namen auf ein Stück Papier; ich werde ihn auswendig lernen, wenn ich wieder im Palankin bin!«

Ich that es mit Vergnügen, denn ich wußte vorher, daß seine Anstrengung vergeblich sein werde. Dann bezahlte ich den Schultheiß und gab Befehl, aufzubrechen.

Der Reisezug setzte sich in derselben Reihenfolge wieder in Bewegung und ging immer am Ufer des Pe-kiang aufwärts. Am Nachmittage hielten wir eine kurze Rast, um eine Tasse Thee zu trinken, und eben, als die Sonne den Horizont erreichte, sahen wir Li-ting vor uns liegen.

Es war eine kleine Stadt, deren Häuser aber sehr weit auseinander lagen, weil die meisten von ihnen von Gärten umgeben sind, in denen ich zahlreiche größere oder kleinere Weiher bemerkte. In diesen werden die Goldfische gepflegt, mit denen Li-ting einen sehr ausgedehnten Handel treibt.

Vor dem Orte sah ich ein sehr stattliches Gebäude liegen, dem man es sofort anmerkte, daß es der Sommersitz eines chinesischen Großen sei. Und hinter der Stadt erhob sich ein schloßähnliches Bauwerk, aus mehreren Gebäuden bestehend und von einer hohen Mauer umgeben. Weiter im Hintergrunde sah ich steile, nackte und zackige Felsen, deren Zinnen die untergehende Sonne vergoldete, weit auf zum Himmel ragen. Ringsum sah man nichts als Reis, Zuckerrohr und Bambuspflanzen; doch bot das auf dem Flusse herrschende Leben einen hübschen Anziehungspunkt für das Auge dar.

Unser Zug trabte durch die Stadt dem burgähnlichen Gebäude zu, vor dessen Thore er anhielt. Es öffnete sich sofort, und ein alter Chinese trat heraus, der beim Anblick der beiden Sänften verwundert die Hände zusammenschlug.

»Der Tscha-juan! Herbei, ihr Männer; helft dem Tschin-tschu aussteigen!«

Turnerstick hatte sich seinen Palankin gleich selbst geöffnet, stieg aus und schritt, den Sonnenschirm wie einen Turnierspeer unter dem Arme, durch das Thor in den Hof. Ich aber blieb, selbst als unser Reisemarschall die Sänfte geöffnet hatte, ruhig sitzen. Ich war ein Mandarin mit dem Krystallknopfe und wollte standesgemäß empfangen sein.

Der Alte mochte die Tragsessel kennen; er hatte uns für den Richter, den Herrn seines Bruders, gehalten. Während ich dem Marschalle die Reisekosten zur Auszahlung an die anderen entrichtete und für jeden ein Komt-scha hinzufügte, hörte ich im Hofe die laute Stimme des Kapitäns:

»Blitz und Knall, das ist ja dieser Kong-ni, den wir zwischeng den wildang Zieging herausgelesung habong! Welcome, alter Junge!«

»Ihr hier, Kapitän? Wo ist Euer Freund, und wie kommt Ihr nach Li-ting?«

»Dieser Charley oder vielmehr dieser Kung-fu-kung-hukung-lu sitzt wahrhaftig noch drin in der Portechaise, als hätte er Gänse auszubrüten!«

Kong-ni stand sofort bei mir und begrüßte mich mit der lebhaftesten Freude. Er war sichtlich über unsere Umwandlung erstaunt, fragte aber nicht, sondern führte uns nach dem Portale und eine breite Empfangstreppe empor, auf deren oberster Stufe ein Mann stand, welcher dem Richter so ähnlich sah, wie ein Ei dem andern. Es war jedenfalls Kong-nis Vater.

»Kuang-si-ta-sse!« rief ihm der Sohn entgegen.

Der Vater machte ein überraschtes Gesicht, ließ mich aber nicht zu der gehörigen Reverenz kommen, sondern bewillkommte mich in einer Weise, als ob wir alte Bekannte seien. Dann geleitete er uns in ein großes Zimmer, in welchem er mich erst richtig in Augenschein nahm. Dann begrüßte er mich abermals:

»Sei mir willkommen, du Retter meines Sohnes. Mein Haus ist dein Haus; befiehl, und alles wird dir gehorchen!«

Ich zog das Schreiben seines Bruders hervor und übergab es ihm. Er öffnete und las es, während wir Platz nahmen; dann winkte er uns, ihm zu folgen. Wir traten in einen Korridor.

»Hier teilt euch in die Räume. Die Zimmer rechts sind dein, und die links deinem Freunde. Tretet ein; ihr werdet erhalten, was ihr braucht, und dann erlaubt mir, mit euch zu sprechen!«

Ich sah eine ganze Enfilade von kostbar ausgestatteten Zimmern vor mir und hatte mich kaum darin umgesehen, als ein Diener kam und frische Leibwäsche und Kleidung brachte. Ich zog mich um und blickte dann durch das Fenster hinab in einen Garten, der wirklich prachtvoll genannt werden mußte und seine erquickenden Düfte mir entgegenschickte.

Bald erschien ein Diener mit einer sehr künstlichen Lampe aus gegossenem Horn, in welcher ein köstliches Hiang-yu brannte.

»Beliebt es dir, beim Herrn zu erscheinen?« fragte er sehr höflich.

»Ja. Wo ist er?«

»Er wird dich in demselben Zimmer empfangen, in welchem du vorhin gewesen bist.«

Ich ging. Draußen auf dem Korridore brannten mehrere Lampen ganz derselben Art und verbreiteten ein frappantes Licht über den mit allerlei fremdartigem Schnitzwerke verzierten Gang. In dem Zimmer erwartete mich der Phy mit seinem Sohne. Ein Mahl war aufgetragen, welches sicher hinter dem gestrigen Souper nicht zurückstand.

Gleich hinter mir trat Turnerstick ein. Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Er hatte den langen Zopf ganz auf der Seite und den Regenschirm unter dem Arme. Den Fächer aber hatte er ausgebreitet und handhabte ihn während der Verbeugung mit einer Kraft, als wollte er mit demselben einen Stier erschlagen.

Die beiden Chinesen blieben sehr ernst. Wir gingen zur Tafel. Turnerstick machte ein höchst vergnügtes Gesicht und lehnte seinen Regenschirm in die Ecke.

»Tsing« bat einfach der Wirt, und dann setzten wir uns.

Der Kapitän schlug die ungewohnt weiten Aermel zurück und griff nach den Konfitüren, welche ihm Kong-ni darreichte. Der Chinese beginnt nämlich, umgekehrt wie wir, mit dem Nachtische und hört meist mit der Suppe auf. Nur einem Europäer zuliebe wird einmal diese Reihenfolge umgeändert. Auch trinkt er den Wein nicht kalt aus Gläsern, sondern warm aus kugelrunden Porzellanbechern. In den Pausen zwischen den einzelnen Gängen erhebt man sich, raucht eine Pfeife oder zerstreut sich auf irgend eine andere Weise. Frauen sind nie dabei; höchstens schauen sie durch die Thür eines Nebengemaches, welche durch ein Bambusgitter ersetzt wird, zu.

Das Mahl wurde, außer den nötigen Höflichkeiten, schweigend eingenommen. Wir hatten zu viel auf dem Herzen, als daß eine lebhafte Unterhaltung hätte stattfinden können. Aber dann, als der Hausherr die Eßstäbchen an die Stirne gehalten und dann auf die Tasse gelegt hatte, zum Zeichen, daß das Souper beendet sei, griff Kong-ni unter die Tafel und brachte einen bisher versteckten echten Tintio hervor. Der Diener servierte Gläser, und es dauerte nun gar nicht lange, so waren die Zungen gelöst.

»Charley, was macht Ihr nur für Fehler!« tadelte Turnerstick.

»Welche?«

»Vergeßt Euern Regenschirm!«

»Im Zimmer? Haben die beiden andern den ihrigen mitgebracht?«

»Nein. Als Wirte brauchen sie das nicht. Wir aber als Gäste sind verbunden, als vollständige Chinesen zu erscheinen. Dieser Fehler ist nicht zu verzeihen!«

»Der Eurige auch nicht.«

»Welcher?«

»Daß Ihr mich wieder Charley nennt.«

»Well, habt recht, Master Kang-fu-king-wu-kung-tu. Soll aber nicht wieder geschehen!«

Aus Höflichkeit hatte man bisher vermieden, uns nach unsern Erlebnissen zu fragen. Jetzt aber begann Kong-ni:

»Wie uns der Tscha-juan schreibt, hat euch mein Talisman Nutzen gebracht?«

»Allerdings.«

»Dürfen wir den Hergang erfahren?«

Ich gab ihm einen ganz ausführlichen Bericht über alles, was uns vorgekommen war. Sie hörten ihn ohne eine einzige Unterbrechung bis zu Ende.

»So vermutest du also, daß der Kiang-lu hier in Li-ting zu finden ist?«

»Nach dem, was ich hörte, ja.«

»Dann mußt du Anzeige machen.«

»Werde mich hüten. Ich bin kein Diener des Hiu-po in Peking.«

»Du sprichst weise; denn es könnte leicht kommen, daß eine solche Anzeige dein Tod wäre. Wie lange willst du in China bleiben?«

»So lange es mir gefällt.«

»Es wird dir gefallen, und du wirst bei uns bleiben,« meinte der Phy. »Deine Ausarbeitungen öffnen dir die Blume der Mitte, und es wird dir hier so gefallen, daß du nie wieder gehen willst.«

»Wann wird über meine Ausarbeitungen entschieden?«

Er lächelte.

»Wann es mir beliebt. Es kommt nur auf dich an, und wenn du es wünschest, kannst du die Entscheidung bereits morgen früh in den Händen halten.«

»So bitte ich dich darum!«

»Der Wunsch sei dir gewährt. Aber siehe, welch einen herrlichen Abend wir haben! Ich pflege diese Stunde im Garten zu verbringen. Werdet ihr mit uns gehen?«

»Gern.«

Wir erhoben uns, und der Kapitän griff, als ich ihm unsere Absicht mitgeteilt hatte, nach dem Regenschirm.

Es war kein Garten, es war ein wundervoll angelegter, weitläufiger Park, durch welchen wir spazierten. Kong-ni hatte sich Turnersticks bemächtigt und war mit ihm zurückgeblieben; der Phy aber schritt mit mir immer vorwärts, bis wir auf einem künstlichen Felsen Halt machten und uns niederließen. Ich hatte ihm von dem Vaterlande, von meinen Angehörigen und von meinen Erlebnissen erzählen müssen; jetzt begann er mit einer Frage, die ich nicht erwartet hatte:

»Du hast also kein Weib daheim?«

»Nein.«

»Kennst auch kein Weib, welches du lieb hast?«

»Nein.«

»Hast du Kong-ni gern?«

»Ja.«

»Er hat dir gesagt, daß er dich zum Bruder haben will?«

»Ja.«

»Willst du mein Sohn sein?«

»Dem Namen nach oder in Wirklichkeit?«

»In Wirklichkeit, mit allen Rechten und – – Pflichten.«

»Sage mir deine Gründe!«

»Diese liegen nicht fern. Kong-ni hat dich lieb; er will seinem Lebensretter dankbar sein, und ich stimme ihm bei. Ich werde dich öffentlich adoptieren.«

»Darfst du das?«

»Glaubst du, daß einem Phy und Fu-yuen etwas unmöglich ist, was er will?«

»Ich habe Eltern in der Heimat.«

»Du sollst ihr Sohn bleiben. Entscheide dich, denn du gefällst mir!«

»Ein Barbar, der keinen Rang und keinen Grad aufzuweisen hat, kann nicht ja sagen. Entscheide über meine Ausarbeitungen, dann werde ich auch über deinen Antrag entscheiden.«

»Du bist stolz, und das gefällt mir. Du wirst morgen früh erfahren, was ich thue. Wo hast du unsere Sprache gelernt?«

»Lesen und verstehen lernte ich sie in meiner Heimat, sprechen aber im Lande der Yeng-kie-li, wo viele chinesische Kuli sind, mit denen ich verkehrte, um ihre Sprache zu studieren.«

»Bist du ein Freund vom Studium?«

»Ein großer.«

»So laß dir meine Bibliothek zeigen!«

Wir schritten durch den Garten zurück. Selbst beim Mondscheine bemerkte ich, wie reizend er angelegt war und wie sorgsam er gepflegt wurde. Ich machte dem Phy eine Bemerkung darüber.

»Wenn du diesen Garten im Lichte des Tages betrachtest, so wirst du sehen, daß seinesgleichen nicht wieder ist. Hast du von Sse-ma-kuang gehört?«

»Ja. Er war Minister und Geschichtsschreiber. Sein Vermögen soll ungeheuer gewesen sein.«

»Hast du auch seine Schriften gelesen?«

»Nein.«

»Ich besitze sie und werde dir seine Beschreibung des Gartens geben, den er sich anlegte, um von den Arbeiten seines Amtes ausruhen zu können. Ganz nach diesem wunderbaren Muster habe ich den meinigen geschaffen.«

Als wir in das Wohnhaus gelangten, führte er mich in einen großen Saal, welcher von vielen Lampen und Laternen erleuchtet war. Hier waren viele Tausende von Büchern und Schriften aufbewahrt. Ich brauchte lange Zeit, um nur eine Uebersicht zu gewinnen. Er nahm eines der Bücher herab und reichte es mir.

»Das ist das Buch des Sse-ma-kuang. Du wirst die Beschreibung gern lesen, um meinen Garten zu verstehen. Bleibe hier, so lange es dir beliebt, und erlaube mir, zu gehen, denn ich habe noch zu schreiben.«

Er ging.

Ich setzte mich an eine Lampe und schlug das Buch auf. Die Stelle war bald gefunden, und ich las. Sie erregte mein lebhaftes Interesse, einesteils wegen des warmen Stiles, in welchem sie geschrieben war, und andernteils auch infolge der Anschauungen, die sie von einem chinesischen Staatsmanne offenbarte und welche mit dem Bilde, das wir uns gewöhnlich von einem Chinesen zu machen pflegen, wenig harmonierte. In meiner Nähe stand ein Tisch mit Reispapier, Tusche und Pinsel. Ich nahm von dem Papiere, griff zum Bleistift und übersetzte den Text zum Andenken an den Aufenthalt bei einem chinesischen Grafen. Er lautete:

»Andere Menschen mögen Paläste bauen, in denen sie ihre Sorgen einschließen oder ihren Eitelkeiten fröhnen; ich aber habe mir eine liebliche Einsamkeit geschaffen, um meine Mußezeit angenehm zu verbringen und meine Freunde bei mir zu sehen.

»Dazu habe ich nicht mehr als zwanzig Morgen Landes gebraucht.

An der Mitte desselben liegt ein sehr großer Saal, in welchem ich fünftausend Bücher verwahre, um mit der Weisheit reden und mit den alten Gelehrten verkehren zu können. Gegen Mittag liegt, umgeben von Wasser, ein kleinerer Saal, ummurmelt von einem Bache, der von den westlichen Hügeln herabspringt. Er bildet ein tiefes Bassin, aus welchem fünf Wasser fließen, auf denen unzählige Schwäne segeln.

»Am Ufer des ersten Baches, welcher schäumende Kaskaden bildet, liegt ein steiler Fels mit einem Gipfel, welcher gekrümmt ist wie der Rüssel eines Elefanten und einem scheinbar in der Luft schwebenden Kabinette zur Stütze dient. Dieses ist unverschlossen, damit man die frische Luft einatmen und die Edelsteine sehen könne, mit welchen die Morgenröte die emporsteigende Sonne krönt.

»Der zweite Bach teilt sich nach wenigen Schritten in zwei Kanäle, welche sich um eine Galerie winden, die mit einer doppelten Terrasse eingefaßt ist, die von Blumen duftet und Rosen- und Granatbäume als Pfeiler hat.

»Der dritte Bach schlägt einen Bogen um einen einsamen Portikus herum und bildet dort eine niedliche Insel, deren Ufer mit Sand, Muscheln und glänzenden Kieselsteinen verziert sind. Ein Teil dieser Insel ist mit immergrünen Bäumen bepflanzt, und auf dem andern steht eine Hütte von Rotang, wie sie unsere Fischer haben.

»Die beiden letzten Bäche scheinen einander zu suchen und dennoch zu fliehen. Sie plätschern am Rande einer blumenreichen Wiese dahin, welcher sie Labung spenden. Zuweilen treten sie aus ihrem Bette und bilden kleine Weiher, welche von grünendem Rasen umschlossen werden. Dann verlassen sie die Wiese, bilden schmale Rinnen, brechen sich durch ein Labyrinth von Felsen, welche ihnen den Weg streitig machen. Dann entfliehen sie, tief rauschend oder silberne Wellen bildend, in engen Windungen durch den Ausgang.

»Nördlich von dem Büchersaale liegen mehrere einzelne kleine Häuser teils auf Hügeln, von denen einer über den andern blickt wie die Mutter über ihre Kinder, teils sich an Bergabhänge anlehnend. Mehrere von ihnen blicken auch versteckt aus kleinen Thalschluchten hervor.

»Ueberall spendet Barnbusgebüsch kühlen Schatten, und kein Sonnenstrahl fällt auf die mit Sand bestreuten Wege.

»Nach Sonnenaufgang hin breitet sich eine kleine Ebene aus, welche teils in viereckige und teils in länglich runde Beete geteilt ist und durch einen uralten Cedernwald vor dem kalten Nordwind geschützt wird. Die Beete tragen wohlriechende Kräuter, Arzneipflanzen, Blumen und Gesträuche.

»An diesem herrlichen Orte giebt es steten Frühling; ein Wäldchen von Granatbäumen, Citronen und Orangen, welche ohne Unterlaß Blumen und Früchte tragen, zieht sich bis hin zum Horizonte. Inmitten des Planes steht ein grünes Kabinett, zu welchem man, wie in den Windungen einer Muschel, allmählich emporsteigt. An den Seiten zieht sich Rasen hin, welcher an mehreren Stellen Bänke bildet. Sie bieten Erholung und den Genuß der schönsten Aussicht.

»Nach Sonnenuntergang führt eine Allee von Hängeweiden in das Gestade eines breiten Wassers, das sich in einiger Entfernung über einen Felsen hinabstürzt, welcher mit Epheu und wildem Grün überzogen ist. Rundum sieht man schroffes, wirr durcheinander geworfenes Gestein, welches sich in einfacher, natürlicher Weise amphitheatralisch übereinander baut.

»Tief unten liegt eine Grotte, welche nach und nach weiter wird und dann einen ausgewölbten Saal von unregelmäßiger Gestalt bildet und das Licht durch eine breite, mit Geißblatt und wilden Reben umsäumte Oeffnung erhält. Hier findet man erquickenden Schutz gegen die drückende Sonnenwärme. Einzelne Felsblöcke und Bänke, welche in den Stein gehauen sind, dienen als Sitze. Aus einer der Wände springt ein Quell hervor in die Höhlung eines großen Steines, fließt in silbernen Fäden aus derselben ab, windet sich durch zahlreiche Spalten und sammelt sich in einem Bassin, welches zum Baden einladet. Dann verliert es sich unter einem Gewölbe, macht dort eine Wendung und fließt dann einem Teiche zu, der sich am Fuße der Grotten befindet. Zwischen ihm und dem Felsengewirr führt ein schmaler Pfad dahin. Dort giebt es wilde Kaninchen, und im Teiche spielen Fische.

»Ist diese Einöde nicht bezaubernd? Der Teich ist mit kleinen, rohrbewachsenen Inseln übersäet, auf denen verschiedene Arten von Vögeln wohnen. Man gelangt sehr leicht von einer Insel zur andern, indem man über Steine schreitet oder über kleine Brücken geht, welche ganz nach Zufall und dem gegebenen Raume im Zickzack oder in gerader Linie verteilt sind.

»Wenn die Wasserlilien blühen, bilden sie einen Kranz von Purpur und Scharlach, wie der Horizont am mittägigen Meere, wenn ihn die Sonne beleuchtet.

»Um aus dieser Einöde zu gelangen, muß man denselben Pfad öfters betreten oder die Kante steiler Felsen überschreiten, welche ihn von allen Seiten umgeben. Man steigt von diesem Steinwalle vermittelst einer steilen Treppe hinab, die in das Gestein gehauen werden mußte, in welchem man noch die Spuren der spitzigen Hacken bemerkt. Dort steht ein sehr einfaches Häuschen, welches genug geschmückt ist durch die Aussicht über eine weite Ebene, in der sich der Fluß durch Dörfer und Reisplantagen windet. Das Auge folgt mit Lust den zahlreichen Schiffen auf dem großen Strome; die Landschaft wird belebt durch die vielen Reisenden auf den Straßen und die auf den Feldern arbeitenden Menschen, und der Blick fühlt sich erquickt, wenn er an den blauen Bergen haftet, welche den Horizont bilden.

»Wenn ich in meiner Bibliothek genug gedacht und geschrieben habe, steige ich in einen Kahn, welchen ich selber rudere, und genieße das Vergnügen, welches mir mein Garten bietet. Oft lege ich, während ein breiter Strohhut mich vor den Sonnenstrahlen schützt, bei der Fischerinsel an. Ich locke die Fische, welche im Wasser spielen, und denke an die Leidenschaften der Menschen, wenn ich bemerke, daß ein Fisch vergeblich nach dem Köder schießt.

»Oder ich nehme den Bogen in die Hand, hänge den Köcher über die Schulter, steige die Felsen hinan, spähe nach den Kaninchen und durchbohre sie mit dem Pfeile, sobald sie aus ihrem Baue kommen. Doch sie sind besonnener als wir; sie fürchten die Gefahr und suchen sie zu vermeiden, denn keines von ihnen erscheint, wenn ich von ihnen bemerkt worden bin.

»In dem Garten pflücke ich heilsame Pflanzen, die ich aufbewahre. Ich nehme eine Lieblingsblume und freue mich herzlich über ihren Duft. Wenn eine Blüte Wasser braucht, so begieße ich sie, und das kommt auch ihren Nachbarinnen zu gute. Wenn ich meine satt gereiften Früchte erblickte, so habe ich oft die Lust zum Essen wieder erhalten, welche ich beim Anblick des Fleisches verloren hatte.

»Meine Granaten und Pfirsiche gefallen auch meinen Freunden, wenn ich ihnen welche schenke. Ich beschneide einen jungen Bambus, welcher stehen bleiben und wachsen soll, oder biege seine Zweige zusammen, damit sie den Weg nicht versperren. Es ist mir gleich, ob ich mich am Ufer des Wassers befinde, ob tief im Gehölze oder auf einer Felsenspitze; sie sind alle gut zum Ruhen.

»Ich betrete ein Häuschen, um zu beobachten, wie der Storch den Fischen nachstellt. Bald aber habe ich vergessen, weshalb ich gekommen bin, denn ich habe die Geige ergriffen und bewege die Vögel, mit einzustimmen.

»Oft überrascht mich der scheidende Sonnenstrahl, wenn ich noch eine Schwalbe beobachte, welche in zärtlicher Fürsorge für ihre Kinder umherflattert; dazu sehe ich, welche Listen der Raubvogel aufbietet, um seine Beute zu erlangen. Der Mond ging bereits auf, und ich sitze noch immer da; das ist ein Genuß mehr. Wenn der Bach murmelt, wenn die vom Winde bewegten Zweige rauschen, versinke ich beim Anblick des Firmamentes in süße Träume. Die ganze Natur redet mit meiner Seele; das Gefühl besiegt mich, und erst die Zeit der Mitternacht bringt mich zu meiner Wohnung zurück.

»Zuweilen kommen Freunde, um meine Einsamkeit zu unterbrechen. Sie lesen mir ihre Arbeiten vor oder hören die meinigen an. Sie beteiligen sich an meinen Erholungen. Unser frugales Mahl wird erheitert vom Weine und gewürzt von der Philosophie. Am Hofe werden die Leidenschaften erregt; man verleumdet dort einander, schmiedet Waffen und legt Schlingen. Wir dagegen verkehren mit der Weisheit und weihen ihr unsere Herzen. Mein Auge ist ihr immer zugewandt, leider aber werden ihre Strahlen durch zu vieles Gewölk getrübt.

»Wenn ein Sturm diese Wolken verjagt, dann wird die Einsamkeit für mich ein Tempel des Glückes werden. Doch, was rede ich! Ich habe ja als Vater, Gatte, Unterthan und Mann der Wissenschaft tausend Pflichten, und mein Leben ist nicht mein alleiniges Eigentum. Lebe wohl, lieber Garten, lebe wohl! Die Liebe zu den Meinen und zum Vaterlande ruft mich nach der Stadt zurück. Deine Reize mögen dir treu bleiben, um mir die Sorgen zu verscheuchen und meine Tugend zu bewahren!« –

Als ich hiermit fertig war, kehrte ich nach meinen Zimmern zurück. Eben wollte ich eintreten, als sich mir gegenüber eine Thür öffnete und der Kapitän aus derselben trat.

»Charley!« winkte er geheimnisvoll.

»Schon wieder Charley!«

»Schön, alter Fu-kung-bu-kung-zu-kung! Aber sagt einmal, wollen wir ihn fangen?«

»Wen?«

»Diesen Mongolen.«

»Welchen Mongolen?«

»Nun, diesen Dschi – Dscha –, der uns im Götzentempel gefangen hielt!«

»Den Dschiahur?«

»ja, so heißt der Kerl!«

»Ist er da? Wo ist er?«

»Ich hatte mein Licht ausgelöscht und hielt noch ein wenig Ausguck nach der Stadt hinüber. Da kam er; ich kannte ihn genau. Er ging um die Ecke herum, nach dem Garten zu. Hier habe ich den Revolver; soll ich den Räuber über den Haufen schießen?«

»Wartet noch ein wenig, bis ich Euch abhole!«

»Was wollt Ihr noch vorher thun?«

»Rekognoscieren.«

»Well! Hier sind wir am Lande, wo Ihr mehr zu Hause seid, als ich es bin. Und im Schleichen seid Ihr j a ein Hauptkerl.«

»Stellt Euch an das Fenster und paßt auf, ob er zurückkommt!«

»Wird besorgt, Master King-fu-kang-fi-kung-fe!«

Er trat in seine Wohnung zurück. Ich verließ den Korridor und stieg die Treppe hinab. Der Ausgang war verschlossen. Ich öffnete ein Fenster, welches im Dunkeln lag, und stieg hinaus. ich hatte den Kapitän nicht mitnehmen können, denn er war für dergleichen Affairen zu ungeübt.

Wohin sollte ich mich jetzt wenden? Der Park war so groß und umfangreich, daß sich eine halbe Compagnie Soldaten darin zu verbergen vermochte, ohne entdeckt zu werden. Ich konnte beim Suchen selbst bemerkt werden. Wenn der Mann wirklich nach dem Garten gegangen war, so verließ er ihn vermutlich an demselben Orte, an welchem er ihn betreten hatte. Ich schwang mich hinaus, um diesen Ort zu suchen.

Der Schein des Mondes fiel hell auf diese Seite der Mauer, und ich hatte es hier nicht mit einem Indianer zu thun, welcher gewohnt ist, keine Spuren zurückzulassen. Die Spuren eines großen, weichsohligen Stiefels waren ziemlich deutlich zu erkennen und führten nach einem Punkte der Mauer, wo auf der innern Seite derselben ein Bambusgesträuch stand. Hier war er übergestiegen.

Ich kehrte zurück und schwang mich im Schatten des Gebäudes wieder hinüber. Nun pirschte ich mich unter Anwendung aller Vorsicht bis hin zu dem Bambusgebüsch; er war nicht da, sondern jedenfalls weiter in den Garten vorgedrungen. Ich legte mich auf die Lauer und zwar so, daß ich nicht bemerkt werden konnte.

Lange hatte ich hier gewartet, als sich endlich meine Voraussetzung als richtig erwies: ich hörte Schritte, aber nicht von einem Manne, sondern von zweien. Sie kamen herbei und blieben hart vor mir stehen. Der eine war der Phy, der andere hatte ganz die Länge und Breite des Dschiahur, war aber ein anderer. Von weitem und besonders nachts waren beide leicht zu verwechseln.

»Wird es dir gelingen?« fragte der andere.

»Ich hoffe es.«

»Schreibe ihm noch heute nacht das Dekret. Wenn es dir nicht gelingt, muß Kong-ni meine Tochter heiraten. Ein Sohn von dir muß mein Eidam werden, sonst bist du verloren.«

»Also dir ist es gleich, ob Kong-ni oder dieser?«

»Ganz gleich. Du hattest nur den einen Sohn, darum konnte ich nur ihn verlangen. Er kam auf die Idee, dir einen zweiten Sohn zu bringen; nun wohl, adoptiere diesen, so mag es mir gleich sein, welcher es wird. Dieser Tao-dse soll ein starker und mutiger Mann sein; er ist mir vielleicht lieber als Kong-ni. Aber warum kam Kong-ni grad auf diesen Fremdling?«

»Er liebt ihn und will ihn gern festhalten. Darf er deine Tochter sehen, ehe ich mit ihm spreche?«

»Ich bin ein Si-fan, und kein Si-fan schließt sein Weib oder seine Töchter ein. Es kann ein jeder mit ihnen sprechen. Bringe ihn mir morgen, oder soll ich euch eine Einladung senden?«

»Sende sie, damit er nichts ahnt.«

»Du sollst sie haben. Also thue, was ich dir geboten habe. Der Kiang-lu scherzt mit seinen Plänen nie!«

»Aber wenn er nicht will?« »Dann tritt Kong-ni ein.« »Ist dies dann der letzte Weg?« »Der letzte, wenn du nicht Gewalt anwenden willst.« »Gewalt? Inwiefern?«

»Ist nicht im Lung-keu-siang schon mancher auf bessere Gedanken gekommen?«

»Allerdings. Aber wie ihn da hinaufbringen?«

»Nichts leichter als das, und dann thut der Hunger wehe, und der Durst schmerzt noch mehr. Ich gehe!«

Mit zwei Sprüngen stand er draußen vor der Mauer, und dann hörte ich seine Schritte verklingen.

Der Phy blieb noch eine Weile unbeweglich stehen und schritt dann dem hinteren Eingange des Hauses zu, wo ich bald das Schloß leise klirren hörte. Ich wartete jetzt noch einige Minuten und stieg dann wieder in das Fenster ein.

Turnerstick hatte mit Ungeduld auf mich gewartet.

»Wo steckt Ihr denn so ewig? Er ist bereits wieder fort!«

»Ich weiß es.«

»Und habt ihn fortgelassen!«

»Es war der Dschiahur nicht.«

»Wer sonst?«

»Ratet einmal!«

»Raten? Fällt mir gar nicht ein, wo ich viel billiger und schneller wegkomme, wenn Ihr es mir gleich sagt.«

»Der Kiang-lu.«

»Der – der Oberste der Strompiraten?«

»Ja.«

»Niederträchtig, daß ich nicht dabei gewesen bin; den hätte ich fassen wollen!«

»Pshaw, hättet es auch nicht gethan! In einem so fremden Lande und mitten unter Feinden und Verrätern ist es besser, man handelt mit Vorsicht, als daß man die Mauer mit dem Kopfe einrennen will.«

»Feinde – Verräter? Mit solchen haben doch nicht etwa wir zu thun!«

»Doch!«

»Wer zum Beispiel?«

»Alle.«

»Erklärung!«

»Ich muß die Tochter des Oberdrachen heiraten, sonst – –«

»Dem seine Tochter? Char – seid Ihr bei Sinnen?«

»Sehr bin ich bei Sinnen! Also ich muß sie heiraten, sonst werden wir an einen Ort gesteckt, den sie Lung-keu-siang nennen und wo wir verhungern und verdursten sollen.«

»Was heißt dieses Wort?«

»Pavillon der Drachenschlucht.«

»Schöner Pavillon! Aber warum sollt Ihr sie heiraten?«

»Weiß es auch nicht, werde es aber wohl erfahren. So viel aber habe ich wenigstens gehört, daß Kong-ni gezwungen werden sollte, das Mädchen zur Frau zu nehmen. Dieser aber hat aus irgend einem Grunde keine Lust und schiebt mich als Stellvertreter vor.«

»Zounds!«

»Ich kann ihm nicht ernstlich bös sein, trotzdem er ein klein wenig Verrat mit mir gespielt hat. Ich glaube nicht, daß er es wirklich schlecht mit mir meint. Es muß ein Grund vorhanden sein, welcher den Kiang-lu zwingt, sich mit dem Phy auch familiär zu verbinden; er muß die Macht in den Händen haben, dies nötigenfalls zu erzwingen. Ferner muß Kong-ni Ursache haben, sich gegen diese Verbindung zu sträuben und grad mich als Stellvertreter zu wünschen.«

»Ich habe keine Lust, mir damit den Kopf zu zerbrechen. Was werdet Ihr thun?«

»Zunächst abwarten, was man mit mir verhandeln wird.«

»Schön; ich werde also mit abzuwarten haben!«

»Allerdings. Uebrigens werden wir morgen zu dem Kiang-lu eingeladen werden.«

»Wirklich? Freut mich! Es ist doch wundervoll, Land und Leute kennen zu lernen!«

»Nicht wahr? Es ist manchmal ein klein wenig Gefahr dabei, aber die darf man nicht fürchten. Für heute wollen wir zur Ruhe gehen; der morgende Tag mag für sich selbst sorgen. Gute Nacht, Kuang-fu Tur-ning-stik-king!«

»Good night, Sir Kung-fu-Kung-fo-Kung-mo-lo!«

In meinem Zimmer angekommen, verlöschte ich die Lichter und legte mich schlafen. Es war eigentümlich: heute, wo ich einer gewissen Gefahr bewußt entgegen ging, schlief ich ganz prächtig und ohne allen Traum, und als ich am Morgen aufwachte, trat der Kapitän eben bei mir ein.

»Wacht auf, alter Freund! Unser Wirt hat bereits bei mir anfragen lassen, ob Ihr munter seid. Es gilt, den Morgenthee einzunehmen.«

»Komme gleich!«

»Well! Werde also hier warten.«

Einige Minuten später traten wir in das Speisezimmer, wo wir Kong-ni und seinen Vater bereits anwesend fanden.

Es gab bloß Thee mit Kuamien, was der Phy damit entschuldigte, daß er geladen sei und auch uns mitbringen solle.

»Zu wem?« fragte ich.

»Zu einem mächtigen und einflußreichen Freunde, einem Mandarinen mit dem ciselierten roten Korallenknopfe. Er hat deine Ausarbeitungen mitgeprüft, und du bist ihm Dank schuldig, denn meist durch ihn ist es mir möglich, dir jetzt bereits dies hier einzuhändigen.«

Ich ahnte, daß es das Dekret sei, von welchem beide gestern abend gesprochen hatten, und irrte mich nicht. Es enthielt wirklich meine Ernennung zum Tsin-sse.

»Ich danke dir und werde auch ihm zu danken wissen,« antwortete ich einfach. »Dieses mit dem kaiserlichen Siegel versehene Dokument hat also unbedingte Gültigkeit?«

»Durch das ganze Reich. Es bedarf nicht der Bestätigung, und daß wir deine Ausarbeitung einsenden, geschieht nur der Form wegen.«

»Wie heißt der hohe Mandarin, zu dem ich mitkommen werde?«

»Er ist ein Kuan-kiun-ßü und heißt Kin-tsu-fo.«

»Wann geht Ihr?«

»Sobald es dir beliebt.«

»Es ist noch lange nicht Mittag.«

»Ihm ist es zu jeder Zeit genehm. Sage, wann du gehen willst!«

»Eine Stunde vor mittag, bis dahin habe ich zu thun.«

Damit war deutlich gesagt, daß ich auf ihre Gesellschaft jetzt verzichten wolle. Es war dies jedenfalls eine Unhöflichkeit, aber ich mußte ungestört sein, um mich einmal richtig umblicken zu können.

Im Garten, den ich allerdings ganz nach der gestern abend gelesenen Beschreibung fand, traf ich einen Arbeiter, mit welchem ich ein Gespräch anknüpfte. Während desselben fragte ich ihn auch, ob es hier in der Umgebung einen Ort gebe, welcher Lung-keu-siang genannt werde. Er schüttelte mit dem Kopfe und verneinte, aber ich sah es ihm an, daß er mehr wußte, als er mir sagen wollte. Und als ich von ihm ging, sandte er mir einen Blick nach, welcher mir beinahe drohend erschien. Hatte ich vielleicht einen Fehler begangen, nach dem Orte zu fragen?

Im hinteren Teile des Gartens führte eine Pforte hinaus in das Freie. Ich trat hinaus und wanderte zwischen den grünen Pflanzungen den Bergen zu, welche ich bereits gestern bemerkt hatte. Wenn es hier eine Drachenschlucht gab, so konnte sie natürlich nur zwischen diesen Höhen liegen, welche sich ungefähr eine Viertelstunde von der Stadt erheben.

Sie stiegen scharf, steil und jäh empor und schienen nur schwer zugängig zu sein. An der Drachenschlucht hing vielleicht mein Schicksal; ich mußte sie finden. Eben begegnete mir ein Knabe, welcher eine Ziege am Bande führte. Ich sprach zu ihm:

»Sage mir, ob es hier eine Drachenschlucht giebt?«

Bei dem Anblick meiner äußeren Abzeichen warf er sich zur Erde.

»Verzeihe mir, Herr, ich kenne keine Drachenschlucht.«

»So kennst du wohl diese Berge nicht?«

»Ich kenne sie sehr wohl, denn ich bin mit meinen Ziegen den ganzen Tag da oben.«

Die Bezeichnung Drachenschlucht schien mir eine nur den Drachenmännern bekannte zu sein.

»So sage mir, ob es in den Bergen einen Ort, einen Felsen giebt, der wie ein Pavillon, ein Erker, aussieht!«

»Was ist ein Pavillon – ein Erker – o Herr?«

»Ein Pavillon ist ein kleines, hübsches Gartenhaus, und ein Erker ist ein Vorsprung an einem Hause, der in der Höhe angebracht ist und Aehnlichkeit mit einem kleinen Turme hat.«

»Einen solchen Ort kenne ich, Herr. Willst du ihn sehen?«

»Ja. Wie weit ist es bis dahin?«

»Um ihn zu sehen, brauchst du nur fünf Minuten. Aber hinauf gelangen kannst du nicht.«

»So führe mich!«

Er band seine Ziege an einen Bambusstamm und führte mich.

»Kennst du den Phy-ming-tsu?« fragte ich weiter.

»Ja.«

»Und auch den Kin-tsu-fo?«

»Ja. Es sind die beiden mächtigsten Leute in unserer Stadt.«

»Wohnen sie schon lange hier?«

»Schon der Vater des Phy-ming-tsu hat hier gewohnt; der King-tsu-fo aber ist erst vor einiger Zeit hergezogen und hat sich sein Haus gekauft.«

»Hast du schon mit ihnen gesprochen?«

»Nein. Das sind vornehme Männer, o Herr, die einen armen Knaben gar nicht sehen.«

»Oder bist du bekannt mit einem von ihren Dienern?«

»Nein. Ich habe sie gesehen und auch ihre Namen gehört, aber gesprochen hat noch keiner mit mir.«

»Aber mit deinem Vater?«

»Ich habe keinen Vater mehr, sondern nur eine Mutter.«

Ich war beruhigt, denn es stand zu erwarten, daß weder der Phy noch der Kiang-lu erfahren würde, daß ich den PavilIon gesehen habe.

Vor uns schnitten drei enge Schluchten in die Berge ein. Der Knabe führte mich auf die mittlere zu. Nachdem wir eine Strecke in ihr emporgestiegen waren, deutete er nach oben.

»Schau da empor. Das ist der Fels, der wie ein Pavillon aussieht; aber du kannst nicht ganz empor.«

Im Hintergrunde der Schlucht stieg eine Bergkante ziemlich steil an, doch war sie für einen geübten Berggänger immer noch ziemlich gut ersteigbar. Sie wurde von einem großen, kubischen Felsblocke gekrönt, an dessen Wänden Jahre und Witterung so gearbeitet hatten, daß er beinahe das Aussehen eines chinesischen Gartenpavillon hatte.

»Wenn ich nicht hinauf kann, muß ich allerdings wieder umkehren,« meinte ich vorsichtig. »Auch du kannst gehen.«

Ich gab ihm von meiner Schnur zwanzig Sapeken, also ungefähr sieben Pfennige. Das aber war ein solcher Reichtum für den Waisenknaben, daß er vor Erstaunen beinahe starr wurde. Dann aber warf er sich nieder, küßte den Saum meines Gewandes, sprang wieder auf und eilte davon.

Ich folgte der Schlucht weiter und gelangte nach einer Viertelstunde mühevollen Steigens auf der Kante an. Auf der andern Seite derselben gähnte ein tiefer Abgrund, rechts und links von hohen Felsen eingeschlossen, die sich zu keinem Ausgange zu erweitern schienen. Es war ein tiefes, schauerliches Loch, welches wohl schon viele Opfer der Drachenmänner verschlungen hatte.

Ich besah den Pavillon von allen Seiten und fand endlich neben einer säulenartigen Anschwellung des Felsens in doppelter Manneshöhe zwei Haken, die ganz das Aussehen und die Entfernung voneinander hatten, als ob sie angebracht seien, um einer Leiter als Anlege- und Haltepunkte zu dienen.

Wenn das wirklich der Fall war, so war diese Leiter ganz sicher in der Nähe zu finden. Ich suchte – lange Zeit vergebens, endlich aber war ich doch so glücklich, sie zu finden. Sie war aus Bambus gefertigt und so konstruiert, daß sie zusammengeklappt werden konnte, und lag unter einem Haufen von Steinen und Geröll versteckt.

Es war am hellen Tag, und ich konnte also, wenn zufälligerweise jemand die Schlucht betrat, leicht bemerkt werden. Das konnte mich aber nicht abhalten. Unmittelbar über den Haken hatte der Fels einen Absatz, einen breiten Sims, auf welchem man leicht zu stehen vermochte, und weiter oben, wieder in doppelter Manneshöhe, bemerkte ich noch zwei Haken. Ich legte die Leiter an und stieg empor. Auf dem Simse angekommen, zog ich sie nach und legte sie von neuem an. Jetzt kam ich auf das platte Dach des Pavillon und bemerkte, daß derselbe ausgehöhlt sei. Ein brunnenähnliches Loch, etwas über zwei Ellen im Durchmesser, führte hinab.

Wie tief mochte es wohl sein? Ich ließ einen Stein hinabgleiten und horchte. Statt des erwarteten Aufschlages aber tönte ein lauter, menschlicher Schrei empor.

»Kommst du schon wieder?« klang es dumpf herauf. »Ich bin noch nicht tot, aber ich sterbe.«

»Wer ist da unten?« rief ich hinab.

Meine Worte konnten unten natürlich nicht so gut verstanden werden.

»Nein«, antwortete es. »Ich fluche deinem Fo und deinem Buddha; ich will lieber verhungern, als meinem Tien tschu untreu werden. Ich bete ›Tsei thian ago-teng fu tsche, agoteng yuan örl ming kian-schinyWörtlich: »Bist-im Himmel unser Vater welcher; wir wünschen Deinen Namen heilig-sein.«!‹ und er ist mächtig; er wird mich erretten, wenn es ihm gefällt!«

Ich rief zum zweiten und drittenmal hinab, aber es ertönte keine Antwort. Die Gefangene – denn es war eine weibliche Stimme, welche ich vernommen hatte – hatte mit ihren Worten wohl ihre letzten Kräfte erschöpft.

Was war zu thun? Ich mußte sie retten; aber konnte ich jetzt? Das Loch mußte wohl gegen zwanzig Ellen tief sein. Ursprünglich mochte es der Regen ausgebohrt haben; später hatten vielleicht menschliche Hände nachgeholfen.

Dieses Loch war auch für uns bestimmt. Wie war es unten beschaffen? Ich wickelte mein Messer in mein Taschentuch und warf es hinab. Die Gefangene hatte sich wohl von der Oeffnung zurückgezogen, denn es ertönte dieses Mal kein Laut. Sie war entweder abgemattet oder so resigniert, daß sie nicht sprechen wollte.

Ich konnte nicht eher etwas thun, als bis der Abend hereingebrochen war, stieg also wieder abwärts und verbarg die Leiter an demselben Orte, an welchem ich sie gefunden hatte. Dann stieg ich die Kante wieder hinab und kehrte nach Hause zurück. Im Garten traf ich den Kapitän mit Kong-ni.

»All devils, wo treibt Ihr Euch denn herum? Seid wohl am Flusse gewesen?«

»Warum sollte ich nicht?«

»Well, so konntet Ihr mich mitnehmen! Ihr wißt ja, daß ich ohne Wasser nicht gut sein kann. Macht, daß wir fortkommen! Wir sind eingeladen, und ich bin schon längst bereit!«

Er hielt allerdings seinen Regenschirm bereits unter dem Arme.

»Willst du deinen Schen holen?« fragte mich Kong-ni. »Die Palankins stehen bereits vor der Thür.«

»Giebt es keinen Diener, der ihn holen kann?«

»Ja. So komm! Der Vater ist bereits fort.«

In seinem Wesen lag etwas Fremdes, Gedrücktes. Was war mit ihm? Er war noch jung; er konnte es nicht verbergen.

Beim letzten Gebüsch blieb er stehen, während Turnerstick weiter schritt.

»Du hast heute morgen im Garten mit einem Manne gesprochen?« fragte er.

»Ja,« antwortete ich aufrichtig.

»Du hast nach einem Lung-keu-siang gefragt?«

»Ja.«

»Was ist dieser Lung-keu-siang?«

»Weißt du es nicht?«

»Nein.«

Sein Auge strafte ihn Lügen.

»Du mußt es wissen, denn du hast mir ja das Zeichen gegeben. Du mußt die Geheimnisse der Lung-yin kennen.«

»Ich kenne sie nicht; ich erhielt das Zeichen von einem Freunde gerade so, wie du von mir. Wer hat dir von dem Lung-keu-siang erzählt?«

»Wenn du die Geheimnisse der Lung-yin nicht kennst, so darf ich es nicht sagen; das würde ja sonst ein Verrat sein.«

Er schien von dieser Antwort sehr befriedigt zu sein.

Wir bestiegen die Tragsessel und gelangten durch die Stadt nach dem Landhause, welches wir bei unserer Ankunft zuerst bemerkt hatten. Als wir dort ausstiegen, kam uns der Riese von gestern abend entgegen.

»Willkommen im Hause eures besten Freundes und Verehrers! Wollt ihr nicht eintreten?« grüßte er.

»Wir kommen, dir, dem großen Kuan-kiun-ßü, unsere Achtung zu erweisen, und werden glücklich sein, die Schwelle deines Hauses betreten zu dürfen!« antwortete ich.

»Gewährt mir die Gnade, euch leiten zu dürfen!«

»Erlaube mir, dir vorher zu sagen, daß dies mein Freund Tur-ning-stik-king-kuang-fu ist!«

Der Kapitän merkte, daß ich ihn vorstellte. Er setzte mir die Spitze seines Regenschirmes auf die Brust und meinte, indem er mit den zwei Fingern der rechten Hand militärisch salutierte:

»Und ich werde vorstellang my olding Master Kung-kifung-ki-lung-ki-mung-ki!«

Der Si-fan verstand ihn nicht, und Kong-ni vermochte seine ernsthafte Miene zu bewahren. Wir wurden in das Empfangszimmer geleitet, wo der Phy zwischen einem jungen Mädchen und einem andern Gaste saß.

Das Mädchen war hoch und schlank gewachsen und hatte, wenn man vom Nationaltypus absah, recht angenehme, aber traurig überhauchte Gesichtszüge und besaß unverkrüppelte Füße, was sie wohl dem Umstande zu verdanken hatte, daß sie die Tochter eines Mongolen war.

Der andere Gast war – unser Dschiahur. Doch that er bei unserm Erscheinen nicht im mindesten, als ob er uns bereits einmal gesehen habe.

Alle drei erhoben sich, um uns zu begrüßen; dabei wurden die Namen genannt. Das Mädchen hieß Kiung, ein mongolisches Wort, welches ›die Reiche‹ bedeutet und in demselben Sinne auch im Chinesischen gebraucht wird. Dem Dschiahur wurde der Name Laktoeul gegeben.

Kiung bediente uns selbst. Wir erhielten einen köstlichen schwarzen Thee vorgesetzt mit dünnen Stücken von Pantan, aber nicht so einfach gebacken, wie es in der hohen Mongolei geschieht. Dann forderte uns der Si-fan auf, seinen Hof und Garten zu besehen.

Der Garten hatte bei weitem nicht die Größe dessen, welchen der Phy besaß, aber es war mit gutem Verständnisse jedes Plätzchen benutzt, um nach chinesischen Begriffen ein Paradies zu schaffen. Der Hof war im Verhältnisse zum Hause außerordentlich geräumig, was mich wunderte, da man in China nicht gern Haustiere hält; doch ich wurde bald aufgeklärt, denn der Si-fan öffnete eine Thür, welche in einen – Pferdestall führte, und damit war mein ganzes Interesse erregt.

Man hat in China die schlechtesten Pferde der Welt; ich war also neugierig, was der ›Brigadier‹ uns zeigen werde. Es wurden von einem Stallknechte zwei Pferde herausgelassen, welche man bereits gesattelt hatte. Sie gehörten jener kleinen, langzottigen Mongolenrasse an, welche trotz ihrer Unansehnlichkeit eine außerordentliche Kraft und Ausdauer besitzt und daher hoch im Preise steht, in einem besseren Klima leider aber sehr bald ausartet.

»Könnt Ihr reiten, Tur-ning-stik-king-kuang-fu?« fragte der Si-fan den Kapitän.

»Was will er?« meinte dieser zu mir.

»Er fragt, ob Ihr reiten könnt.«

»All devils, solche kleinen Kreaturen allemal!«

»Ich möchte Euch dennoch warnen!«

»Pshaw! Ihr wißt, daß ich nicht gern so ein Viehzeug unter mir habe, denn es ist, als ob ein Vulkan mit einem in der Welt herumsause, aber diese Bologneserhündchen werde ich schon zahm machen. Sagt nur immerhin ja.«

Ich that es.

»Mag er eines der Pferde versuchen.«

Ich verdolmetschte diese Frage, und sofort stieg Turnerstick auf. Er bildete mit seinem chinesischen Gewande, dem Zopfe, dem Regenschirme, den er nicht weggelegt hatte, und dem Fächer eine wunderliche Figur, ritt zweimal rund im Hofe herum, aber sehr vorsichtig und langsam und stieg dann ab.

»Nun, wie habe ich meine Sache gemacht?«

»Sehr gut,« lobte ich ihn.

Die anderen waren zu höflich, als daß sie sich nicht lobend hätten aussprechen sollen; dann aber stiegen der Si-fan und der Dschiahur auf und ritten die mongolische Schule durch, daß die Pferde dampften. Der erstere stieg gerade vor mir ab.

»Du hast die ganze Welt bereist, wie ich hörte. Sage, welches Volk die besten Reiter hat.«

»Die Si-fan,« antwortete ich ruhig, obgleich ich anders dachte.

»Das wußte ich,« meinte er stolz. »Kein Si-fan kann übertroffen werden. Willst du auch einmal aufsteigen?«

»Deine Pferde sind zu schwach; sie können mich nicht tragen und kommen mit mir nicht von der Stelle.«

Er lachte.

»Bin ich nicht schwerer als du? Versuche es!«

Ich legte die Hand auf den Sattel und sprang frei auf. Wer wilde Mustangs durch den einfachen Schenkeldruck gefügig gemacht hat, der reitet recht gut mit einem Mongolen um die Wette. Ich machte mich schwer und legte die Kniee an. Das Pferd war bereits ermattet; es keuchte und schnaubte, ging vorn und hinten empor, wehrte sich vielleicht fünf Minuten lang, kam aber nicht von der Stelle und knickte dann unter mir zusammen.

»Siehst du, daß es mich nicht tragen kann? Du bist ein besserer Reiter als ich, aber ich bin schwerer als du.«

Er war als Mongole ein leidenschaftlicher Reiter. Sein Auge leuchtete.

»Ich will dir ein Pferd zeigen, welchem du nicht zu schwer bist. Ich habe es mir über die Berge kommen lassen, aber kein Mensch darf es besteigen. Es wirft mich und alle ab, die es versuchen wollten.«

»Zeige es mir!«

»Tretet zuvor weg! Aber wenn dir ein Unglück geschieht, trage ich nicht die Schuld!«

Ich nickte. Wir traten unter das Thor, um geschützt zu sein. Der Stallknecht öffnete eine zweite Thür und sprang sofort hinter dieselbe. Ein Rappe kam hervorgeschossen, ein Rappe wie der Teufel. Ich sah es auf der Stelle: Es war eines der hochvortrefflichen kaschgaraner Rassepferde. Seine Augen glühten; seine Nüstern schienen Feuer zu sprühen; ich hätte es für den besten Mustang eingetauscht.

»Lasse es nur austoben, so kommst du hinauf, aber sofort wieder herunter,« meinte der Si-fan.

»Und wenn ich dennoch oben bleibe, wenn es sich gar nicht weigert, mich zu tragen?«

»So ist es dein!«

»Dann ist es bereits jetzt mein Eigentum.«

Ich trat vor in den Hof.

»Halt, warte! Die Gefahr ist zu groß!« warnte er.

Ich beachtete den Ruf nicht, sondern nahm mein kostbares Obergewand ab und legte es zu einem Tuche zusammen. Der Rappe fegte einigemal an mir vorüber und schnellte dann jedesmal die hinteren Hufe nach mir. Als er wieder heranstürmte, warf ich ihm das Gewand über den Kopf; er that noch einige Sätze und hielt dann, um das Tuch abzuschütteln. Sofort hatte ich ihn mit der Linken bei der Mähne und schlug ihm den Zeige- und Mittelfinger der Rechten tief in die Nüstern. Er wollte empor, ich hielt ihn nieder; er hätte sich sonst die Nüstern zerreißen müssen. Da stieß ich ihm den Kopf empor und trat einen Schritt zurück; ein Ruck, und er lag auf den Hinterfüßen; ein zweiter half ihm wieder auf; ein dritter warf ihn wieder nieder und so fort. Es war ein ernsthaftes Stück Arbeit, denn hier rang nur rohe physische Kraft gegen ganz dieselbe rohe Kraft, nur daß ich den Vorteil hatte, das Tier bei den Nüstern zu halten, ein Griff, der es in meine Gewalt geben mußte. Das Pferd dampfte, und ich schwitzte; endlich blieb es stehen, zitterte an allen Gliedern und stöhnte. jetzt strich ich ihm Kopf, Brust und Vorderbeine und sprach ihm dabei mit kräftiger Stimme zu; dann schnellte ich mich auf seinen Rücken. Es wollte emporsteigen, aber ein scharfer Ruf genügte, es am Platze zu halten. Dann gehorchte es dem Drucke meiner Schenkel und ging im langsamen Schritte, noch immer zitternd und schnaubend, im Hofe umher.

jetzt stieg ich ab und erklärte lachend:

»Das Mori-mori ist mein!«

»Du kennst diese Rasse?« fragte der Besitzer erstaunt.

»Ich bin ein Reiter.« »ja, wahrlich, das sehe ich! Aber noch ist es nicht dein.« »Warum?«

»Ich habe gesagt, daß es dein sein soll, aber wann es dein sein soll, das ist noch nicht bestimmt.«

»So bestimme es!« »Der Phy wird mit dir darüber sprechen!«

Ich beruhigte mich dabei, denn ich wußte, daß das vortreffliche Pferd auf diese oder jene Weise mein Eigentum sein werde.

»Blitz und Knall, war das ein Theater!« meinte der Kapitän. »Ihr habt Euch bei diesen Leuten ganz verteufelt in Respekt gesetzt; ich habe die Augen gesehen, die sie bei der Geschichte machten.«

»Das Pferd gehorcht mir, aber einen andern läßt es nicht auf.«

Ich nahm einen Zaum vom Pflocke und legte ihn dem Tiere über, indem ich es streichelte und ihm sanft zusprach; dann führte ich es in den Stall, band es an und gab ihm Hafer in die Krippe. Ich wußte nun, daß es mir gehorchen werde, und besichtigte zu gleicher Zeit die Schließvorrichtung der Stallthür. Sie war leicht zu öffnen, da sie nur aus einem Kreuzöhre mit Vorstecker bestand. Ebenso war es auch mit der Thüre des andern Stalles und dem Hofthore, welches nach außen führte.

jetzt wurde auch das Wohnhaus besichtigt, welches, nach chinesischen Begriffen, sehr praktisch erbaut und sehr vornehm eingerichtet war. Bei dieser Gelegenheit wußte man es dahin zu bringen, daß ich mit Kiung allein in einem Zimmer zurückblieb. Ich sah ihr an, daß sie von den Absichten ihres Vaters unterrichtet war.

»Du darfst frei umhergehen und mit Männern verkehren?« fragte ich sie.

»Ja.«

»Auch in der Stadt?«

»Ja, denn ich bin keine Chinesin.«

»Du hast einen Bekannten, den du liebst?«

Sie schwieg.

»Sage es mir, damit du glücklich wirst.«

»Der Vater leidet es nicht!«

»Wer ist es?«

»Der Sohn unsers Pao-tsching

»Er wird dein Mann sein, denn ich werde euch nicht trennen. Hast du noch deine Mutter?«

Sofort füllten sich ihre Augen mit Thränen.

»Nein.«

»Wie lange ist sie tot?«

»Sie ist nicht tot; sie ist nur verschwunden. Sie war eine Kiao-yu geworden, und der Vater wollte das nicht leiden; darum ist sie entflohen.«

Gräßlich! Also sein eigenes Weib hatte dieser Unmensch in den Lung-keu-siang eingesperrt, um sie verhungern zu lassen. Das durfte ich dem armen Mädchen nicht sagen.

»Du wirst sie wiedersehen. Der Gott der Christen ist mächtig; er wird dir und ihr seine Hilfe senden.«

»Ich sah es an dir, wie stark und mächtig du bist, darum wird dein Gott auch mächtiger sein, als Fo und Buddha. Wenn er mir die Mutter wiedergiebt, so werde ich ihm dienen. Wirst du dem Vater sagen, daß du mich nicht zum Weibe willst?«

»Ja. Du weißt nicht, weshalb ich mit ihm nichts zu schaffen haben will, ich aber weiß es und er auch.«

»Ja, ich weiß es!« klang es hinter mir.

Der Kiang-lu hatte gehorcht und stellte sich zwischen mich und das Mädchen.

»Du hast heute nach dem Lung-keu-siang gefragt?«

»Ja.«

»Warum?«

Ich blickte mich um, um rückenfrei zu sein, und antwortete:

»Weil ich gestern abend deine Unterredung mit dem Phyming-tsu belauscht habe.«

»Ah – –! Verlasse mein Haus. Wir sind geschieden. Geh!«

»Geh du voran!«

»Fürchtest du dich? So folge mir!«

Er verließ das Zimmer und schritt vor mir der Treppe zu. Kein Mensch befand sich auf dem Gange, so daß ich sicher schien. Schon hatte ich die Treppe beinahe erreicht, so knarrte eine Thür hinter mir, zwei Arme legten sich um meinen Leib, zwei Hände krallten sich mir um die Kehle, und auch der Si-fan drehte sich um, mich zu erfassen. Ich machte eine konvulsivische Anstrengung, mich zu befreien – die Ueberrumpelung war zu schnell gekommen, ich verlor die Besinnung.

Als ich wieder zu mir kam, war es vollständig dunkel um mich. Arme und Beine waren mir festgeschnürt, und ein Knebel verschloß mir den Mund. Neben mir hörte ich ein röchelndes Atmen. Lag vielleicht der Kapitän da? Wahrscheinlich hatten sie auch ihn überrumpelt. Ich grunzte, der einzige Laut, den ich von mir geben konnte, und sofort antwortete er mir mit denselben Tönen.

Also wieder einmal gefangen! Doch hatte ich keine Sorge.

Die Zeit verging, eine schrecklich lange, lange Zeit! Es mußte längst Abend und längst Nacht geworden sein. Da endlich öffnete sich eine Thür, und beim Scheine der Laterne sah ich den King-lu und den Dschiahur eintreten. Der letztere grinste uns höhnisch an.

»Ihr seid mir im Kuang-ti-miao und in Kuang-tscheu-fu entkommen, jetzt aber entflieht ihr mir nicht wieder!« versicherte der Dschiahur.

Der Oberste der Drachenmänner bog sich zu mir nieder.

»Du hast uns belauscht und weißt daher alles, und ich brauche dir nichts zu sagen. Willst du thun, was ich von dir fordere?«

Ich schüttelte mit dem Kopfe.

»So kommt ihr jetzt in den Lung-keu-siang und werdet elend verhungern. Entscheide dich. Seid ihr einmal in dem Pavillon, so ist alles vorüber. Der Kiang-lu weiß dafür zu sorgen, daß ihn niemand verraten kann.«

Ich schüttelte abermals mit dem Kopfe.

»Gut, so mögen dich die Kueï zum Tschütgur bringen!«

Er stieß einen Pfiff aus, und es erschienen vier Personen, welche uns erfaßten und hinauf in den Hof schafften. Dort wurden wir in zwei Palankins geschoben und fortgetragen.

Der Weg führte um das Städtchen herum nach der Schlucht zu, welche ich heute früh erstiegen hatte. Wir wurden dieselbe emporgetragen; droben aber, wo die Felsenkante begann, hob man uns heraus und zog uns Seile unter den Armen hindurch. Unterdessen stieg der Kiang-lu voraus. Jedenfalls war der Ort, an welchem die Leiter verborgen lag, sein Geheimnis, welches er nicht entdeckt wissen wollte. Jetzt, da ich mich nicht mehr im Tragsessel befand, sah ich, daß außer dem Dschiahur noch sechs Männer bei uns waren.

Wir wurden von diesen sechs an den Seilen emporgeschleppt. Als wir an den Fuß des Pavillon gelangten, hatte der Kiang-lu die Leiter bereits angelegt. Während er mit den andern emporstieg, blieb der Dschiahur bei uns; er sagte:

»Ihr seid verloren; hier habt ihr euern Abschied!«

Er versetzte jedem von uns einige sehr unzweideutige Fußtritte. Dann ließ man Stricke herab, an denen wir emporgezogen wurden.

Als wir oben anlangten, nahm mir der Kiang-lu den Knebel aus dem Munde.

»Jetzt sage zum letztenmal, ob du mir gehorchen willst!«

»Nein. Ich werde nicht gehorchen, sondern dich bestrafen!«

»Mich bestrafen? Du bist bereits tot. Du wirst da unten Gesellschaft finden, von welcher du erfährst, was es heißt, den Kiang-lu verraten zu wollen. Fahre hin!«

Ich wurde zuerst hinabgelassen; dann zog man das Seil unter meinen Armen weg wieder empor.

»Wer kommt?« fragte eine weibliche Stimme.

»Ein Opfer des Kin-tsu-fo. Ich soll verhungern wie du. Willst du dich, mich und deine Tochter retten?«

»Vermag ich es?«

»Ja. Ich habe dir heute ein Messer herabgeworfen. Bist du gefesselt?«

»Das warst du? Nein, ich bin nicht gefesselt.«

»Schnell, nimm das Messer und schneide meine Stricke entzwei!«

Sie that es, mit zitternden Händen, wie ich bemerkte, und noch ehe der Kapitän unten angelangt war, fühlte ich mich frei. Sofort untersuchte ich den Raum. Er war so niedrig, daß ich nur knieen konnte, und faßte ungefähr vier Personen. Der Eingang stieg grad empor, war aber zu weit, als daß ein Mann nach Schornsteinfegerart hätte emporklettern können. Dieser Umstand mochte den Kiang-lu zu der Ueberzeugung gebracht haben, daß niemand entfliehen könne.

Meine Hände und Füße waren in vollständig handlungsfähigem Zustande, was ganz sicher nicht der Fall gewesen wäre, wenn ich von Indianern gebunden worden wäre.

»Gieb mir das Messer!« bat ich die Frau.

Ich nahm es aus ihrer Hand, und noch während der Kapitän niederschwebte, war ich imstande, seine Fesseln zu zerschneiden. Man zog den Strick hinauf.

»Schnell wieder empor, Kapt'n!« flüsterte ich ihm zu.

»Blitz und Knall, wie kommt Ihr zu dem Messer? Laßt mich nur erst verschnaufen? Wie wollen wir empor?«

»Für einen ist der Schacht zu weit, zu zweien aber geht es. Wir stemmen uns mit den Rücken aneinander und schieben uns mit Händen und Füßen empor.«

»Das geht besser als Bergsteigen, denn das ist die reine Mastauffahrt. Jetzt habe ich Atem. Kommt, Charley, schnell, ehe sie uns entwischen! jetzt ist's vorbei mit der Komödie; jetzt wird Ernst gemacht.«

»Ihr wollt empor? Werdet ihr mich retten?« fragte das Weib ängstlich, als sie bemerkte, daß wir so schnell wieder fort wollten.

»Habe keine Sorge, wir holen dich!« beruhigte ich sie.

Die Rücken fest gegeneinander stemmend, krochen wir in die Höhe. Man hatte uns die Waffen genommen, aber ich besaß mein Messer wieder. Wir kamen rascher hinauf, als ich's dem Kapitän zugetraut hatte.

»Jetzt so leise wie möglich!« bemerkte ich, als wir nur noch drei Fuß bis zum Freien hatten.

Geräuschlos erreichten wir den Rand. Der Kiang-lu stand ganz allein noch oben auf der Plattform. In stolzer, aufrechter Haltung stand er, mit dem Rücken gegen uns, und betrachtete die jenseits des Abgrundes gelegene helle Mondscheinlandschaft.

»Hinunter mit ihm!« flüsterte der Kapitän.

»Nein, das wäre hinterlistiger Mord. Hier liegt noch das Seil. Wir binden ihn und schaffen ihn hinunter, nachdem wir sein Weib heraufgeholt haben. Dann machen wir Anzeige.«

»Sein Weib? War es sein Weib!«

»Allerdings.«

»Hört, Charley, der Kerl verdient mehr als die Anzeige, denn man wird ihn vielleicht gar laufen lassen. Wir sind ja Ausländer. Diesen Menschen sollte man – –«

Er stampfte in unvorsichtigem Zorne mit dem Fuße; der Kiang-lu fuhr herum und erblickte uns.

»Wer – –?«

Das Wort blieb ihm vor Erstaunen und Schreck im Munde stecken.

»Habe ich dir nicht gesagt, daß ich dich bestrafen werde!« antwortete ich.

»Wie kommt ihr herauf? Seid ihr Geister oder Menschen?«

»Menschen, aber bessere Menschen und klügere als du. Giebst du dich gefangen?«

Statt der Antwort legte er die Hände an den Mund und stieß einen gellenden Ruf aus. Ein mehrstimmiger Schrei antwortete aus der Tiefe.

»Gefangen?« rief er jetzt. »Ihr seid noch ebenso verloren wie vorher. Hört ihr, daß sie zurückkehren?«

Jetzt galt es allerdings, zu handeln.

»Bis sie kommen, bist du mein!«'

Mit diesen Worten trat ich auf ihn zu. Er stand am Rande der Plattform; dorthin durfte er den Kampf nicht kommen lassen; deshalb sprang er mir mit einem gewaltigen Satze entgegen. Er rannte mit der Brust gegen meine vorgestreckten Fäuste und taumelte zurück. In diesem Augenblick holte Turnerstick aus und versetzte ihm mit seiner eisernen Faust vor den Kopf einen Schlag, der ihn noch mehr aus dem Gleichgewichte brachte – ein gellender, gräßlicher Schrei, und er stürzte rückwärts über die Felsenkante hinunter in den Abgrund.

Wir horchten atemlos. Ein dumpfer Ton drang empor – der Körper des gefürchteten Strompiraten war unten aufgeschlagen und sicherlich zerschellt.

»Charley!«

»Kapt'n!«

»Er ist hinunter!«

Der Kapitän war so erschrocken, als hätte er die schrecklichste That begangen.

»Ja, hinunter zu seinen Opfern, wo er hingehört. Macht Euch kein Gewissen daraus, Kapt'n! Erstens habt Ihr ihn nicht mit Absicht hinunter geschlagen, und zweitens hat er den Tod schon oft verdient.«

»Well, das ist richtig; aber ich hatte doch vorher die Absicht, ihn hinunter zu werfen, und sodann ist es ein eigentümliches Gefühl, einen Menschen – – brrr!«

»Seid vernünftig, und denkt daran, daß die Notwehr durch das göttliche und menschliche Gesetz gestattet ist. Wir wollen lieber auf die Gegenwart achten. Seht, da unten stehen die sechs mit dem Dschiahur. Sie können nicht herauf, weil sich der Kiang-lu die Leiter wieder emporgezogen hatte.«

»Nun sind wir blockiert und belagert!«

»Thut nichts! Wir wollen vor allen Dingen die Frau herausschaffen.«

»Wie bringen wir dies fertig?«

»Sehr leicht. Ich lasse Euch hinunter. Ihr bindet ihr den Strick unter den Armen um den Leib, aber so, daß sie atmen kann. Dann ziehe ich erst sie und nachher Euch herauf.«

»Das geht – come on!«

Der Strick war fest. Wir konnten ihm vertrauen. In einigen Minuten war es gethan, und die vor Hunger und Durst abgemattete Frau lag oben auf der Plattform.

»Wer seid ihr?« fragte sie uns.

»Wir sind Christen, wie du.«

»Wo ist mein Mann?«

»Er ist nicht hier; er ist auch nicht daheim; er ist weit fort, und du wirst ihn sehr lange Zeit nicht wieder sehen.«

Die Luft wirkte so auf sie, daß sie in Ohnmacht fiel.

jetzt konnten wir unsere Aufmerksamkeit ganz auf unsere Belagerer richten. Sie waren sich unklar über das, was der Schrei bedeutet hatte, denn die Plattform war so breit, daß sie uns nicht sehen konnten.

»Kiang!« tönte die Stimme des Dschiahur von unten herauf.

»Lu!« antwortete ich hinab.

»Was willst du, Herr?«

Es war klar, daß er mich für den Kiang-lu hielt. Ich versuchte meine Stimme derjenigen des Toten ähnlich zu machen.

»Ich? Nichts! Wer schrie da drüben auf dem Berge?«

»Da drüben? Warst du es nicht?«

»Es muß ein Lung-yin gewesen sein. Seht hinüber, was es ist!«

»Es giebt keine Gefahr, sonst würde er wieder geschrien haben.«

»Hast du meinen Befehl gehört?«

»Ich gehorche!«

Er ging. Die andern mit ihm.

»Sie machen sich fort, Charley. Wie habt Ihr das fertig gebracht?« fragte Turnerstick.

Ich erzählte es ihm. Wir ließen sie unten in der Schlucht verschwinden und machten uns daran, hinabzuklimmen.

Ich nahm die Frau in den Arm und trug sie auf der Leiter bis zum Sims hinab. Turnerstick folgte und hing die Leiter an die untern Haken ein. So kamen wir hinab, wo ich die Leiter wieder unter dem Geröllhaufen versteckte.

»Wo bringt ihr mich hin?« fragte die Frau, welche wieder zu sich gekommen war.

»In deine Wohnung, zu Kiung, deiner Tochter,« antwortete ich.

»Kennst du sie?«

»Ja. Sie hat viel um dich geweint und wird dich mit Entzücken in ihre Arme schließen. Kannst du gehen?«

»Nein.«

»So erlaube, daß ich dich trage!«

»Dein Gott, der auch der meinige ist, mag dir vergelten, was du an mir thust!«

Als wir weiter hinab gelangten, fanden wir die zwei Palankins, in denen wir herbei transportiert worden waren. Die Träger hatten sie niedergesetzt, als der Schrei ihres Anführers ertönt war.

»Kommt, Kapt'n; wir wollen die Arme in einen Tragsessel thun. Da haben wir es bequemer!«

»Well, kommt, Mistreß! Wir werding Euch in dieser Hängemattong nach Hause schaffeng!«

Sie stieg ein, Turnerstick faßte vorn und ich hinten an, und so kamen wir bedeutend schneller von der Stelle. Wir gingen um die Stadt herum und standen eben im Begriffe, nach dem Landhause einzubiegen, als uns ein Mann entgegen kam.

»Wer seid –-- ?«

Er sprach die Frage nicht vollständig aus. Es war der Phyming-tsu, der uns erkannte und augenblicklich zwischen den Bambussträuchern verschwand.

»Setzt nieder, Charley; wir müssen ihm nach!« rief der Kapitän.

»Laßt ihn jetzt laufen, Kapt'n! Wir rechnen schon noch mit ihm ab!« antwortete ich.

Wir gingen also weiter und kamen vor dem Garten des Landhauses vorüber. Es war mir, als ob eine Gestalt über den Zaun gestiegen komme und sich bei unserm Anblick schnell in das Gezweig ducke.

»Halt!« gebot ich, als wir die Stelle erreichten.

Turnerstick setzte mit nieder. Ich trat näher zum Zaune und richtig, da hockte ein junger Mann, der sich jetzt notwendigerweise emporrichten mußte.

»Was thust du hier?«

»Ich gehe spazieren.«

»Daran thust du wohl, denn die Nacht ist schön und warm. Wer bist du?«

»Warum fragst du?«

Da kam mir ein Gedanke.

»Wenn du der Sohn des Pao-tsching bist, so sage es. Ich bin ein Freund von dir!«

»Von mir? Ich bin es.«

»Ist Kiung noch in dem Garten?«

»Was willst du von ihr?«

»Eile zu ihr und sage ihr, sie soll öffnen. Wir bringen ihre Mutter.«

»Ihre Mutter? Sagst du die Wahrheit?«

»Ja, ich bin da!« ertönte es im Innern des Palankin.

Schnell sprang er über den Zaun zurück. Er war der Geliebte von Kiung und hatte ein Stelldichein mit ihr gesucht.

Wir nahmen den Tragsessel wieder auf und bogen um das Haus herum. Dort vor dem Eingange brauchten wir nicht lange zu warten. Er wurde geöffnet; die Mutter war ausgestiegen und wurde von der Tochter mit lautem Jubel empfangen.

Ich nahm den Geliebten des Mädchens zur Seite.

»Es droht Kiung und ihrer Mutter vielleicht Gefahr, doch dein Vater ist mächtig. Beschütze sie!«

»Wo hast du sie gefunden?« fragte mich das Mädchen, vor Wonne strahlend.

»Habe ich dir nicht gesagt, daß der Gott deiner Mutter mächtig ist und sie dir wiedergeben werde? Nun diene ihm so, wie du versprochen hast! Das andere wird sie dir selbst erzählen.«

»Warum seid ihr heute mit dem Vater so bös gewesen und so schnell fortgegangen?«

»Auch das wirst du noch erfahren. Gieb nun der Mutter Speise und Trank, und führe uns in das Zimmer deines Vaters!«

»Geht selbst hinauf, es liegt neben dein Zimmer, in welchem wir am Mittag waren, und ist erleuchtet. Wo ist der Vater?«

»Du wirst es später hören!«

Wir stiegen die Treppe empor und gelangten in das Kabinett. Auf dem Tische lagen unsere Revolver, unsere Uhren und alles, was wir bei uns getragen hatten. Noch waren wir damit beschäftigt, diese Gegenstände wieder an uns zu nehmen, als wir unten eine laute Stimme vernahmen:

»Wer kam in diesem Palankin?«

»Die Mutter,« antwortete Kiung.

»Wer brachte sie?«

»Die beiden Kuang-fu, welche heute eingeladen waren.«

»Sie haben deinen Vater getötet; sie haben sich und deine Mutter befreit und ihn in den Lung-keu geworfen. Sie müssen sterben. Wo sind sie?«

»Droben.«

Wir hörten viele Leute in den Flur treten. Draußen wurde es laut, und als ich das Licht verlöschte und an das Fenster trat, sah ich einen ganzen Haufen von Menschen aus der Stadt her sich dem Hause nahen. An ihrer Spitze erkannte ich den Phy-ming-tsu.

Derjenige aber, welcher unten gesprochen hatte, war der Dschiahur. Darum sagte ich zu Turnerstick:

»Wir müssen fliehen, Kapt'n; schnell! Hier scheint es mehr Lung-yin als ehrliche Leute zu geben, und auf Gerechtigkeit können wir nicht rechnen!«

»Fliehen? Vor diesen Menschen?« fragte er verächtlich.

»Vor diesen vielen Menschen, müßt Ihr sagen. Vorwärts, ehe es zu spät ist!«

Ich schob ihn hinaus in den Korridor und riß ein langes Gewand vom Nagel. Wir eilten nach der Hofseite des Gebäudes, wo sich kein Mensch sehen ließ.

»Hier durch das Fenster hinab!«

»Ich kann nicht springen, Charley.«

»Steigt nur hinaus. Ihr erfaßt dieses Gewand statt eines Taues; ich halte fest.«

Klettern konnte Turnerstick als Seemann sehr gut. In einer Minute stand er schon im Hofe. Ich sprang ihm nach.

»Wohin nun?« fragte er.

»Die Pferde heraus. Wir reiten! Da holt uns niemand ein.«

»Well; aber nehmt für mich das kleine, welches ich heute bereits geritten habe!«

Ich öffnete den Stall und zog es heraus. Zum Satteln war keine Zeit. Dann holte ich das gebändigte Mori-mori. Es erkannte meine Stimme Sofort, aber es wollte wegen der Dunkelheit nicht aus dem Stalle. Endlich hatte ich es im Hofe; da wurde die hintere Thür des Gebäudes aufgestoßen, und die Verfolger drängten sich heraus.

»Hier sind sie! Ergreift sie!« rief der Dschiahur und warf sich auf den Kapitän.

Da aber blitzte es in der Hand Turnersticks auf, und der Mongole stürzte nieder. Die Menge stockte, und das gab mir Zeit, das Thor zu öffnen und auf das Pferd zu springen.

»Vorwärts, Kapt'n! Mir nach – links am Flusse entlang!«

»Well, Charley. Jetzt sollt Ihr mich auch als Reiter kennen lernen!«

Bereits am Nachmittage ritten wir in Kanton ein, und am andern Abend befanden wir uns mit unsern zwei Pferden an Bord des guten Schiffes ›The wind‹.

Da gab es allerdings zu erzählen, und noch als wir uns zur Koje begaben, meinte Turnerstick:

»Das war Land und Leute richtig kennen gelernt, Charley! Aber was nun? Machen wir Anzeige?«

»Das beste ist, wir erkundigen uns beim Konsul und richten uns ganz nach dem, was er uns rät.«

»So mag es sein, my old King-lu-kang-Ii-kong-la-lo! Und dann geht's sofort nach Macao; das könnt Ihr Euch denken!«

»Was wollt Ihr dort?«

»Was ich dort will? Sonderbare Frage! Natürlich unserm Meisje einen Besuch machen.«

»Um ihr dafür zu danken, daß sie uns so tapfer bei der Verteidigung geholfen hat? Das soll ein Wort sein; ich gehe mit! Sie hat auch mit darüber zu reden, ob wir Anzeige machen oder nicht.« – –


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