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Wenn ich in stillen Stunden die Erlebnisse meines vielbewegten Lebens an mir vorüberziehen lasse, so drängt sich meinem Geiste vor allen Dingen die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf, welche die Erinnerung mir vor die Augen führt. Die Erscheinungen des kalten, starren Nordens und des glühenden Südens, des jungen Westens und des altersgrauen Ostens haben sich meinem Gedächtnisse eingeprägt, und es bedarf oft einer gewissen Anstrengung, diese an Form und Farbe so verschiedenartigen Bilder genau auseinander zu halten. Ich habe mir überall Früchte gepflückt, materielle für den Körper und geistige für die Seele. Von diesen Früchten gleicht keine der andern an Gestalt, Farbe und Geschmack, an Art und Tiefe ihrer geistigen Wirkung, denn jedes Land hat seinen eigenen Boden und infolgedessen auch seine eigenartigen Entwicklungsformen, seine eigenartigen physikalischen und psychischen Erscheinungen. Eine einzige Frucht ist es, welche ich in allen Ländern, bei allen Völkern pflückte, eine Frucht, welche mir an den norwegischen Fjords ebenso wie in der wasserleeren Sahara, am Marannon ebenso wie am Jang-dse-kiang reifte: die Erkenntnis nämlich, daß ein großer, allmächtiger, allgütiger und allweiser Schöpfer waltet, der nicht bloß die Sonnen um die Welten wirbelt, sondern den Wurm im Staube bewacht, die Tiefen des Meeres und die Höhen der Berge bestimmt, mit seinem Odem den Halm des Grases und die Wedel der Palme bewegt, im Brausen des Kataraktes, im Heulen des Sturmes und im Brande des Vulkanes zu uns spricht, im Tropfen ebenso waltet wie im Oceane, im Zweige wie im Urwalde, im einzelnen Menschen wie im ganzen Volke, und ohne dessen Willen kein Sonnenstäubchen fliegt, kein Blättchen fällt und kein Haar unsers Hauptes verloren geht.
Ein großer, Staunen erregender, Ehrfurcht erweckender Zusammenhang, der unserm Auge nur zuweilen für einen kurzen Augenblick entschwindet, geht durch die ganze Reihe der kreatürlichen Erscheinungen. Keiner kann sich ihm entziehen: Alle sind ihm unterthan. Er macht sich bemerkbar ebensowohl in der äußeren Wesenfolge wie in der inneren Entwicklung des einzelnen Menschen und seines Geschlechtes. Er verbindet die einzelnen Räume ebenso wie die Stunden und Jahrhunderte und bringt eine Gerechtigkeit zur Offenbarung, in deren Tiefen unsere schwache Erkenntnis nicht zu dringen vermag. Eine jede Pflanze zeitigt ihre Frucht; eine jede That, mag sie nun von dem einzelnen oder von der Nation geschehen, trägt den Keim ihrer Vergeltung in sich.
Wie oft bin ich grad dieser Gerechtigkeit begegnet, den ganz natürlich und doch so erstaunlich entwickelten Folgen einer That, die von Menschen nicht beachtet oder längst vergessen worden war und deren Urheber noch in fernen Zeiten oder in fernen Ländern ganz plötzlich von Dem getroffen wurde, von dem der Psalmist singt: »Wo soll ich hingehen vor Deinem Geiste, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesichte? Führe ich gen Himmel, siehe, so bist Du da; bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist Du auch da; nähme ich die Flügel der Morgenröte und flöge ans fernste Meer, so würde doch Deine Hand daselbst mich führen und Deine Rechte mich halten!«
Längst vor den im Kiang-lu erzählten Erlebnissen befand ich mich wieder einmal in der Heimat, und eine Rundreise führte mich an einen berühmten Centralpunkt des westfälischen Kohlen- und Eisenwerkbetriebes, wo ich einige Tage verweilte. Zur Abreise gerüstet, fuhr ich dann in einer Droschke nach dem Bahnhofe, welcher eine ziemliche Strecke von der Stadt entfernt war. Eben als ich ausstieg, verließ ein Zug den Perron, und als ich die Expeditionshalle betrat, wurde einer der Billetschalter geschlossen.
»Zug nach Düsseldorf?« fragte ich den Portier.
»Ist soeben abgefahren.«
»Ah! Wann geht der nächste?«
»Sehr spät. In drei Stunden fünfzig Minuten.«
»Also vier Uhr fünfzig. Bewahren Sie bis dahin meinen Koffer auf.«
Ich begab mich nach dem Wartezimmer, unentschlossen, ob ich nach der Stadt zurückkehren oder die Zeit bis zur Abfahrt des betreffenden Zuges auf dem Bahnhofe verbringen solle. Kaum hatte ich Platz genommen, so trat der Portier ein, um mir die Marke zu übergeben.
»Soll ich vielleicht für ein Billet nach Düsseldorf sorgen, mein Herr?«
»Danke. Werde mich nicht wieder verspäten!«
Er ging. Im Salon befand sich außer mir nur eine Dame, welche so sehr in die Lektüre einer Zeitung vertieft war, daß sie meinen Eintritt gar nicht bemerkt zu haben schien. Nach einiger Zeit legte sie die Blätter fort und blickte nach der Uhr. Sie erhob sich wie erschrocken und bemerkte mich jetzt.
»Pardon, mein Herr! Ist es Ihnen vielleicht gegenwärtig, wann der Zug nach Düsseldorf abgelassen wird?«
»Vier Uhr fünfzig, Mademoiselle.«
»Quel horreur! Da habe ich mit dieser fesselnden Lektüre die Zeit versäumt! Was thun!«
Halb ratlos und halb forschend ließ sie ihr Auge über mich gleiten. Dann fragte sie:
»Kann man nicht eher fort? Vielleicht auf einem Umwege?«
»Das Bahnnetz ist hier so eng gelegt, daß Sie unter mehreren Umwegen die Wahl haben, doch erreichen Sie Düsseldorf auf einem solchen sicherlich nicht eher, als wenn Sie hier drei Stunden warten.«
»Fatal!«
»Allerdings, wie ich an mir selbst erfahre.«
»Wie so?«
»Ich habe ganz denselben Zug versäumt.«
Ein halbes Lächeln überflog ihr Gesicht.
»Ich kondoliere! Aber meinen Sie vielleicht, daß in der Gleichheit unsers Schicksales eine Beruhigung für mich liegen könne?«
»Vielleicht; doch kommt es hierbei auf den Charakter oder vielmehr auf die Beschaffenheit des Gemütes an. Gleichheit des Schicksals erzeugt Teilnahme, und Teilnahme mildert ja bekanntlich den Druck der Verhältnisse.«
»Ah, Sie wollen zu erkennen geben, daß Sie Teilnahme für mich empfinden?«
»Dieses Gefühl zu hegen, ist sicherlich jedermann erlaubt, dasselbe aber durch Worte auszudrücken, kann unter Umständen kühn genannt werden.«
»Wissen Sie, daß wir Damen die Kühnheit lieben und uns von derselben imponieren lassen?«
»Grad so, wie wir die Schönheit bewundern und uns gern unter ihre Herrschaft begeben.«
»Wirklich? Dann mögen Sie mich für schön und ich will Sie für kühn halten, damit wir uns durch gegenseitige Bewunderung die Zeit bis zum Abgange des Zuges zu verkürzen vermögen!«
»Angenommen. Hier meine Karte!«
»Danke! Und hier die meinige!«
Wir verbeugten uns gegenseitig, und ich schob ihr einen Sessel in meine Nähe. Sie nahm Platz.
»Adele Treskow, Sängerin, Berlin« stand in feinen Zügen auf ihrer Karte, und allerdings nur eine ›Künstlerin‹ konnte sich in so selbständiger, beinahe emanzipierter Weise einem fremden, ihr vollständig unbekannten Herrn beigesellen. Ich brauchte sie nicht für schön zu ›halten‹, sondern sie war wirklich eine Schönheit und zwar eine jener selbstbewußten, scheinbar natürlich und doch mit feiner Berechnung sich gebenden Schönheiten, wie sie von der Bühne gebildet und entwickelt werden. Der Name Treskow war mir sehr wohl bekannt; er wurde von einem altadeligen Geschlechte getragen. Sollte sie vielleicht diesem letzteren entstammen und unter dem Drucke der Verhältnisse oder aus innerem Triebe zur Bühne gegangen sein? Nur fiel mir dabei der leise, polnische Accent auf, mit welchem sie sprach.
Unsere nun beginnende Unterhaltung war eine sehr animierte und ließ mir die Sängerin als eine höchst interessante Persönlichkeit erscheinen. Bald voll tiefen, warmen Gefühles, bald naiv kokett, bald voll liebenswürdigen Humors, dann gleich ein wenig sentimental, duldete sie während des Gespräches nicht die kleinste Pause, und ich beobachtete an ihr eine wahrhafte Virtuosität in jenem innigen, gemütvollen und eigentümlich verständnisreichen Augenaufschlage, welcher, selbst wo nichts vorhanden ist, einen Schatz echter, reiner Weiblichkeit, ein tiefes Wissen und die Fähigkeit der Anschmiegung, der Accommodation, erraten läßt und wohl manchen ernsten Mann bethört und ihm bittere Täuschung bereitet hat.
»Auch Sie sind musikalisch, wie ich höre?« fragte sie mich, als unsere Unterhaltung auf diesen Gegenstand gekommen war.
»Nur so viel, als man für das Haus braucht.«
»Spielen Sie Piano?«
»Auch ein wenig. C-dur, G-dur, F-dur. Viele Kreuze und B's liebe ich nicht.«
Sie nickte lachend.
»Das kennt man! Soll ich Ihnen beweisen, daß Sie ebenso gut Cis wie C oder Ges wie G und Fis wie F spielen?«
»Wie wollen Sie diesen Beweis führen?«
»Durch einen Vorschlag, den ich Ihnen mache.«
»Dann bitte!«
»Wir haben noch volle zwei Stunden Zeit?«
»Allerdings.«
»Sie geben zu, daß es hier auf dem Bahnhofe höchst langweilig ist. Ich besuchte gestern abend das Café N. und bemerkte in einem der hinteren Zimmer dort ein prachtvolles Instrument. Wollen wir zur Stadt gehen und ein wenig musizieren? Oder werden Sie mir Ihren Arm versagen?«
Ich acceptierte natürlich diesen Vorschlag, der mir einen Kunstgenuß versprach, und verließ mit ihr den Bahnhof. Wenige Minuten später saßen wir in dem betreffenden Zimmer des Kaffeehauses und lösten einander am Piano ab. Ich gestehe gern, daß sie sich mir überlegen zeigte; doch schien es mir, als gehöre sie zu jenen Pianistinnen, welche nur einige eingeübte Stücke ausgezeichnet vorzutragen wissen und dann auch gleich am Ende ihrer Fertigkeiten stehen.
Während unserer Vorträge war ein Herr eingetreten und hatte um die Erlaubnis gebeten, Platz nehmen zu dürfen. Er war von hoher, starker Gestalt, sehr anständig gekleidet, hatte eine recht Vertrauen erregende, joviale Physiognomie und schien sich in nicht ganz schlimmen Verhältnissen zu befinden, denn unter seinem Ueberrocke bemerkte ich eine respektable, wohlgenährte Geldkatze, welche er sich um den Leib geschlungen hatte.
Eben hatte die Sängerin eine ihrer Piècen beendet, als ein Ruf von der Thüre her erscholl:
»Fräulein von Treskow!«
Sie blickte sich um, ich mich auch. Am Eingange stand ein junger Herr, der vielleicht achtundzwanzig bis dreißig Jahre zählen mochte. Sein Aeußeres war ganz dasjenige eines Mannes, der den ›besseren‹ Ständen angehört. Er schien von der Anwesenheit der Dame sehr überrascht zu sein, und sie über die seinige in gleichem Maße.
»Herr Assessor!«
»Welch ein Zufall, Sie hier zu sehen!«
»Und auch Sie! Was thun Sie hier?«
»So ist es Ihnen unbekannt, daß ich von Berlin nach hier versetzt wurde?«
»Vollständig! Ich mußte mir Urlaub erbitten, um eine Tante in Dorsten zu besuchen. Ich befinde mich auf der Rückreise und gehe mit dem nächsten Zuge nach Düsseldorf. Doch, gestatten die Herren, Sie miteinander bekannt zu machen.«
Der Assessor hieß Max Lannerfeld und war, wie er mir sagte, ein eifriger Bewunderer der Sängerin gewesen. Auch der dicke Herr erhob sich. Er meinte, da er einmal anwesend sei, halte er es für seine Pflicht, auch sich uns vorzustellen, besonders da er gleichfalls mit unserm Zuge nach Düsseldorf fahren werde. Seinen Namen habe ich vergessen. Er war ein reicher Viehhändler aus Köln und kam von Holland, wo er bedeutende Geschäfte gemacht hatte. Er schien ein heiterer Gesellschafter zu sein und wurde in unserm Bunde gern aufgenommen.
Auf dem Tische lag ein aufgeschlagenes Journal, mit welchem die feinen, rosigen Finger der Sängerin spielten. Sie warf wie unwillkürlich einen Blick auf das Blatt und rief dann aus:
»Ah, Assessor, was sehe ich da!«
»Was?«
»Pankert ist in Hannover erwischt und eingezogen worden.«
»Pankert, der berüchtigte Kümmelblättler?«
»Derselbe. Da, lesen Sie!«
Der Assessor nahm das Blatt und überflog die betreffende Stelle.
»Wahrhaftig! Seine Ergreifung interessiert mich außerordentlich, da ich ihn früher einige Male zu vernehmen hatte; doch der Mann war so schlau, so gewandt und raffiniert, daß es mir unmöglich ward, ihn zu überweisen. Er wurde stets wieder entlassen.«
»Ein Kümmelblättler?« fragte der Viehhändler. »Ich habe von dieser Sorte der Bauernfänger so viel gehört und gelesen, ohne dieses Spiel zu kennen. Ist es schwierig zu erlernen?«
»Ja und nein; es kommt auf das Geschick an,« antwortete der Assessor.
»Benutzt man französische oder deutsche Karten dazu?«
»Ganz gleichgültig. Es werden drei, vielleicht auch vier Blätter dazu genommen, je nach der Weise des betreffenden Künstlers. Er zeigt eine der drei Karten vor, wirft sie mit den übrigen beiden untereinander und läßt dann sagen, wo sie liegt. Wer sie trifft, hat gewonnen, im andern Falle verloren.«
»Dann möchte ich behaupten, sie stets zu treffen; es ist ja keine Schwierigkeit dabei.«
»Sie irren. Ich behaupte vielmehr, daß Sie nicht treffen.«
»Pah! Ich getraue mir sogar, eine Wette einzugehen. Gut aufpassen; weiter ist nichts nötig.«
»Hätte ich Uebung, so wollte ich auf Ihre Wette ohne Zögern eingehen; leider aber kann ich dies nicht, da ich mir das Spiel nur zeigen ließ, um es oberflächlich kennen zu lernen.«
»Nur nicht zu bescheiden, Assessor!« meinte die Sängerin. »Sie haben ja auch uns das Kunststück gezeigt – es war eines Abends nach der Vorstellung, unter uns Künstlern – und besitzen eine ganz hübsche Fertigkeit darin.«
»Wirklich?« fragte der Händler. »Unsereiner kann sehr leicht in die Lage kommen, von solchen Gaunern attrappiert zu werden, und dann ist es gut, wenn man einen Begriff von der Sache hat. Kennen Sie das Spiel, mein Herr?« fragte er, zu mir sich wendend.
»Nein.«
»Dann wollen wir doch den Herrn Assessor ersuchen, es uns zu erklären. Karten sind ja wohl zu haben.«
Er verließ, da kein Kellner zugegen war, das Zimmer und kehrte bald mit einem Spiele Karten zurück, welches er dem Assessor überreichte.
»Ich darf nicht,« weigerte sich dieser. »Das Spiel ist verboten, und in meiner Stellung –--«
»Pah, Stellung!« fiel ihm die Sängerin ins Wort. »Wir sind ja unter uns, wollen das Spiel nur kennen lernen, ohne einander etwa zu übervorteilen. Und was Ihre Stellung betrifft, so können Sie sich ja sichern.«
Sie erhob sich und öffnete die Thür.
»Garçon, wir wünschen ungestört zu bleiben. Wenn wir etwas brauchen, werden wir Sie rufen.«
Sie machte die Thür zu und schob den Riegel vor.
»Gut, Ihnen zu Gefallen, Fräulein!« meinte der Assessor und griff zu den Karten.
Das hatte sich alles so natürlich, so unauffällig gemacht, daß jedes Mißtrauen ausgeschlossen schien. Ich aber wußte sofort, woran ich war: ich hatte es mit Gaunern zu thun. Die Dame, welche sich eine Sängerin nannte, war die Zubringerin; sie hatte den Zug nach Düsseldorf nicht versäumt, sondern war durch die Worte des Portiers auf meine Verspätung aufmerksam gemacht worden und hatte das benutzt, mich in ihre Schlinge zu bekommen. Der eigentliche ›Macher‹ war der sogenannte Assessor, während der Pseudo-Viehhändler den Unwissenden spielte, um das Geschäft in Gang zu bringen. Die Fertigkeit des Assessors schien wirklich eine sehr schülerhafte zu sein, denn die beiden andern errieten regelmäßig seine Karte. Der Viehhändler begann zu setzen, und die Sängerin folgte ihm.
Beide gewannen.
»Wollen Sie es nicht auch versuchen?« fragte mich die Holde.
»Warum nicht?«
Ich setzte fünf Groschen, gewann einigemal und verlor dann einmal. Die beiden andern begannen leidenschaftlich zu werden; sie setzten höher und mokierten sich scherzend über meinen niedrigen Einsatz.
Ich setzte einen Thaler und gewann; ich ließ stehen und gewann; ich ließ wieder stehen bis auf acht Thaler und gewann.
»Dieses Spiel ist allerdings höchst interessant,« meinte ich.
»Sie haben Glück,« ermunterte mich der Assessor. »Versuchen Sie es doch weiter!«
»Versteht sich!«
Ich setzte einen Fünfthalerschein und gewann: ich ließ wieder stehen und gewann. So hielt ich fest, bis vierzig Thaler lagen. Da aber griff ich in die Tasche und zog drei Fünfzigthalernoten heraus. Das war mein Reisegeld, mein ganzes augenblickliches Vermögen.
»Gewinne ich jetzt, so setze ich diese hundertfünfzig Thaler!« versicherte ich, um den sogenannten Assessor zu fangen.
Ich wußte, daß ich verloren hätte; bei diesen Worten aber zuckte es höhnisch und blitzschnell über sein Gesicht.
»Sie parieren also diese vierzig?« fragte er.
»Ja.«
»Gut; so stehen also achtzig.«
Er legte seine vierzig hinzu und nahm die Karten.
»Coeur-Aß. Aufgepaßt. Wo liegt es? .«
»Hier!« antwortete ich, auf das betreffende Blatt zeigend.
Er wendete es um; ich hatte gewonnen.
»Riesiges Glück!« meinten die andern. »Nun die hundert und fünfzig darauf!«
Ich aber zog die Achtzig an mich und schob sie mit dem übrigen in die Tasche.
»Man muß dem Glücke Atem gönnen, meine Herren, es mag ausruhen. Spielen Sie unterdessen weiter!« bat ich in ruhigem Tone.
»Wie meinen Sie das? Sie wollen zurücktreten? Sie haben versprochen, die hundertfünfzig zu setzen, und ein Ehrenmann hält sein Wort!«
»Das werde ich auch, Herr Assessor; aber habe ich vielleicht gesagt, w an n ich sie setzen werde?«
»Das versteht sich ganz von selbst: jetzt, natürlich!«
»Darüber sind wir leider verschiedener Meinung. Ich werde setzen, und zwar, wann es mir beliebt, vielleicht in Düsseldorf, vielleicht in Köln, wenn Sie uns bis dahin folgen wollen.«
»Ich verlange den Einsatz unbedingt jetzt!«
»Sie verlangen? Das soll wohl heißen, Sie befehlen?«
»Nichts anderes!«
»Sie machen sich lächerlich!«
»Und wie machen Sie sich denn? Aber wir werden Sie zu zwingen wissen, Wort zu halten!«
»Wir? Meinen Sie damit vielleicht auch diesen Herrn und diese Dame?«
»Allerdings meint er uns,« antwortete der Kölner. »Wir können nicht dulden, daß der Bankier durch Versprechungen, welche dann nicht gehalten werden, veranlaßt wird –--«
Er hatte sich verfahren; er hielt inne.
»Fahren Sie fort! Sie wollten sagen: ›veranlaßt wird, ehrlich zu spielen, bis so viel steht, daß eine Volte an der Zeit ist‹. Sie haben sich damit selbst verraten, und ich bin dadurch gezwungen, mein Wort zurückzunehmen. Ich werde weder hier, noch in Düsseldorf, noch in Köln einen Pfennig wieder setzen.«
»Schurke!« meinte der Kölner, indem er auf mich eindrang. »Willst du setzen oder nicht!«
Ich that einen raschen Schritt gegen die Thür, riß den Riegel zurück und zog sie auf. Im nächsten Augenblicke stand ich im Gastzimmer und hatte die Thür von außen verschlossen.
»Herr Wirt!«
Der Gerufene trat von einem der vorderen Tische herbei.
»Kennen Sie die Leute, welche sich mit mir in diesem Zimmer befanden?«
»Nein.« »Es sind Kümmelblättler, welche mich rasieren wollten.« »Ah, wollen doch einmal sehen!«
Er rief mehrere Kellner herbei und schloß dann die Thür auf – – das Zimmer war leer; aber die beiden Flügel des breiten Fensters, welches auf eine enge Seitengasse führte, standen offen.
»Ausgeflogen?« lachte er und trat an das Fenster.
Draußen war kein Mensch zu sehen.
»Haben Sie mitgespielt?«
»Ja.«
»Verloren?«
»Nein, gewonnen.«
»Prächtig! Das war nur die Lockung; später hätte man Sie gerupft. Sie sind nicht von hier, wie es scheint?«
»Nein. Ich fahre in einer Viertelstunde von hier ab.«
»So ist es gut für Sie, daß die Vögel fort sind. Sie wären als Zeuge vernommen worden und hätten eine Menge Weitläufigkeiten und Zeitversäumnisse zu erleiden gehabt. Reisen Sie ab! Ich werde sofort die Polizei benachrichtigen, ohne Sie in die Sache zu verwickeln, und Sie können sich darauf verlassen, daß wir die saubere Gesellschaft sicher fangen werden.«
Ich folgte diesem Rate und reiste ab. Erst später ist mir der Gedanke gekommen, daß der Wirt mit den Entflohenen im Einvernehmen gestanden hat und mich zu entfernen suchte, damit ich weder ihnen, noch vielleicht auch ihm gefährlich werden konnte. – – –
Es war einige Monate später. Ich war wieder daheim in Dresden und war so beschäftigt, daß ich mir nur selten eine freie Stunde gestatten konnte. Das griff natürlich die Gesundheit an, und der Arzt gebot mir, wenigstens einige Tage Vakanz zu machen. Ich unternahm infolgedessen einen Ausflug in die sächsische Schweiz.
Es waren mir vier Tage vergönnt worden; meine Arbeiten aber lagen mir so am Herzen, daß ich bereits am dritten Abend zurückkehrte. Ich muß bemerken, daß ich mich für kurze Zeit aus litterarischen Gründen als Redakteur hatte anstellen lassen.
Ich hatte den letzten Zug benutzt, und es war bereits nach Mitternacht, als ich in mein Zimmer trat. Ich war gewohnt, vor dem Schlafengehen einen Rundgang durch sämtliche Arbeitsräume zu machen, und that dies trotz meiner Ermüdung auch heute.
Ich nahm den Hauptschlüssel und trat durch die Hinterthür des Vorderhauses in den Hof, welcher von den hohen Nebengebäuden, welche die Arbeitsräume enthielten, umgeben wurde.
Zunächst öffnete ich das Kesselhaus, wo ich alles in Ordnung fand. Von hier aus führte vis-á-vis der Feuerung eine Thür in den Raum, welcher dem Stereotypeur angewiesen war. Hinter dieser Thür glaubte ich ein leichtes Geräusch zu vernehmen.
Ich öffnete.
Hier hatte bis jetzt eine Lampe gebrannt; ich sah den Docht noch glimmen. Das enge, dunstige Souterraingemach wurde beinahe hell erleuchtet von einem Feuer, welches im Ofen brannte, und meine Windlaterne vermehrte die Helle. Es war hier gearbeitet worden, wie das Feuer bewies; aber wo war der Stereotypeur?
Dieser besaß nicht die Erlaubnis, über die Arbeitszeit hier zu bleiben. Vielleicht hatte er notwendig gehabt und in meiner Abwesenheit, wo er annehmen durfte, daß niemand revidieren würde, doch gegen die Hausordnung gehandelt. Mein plötzliches Erscheinen im Kesselraume hatte ihn veranlaßt, das Licht auszulöschen. Mit dem Ofenfeuer war ihm dies nicht gelungen. Aber er selbst, wo war er hingekommen? Die Thür, welche zu dem Lagerraum nebenan führte, von wo aus sich auch der Fahrstuhl erhob, war verschlossen und ihm überhaupt unzugänglich, und der einzige Weg durch das Kesselhaus war ihm ja durch mich unmöglich gewesen.
Ich suchte. In einer der Ecken standen einige Gipsfässer. Zwischen ihnen und der Wand sah ich zwei Stiefel, in denen unbedingt ein Paar Füße stecken mußten. Aber diese Füße waren zu klein, als daß sie diejenigen des Schriftgießers hätten sein können.
»Wer liegt hier?« fragte ich.
Keine Antwort.
»Heraus!«
Wieder keine Antwort. Ich nahm einen dastehenden vollen Wassereimer und goß seinen Inhalt hinter die Fässer.
»A-uhhh!«
jetzt regte es sich und kroch hervor. Es war einer meiner älteren Setzerlehrlinge.
»Sie?! Was thun Sie hier?«
Er troff von Wasser und schnitt ein höchst jammervolles Gesicht.
»Ich – will das Stereotypieren lernen.« »So! Zu dieser Zeit? Wie kommen Sie herein?« »Ich habe den Schlüssel vom Hausmann.« »Hat er Ihnen denselben freiwillig gegeben?«
»Nein; ich habe ihn weggenommen,« gestand er zögernd. Der junge Mensch war ein Neffe des Hausmannes, bei dem er wohnte. Auf diese Weise war es ihm möglich gewesen, sich den Schlüssel anzueignen.
»Sie haben von innen wieder verschlossen und den Schlüssel also bei sich. Geben Sie ihn her!«
Er gab ihn heraus.
»Wie kommt es, daß Sie sich nicht an mich wenden, wenn Sie etwas Nützliches lernen wollen?«
»Ich dachte, Sie würden es mir nicht erlauben.«
»Warum nicht?«
»Weil – weil Sie so streng mit mir zu sein pflegen.«
Da hatte er recht; aber er verdiente diese Strenge, denn er war träge und unzuverlässig; auch trieb er sich trotz seiner Jugend und Mittellosigkeit bereits auf Tanzsälen und mit Menschen herum, die ihm nur schaden konnten.
»Sagen auch die andern, daß ich streng bin? Sie sind der einzige, der mich nicht liebt; aber ich hätte mich gefreut, wenn ich aus Ihrer Bitte gesehen hätte, daß Sie ein brauchbarer Mann werden wollen. Ihr heutiger Streich ist jedoch nicht danach angethan, daß ich Sie loben kann. Wie wollen Sie ohne Anleitung stereotypieren lernen?«
»Ich habe öfters zugesehen und wollte es einmal versuchen.«
»Das genügt nicht und führt nur zu einer Verschwendung des Arbeitsmaterials. Bringen Sie Ihre Bitte an der geeigneten Stelle vor, und man wird Sie nicht zurückweisen. Jetzt löschen Sie das Feuer aus!«
Er that es, und ich fragte unterdessen:
»Haben Sie bereits hier etwas gearbeitet?«
»Nein. Ich wollte eben anfangen.«
»Womit?«
»Mit dieser Titelkolumne.«
Ich sah, daß er log, und rollte die Fässer, hinter denen er gesteckt hatte, auf die Seite und fand, was ich suchte. Er hatte mehrere Visitenkarten, sowohl auf männliche als auch auf weibliche Namen lautend, gesetzt und nur diese jedenfalls stereotypieren wollen. Was aber gab es für einen Grund, dies zu verheimlichen? Fürchtete er den Verweis wegen verschwendeter Arbeitszeit? Das schien mir nicht hinreichend. Ich schlug, wie man sich auszudrücken pflegt, auf den Busch:
»Diese Arbeiten wurden bestellt?«
Er schwieg.
»Sie haben mich bereits vorhin belogen. Reden Sie die Wahrheit. Wer hat sie bestellt?«
»Ein Fremder.«
»Wie heißt er?«
»Emil Willmers, wie hier steht.«
»Für wen sind die andern Karten?«
»Für Bekannte von ihm.«
»Wo wohnt er?«
»Auf der R.'schen Gasse.«
»Haben Sie sonst noch etwas für ihn gesetzt?«
»Nein.«
Dieses ›Nein‹ klang so eigentümlich, daß ich annahm, es enthalte eine Unwahrheit. Ich suchte also weiter, ohne Ergebnis.
»Kommen Sie mit nach dem Setzersaal!«
Er erbleichte. Dies gab mir Grund, auf einen weiteren Fund zu rechnen.
Wir verließen den Raum und das Kesselhaus, und als wir die Treppe emporstiegen, hustete er so laut und eigentümlich, daß es mir auffallen mußte. Hatte er einen Mitschuldigen oben, den er warnen wollte?
»Wenn Sie noch einmal husten, passiert etwas! Sie haben sich ganz ruhig zu verhalten und die Treppe ganz leise zu ersteigen!« drohte ich ihm.
Die Fenster des Setzersaales gingen nach dem Garten; ich hatte vom Hofe aus also nicht sehen können, ob sie erleuchtet seien; aber bereits auf dem Korridor vernahm ich ein Geräusch, welches ich sehr gut kannte. Es kam von der Handpresse, auf welcher die Setzer ihre Korrekturabzüge zu machen pflegten. Durch das Schlüsselloch schimmerte Licht. Ich versuchte zu öffnen, erst am Drücker, dann leise mit dem Hauptschlüssel. Es ging nicht, denn die Thüre war von innen verriegelt.
»Sie haben also auch diesen Schlüssel bei sich?« fragte ich den Lehrling.
»Ja,« hauchte er leise und zitternd.
»Sie haben mit dem Burschen da drin ein Zeichen verabredet, auf welches hin er öffnet?«
»Ja.«
»Welches?«
»Erst ein-, dann zwei- und dann dreimal klopfen.«
»Haben Sie mit ihm schon vorher hier gearbeitet?«
»Nur gestern.«
Ich gab das Zeichen, indem ich in der angegebenen Weise klopfte. Es wurde geöffnet, und ich trat ein. Der Mann stieß einen Ruf aus und taumelte zurück. Es war keiner meiner Setzer, wie ich vermutet hatte; es war vielmehr ein Bekannter von meiner Reise her, nämlich der – Herr Assessor Max Lannerfeld.
»Ah, guten Abend, Herr Assessor! Sind Sie gekommen, mich an meinen Einsatz zu erinnern?« fragte ich.
Er gab keine Antwort, aber er ergriff einen Hammer und drang auf mich ein. Ich wollte ihn fassen und strauchelte über einen Kasten, der im Wege stand. Dies benützte er, mir einen Hieb auf den Kopf zu versetzen. Zur Thür aber gelangte er nicht; ich packte ihn und rang ihn zu Boden. Ich war ihm an Kraft überlegen, aber er besaß eine wahrhaft bewunderungswerte Geschmeidigkeit, und ich bewältigte ihn nicht eher, als bis ich ihm durch Zusammenpressen der Kehle den Atem benahm.
Schnüre und Stricke lagen genug umher; ich band ihn und trat dann zur Presse. Er hatte sich – – Paßformulare gedruckt, welche trotz der Unzulänglichkeit der alten Presse ganz scharf und gut ausgefallen waren.
Ich rief den Setzer, von dem ich glaubte, daß er den Ausgang des Kampfes vor der Thür abgewartet habe, erhielt aber keine Antwort. Ich suchte ihn auf der Treppe und auf dem Flure, fand ihn aber nicht. Jetzt bemerkte ich, daß mir der Hauptschlüssel fehlte. Ich hatte ihn in der Hand gehabt, als ich in den Setzersaal trat, und ihn wahrscheinlich dort fallen lassen. Er lag nicht da. Jedenfalls hatte ihn der Lehrling aufgehoben, während ich mit dem andern rang, und sich mittels des Schlüssels davongemacht.
Das war fatal, denn ich war nun gezwungen, Lärm zu schlagen, was ich gern so lange wie möglich vermieden hätte. Ich rief und rief sehr lange, ehe sich die Hinterthür des Vorderhauses öffnete und der Hausmann in den Hof trat.
»Wer ruft?«
Ich nannte mich ihm und fragte dann, ob er seinen Neffen gesehen habe.
»Der Schlingel ist wieder ausgegangen, ohne es mir zu sagen, und noch nicht heimgekehrt.«
»Sehen Sie einmal nach dem vorderen Thore, und machen Sie dann hier unten auf!«
Schon nach wenigen Augenblicken kehrte er zurück.
»Was ist denn das? Das Thor ist offen und Ihr Hauptschlüssel steckt darin.«
»Oeffnen Sie nur zunächst hier!«
Er kam herauf und staunte nicht wenig, einen Gefangenen zu sehen. Ich erzählte ihm alles, und ohne sich weiter um mich zu bekümmern, sprang er davon. Ich folgte ihm, nachdem ich den Pseudo-Assessor eingeschlossen hatte. Der Lehrling war in seine Wohnung geeilt, hatte sich seiner Kleider, einiger Wäsche und der Barschaft des Oheims bemächtigt und war dann entwichen.
Der Hausmann war so ergrimmt, daß er selbst zur Polizei rannte, trotzdem es sich um einen Anverwandten handelte, den er allerdings von jeher gar nicht zu tief im Herzen getragen hatte.
Die Polizei erschien und bemächtigte sich des Gefangenen.
Die Untersuchung ergab, daß der Herr Assessor ein polnischer Schriftsetzer sei, der längere Zeit in Berlin gearbeitet hatte. Später war er mit seiner Freundin, einer geborenen Polin, auf Reisen gegangen.
Die ›Schauspielerin‹ ward nicht aufgefunden. Jedenfalls hatte der Setzerlehrling, welcher auch spurlos verschwunden blieb, sie gewarnt und mit ihr beizeiten die Stadt verlassen.
Der Herr Assessor wurde zu einer längeren Haft verurteilt.---