Guy de Maupassant
Stark wie der Tod
Guy de Maupassant

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V

Fixe Ideen bleiben haften und fressen weiter, wie unheilbare Krankheiten. Wenn sie einmal in eine Seele Eingang gefunden haben, zerstören sie sie, lassen ihr keine Freiheit mehr, an irgend etwas zu denken, sich für irgend etwas zu interessieren, an irgend etwas Geschmack zu finden. Wo die Gräfin auch war, bei sich oder auswärts, allein oder in Gesellschaft, nirgends konnte sie mehr jenen Gedanken loswerden, der sie gepackt, als sie mit ihrer Tochter heimgekehrt: »Mußte nicht Olivier, wenn er sie beinah täglich sah, geradezu gezwungen sein, sie zu vergleichen.«

Gewiß mußte er es unwillkürlich immerfort. Auch ihn mußte diese Ähnlichkeit, die er nicht einen Augenblick vergessen konnte, quälen, die noch gesteigert wurde durch die ungesuchte Ähnlichkeit der Bewegungen und der Sprache, und jedesmal, wenn er kam, dachte sie sofort daran, las es in seinem Blick, erriet es und bewegte es in Herz und Gehirn. Dann überkam sie das Bedürfnis, sich zu verstecken, zu verschwinden, sich ihm neben ihrer Tochter nicht mehr zu zeigen.

Alles Erdenkliche machte sie leiden. Sie fühlte sich nicht mehr zuhaus in ihrem Hause. Dieses Gefühl, daß sie entthront sei, das sie eines Abends, als neben dem Bild alles Annchen betrachtete, empfunden, machte Fortschritte und brachte sie manchmal zur Verzweiflung. Unausgesetzt warf sie sich den heimlichen Wunsch, von ihr befreit zu sein, vor, diesen Wunsch, den sie sich nicht eingestand, ihre Tochter aus dem Haus zu entfernen, wie einen lästigen zu ausdauernden Gast. Und mit unbewußter Geschicklichkeit arbeitete sie an diesem Plan immer wieder, von dem Bedürfnis gepackt, trotz all dem noch zu kämpfen, um sich den Mann zu bewahren, den sie liebte.

Da sie die Verlobung Annchens, die durch die augenblickliche Trauer noch dazu etwas aufgeschoben wurde, nicht zu sehr beeilen konnte, überkam sie eine unbestimmte starke Angst, es könnte irgend etwas dazwischen kommen. Und unbewußt suchte sie im Herzen Annchens Liebe für den Marquis zu entzünden. Alle Schlauheit, die sie angewendet seit so langer Zeit, um Olivier an sich zu fesseln, nahm plötzlich eine neue geheime Form an, indem sie jetzt versuchte, die beiden jungen Leute zusammen zu bringen, ohne daß die beiden Männer sich trafen.

Da der Maler tagsüber zu arbeiten pflegte und niemals auswärts frühstückte, so daß er für gewöhnlich nur die Abende seinen Freunden schenkte, lud sie häufig den Marquis zum Frühstück ein. Er kam und verbreitete um sich die Frische eines Spazierrittes, etwas wie Morgenluft. Heiter sprach er über alle möglichen Dinge der Gesellschaft, die täglich die Reiterwelt in den Alleen des Bois de Boulogne beschäftigten. Es machte Annchen Spaß, ihm zuzuhören, und sie nahm Teil an all den frischen, so chiken Dingen, die er ihr berichtete. Eine jugendliche Intimität ward zwischen ihnen wach, eine gute Kameradschaft, die gemeinsame Leidenschaft für Sport und Pferde ganz natürlich erweckt hatte. Wenn er fort war, wußten Graf und Gräfin auf geschickte Weise sein Lob zu singen, sagten von ihm, was man eben sagen mußte, damit das junge Mädchen einsähe, daß sie ihn sofort haben konnte, wenn sie nur wollte.

Das hatte sie übrigens sehr schnell verstanden, und sie war ganz einverstanden, den hübschen Kerl zum Mann zu nehmen, der ihr außer anderen Dingen das verschaffen würde, was sie am meisten liebte, jeden Morgen an seiner Seite auf einem Vollblut dahinzujagen.

Eines Tages waren sie verlobt. Die natürlichste Sache von der Welt, indem sie sich lächelnd die Hand reichten und von dieser Hochzeit wie von einer längst abgemachten Sache sprachen. Da begann der Marquis Geschenke zu bringen. Die Herzogin behandelte Annchen wie ihre eigene Tochter. Die ganze Sache war nach Übereinkommen während der ruhigen Tagesstunden auf einen intimen Fuß gestellt, und der Marquis, der viel andere Dinge vorhatte, Bekannte, Gewohnheiten und Pflichten, kam abends sehr selten.

Dafür erschien Olivier. Er aß regelmäßig in der Woche bei seinen Freunden und erschien auch unerwartet immer einmal abends, um zwischen zehn Uhr und Mitternacht eine Tasse Thee zu trinken.

Sobald er eintrat, blickte ihn die Gräfin forschend an, mit dem Wunsch, zu erspähen, was in seinem Herzen vorging. Er konnte keinen Blick werfen, keine Bewegung machen, ohne daß sie sofort daraus ihre Schlüsse zog, und immer quälte sie der Gedanke: »Es ist ganz unmöglich, daß er sie nicht liebt, wenn er uns nebeneinander erblickt.«

Auch er machte Geschenke. Es verging kaum eine Woche, ohne daß er mit zwei kleinen Paketen in der Hand gekommmen wäre, von denen er eines der Mutter und eines der Tochter gab, und die Gräfin öffnete jedesmal die Schachteln, die oft kostbare Gegenstände enthielten, mit Herzklopfen. Sie kannte wohl diese Lust am Schenken, die sie, als Frau, nie hatte befriedigen können, diese Lust, etwas mitzubringen, eine Freude zu machen, für jemanden etwas auszusuchen im Laden, eine Kleinigkeit zu finden, die ihm gefallen würde.

Schon früher hatte der Maler diese Lust gehabt, und oft hatte sie ihn eintreten sehen mit demselben Lächeln, derselben Bewegung, ein Paket in der Hand. Dann hatte sich das beruhigt, und nun fing es wieder an. Für wen? Sie wußte es wohl. Es war nicht ihretwegen.

Er schien ihr müde, abgemagert. Sie schloß daraus, daß er litt. Sie verglich seine Art und Weise, einzutreten, seinen Ausdruck, sein Benehmen, mit dem des Marquis, den Annchens Liebreiz auch anfing zu gewinnen. Es war sehr verschieden davon: Farandal war verliebt, Olivier Bertin liebte. Während dieser selbstquälerischen Stunden glaubte sie es wenigstens; wenn sie dann ruhig wurde, hoffte sie noch, sie könnte sich getäuscht haben. Oft war sie nahe daran, ihn zu bitten, wenn sie mit ihm allein war, ihn zu fragen, anzuflehen, mit ihr zu sprechen, ihr alles einzugestehen, nichts zu verbergen. Es war ihr lieber, die Wahrheit zu wissen und in der Gewißheit Thränen zu vergießen, als so im Zweifel zu leiden, und in diesem verschlossenen Herzen, in dem sie eine andere Liebe keimen sah, nicht lesen zu können.

Dieses Herz, an dem sie mehr hing, wie an ihrem Leben, über das sie ihre Hand gehalten, das sie mit ihrer Zärtlichkeit erwärmt und beschattet zwölf Jahre lang, dessen sie sicher zu sein gemeint, das sie hoffte ein für alle Mal gefangen, erobert, sich unterjocht, in Fesseln geschlagen zu haben, bis an das Ende ihrer Tage, entging ihr durch einen unbegreiflich fürchterlichen, schrecklichen Zufall. Ja es hatte sich plötzlich mit einem Geheimnis vor ihr verschlossen. Sie konnte nicht mehr durch ein Wort der Liebe eindringen. Wozu die Liebe, wozu die Hingebung, wenn plötzlich der, dem man sein ganzes Wesen, sein ganzes Dasein alles, was es auf dieser Welt giebt, geschenkt, untreu wird, weil ein anderes Menschenangesicht ihm gefallen und er einem nun im Lauf von ein paar Tagen fast ein Fremder wird.

Ein Fremder? Er, Olivier? Er sprach zu ihr, wie früher, mit denselben Worten, derselben Stimme, dem gleichen Ton. Und doch war etwas zwischen ihnen, etwas Unerklärliches, Unfaßbares, Unbewegliches, fast nichts, – dieses Nichts, das ein Segel davontreibt, wenn der Wind umschlägt.

Und er trieb in der That davon. Er entfernte sich von ihr täglich ein wenig mehr durch jeden Blick, den er auf Annchen warf.

Er suchte selbst nicht, sich klar zu werden. Er fühlte wohl jenes Aufkeimen der Liebe, jene unwiderstehliche Anziehungskraft, aber er wollte es nicht begreifen, er ließ sich von den Dingen treiben, vom Zufall des Lebens.

Er wollte nur noch eins, bei Tisch und abends, mit den beiden Frauen zusammen sein, die wegen ihrer Trauer nicht in Gesellschaft gehen konnten. Da er bei ihnen nur gleichgültige Gesichter traf, am häufigsten die Corbelles und Musadieu, konnte er sich mit ihnen fast allein auf der Welt glauben, und da er die Herzogin und den Marquis, denen der Tag aufgehoben ward, kaum mehr sah, wollte er sie vergessen, da er glaubte, die Hochzeit wäre auf unbestimmte Zeit verschoben.

Übrigens sprach Annchen nie in seiner Gegenwart vom Marquis Farandal. War es vielleicht aus instinktivem Schamgefühl oder in Folge jenes geheimen Scharfblicks des Frauenherzens, das alles vorher ahnt, was es noch nicht weiß.

Die Wochen folgten aufeinander, nichts änderte sich in diesem Leben; der Herbst kam, und die Kammern wurden wegen politischer Verwicklungen früher als sonst einberufen.

Am Tag der Kammereröffnung sollte Graf Guilleroy nach einem Frühstück in seinem Hause die Herzogin von Mortemain, den Marquis und Annchen ins Parlament mitnehmen. Nur die Gräfin, die mit ihrem stets wachsenden Kummer gern allein blieb, hatte erklärt, sie wollte zu Haus bleiben.

Man war aufgestanden und trank im großen Salon den Kaffee, in bester Laune. Der Graf war glückselig über die Wiederaufnahme der parlamentarischen Arbeit, sein einziges Vergnügen, und er sprach nun fast mit Geist über die herrschende Lage und die Schwierigkeiten, die der Republik drohten. Der Marquis, der nun schon ganz verliebt war, antwortete ihm lebhaft, indem er Annchen anblickte; und die Herzogin war über das Glück ihres Neffen beinah ebenso glücklich, wie über die Schwierigkeiten der Republik. Es war warm im Salon, wie es zu sein pflegt, wenn die Öfen zum ersten Mal wieder angesteckt werden. Und dieser Raum, in dem der Kaffee duftete, hatte etwas Intimes, Gemütliches, Zufriedenes. Da ging plötzlich die Thür auf, und Olivier Bertin trat ein.

Er blieb so erschrocken auf der Schwelle stehen, daß er zögerte, einzutreten, überrascht wie ein betrogener Mann, der seine Frau bei einer Untreue ertappt. Ein plötzlicher Zorn und solche Erregung packte ihn, daß er in einem Augenblick fühlte, wie er liebte. Alles, was man ihm verborgen gehalten, und was er vor sich selbst versteckte, ward ihm in einem Augenblick klar, als er den Marquis hier im Haus sah wie einen Bräutigam.

Er ahnte in einem Anfall von Verzweiflung alles, was er nicht wissen sollte, was man ihm nicht zu sagen wagte. Aber er fragte sich nicht, warum man ihm die bevorstehende Hochzeit eigentlich verborgen, er erriet es, sein Blick wurde hart und traf den der Gräfin, die errötete. Sie hatten sich verstanden.

Als er sich gesetzt hatte, schwieg die Unterhaltung einen Augenblick, da sein plötzliches Erscheinen das Gespräch unterbrochen hatte. Dann begann die Gräfin sich mit ihm zu unterhalten. Er antwortete kurz, mit fremdem Ton, plötzlich ganz verändert.

Er sah um sich herum alle diese Leute, die wieder angefangen hatten, zu sprechen, und er sagte sich: »Sie haben mich hinters Licht geführt, aber das soll ihnen teuer zu stehen kommen.« Am meisten verdachte er es der Gräfin und Annchen, deren unschuldige Heuchelei er erriet. Da sah der Graf nach der Uhr und rief:

– Es ist Zeit zu gehen. – Dann wendete er sich zum Maler:

– Wir wollen zur Kammereröffnung, meine Frau bleibt allein hier. Wollen Sie mit uns kommen, das würde mir eine große Freude machen?

Olivier antwortete trocken:

– Nein. Danke! Ihre Kammer reizt mich nicht.

Da näherte sich ihm Annchen und sagte in ihrer schmeichelnden Art:

– O, kommen Sie doch, großer Meister, ich glaube, daß Sie uns viel besser unterhalten werden, als die Abgeordneten!

– Nein, wirklich nicht. Sie werden sich schon ohne mich amüsieren.

Da fühlte sie, daß er unzufrieden war und traurig, und sie bat noch einmal, um nett zu sein:

– Kommen Sie doch, Herr Maler, ich versichere, ich kann nicht ohne Sie sein!

Ein paar Worte entflohen ihm, so lebhaft, daß er sie nicht hemmen, noch ihnen einen anderen Ton verleihen konnte:

– Ach was, Sie kommen auch ohne mich aus, wie alle!

Etwas erstaunt über den Ton rief sie:

– Nun, nun! Nun werde ich wiederum nicht ›Du‹ genannt!

Um seinen Mund lag ein bittres Lächeln, das allen Schmerz seiner Seele zeigte, und er verneigte sich:

– Ich muß mich schon heute oder morgen daran gewöhnen.

– Warum?

– Weil Sie sich verheiraten, und Ihr Mann, wer es auch sei, das Recht hätte, es nicht sehr schicklich zu finden, wenn ich Sie ›Du‹ nenne.

Die Gräfin sagte schnell:

– Daran können wir ja später denken. Aber ich hoffe, daß Annchen nicht einen Mann heiraten wird, der an der Vertraulichkeit eines alten Freundes Anstoß nimmt.

Der Graf rief:

– Nun schnell, schnell, wir müssen fort, wir kommen zu spät!

Und alle, die ihn begleiten wollten, waren aufgestanden, gingen mit ihm davon, nachdem sie die üblichen Händedrücke getauscht, und die Gräfin und ihre Tochter sich, wie sie es beim Kommen und Gehen zu thun pflegten, geküßt hatten.

Sie blieben allein, er und sie, hinter der geschlossenen Thür.

– Setzen Sie sich, mein Freund, – sagte sie weich.

Aber er antwortete fast heftig:

– Nein. Ich gehe auch.

Sie flüsterte bittend:

– Warum denn?

– Weil das jetzt nicht meine Stunde ist, wie es scheint! Ich bitte um Verzeihung, daß ich mich nicht vorher angemeldet habe.

– Olivier, was haben Sie denn?

– Nichts! Es thut mir bloß leid, daß ich die lustige Gesellschaft, die Sie sich zusammengeladen, gestört habe.

Sie nahm seine Hand:

– Was soll denn das heißen? Sie mußten gerade fort, da sie zur Kammereröffnung wollten. Ich wollte bleiben. Es war im Gegenteil eine ausgezeichnete Idee, daß Sie heute gekommen sind, wo ich allein bin.

Er lachte: – Ausgezeichnete Idee. Jawohl!

Sie nahm ihn bei beiden Händen, blickte ihm in die Augen und flüsterte leise:

– Gestehen Sie mir, daß Sie sie lieben!

Er machte sich los, denn er konnte seiner Ungeduld nicht mehr Herr werden:

– Aber Sie sind ja verrückt mit diesem Gedanken!

Sie zog ihn wieder an sich, krampfte die Finger an seinen Ärmel und flehte:

– Olivier! Gestehen Sie, gestehen Sie! Mir ist es lieber, ich weiß es; ich bin sicher, es ist besser, ich weiß es. Sie ahnen ja nicht, was aus meinem Leben geworden ist!

Er zuckte die Achseln:

– Was soll ich da thun, kann ich denn dafür, wenn Sie den Kopf verlieren?

Sie zog ihn in den anderen Salon nebenan, damit man sie nicht belauschen konnte, sie zerrte ihn an seinem Jackett, an ihm festgekrampft, atemlos. Als sie vor dem kleinen runden Divan stand, zwang sie ihn dort nieder und nahm an seiner Seite Platz:

– Olivier, mein Freund, mein einziger Freund! Ich bitte Sie, sagen Sie, daß Sie sie lieben! Ich weiß es, ich fühle es an allem, was Sie thun, ich kann gar nicht daran zweifeln. Es ist mein Tod, aber ich will es aus Ihrem eigenen Munde hören.

Da er sich noch wehrte, kniete sie zu seinen Füßen nieder und sagte keuchend:

– O, mein Freund, mein Freund! Mein einziger Freund! Lieben Sie sie wirklich?

Er rief, indem er versuchte, sie aufzurichten:

– Aber nein, nein, ich schwöre Ihnen, nein!

Sie streckte die Hand gegen ihn aus, um seinen Mund zu schließen und stammelte: – Lügen Sie nicht, es thut mir zu weh!

Dann ließ sie den Kopf auf seine Kniee niedersinken und schluchzte.

Er sah nur noch ihren Nacken. Eine dichte Menge blonder Haare mit weißen Strähnen untermischt, und ein unendliches Mitleid, dann ein unendlicher Schmerz durchzuckte ihn.

Er griff mit den fünf Fingern in ihr schweres Gelock, richtete ihren Kopf auf und blickte in ihre verzweifelten Augen, denen die Thränen entströmten, und dann preßte er einmal nach dem anderen auf diese thränengebadeten Augen seine Lippen:

– Any! Any! Meine liebe, liebe Any!

Da versuchte sie zu lächeln und sagte mit der schluchzenden Stimme eines Kindes, das der Schmerz erstickt:

– Ach, lieber Freund, sagen Sie mir nur, daß Sie mich noch ein bißchen lieb haben!

Er begann wieder Sie zu küssen:

– Ja, ich liebe Sie, meine geliebte Any!

Sie stand auf, setzte sich wieder neben ihn, nahm seine Hand und sagte zärtlich:

– Wir lieben uns so lange Zeit, das sollte doch nicht so enden!

Er preßte sie an sich und fragte: – Warum soll das denn enden?

– Weil ich alt bin und Annchen zu sehr mir ähnlich sieht, wie ich früher war, als Sie mich kennen lernten!

Nun schloß er ihr mit der Hand den Mund, diesen leidensvollen Mund, und sagte:

– Aber bitte, bitte, sprechen Sie nicht davon! Ich schwöre, daß es nicht wahr ist!

Sie flehte wieder:

– Wenn Sie mich nur ein bißchen, ein bißchen lieben wollten!

Er sagte von neuem:

– Ja, ich liebe Sie!

Dann blieben sie lange Zeit schweigend, Hand in Hand, sitzen, tief bewegt und tief traurig. Endlich unterbrach sie die Stille und flüsterte:

– O, ich habe kein Glück mehr auf der Erde.

– Ich will mir ja Mühe geben, Sie glücklich zu machen!

Die allmähliche Dunkelheit, die zwei Stunden vor Einbruch der Dämmerung eintritt, wenn Wolken am Himmel stehen, legte sich über den Salon und umgab sie nach und nach mit dem grauen Dunkel des Herbstabends.

Die Uhr schlug.

– Wir sind so lange schon hier, – sagte sie, – gehen Sie lieber fort. Es könnte jemand kommen, und wir sind nicht gefaßt genug.

Er erhob sich, umarmte sie und küßte wie einst ihren halb offenen Mund, dann gingen sie durch die beiden Salons zurück, Arm in Arm, wie zwei Gatten.

– Adieu, mein Freund!

– Adieu, meine Freundin!

Die Thür schloß sich hinter ihm.

Er ging die Treppe hinunter nach der Madeleine zu, lief davon, ohne zu wissen wohin, ganz verstört, wie nach einem Unglücksfall, unsicher auf den Füßen, mit bebendem Herzen. Und zwei Stunden oder drei, vielleicht sogar vier, ging er so spazieren in einer Art völligem moralischem Niederbruch und einer körperlichen Lähmung, die ihm nur gerade gestattete einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dann kehrte er heim, um nachzudenken.

Er liebte also dies kleine Mädchen! Jetzt begriff er alles, was er in ihrer Gegenwart empfunden, seitdem er im Park Monceau aus ihrem Munde den Ton einer lieben, kaum wiedererkannten Stimme gehört, einer Stimme, die einst sein Herz erweckt. Und nun kam es ihm auch zum Bewußtsein dieses allmähliche, unabänderliche Wiedererwachen einer schlecht gelöschten, noch nicht erkalteten Glut, das einzugestehen er sich bisher gewehrt hatte.

Was sollte er thun, ja, was konnte er thun! Er würde versuchen, sie nach ihrer Verheiratung möglichst wenig zu sehen. Das war alles. Bis dahin wollte er immer ruhig in das Haus der Eltern gehen, damit niemand Verdacht schöpfe, und sein Geheimnis vor aller Welt verbergen.

Er aß zu Haus, was er sonst nie that. Dann ließ er im Atelier den großen Ofen heizen, denn die Nacht wurde wahrscheinlich eisig. Zu gleicher Zeit befahl er, den Kronleuchter anzustecken, als fürchte er sich vor dunklen Ecken, und schloß sich ein. Welch seltsame, gewaltige, unaussprechlich traurige Bewegung erschütterte ihn. Er fühlte sie in der Kehle, in der Brust, in den schlaff gewordenen Muskeln, wie in seiner zusammenbrechenden Seele. Die Wände des Zimmers schienen ihn zu erdrücken; hier lag all sein Leben darin, sein Leben als Künstler und als Mensch. Jede Studie, die hier hing, erinnerte ihn an einen Erfolg, jedes Möbel hatte eine Erinnerung für ihn. Aber Erfolg und Erinnerung waren vorbei, wie sein Leben ihm kurz, öde und leer erschien. Er hatte Bilder gemalt, immer wieder Bilder und wieder Bilder, und eine Frau geliebt. Er dachte an Abende übermenschlicher Erregung nach den Rendezvous in diesem selben Atelier. Nächte durch war er, Fieber in allen Adern, hier auf und ab gelaufen: das Glück über die Liebe, das Glück über den Erfolg in der Welt, das ganz einzige Glück des Ruhmes hatten ihm unvergeßliche Stunden geheimen Triumphes bereitet.

Er hatte eine Frau geliebt und diese Frau ihn. Durch sie hatte er jene Taufe empfangen, durch die dem Mann die geheimnisvolle Welt der Gemütsbewegung und der Zärtlichkeit erschlossen wird. Sie hatte sein Herz beinah mit Gewalt geöffnet und nun konnte er es nicht mehr zuschließen. Eine andere Liebe schlich sich gegen seinen Willen zu der Öffnung herein, eine andere oder vielmehr dieselbe, nur neu entfacht durch ein neues Gesicht, dieselbe Liebe, nur noch gesteigert durch das mit dem Alter zunehmende Bedürfnis zu verehren. Er liebte also das junge Mädchen. Dagegen konnte er nicht mehr ankämpfen, er konnte nicht mehr widerstehen, es nicht mehr leugnen. Er liebte es mit der Verzweiflung, zu wissen, daß sie nie mit ihm Erbarmen haben würde, daß sie nie auch nur ahnen würde, welche Qualen er um sie litt, und daß ein anderer sie heimführte. Bei diesem Gedanken, der ihm unausgesetzt wiederkam, den er nicht zu bannen vermochte, packte ihn eine tierische Lust zu heulen, wie ein Hund an der Kette, denn er fühlte sich waffen- und wehrlos, wie dieser. Je mehr er nachdachte, desto nervöser wurde er. Mit großen Schritten eilte er durch den wie zu einer Festlichkeit erhellten Raum. Als er endlich den Schmerz, den ihm die offene Wunde bereitete, nicht mehr aushalten konnte, wollte er ihn betäuben durch die Erinnerung an vergangene Zärtlichkeit, ihn ertränken, indem er seine erste, große Leidenschaft wieder aufleben ließ. Er holte aus einem Schrank, wo er sie aufhob, die Copie, die er früher vom Bildnis der Gräfin für sich gemacht, stellte sie auf die Staffelei und setzte sich gegenüber. Er suchte sie zu beleben, sie wieder zu sehen, wie er sie früher geliebt, aber immer wieder sprang Annchen aus der Leinwand heraus. Die Mutter war verschwunden, verflossen, und an ihrer Stelle erschien dieses andere Antlitz, das jenem seltsam ähnlich sah. Das war die Kleine mit ihren etwas helleren Haaren, ihrem etwas übermütigeren Lächeln, das etwas Moquantes hatte, und er fühlte, daß er an Leib und Seele, als hätte er nie jener andern gehört, diesem jungen Wesen da gehörte, wie ein steuerloses Schiff den Wellen.

Da stand er auf, um die Erscheinung nicht mehr vor sich zu sehen, und drehte das Bild herum. Und in seiner Traurigkeit ging er in sein Wohnzimmer hinüber, um das Fach seines Schreibtisches, wo alle Briefe der Geliebten lagen, in das Atelier zu holen. Sie schlummerten dort, wie in einem Bett, einer neben dem andren, und bildeten eine dicke Schicht dünner Papierblätter. Er steckte die Hände hinein, in dieses Meer von Worten, das von ihnen redete, in dem ihre alte Liebe schwamm. Er sah den schmalen Brettersarg an, in dem diese Menge Briefe gehäuft lagen, auf denen allen sein Name, immer nur sein Name stand. Er dachte daran, daß die Liebe, daß die zärtliche Verknüpfung zweier Wesen, daß die Geschichte zweier Herzen darin erzählt ward, in dieser Flut vergilbter Papiere mit ihren roten Siegeln. Er beugte sich darüber, und ein Hauch von Alter, ein melancholischer Hauch verschlossener Briefschaften wehte ihm daraus entgegen.

Er wollte sie wieder lesen, suchte in dem Fach und holte ein Pack der erst geschriebenen heraus. Je mehr er öffnete, desto mehr stiegen Erinnerungen daraus auf, bestimmte Erinnerungen, die seine Seele bewegten. Er erkannte Briefe wieder, die er lange Wochen hindurch bei sich getragen, und überall fand er die zierliche Handschrift wieder, die ihm so süße Zeiten wieder in die Erinnerung rief, längst vergessene Träume von einst. Plötzlich fühlte er ein feines gesticktes Taschentuch in der Hand. Was war das? Einen Augenblick überlegte er, dann erinnerte er sich. Ja, eines Tages hatte sie hier bei ihm geweint, weil sie ein wenig eifersüchtig war, und er hatte ihr das thränengetränkte Taschentuch weggenommen, um es aufzuheben.

Traurige Erinnerungen! Traurige Erinnerungen! Die arme Frau!

Aus der Tiefe der Schublade, aus der Tiefe seiner Vergangenheit stiegen alle Erinnerungen auf, wie ein Duft: Es war ja nur der feine Duft einer vergangenen Wirklichkeit. Aber er litt darunter doch und weinte, während er die Briefe las, wie man Tote beweint, weil sie nicht mehr sind.

Aber all die alte Liebe, die er in sich wieder zu erwecken suchte, ließ eine neue, junge in ihm sprießen, eine unwiderstehliche, süße Zärtlichkeit, die der Gedanke an Annchens strahlendes Gesicht in ihm wachrief. Er hatte die Mutter in freiwilliger leidenschaftlicher Hingabe geliebt, und jetzt begann er das junge Mädchen zu lieben als ein Sclave, als ein alter zitternder Sclave, dem man Ketten angelegt, die er nicht mehr brechen kann.

Er fühlte alles das in tiefster Seele und war entsetzt über sich selbst.

Er suchte sich klar zu machen, wie und warum sie ihn so in Fesseln geschlagen. Er kannte sie so wenig, sie, deren Herz und Seele noch im Jugendtraum schlief, war ja kaum Weib geworden.

Und er stand jetzt beinah am Ende seines Lebens! Wie hatte ihn nur dieses Kind gefangen mit dem Lächeln und dem blondgelockten Haar. Ach, dieses Lächeln, das Haar dieses kleinen blonden Dings flößten ihm die Lust ein, sich zu Boden zu werfen und mit der Stirn die Erde zu schlagen.

Weiß man es, wird man es je ergründen, warum plötzlich ein Frauenangesicht auf uns wirkt wie ein süßes Gift? Es ist, als hätte man es mit den Augen getrunken und als wäre es so in Hirn und Leib übergegangen, man ist trunken, toll, man lebt für dieses Bild, das einen ganz gefangen hat, und möchte daran sterben. Wie leidet man oft unter dieser entsetzlichen, unbegreiflichen Macht, die die Züge eines Antlitzes auf ein Männerherz üben.

Olivier Bertin ging wieder auf und ab. Es wurde immer später in der Nacht. Das Feuer war im Ofen ausgegangen, durch die großen Glasscheiben drang von draußen die Kälte herein. Da suchte er sein Bett auf und träumte weiter und litt bis Tagesanbruch.

Zeitig stand er auf, ohne zu wissen warum, noch ohne zu wissen, was er thun sollte, nervös, unentschlossen, wie eine sich hin und her drehende Wetterfahne. Er suchte eine Zerstreuung für seinen Geist, eine Beschäftigung für seinen Körper, und erinnerte sich, daß an diesem Tage jeder Woche die Herren seines Klubs sich im türkischen Bade trafen, wo sie nach der Massage frühstückten. So kleidete er sich denn schnell an, in der Hoffnung, Schwitzbad und Brause würden ihn beruhigen, und ging aus.

Sobald er draußen stand, traf ihn schneidende Kälte. Jene scharfe Kälte des ersten Frostes, die in einer Nacht alles wegfegt, was noch vom Sommer geblieben ist.

Die ganzen Boulevards hinunter rieselten die großen, gelben Blätter herab und fielen mit trocknem Rascheln nieder. Wohin man sah, sanken sie, von einer Seite der breiten Straße bis zur andern, zwischen den hohen Häusern, als ob durch den Schnitt eines feinen Eismessers alle Stiele zu gleicher Zeit von den Zweigen getrennt worden. Fahrdamm und Bürgersteig waren schon ganz damit bedeckt und sahen einige Stunden hindurch wie Waldwege bei Wintersanbruch aus. Das welke Laub raschelte unter den Schritten und wurde hier und da wie in Wolken bei Windstößen zusammengetrieben.

Es war einer jener Übergangstage, die das Ende einer Jahreszeit und den Beginn der andern bedeuten, die eine ganz besondere Buße oder Traurigkeit haben, die Traurigkeit des Sterbens oder die Lustigkeit des jungen Saftes, der wieder aufsteigt.

Als er in das türkische Bad eintrat, überlief Olivier bei dem Gedanken an die Wärme, die ihn durchströmen sollte, nach dem Gang durch die eisige Luft der Straßen, ein Schauer der Befriedigung. Eiligst zog er sich aus, legte das leichte Lendentuch an, das ein Knabe ihm gab, und verschwand hinter der großen Thür, die man vor ihm öffnete.

Ein erstickend heißer Luftstrom, wie von einem fernen Hochofen, schlug ihm entgegen, so daß er nach Luft schnappte, als wenn ihm der Atem verginge, während er durch eine maurische Galerie schritt, die zwei orientalische Laternen erhellten. Ein stämmiger Neger, nur mit einer Badehose bekleidet, mit glänzendem Oberkörper, muskulösen Gliedern, eilte voraus, schlug auf der anderen Seite einen Vorhang zurück, und Bertin trat in das große, hohe, runde, schweigende Bad, das etwas Mystisches hatte, wie ein Tempel. Das Licht fiel durch die Kuppel und die kleeblattförmigen Fenster von buntem Glas in den fliesenbelegten, riesigen, runden Saal, dessen Wände nach arabischer Sitte mit Kacheln bedeckt waren.

Langsam, würdevoll, ohne ein Wort zu sprechen, gingen Männer jeden Alters, beinah unbekleidet, auf und ab, andere saßen mit gekreuzten Armen auf Marmorbänken, wieder andere sprachen leise.

In der heißen Luft mußte man nach Luft schnappen, sobald man eintrat. Dieser erstickende, dekorativ aussehende Cirkus, in dem das Menschenfleisch erwärmt wurde, wo die Masseure, Neger und Mauren, mit ihrem broncefarbenen Teint hin- und herliefen, hatte etwas Antikes und Geheimnisvolles.

Der erste Bekannte, den er sah, war Graf Landa. Wie ein römischer Ringkämpfer stolz auf seinen gewaltigen Brustkasten und die mächtigen, gekreuzten Arme, schritt er einher. Er war immer hier, und fühlte sich hier wie ein beklatschter Schauspieler auf der Bühne. Als Kenner beurteilte er die Muskulatur aller starken Männer von Paris.

– Guten Morgen, Bertin! – sagte er.

Sie drückten sich die Hand. Landa sagte:

– Heute ist das richtige Wetter für ein Dampfbad.

– Ja. Wundervoll!

– Haben Sie Rocdiane gesehen? Dort drüben ist er. Ich habe ihn aus dem Bett geholt. Da sehen Sie mal das Skelett an.

Ein kleiner Herr mit dürren Beinen und eingefallenen Rippen, winzigen Ärmchen, der diesen beiden Mustern männlicher Kraft ein Lächeln abnötigte, kam daher.

Rocdiane näherte sich ihnen, als er den Maler erkannt.

Sie setzten sich an einen langen Marmortisch und fingen an zu schwatzen, wie im Salon. Diener liefen auf und ab und boten Getränke an. Man hörte das Geräusch des Massierens auf dem nackten Fleisch und den plötzlichen Strahl der Brausen. Ein unausgesetztes Wasserrauschen aus allen Ecken des großen Amphitheaters machte den Eindruck, als fiele leiser Regen.

Alle Augenblicke grüßte die drei Freunde ein neuer Ankömmling oder kam heran, ihnen die Hand zu drücken. Es waren der dicke Herzog von Harisson, der kleine Prinz Epilati, Baron Flach und andere.

Rocdiane sagte plötzlich:

– Da ist Farandal.

Der Marquis trat ein, die Hände in die Hüften gestemmt, und ging dahin mit jenem Selbstbewußtsein gut gewachsener Leute, die nichts anficht.

Landa flüsterte:

– Der Kerl ist der reine Gladiator.

Rocdiane wendete sich zu Bertin:

– Ist es wahr, daß er die Tochter Ihrer Freunde heiraten wird?

– Ich denke! – sagte der Maler.

Aber diese Frage gerade in diesem Augenblick hier, diesem Manne gegenüber, erregte in Bertin Verzweiflung und Empörung. Mit solcher Schärfe erschienen ihm in einem Moment alle die Thatsachen, die bevorstanden, daß er eine Sekunde lang gegen die tierische Lust ankämpfen mußte, sich auf den Marquis zu stürzen.

Dann stand er auf:

– Ich bin müde, ich werde mich gleich massieren lassen.

Ein Araber kam vorüber.

– Achmed, bist du frei?

– Jawohl, Herr Bertin!

Und eiligst ging er davon, um dem Händedruck Farandals, der eben langsam um die Rundung ging, auszuweichen.

Er blieb kaum eine Viertelstunde in dem großen Ruhesaal, wo rund herum in den Zellen die Betten stehen, rings um ein mit exotischen Pflanzen besetztes Beet, aus dessen Mitte ein Springbrunnen steigt. Es war ihm, als würde er verfolgt und bedroht, als folgte ihm der Marquis, und als müßte er ihm nun die Hand geben und ihn wie einen Freund behandeln, den Wunsch ihn totzuschlagen im Herzen.

Und bald stand er wieder auf dem Boulevard, der über und über mit welken Blättern bedeckt war. Die Blätter sanken nicht mehr herab, ein langer Windstoß hatte die letzten heruntergefegt. Ihr rot und gelber Teppich flatterte hin und her, bewegte sich, ging in Wolken unter den starken Stößen des wachsenden Windes von einem Bürgersteig zum andern.

Plötzlich fuhr etwas wie ein Geheul über die Dächer, das Schnauben des Sturmes, der naht, und in dem Augenblick fing sich ein entsetzlicher Windstoß, der von der Madeleine zu kommen schien, im Boulevard.

Bei seinem Nahen erhoben sich alle Blätter, alle gefallenen Blätter, die ihn zu erwarten schienen. Sie liefen vor ihm her, wirbelten in Haufen durcheinander und stiegen hoch über die Dächer in Spiralen hinauf. Wie eine toll gewordene, davonfliegende Herde jagte er sie vor sich her, und sie flohen hinaus aus Paris in die freie Luft der Vororte. Als die gewaltige Blätter- und Staubwolke oben im Quartier Malesherbes verschwunden war, lagen Straße und Bürgersteig glatt gefegt da, ganz rein.

Bertin dachte: »Was soll denn nun werden, was soll ich anfangen, wo soll ich hingehen?« Und er kehrte heim, da er keine Antwort fand.

Ein Zeitungskiosk fiel ihm ins Auge. Er kaufte sieben oder acht Blätter, in der Hoffnung, für ein oder zwei Stunden Lesefutter zu haben.

– Ich frühstücke hier, – sagte er, als er heimkehrte, und ging ins Atelier.

Aber er fühlte, als er sich setzte, daß er hier nicht bleiben konnte, denn er empfand in sich die Unruhe eines wilden Tieres.

Nicht eine Minute konnte ihn die Lektüre der Blätter abziehen. Was er las, blieb Augenwerk und ging nicht ins Hirn über. Mitten in einem Artikel, den er garnicht versuchte zu verstehen, zuckte er beim Wort Guilleroy zusammen. Er handelte von der Kammersitzung, in der der Graf eine Rede gehalten.

Nun wurde er aufmerksam, stieß dann auf den Namen des berühmten Tenors Montrosé, der gegen Ende Dezember in der großen Oper eine ganz einzigartige Vorstellung geben wollte. Es sollte, sagte das Blatt, eine wundervolle, musikalische Feier sein, denn der Tenorist Montrosé, der seit sechs Jahren nicht mehr in Paris gesungen, hatte in Europa und Amerika noch nie dagewesene Erfolge davongetragen. Außerdem sollte er von der berühmten schwedischen Sängerin Helsson, die sich seit fünf Jahren in Paris nicht hatte hören lassen, begleitet werden.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, der aus dem tiefsten Innern seines Herzens zu kommen schien, Annchen das Vergnügen zu machen, dem beizuwohnen. Dann erinnerte er sich, daß die Trauer der Gräfin dem entgegenstehen würde, und suchte irgend welche Möglichkeit, um trotzdem seinen Wunsch zu erfüllen. Es gab nur eine: er mußte eine Loge auf der Bühne nehmen, wo man beinah nicht gesehen wurde, und wenn die Gräfin trotzdem nicht kommen wollte, mußte Annchen von ihrem Vater und der Herzogin begleitet sein. In diesem Fall hatte er die Loge der Herzogin anzubieten, aber dann mußte er auch den Marquis einladen.

Er zögerte und dachte lange nach.

Die Heirat war ja beschlossene Sache, sogar der Tag zweifellos schon festgesetzt. Er erriet, daß seine Freundin alles das möglichst zu beschleunigen suchte, und begriff, daß sie die Tochter so bald als möglich Farandal geben würde. Er konnte es nicht ändern, er konnte es nicht hindern, nicht den furchtbaren Tag hinausschieben. Da es nun einmal sein mußte, war es doch besser, er beherrschte sich, versteckte sein Leiden, setzte eine zufriedene Miene auf und ließ sich nicht mehr wie vorhin durch sein Temperament fortreißen.

Ja, er wollte den Marquis einladen, dadurch den Verdacht der Gräfin einschläfern und sich zugleich als guter Freund bei dem jungen Paar einen Platz am Kamin sichern.

Sobald er gefrühstückt hatte, ging er zur Oper, um sich eine der Logen, die hinter dem Vorhang liegen, zu bestellen. Sie wurde ihm zugesagt. Da lief er zu Guilleroys. Sofort erschien die Gräfin und sagte noch ganz bewegt von der weichen Stunde des vergangenen Tages:

– Das ist nett, daß Sie heute gleich wiederkommen.

– Ich bringe Ihnen etwas, murmelte er.

– Was denn?

– Eine Prosceniumsloge in der Oper für das einzige Auftreten der Helsson und Montrosés.

– Ach, lieber Freund, das thut mir aber leid, überlegen Sie doch – meine Trauer.

– Sie sind doch beinah schon vier Monate in Trauer.

– Ja, ich kann wirklich nicht.

– Und Annchen? Denken Sie doch, so eine Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder.

– Ja, mit wem soll sie denn gehen?

– Mit ihrem Vater und der Herzogin, die ich einladen will. Ich will auch dem Marquis einen Platz anbieten.

Sie sah ihm in die Augen, während sie eine tolle Lust überkam, ihn zu umarmen, und sagte dann, als traute sie ihren Ohren nicht:

– Dem Marquis?

– Ja, gewiß!

Und sie war sofort einverstanden.

Er fragte mit gleichgiltiger Miene:

– Haben Sie den Tag der Hochzeit schon festgesetzt?

– Mein Gott, ja, so ziemlich. Wir haben Gründe, die Sache zu beschleunigen, um so mehr, da es ja schon alles vor dem Tode Mamas verabredet war. Sie wissen doch noch.

– Ja, gewiß. Und wann soll es sein?

– Nun, also Anfang Januar. Verzeihen Sie, daß wir es Ihnen noch nicht gesagt haben.

Annchen kam. Das Herz klopfte ihm in der Brust zum Zerspringen, und alle Zärtlichkeit, die er gegen sie empfand, ward plötzlich bitter und ließ in ihm jene seltsame, leidenschaftliche Feindseligkeit emporsteigen, die aus der Liebe wird, wenn die Eifersucht sie peitscht.

– Ich bringe Ihnen etwas, – sagte er.

Sie antwortete: – Also wir nennen uns jetzt wirklich ›Sie‹.

Er nahm eine väterliche Miene an:

– Hören Sie mal, Kindchen, ich habe gehört, was Ihnen bevorsteht, und ich glaube, später wird es doch nötig sein; es ist also besser, ich nenne Sie jetzt schon ›Sie‹.

Sie zuckte unzufrieden die Achseln, während die Gräfin schweigend ihre Gedanken in die Ferne schweifen ließ.

Annchen fragte: – Was bringen Sie mir denn?

Er erzählte von der Vorstellung, und wen er einladen wollte. Sie war glückselig, fiel ihm wie ein Kind um den Hals und küßte ihn auf beide Wangen.

Er konnte sich kaum aufrecht halten und begriff, als ihn dieser kleine Mund mit seinem frischen Hauch zweimal leicht streifte, daß er nie wieder davon loskommen würde.

Die Gräfin sagte zusammenzuckend zu ihrer Tochter:

– Du weißt doch, daß Papa wartet.

– Ja, Mama, ich gehe gleich!

Sie lief davon und warf ihm mit der Fingerspitze noch Kußhändchen zu.

Sobald sie fort war, fragte Olivier:

– Machen sie eine Hochzeitsreise?

– Jawohl, ein Vierteljahr.

Und er flüsterte unwillkürlich: – Desto besser!

– Wir werden ganz wieder sein, wie früher.

Er stammelte:

– Das hoffe ich wohl.

– Aber bis dahin dürfen Sie mich nicht vernachlässigen.

– Nein, meine Freundin.

Sein Benehmen gestern, als er sie weinen sah, und sein Plan, den Marquis zu der Vorstellung einzuladen, flößten der Gräfin wieder Hoffnung ein.

Das dauerte nicht lange. Kaum war eine Woche vergangen, so verfolgte sie wieder mit quälender Eifersucht auf dem Antlitz dieses Mannes alle seine Leidensstationen. Sie mußte sie alle sehen; ging sie doch selbst durch all diese Leiden hindurch, die sie bei ihm durchschaute, die ihm Annchens beständiger Anblick alle Stunden des Tages verschaffte und seine Ohnmacht.

Alles brach zu gleicher Zeit über sie herein, das Alter und die Trauer. Ihre geschickte, erfinderische, immer wache Koketterie, die sie während ihres ganzen Lebens über sie triumphieren ließ, war durch diese schwarze Uniform, die ihre bleiche Farbe und das Leiden in ihren Zügen stärker hervortreten ließ, und sogar die Jugendfrische ihrer Tochter noch mehr hervorhob, wie gelähmt. Wie lange war es doch schon her und doch erst wie kurze Zeit, als sie bei Annchens Rückkehr nach Paris noch geradezu Ähnlichkeiten in der Toilette suchte, die ihr gut standen. Jetzt wandelte sie die Lust an, wütend diese Todeskleider, die sie häßlich machten und sie quälten, von sich abzureißen. Wenn sie alle Hilfsmittel der Eleganz zu ihrer Verfügung gehabt hätte, wenn sie Stoffe mit matten Farben, die zu ihrem Teint paßten, hätte wählen können, die ihren sterbenden Reizen einen gewissen Stil gegeben hätten, der genau so packte, wie die Jugendlieblichkeit der Tochter, hätte sie es verstanden, immer noch verführerisch auszusehen. Aber was konnte sie in diesem Totengewand, in dieser Sträflingskleidung, die sie ein ganzes Jahr hindurch tragen mußte, überhaupt versuchen. Ein Jahr, ein Jahr blieb sie gefesselt und besiegt, in dem Schwarz eingeschlossen. Ein Jahr lang würde sie sich altern fühlen von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute in diesen Kreppschleiern. Wie würde sie in einem Jahr aussehen, wenn ihre arme, kranke Haut noch weiter unter den Seelenqualen sich veränderte.

All diese Gedanken verließen sie nicht mehr, verdarben ihr alles, was sie genießen wollte, wandelten ihr jede Freude in Schmerz, ließen ihr keinen reinen Genuß, keine Zufriedenheit, kein Lachen. Immer wandelte sie verzweiflungsvoll die Lust an, all das Elend, das sie drückte, von sich abzuschütteln, denn ohne diese fortwährend quälenden Gedanken wäre sie noch glücklich gewesen, frisch und gesund! Sie fühlte in sich noch eine lebendige Frische, ein immer noch junges Herz, die Glut eines Wesens, das zu lieben beginnt, eine nicht zu sättigende Sehnsucht nach Glück, noch dringender als früher, eine verzehrende Liebesglut.

Und nun entschwanden ihr all die süßen, reizenden, köstlichen, poetischen Dinge, die einem das Dasein verschönen und lieb machen, weil sie alt wurde. Es war aus, und doch fühlte sie in sich all die Empfindungen eines jungen Mädchens und alle Leidenschaften der jungen Frau. Nur ihr Leib war alt geworden, ihre elende Haut, der Stoff, über ihrem Knochengerüst war allmählich verwelkt, angefressen wie der Überzug eines Möbels. Dieser Verfall quälte sie unausgesetzt, wurde beinah zu körperlichen Schmerzen. Die fixe Idee hatte auf ihrer Haut eine Empfindung erzeugt, die Empfindung des Altwerdens, unaufhörlich und durchdringend, wie das Gefühl von Kälte oder Hitze. Sie meinte wirklich, wie einen unbestimmten Kitzel, langsam die Falten auf ihrer Stirn sich eingraben zu fühlen, und wie sich all die unzähligen kleinen Runzeln, die auf der müden Haut erschienen, einbohrten. Wie jemand mit einer Hautkrankheit behaftet, immer das Bedürfnis hat, sich zu kratzen, so wühlte in ihrer Seele der unwiderstehliche Zwang, im Spiegel das entsetzliche, grausig schnelle Walten der Zeit an sich festzustellen. Sie fühlte sich gezwungen, gerufen, angezogen, zu kommen, heran zu treten, mit starren Augen zu sehen, wieder anzusehen, unausgesetzt sich zu betrachten, mit dem Finger zu tasten, um sich genau der untilgbaren Spuren der Jahre zu versichern. Zuerst kam ihr der Gedanke nur ab und zu, wenn sie, sei es bei sich, sei es anderwärts, die polierte Glasfläche sah. Sie blieb auf dem Bürgersteig stehen, um sich in dem Glas der Schaufenster zu betrachten. Das wurde zur Krankheit, zur fixen Idee. Sie trug eine winzig kleine Puderschachtel aus Elfenbein bei sich, so groß nur wie eine Walnuß, deren innerer Deckel unsichtbar einen Spiegel enthielt, und manchmal öffnete sie sie, in der Hand verborgen, im Gehen und blickte hinein.

Wenn sie sich in den Gobelin-Salon setzte, um zu lesen oder zu schreiben, irrten ihre Gedanken durch die neue Beschäftigung einen Augenblick ab, aber bald kam sie wieder zu ihren Selbstquälereien zurück. Sie kämpfte dagegen an, versuchte sie zu zerstreuen, an anderes zu denken, die Arbeit fortzusetzen, es war vergeblich, der Wunsch quälte sie unausgesetzt, und bald streckte sich ihre Hand, indem sie das Buch oder die Feder losließ, in unwiderstehlicher Bewegung nach dem kleinen Handspiegel aus altem Silber aus, der auf ihrem Schreibtisch lag. In dem ovalen ciselierten Rahmen erschien ihr ganzes Gesicht, wie ein altes Bild, ein Gemälde aus dem vorigen Jahrhundert, ein einst farbenfrisches Pastell, das durch das Licht verblichen ist. Nachdem sie sich dann lange betrachtet, legte sie mit müder Bewegung den kleinen Gegenstand auf das Möbel zurück, und zwang sich wieder zu ihrer Beschäftigung. Aber sie hatte kaum zwei Seiten gelesen oder zwanzig Zeilen geschrieben, als abermals das Bedürfnis über sie kam, unwiderstehlich und quälend, sich im Spiegel zu besehen, und sie streckte wieder den Arm nach ihm aus.

Sie bewegte ihn jetzt in den Händen, wie ein teures liebvertrautes Kleinod, das die Hand nur ungern läßt. Alle Augenblicke benutzte sie es, wenn sie ihre Freunde empfing, wurde nervös, daß sie Lust hatte zu schreien, haßte es wie einen Menschen, wenn sie es in den Fingern hielt. Eines Tages, als sie verzweifelt war über diesen Kampf zwischen sich selbst und dem Stück Glas, schleuderte sie es gegen die Wand, wo der Spiegel in Stücke zerbrach.

Aber nach einiger Zeit gab ihr Mann ihr den Spiegel, den er hatte reparieren lassen, klarer und heller zurück, als er je gewesen. Sie mußte ihn nehmen und sich noch dafür bedanken, und ergab sich nun darein, ihn zu behalten. Und jeden Abend und jeden Morgen, wenn sie in ihrem Zimmer war, konnte sie nicht anders, als peinlich ungeduldig festzustellen, wie die Zeit stetig und gefräßig an ihr nagte.

Wenn sie zu Bett lag, konnte sie nicht einschlafen, steckte das Licht wieder an und dachte wachbleibend darüber nach, wie Kummer und Qualen unwiderstehlich das Zerstörungs-Werk der eilenden Zeit förderten. Im Schweigen der Nacht hörte sie den Pendel der Uhr gehen, der mit seinem gleichmäßigen eintönigen Tick-Tack zu sagen schien: »dahin – dahin – dahin!« – Und ihr Herz krampfte sich in solchem Schmerz zusammen, daß sie, das Bettlaken zwischen den Zähnen, stöhnte.

Früher hatte sie wie alle Welt das Bewußtsein gehabt, daß die Jahre verfliegen, und daß man eben mit den Jahren sich ändert. Wie alle hatte sie gesagt, sich selbst gesagt, jeden Winter, jedes Frühjahr, jeden Sommer: »Ich habe mich doch sehr verändert seit vorigem Jahr.« Aber da sie immer schön geblieben war, wenn auch von etwas wechselnder Schönheit, regte sie sich nicht weiter darüber auf. Heute hatte sie nun plötzlich, statt ruhig den langsamen Wechselgang der Jahreszeiten festzustellen, entdeckt und begriffen, wie furchtbar die Zeit eilt. Es war ihr plötzlich klar geworden das Dahingleiten der Stunden in ihrem unaufhaltsamen Lauf, der einen verrückt macht, wenn man daran denkt, das endlose Vorwärtsdrängen der sich hastig überstürzenden Sekunden, die Leib und Leben der Menschen zerfressen.

Nach jenen bösen Nächten konnte sie im warmen Bett ruhig träumen, wenn die Jungfer die Vorhänge geöffnet und früh das Feuer angesteckt hatte. Schlaff, halb wach, halb schlafend, wie betäubt blieb sie so in ihren Gedanken, die die unwillkürliche Hoffnung in ihr ausstrahlen ließen, die bis zur letzten Stunde des Menschen Herz, erfüllt.

Jeden Morgen jetzt fühlte sie sich, sobald sie aufgestanden war, gedrungen, zu Gott zu beten, von ihm Erleichterung und Trost zu erflehen.

Sie kniete dann vor einem großen eichengeschnitzten Christus nieder, einem Geschenk Oliviers, einem seltenen Kunstwerk, das er entdeckt, und mit geschlossenen Lippen, mit der Seele flehend, wie man zu sich selber spricht, sendete sie ihr schmerzliches Gebet zum Gekreuzigten empor.

Im Bedürfnis, erhört und errettet zu werden, naiv in ihrem Leid wie alle Gläubigen, wenn sie beten, zweifelte sie nicht daran, daß er sie erhörte, daß er aufmerksam lauschte auf ihr Flehen, und vielleicht Mitleid fühlte mit ihrem Leid. Sie bat ihn nicht, das zu thun, was er nie für einen Menschen gethan, ihr bis zum Tode Reiz, Frische und Schönheit zu lassen, sie bat ihn nur um etwas Ruhe und Aufschub. Sie mußte alt werden, wie sie sterben mußte. Aber warum so schnell? Es gab Frauen, die so lange schön blieben, – konnte er ihre Bitte nicht erfüllen, daß sie eine von diesen würde! Er sollte ihr nur, er, der selbst soviel gelitten, zwei oder drei Jahr lang den Rest von Liebreiz lassen, den sie haben mußte, um zu gefallen.

Sie sagte ihm das nicht, aber sie stöhnte es in der Verwirrung ihrer Seele zu ihm empor.

Nachdem sie dann aufgestanden, setzte sie sich vor den Toilettentisch, und mit genau so großer Inbrunst, wie beim Gebet, nahm sie die Puder und Pasten, Kohlen, Bürsten und Instrumente vor, die ihr die täglich gebrechlichere Schönheit wieder verleihen sollten.

 


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