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Paris, 20. Juli 11 Uhr abends.
Geliebter Freund! Meine Mutter ist eben in Roncières gestorben. Wir fahren um Mitternacht hin. Kommen Sie nicht, denn wir teilen es niemand mit. Trauern Sie mit uns und denken Sie an mich
Ihre
Any.
21. Juli mittags.
Meine arme Freundin. Ich wäre trotz Ihrer Zeilen hingefahren, wenn Ihr Wille nicht für mich Befehl geworden wäre. Seit gestern denke ich an Sie in tiefstem Schmerz. Ich denke an diese stumme Reise heute nacht mit Ihrer Tochter und Ihrem Mann, in dem halb erhellten Waggon, der Sie zu Ihrer Toten trug. Ich sah Sie alle drei vor mir beim Schimmer der Öllampe an der Decke, Sie weinten und Annchen schluchzte. Ich sah Sie auf dem Bahnhof ankommen, die furchtbare Fahrt im Wagen, wie Sie dann mit den Dienern ins Schloß gingen, wie Sie die Treppe hinaufeilten zu jenem Bett wo sie liegt, ich sah Ihren ersten Blick auf die Tote und Ihren Kuß auf das eingefallene starre Antlitz, und ich dachte, wie es in Ihrem Herzen aussähe, in Ihrem armen Herzen, dessen Hälfte mir gehört, das zu brechen droht in all dem Leid, dessen Schmerz ich mit empfinde.
Ich küsse in tiefstem Mitgefühl
Ihre thränenden Augen
Olivier.
Roncières, 24. Juli.
Ihr Brief würde mich getröstet haben, lieber Freund, wenn bei diesem Unglück, das über mich hereingebrochen ist, mich irgend etwas trösten könnte. Gestern haben wir sie begraben, und seitdem ihr armer lebloser Körper dieses Haus verlassen hat, ist mir, als wäre ich ganz allein auf der Erde. – Man liebt seine Mutter, beinah ohne es zu wissen, ohne es zu fühlen, weil das ebenso natürlich ist wie das Leben selbst. Und man merkt erst, wie tief diese Liebe in uns gewurzelt hat, bei der letzten Trennung. Keine andere Liebe läßt sich damit vergleichen. Alle anderen trafen wir erst im Leben, diese aber besteht seit der Geburt. Alle anderen sind später erst durch die Zufälle des Daseins zu uns gekommen, diese Liebe aber liegt uns von unserm ersten Tage an im Blut. Und dann hat man nicht bloß die Mutter verloren, unsere ganze Kindheit versinkt zur Hälfte, denn unser Kinderleben gehört ebenso ihr als uns, sie nur kannte unsere Kinderzeit wie wir selbst, sie wußte eine Menge unbedeutende aber liebe Dinge, die längst vergangen sind, die ersten süßen Regungen unseres Herzens. Nur zu ihr konnte ich sagen: »Weißt Du noch, Mama, damals wie . . . weißt Du noch, Mama, die Porzellanpuppe, die mir Großmama geschenkt hatte . . . .« Wir konnten zusammen einen ganzen Rosenkranz herunterbeten von kleinen, lustigen Erinnerungen, die nun auf der weiten Welt niemand mehr kennt, als ich. So ist denn ein Teil von mir gestorben, der ältere, bessere. Ich habe das Herz verloren, in dem das Kind, das ich einst gewesen, allein noch ganz lebte. Jetzt kennt es keiner mehr, niemand weiß mehr etwas von der kleinen Anna, ihrem kurzen Kleidchen, ihrem Lächeln, ihrem Aussehen.
Und der Tag wird kommen, vielleicht ist er nicht mehr weit, wo auch ich von der Erde gehe und mein liebes Annchen allein lassen werde, wie Mama mich heute allein läßt. Das ist alles so traurig, so hart und grausam, und doch denkt man nie daran. Man sieht nicht, wie der Tod alle Augenblicke um uns einen herausgreift, wie er uns selbst bald packen wird. Wenn man ihm wirklich ins Auge sähe, wenn man an ihn dächte, wenn man nicht zerstreut, im Genießen blind wäre durch alles was um uns vorgeht, könnte man nicht mehr leben, denn der Anblick dieses nie endenden Gemetzels würde uns verrückt machen.
Ich bin so gebrochen, so verzweifelt, daß ich zu nichts mehr Kraft finde. Tag und Nacht denke ich an meine arme Mama, die nun im Sarge eingenagelt liegt, in die Erde versenkt, im Regen draußen, deren altes Gesicht, das ich mit solchem Glück küßte, nur noch der Raub einer schrecklichen Verwesung ist. O, wie entsetzlich, mein Freund, wie entsetzlich! –
Als ich Papa verlor, hatte ich mich eben verheiratet, und ich fühlte all das nicht so wie heute. Ja, haben Sie Mitleid mit mir, denken Sie an mich, schreiben Sie mir, – ich brauche Sie jetzt so sehr.
Anna.
Paris, 25. Juli.
Meine arme Freundin. Ihr Kummer schmerzt mich tief. Auch ich sehe das Leben nicht von der rosigen Seite; seitdem Sie fort sind, fühle ich mich ganz verloren und verlassen, ohne Halt, alles ermüdet mich, langweilt mich oder erregt mich. Ich denke unausgesetzt an Sie und an unser Annchen. Und Sie beide sind gerade jetzt fort von mir, wo ich Sie doch gerade so nötig bei mir brauchte.
Es ist ganz seltsam wie ich Ihre Abwesenheit empfinde, wie Sie mir fehlen. Noch niemals, nicht einmal in den Tagen wo ich jung war, sind Sie mir so alles gewesen, wie gerade in diesem Augenblick. Seit einiger Zeit schon habe ich diesen Schlag vorhergeahnt. So muß ein Sonnenstich sein. Was ich empfinde ist so eigen, daß ich es Ihnen erzählen will. Denken Sie, seitdem Sie fort sind, kann ich nicht mehr spazieren gehen. Früher, und sogar noch während der letzten Monate, liebte ich es, allein durch die Straßen zu bummeln: Menschen und Dinge unterhielten mich. Ich hatte Freude an all dem was ich sah, Freude daran, in guter Laune durch die Straßen zu streifen, ich ging, ohne zu wissen wohin, nur um spazieren zu gehen, um die Luft einzuatmen, um zu träumen. Das kann ich jetzt nicht mehr. Sobald ich auf die Straße trete, überkommt mich eine Beklemmung, die Angst eines Blinden, der den Hund losgelassen hat, der ihn führt. Ich werde unruhig, genau wie ein Mensch, der im tiefen Wald den Weg verloren hat, und ich muß heimkehren, Paris erscheint mir traurig, entsetzlich. Ich frage mich: »Wo will ich hin« und ich antworte: »Nirgends hin, ich gehe ja spazieren.« Nun, ich kann nicht mehr, ich kann ohne Ziel nicht mehr spazieren gehen. Der Gedanke schon allein, zu gehen, macht mich totmüde und bedrückt mich fürchterlich. Da treibt es mich aus Verzweiflung in den Klub.
Und wissen Sie, warum das alles? Nur, weil Sie nicht mehr hier sind, das weiß ich bestimmt. Wenn ich weiß, daß Sie in Paris sind, brauche ich nicht mehr zwecklos auszugehen, denn ich weiß, ich kann Sie möglicherweise an der nächsten Ecke treffen. Ich gehe überall hin, weil Sie überall sein können. Wenn ich Sie nicht treffe, kann ich wenigstens Annchen sehen, die wie eine zweite Ausgabe von Ihnen ist. Durch Sie beide habe ich einen Zweck auf der Straße, die Hoffnung Ihnen zu begegnen, sei es, daß Sie mir von weitem entgegenkommen, sei es, daß ich Sie ahne, indem ich Ihnen folge. Und dann finde ich die Stadt reizend und jedes Ding, dessen Äußeres mich an Sie erinnert, bewegt mein Herz, hält meine Erwartung wach, beschäftigt meine Augen, giebt mir eine Art Anreiz, sie zu sehen.
Sie werden mich sehr egoistisch finden, liebe Freundin, da ich Ihnen von meiner Einsamkeit rede, wie ein alter glucksender Täuberich davon erzähle, in einem Augenblick wo Sie leidvolle Thränen weinen. Vergeben Sie mir, ich bin es zu sehr gewöhnt, von Ihnen verzogen zu werden, wenn ich laut um Hilfe rufe, da ich Sie nicht mehr habe.
Ich küsse den Saum Ihres Kleides, damit Sie Mitleid mit mir empfinden.
Roncières, 30. Juli.
Lieber Freund!
Ich danke Ihnen für Ihren Brief. Es thut mir so wohl, zu wissen, daß Sie mich lieben. Ich habe eine fürchterliche Zeit hinter mir, ich dachte wirklich, daß der Schmerz mir auch mein Leben kosten würde. Es lag mir wie eine Last auf der Brust, die unausgesetzt wuchs, mich erstickte und erwürgte. Der Arzt, den man gerufen, daß er meine Nervenkrisen, die ich vier-, fünfmal täglich hatte, beruhigen sollte, gab mir eine Morphium- Einspritzung, die mich beinah toll machte, und die furchtbare Hitze, die hier herrschte, verschlimmerte meinen Zustand und brachte mich in eine Erregung, die beinah bis zum Delirium stieg. Seit einem starken Gewitter vorigen Freitag bin ich etwas ruhiger. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich seit dem Begräbnis gar nicht mehr weinte, und da plötzlich, während des Gewitters, dessen Nahen mich erschreckte, fühlte ich, daß mir die Thränen in die Augen stiegen, langsam, spärlich, bitter und brennend. O, wie thun diese ersten Thränen weh! Sie zerfleischten mich wie Krallen und preßten mir die Kehle zusammen, daß ich nicht mehr atmen konnte. Dann flossen die Thränen schneller, reichlicher, wärmer, sie strömten aus meinen Augen wie ein Quell, und ich weinte so viel, so viel, daß mein Taschentuch ganz naß geworden war, und ich ein anderes nehmen mußte. Und die Schmerzenslast, die in mir saß, zerbrach, zerrann und floß aus meinen Augen.
Seit diesem Augenblick weine ich von früh bis abends, und das erleichtert mich. Wenn man nicht weinen könnte, würde man verrückt werden oder sterben. Ich bin auch sehr allein, mein Mann fährt in der Nachbarschaft umher, und ich habe ihn gebeten, Annchen mitzunehmen, um sie etwas zu zerstreuen und zu trösten. Zu Wagen oder zu Pferd fahren oder reiten sie manchmal acht bis zehn Meilen weit von Roncières fort. Dann kommt sie strahlend in Jugend, trotz ihrer Traurigkeit, wieder, mit lebensprühenden Augen, frisch und rot durch die Landluft und den Weg, den sie zurücklegt. Wie schön ist das, noch so jung zu sein! – Ich denke, wir werden noch vierzehn Tage bis drei Wochen hier bleiben, dann kehren wir aus dem Grund, den Sie ja kennen, obgleich es erst August ist, nach Paris zurück.
Ich sende Ihnen alles, was noch von Liebe in meinem Herzen ist.
Any.
Paris, 4. August.
Ich kann es nicht mehr aushalten, liebe Freundin, Sie müssen zurückkommen, sonst stößt mir etwas zu. Ich frage mich, ob ich nicht krank bin, einen solchen Widerwillen empfinde ich gegen alles, was ich doch früher mit Vergnügen oder einer gewissen Resignation gethan habe. Erstens ist es so heiß in Paris, daß jede Nacht wie ein Dampfbad von acht oder neun Stunden wirkt. Ich erhebe mich ermattet vom Schlafe, gehe eine Stunde oder zwei vor einer weißen Leinwand auf und ab, immer mit der Absicht, etwas darauf zu entwerfen, aber mein Hirn arbeitet nicht mehr, mein Auge sieht nichts, meine Hand kommt nicht vorwärts. Ich bin kein Maler mehr. Diese unnütze Bemühung zu arbeiten ist zum Verzweifeln. Ich lasse Modelle kommen, setze sie hin, aber alle nehmen eine Stellung ein, bewegen sich, haben einen Ausdruck, wie ich ihn schon tausendmal gemalt habe. Ich lasse sie sich wieder anziehen und werfe sie hinaus. Ich sehe wirklich nichts Neues mehr, und ich leide darunter, als würde ich blind. Was ist das nur! Eine Müdigkeit des Auges oder des Gehirns, – Erschöpfung meiner künstlerischen Kraft oder eine Störung des Sehnervs? Was weiß ich. Mir ist es, als hätte ich das noch unerforschte Stück Natur, das mir zu erforschen gegeben war, erschöpft. Ich sehe nur noch, wie alle Welt sieht, ich thue, was alle schlechten Maler gethan haben, ich sehe und beobachte als alter Pedant. Früher, es ist noch gar nicht lange her, erschien mir die Zahl neuer Motive unbegrenzt und um sie auszudrücken, standen mir so viel verschiedene Mittel zu Gebote, daß ich nicht wußte, welches nehmen, und dadurch zögerte, und nun ist plötzlich die Welt meiner Motive entvölkert, ich bin impotent und unfruchtbar geworden. Die Menschen, die ich sehe, haben nichts Besonderes mehr für mich. Ich finde nicht mehr in jedem menschlichen Wesen den Eigencharakter, jenen besonderen Hauch, den ich so gern auseinandersetzen und zeigen möchte. Und doch, glaube ich, könnte ich ein schönes Bild Ihrer Tochter machen. Ist es deshalb, weil sie Ihnen so ähnlich sieht und Sie beide in meinen Gedanken zusammenfließen? Ja, vielleicht.
Wenn ich mich nun also bemüht habe, Männer oder Frauen auf die Leinwand zu werfen, die etwas Anderes sind als die gewöhnlichen Modelle, gehe ich irgendwohin frühstücken, denn ich habe nicht mehr den Mut, mich allein in mein Eßzimmer zu setzen. Der Boulevard Malesherbes sieht wie ein Waldweg aus, in eine erstorbene Stadt versetzt. Die Häuser haben alle etwas Leeres. Auf der Straße besprengen die Straßenarbeiter mit weißem Regen das Holzpflaster, das nach nassem Teer und nach Stallreinigung riecht. Und auf dem ganzen langen Wege vom Park Monceau bis nach St. Augustin sieht man nur fünf oder sechs schwarze Schatten, die gleichgiltig vorüberhuschen, ein paar Lieferanten oder Dienstboten. Der Schatten der Platanen wirft auf das brennende Trottoir am Fuße der Bäume seltsame Flecken, die aussehen wie eine auftrocknende Wasserlache. Die unbeweglichen Blätter an den Zweigen werfen ein graues Schattenbild auf den Asphalt, das die Müdigkeit der sonnegerösteten Stadt wiedergiebt, die schläft und schwitzt, wie ein Arbeiter in der Sonnenglut auf einer Bank. Ja, das alte Ungetüm schwitzt und stinkt unerträglich durch die Münder seiner Gossen, aus den Souterrainfenstern der Keller und Küchen, durch die Rinnsteine, in denen der Straßenschmutz läuft. Dann denke ich an jenen Sommermorgen in Ihrem Obstgarten, wo tausend Feldblumen blühen, daß die Luft etwas ausstrahlt wie Honigseim. Dann gehe ich schon ganz verzweifelt ins Restaurant, wo niedergedrückten Sinnes kahlköpfige dicke Kerle sitzen, mit offener Weste und schweißtriefender Stirn. Alle Speisen leiden unter der Hitze: die Melone schmilzt auf dem Eise, das Brot ist weich, das Filet kraftlos, das Gemüse zu sehr gekocht, der Käse riecht, die Früchte sind angefault, und ich gehe fort, ich kann das alles nicht mehr riechen, kehre heim, versuche etwas zu schlafen bis zum Diner am Abend im Klub.
Und immer finde ich Adelmans, Maldant, Rocdiane, Landa wieder und noch ein Dutzend andere, die mir immer langweiliger werden und mich ermüden wie die Klänge einer Drehorgel. Jeder hat seine Manier oder seine Manieren, die ich seit fünfzehn Jahren kenne, und sie spielen immer miteinander, jeden Abend in diesem Klub, der doch ein Vergnügungsort sein soll. Ich möchte ein anderes Geschlecht sehen: dieses hat mir Augen, Ohren und Geist ermüdet. Diese machen immerfort Eroberungen, rühmen sich dessen und gratulieren sich dazu.
Nachdem ich von acht Uhr bis Mitternacht jede Minute einmal gegähnt habe, kehre ich heim und ziehe mich aus in dem Gedanken, morgen geht dieselbe Geschichte wieder los.
Ja, liebe Freundin, ich befinde mich in dem Alter, wo das Junggesellendasein unerträglich wird, weil es für mich nichts Neues mehr unter der Sonne giebt. Ein Junggeselle muß jung, nach allen neuen Sensationen begierig sein; wenn man all das nicht mehr ist, ist es gefährlich, allein zu bleiben. Gott, wie liebte ich früher meine Freiheit, ehe ich Sie mehr liebte als diese. Wie lastet sie heute auf mir! Für einen alten Junggesellen, wie mich, ist die Freiheit, die Öde, die Leere überall der Weg zum Tode. Und nichts giebt es, um das Ende zu sehen. Immer klingt die Frage: was soll ich thun, wen soll ich aufsuchen, um nicht allein zu sein? Und so wandere ich von Freund zu Freund, von einem Händedruck zum andern und bettle um ein wenig Freundschaft. Brocken bekomme ich, die doch kein Ganzes bilden. Ich habe Sie, geliebte Freundin, aber Sie gehören doch nicht mir, vielleicht sind Sie auch sogar schuld an all der Not, unter der ich leide, denn vielleicht bedrängt mich auf diese Art der Wunsch bei Ihnen zu sein, der Wunsch, Ihre Gegenwart zu genießen. Daß dasselbe Dach über uns läge, daß dieselben Mauern unser Dasein umschlössen, dieselben Interessen unsere Herzen klopfen ließen, daß gemeinsame Hoffnungen, geteiltes Leid, gemeinsames Glück uns erregten, dieselbe Heiterkeit, dieselbe Trauer und sogar auch dieselben materiellen Dinge, die mir soviel Sorge machen. Sie gehören mir, das heißt, ab und zu stehle ich ein bißchen von Ihnen. Aber ich möchte unausgesetzt dieselbe Luft atmen wie Sie, alles mit Ihnen teilen, nur Dinge um mich haben, die uns beiden gehören. Fühlen, daß alles um mich Ihnen gehört wie mir, das Glas, aus dem ich trinke, der Stuhl, auf dem ich sitze, das Brot, das ich esse, das Feuer, das mich wärmt.
Leben Sie wohl. Kommen Sie bald, ich bin zu unglücklich ohne Sie.
Olivier.
Roncières, 8. August.
Lieber Freund! Ich bin krank und so müde, daß Sie mich nicht wiedererkennen würden. Ich habe, glaube ich, zu viel geweint. Ich muß mich etwas ausruhen, ehe ich wiederkomme, denn Sie sollen mich nicht so sehen, wie ich bin. Mein Mann kehrt übermorgen nach Paris zurück und wird Ihnen Nachricht von uns bringen. Er will irgendwo mit Ihnen essen und bittet Sie, ihn gegen sieben Uhr bei sich zu erwarten.
Ich aber werde zu Ihnen zurückkehren, sobald ich mich etwas wohler fühle und nicht mehr so aussehe, wie ich zu meinem Entsetzen jetzt bin – als hätte ich schon im Grabe gelegen. Auf der ganzen Welt habe ich nur Annchen und Sie, und jedem von Ihnen will ich alles geben, ohne den andern zu bestehlen. Ich reiche Ihnen meine Augen, die so viel geweint haben, zum Kusse hin.
Anna.
Als er diesen Brief bekommen hatte, der den Aufschub ihrer Rückkehr ankündigte, überkam Olivier Bertin die Lust, so sehr, daß er kaum wiederstehen konnte, eine Droschke zu nehmen und an den Bahnhof zu fahren, um mit dem Zug nach Roncières zu eilen. Dann überlegte er sich, daß Graf Guilleroy am übernächsten Tag zurückkehren wollte, ergab sich darein und ersehnte nun die Rückkehr des Mannes mit eben solcher Ungeduld, als ob es die Frau selbst gewesen wäre.
Nie hatte er Guilleroy so gern gehabt, wie während der vierundzwanzig Stunden, die er auf ihn wartete.
Als er ihn eintreten sah, eilte er ihm mit ausgestreckter Hand entgegen und rief: – Ach, lieber Freund, bin ich glücklich, Sie wiederzusehen.
Auch der andere schien sehr zufrieden zu sein, vor allen Dingen erfreut, wieder in Paris zu weilen, denn es war nicht gerade lustig in der Normandie gewesen diese drei Wochen.
Die beiden Männer setzten sich auf ein kleines zweisitziges Sofa in einer Ecke des Ateliers unter einem riesigen Baldachin aus orientalischen Stoffen, nahmen einander nochmals bei den Händen und drückten sie wieder.
– Und wie geht es der Gräfin, fragte Bertin.
– Ach, nicht besonders. Sie ist sehr erschüttert gewesen und erholt sich nur sehr langsam. Ich muß sagen, daß sie mir sogar Sorge macht.
– Aber warum kehrt sie nicht zurück?
– Ich weiß nicht, ich konnte sie nicht bewegen, mitzukommen.
– Was treibt sie denn den ganzen Tag?
– Mein Gott, sie weint, sie denkt an ihre Mutter, und das ist nicht gut für sie. Ich möchte, daß sie sich zu einem Luftwechsel entschlösse und von dort fortginge, wo das geschehen ist. Wissen Sie.
– O, die sieht aus wie eine aufgeblühte Blume.
Olivier lächelte glückselig und fragte:
– Ist sie auch sehr betrübt?
– Ja, sehr, sehr. Aber, wissen Sie, so bei achtzehn Jahren hält ein Schmerz nicht lange vor.
Nach kurzer Pause fuhr Guilleroy fort: – Wohin wollen wir essen gehen? Ich muß mich mal aufkratzen lassen, ich muß Lärm hören und Bewegung sehen.
– Ja, ich denke, zu dieser Jahreszeit wäre wohl das Café des Ambassadeurs das richtige.
Und sie gingen davon, Arm in Arm, nach den Champs-Élysées.
Guilleroy war lebhaft und erregt, wie es eben der Pariser, der in die Stadt zurückkehrt, nach jeder Abwesenheit ist. Alles schien ihm verjüngt und neu, und er wollte vom Maler die Einzelheiten wissen, was geschehen, was man sich erzählte. Aber Olivier sprach nach gleichgiltigen Antworten, aus denen die Langeweile seiner Einsamkeit klang, von Roncières.
Der schwere Himmel eines Sommerabends lag drückend auf der Stadt und auf der großen Avenue, durch die unter dem Blätterdach die Klänge von Konzerten im Freien herüberklangen. Die beiden Männer saßen auf dem Balkon des Café des Ambassadeurs. Sie sahen unter sich die noch leeren Bänke und Stühle des runden Zuschauerraumes, bis zur kleinen Bühne hinüber, wo man beim fahlen Licht der elektrischen Bogenlampen, halb noch mit dem Tageslicht vermischt, die leuchtenden Toiletten und die rosa Hautfarbe der Sängerinnen erkannte. Gerüche von Fisch, Speisen, Saucen, allerlei warmen Gerichten zogen, durch den leichten Lufthauch der Kastanienbäume getrieben, hin und her, und jedesmal, wenn eine Dame vorüberkam, von einem Herrn im Frack gefolgt, die ihren reservierten Platz suchten, wehte ihnen beim Vorbeikommen das Parfüm und der frische Duft ihrer Kleider und ihres Leibes entgegen.
Guilleroy sagte strahlend:
– Ach, ich bin lieber hier, als bei uns da oben.
– Und ich, antwortete Bertin, möchte lieber bei Ihnen da oben sein.
– Nanu?
– Allerdings, ich finde Paris diesen Sommer fürchterlich.
– Na, mein Lieber, Paris bleibt immer Paris.
Der Abgeordnete schien seinen guten Tag zu haben. Einer jener seltenen Tage, wo auch ernste Leute in aufgekratzter Stimmung Dummheiten machen. Er betrachtete zwei Halbweltlerinnen, die mit drei mageren, übermäßig sorgfältig gekleideten jungen Herren an einem Nebentisch aßen, und befragte Olivier über all die bekannten und unbekannten Mädchen, deren Namen er täglich nennen hörte. Dann murmelte er im Tone tiefsten Bedauerns:
– Ja, Sie haben Glück, daß Sie Junggeselle geblieben sind. Sie können thun und lassen, was Sie wollen.
Aber der Maler wollte nichts davon wissen, und wie jeder, den ein Gedanke unausgesetzt quält, weihte er Guilleroy in seine traurigen Stimmungen und seine Einsamkeit ein. Nachdem er alles gesagt hatte und seine melancholischen Gedanken auseinandergesetzt, ihm ganz naiv alles erzählt, von der Notwendigkeit getrieben, sich das Herz zu erleichtern, gesagt, wie er sich danach sehne, eine Frau an seiner Seite zu fühlen, gab nun der Graf seinerseits zu, daß die Ehe ihr Gutes habe. Er fand den rednerischen Schwung aus seiner Parlamentsthätigkeit wieder und rühmte die Annehmlichkeiten seines häuslichen Lebens, lobte die Gräfin aufs Äußerste, während ihm Olivier durch öfteres Kopfnicken beistimmte.
Er war glücklich, von ihr zu hören, aber neidisch über das häusliche Glück, das der Graf pflichtgemäß rühmte, und nun sagte er endlich im Tone tiefster Überzeugung:
– Ja, Sie haben Glück gehabt.
Der Abgeordnete fühlte sich geschmeichelt und gab es zu. Dann fuhr er fort:
– Ich möchte gern, daß meine Frau zurückkäme. Sie macht mir wirklich jetzt Sorge. Sehen Sie mal, Sie langweilen sich so in Paris, Sie sollten nach Roncières fahren und sie herholen. Auf Sie hört sie, Sie sind ihr bester Freund, während der Mann, wissen Sie . . .
Olivier antwortete strahlend:
– Nichts lieber wie das. Aber glauben Sie nicht, daß sie böse sein wird, wenn ich so plötzlich ankomme?
– Nein, garnicht. Fahren Sie doch hin.
– Na also gut. Ich fahre morgen um eins. Muß ich vorher telegraphieren?
– Nein, das will ich schon besorgen. Ich werde Sie ankündigen, damit man einen Wagen an die Bahn schickt.
Da sie mit dem Essen fertig waren, gingen sie nach dem Boulevard zurück. Aber nach kaum einer halben Stunde verließ der Graf plötzlich den Maler unter dem Vorwand, er habe eine dringende Besorgung zu machen, die er ganz vergessen.