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Drei Monate mußte sie das Zimmer hüten. Sie war so schwach und so bleich geworden, daß man sie aufgegeben hatte; dann kam sie allmählich wieder zu Kräften. Papachen und Tante Lieschen verließen sie nicht. Sie wohnten beide in Les Peuples. Von dem Unglück war eine Art Nervenkrankheit zurückgeblieben, das geringste Geräusch ließ sie ohnmächtig werden und durch die kleinste Ursache fiel sie in langandauernde Besinnungslosigkeit.
Sie hatte nie nach Einzelheiten über den Tod Julius' gefragt, was half ihr das? Wußte sie nicht genug? Alle Welt glaubte an ein Unglück, aber sie ließ sich nicht täuschen, und verschloß in ihrem Herzen das Geheimnis, das sie quälte: die Kenntnis des Ehebruchs und das plötzliche furchtbare Erscheinen des Grafen am Tage der Katastrophe.
Jetzt war in ihrer Seele, von dem kurzen Liebeslenz, den ihr früher ihr Mann geschenkt, nur noch eine zärtliche, süße, melancholische Erinnerung geblieben. Sie sah ihn nur noch, wie er zur Brautzeit gewesen und damals, in den wenigen Stunden im sonnigen Korsika, wo bei ihr die Leidenschaft erwacht.
Alle Fehler verblichen, alle Härten verschwanden, sogar seine Untreue verlor sich jetzt in ihrem Gedächtnis, da sie das geschlossene Grab trennte, und Johanna überkam etwas, wie eine unbestimmte, späte Dankbarkeit für diesen Mann, der sie in den Armen gehalten. Sie vergab vergangene Leiden und dachte nur noch an die Augenblicke des Glückes. Dann ging die Zeit dahin, Monat auf Monat folgte sich, und der Staub der Vergessenheit legte sich langsam auf alle ihre Erinnerungen und ihre Leiden. Nun widmete sie sich ganz ihrem Sohn.
Er ward das Ideal, der einzige Gedanke dieser drei Wesen, die um ihn waren, und er herrschte wie ein Despot.
Sogar unter diesen drei Untertanen, die er sich gemacht, brach eine Art Eifersucht aus. Wenn der Baron das Kind auf den Knieen geschaukelt hatte, so betrachtete Johanna nervös ihren Sohn, wenn er den Großvater küßte. Und Tante Lieschen, die genau so wie sie es von aller Welt gewesen, auch von ihm vernachlässigt wurde, und die manchmal von diesem kleinen Herrn, der kaum sprechen konnte, schlecht behandelt wurde, ging weinend davon auf ihr Zimmer, indem sie die kargen, erbettelten Liebkosungen, die sie nur mit Mühe erhalten, mit den Küssen verglich, die er Mutter und Großvater gab.
Zwei ruhige Jahre ohne besondere Ereignisse verstrichen unter unausgesetzter Beschäftigung mit dem Kind. Im Anfange des dritten Jahres beschlossen sie, bis zum Herbst in Rouen zu wohnen, und die ganze Familie zog um.
Als sie aber in das alte, leerstehende, feuchte Haus kamen, bekam Paul eine so heftige Bronchitis, daß man eine Rippenfellentzündung fürchtete, und die drei Verwandten erklärten ganz erschrocken, daß man die gute Luft in Les Peuples nicht entbehren könnte, und sobald der Kleine gesund geworden war, brachte man ihn zurück.
Da begann eine Reihe von eintönigen, schönen Jahren. Sie waren immer um den Knaben, bald in seinem Zimmer, bald im großen Salon, bald im Garten. Sie waren glückselig über sein Stammeln, seine komischen Ausdrücke und Bewegungen.
Seine Mutter nannte ihn mit dem Kosenamen Paulchen, das konnte er nicht aussprechen und sagte statt dessen Pullchen, sodaß sie immerfort darüber lachen mußten. Der Name blieb ihm, er wurde anders nicht mehr genannt.
Da er schnell wuchs, war eine der Lieblingsbeschäftigungen der drei Verwandten, die der Baron »seine drei Mütter« nannte, seine Größe zu messen.
Man hatte an der Thüreinfassung des Salons eine Reihe von kleinen Schnitten mit dem Taschenmesser gemacht, die von Monat zu Monat die Fortschritte im Wachstum anzeigten. Diese Leiter, »Pullchens Leiter« genannt, spielte eine große Rolle bei ihnen allen.
Dann begann eine große Rolle noch jemand anderes in der Familie zu spielen: der Hund »Massacre,« den Johanna vernachlässigt hatte, weil sie sich nur mit ihrem Sohn beschäftigte.
Er wurde von Ludwine gefüttert und war in einer alten Tonne vor dem Stalle untergebracht worden. Dort lebte er einsam immer an der Kette.
Paul bemerkte ihn eines Morgens und verlangte ihn zu streicheln. Mit unendlicher Angst wurde er hingebracht; der Hund spielte mit dem Kind, das brüllte, wenn man es von ihm trennen wollte. Da ward Massacre losgekettet und ins Hans gelassen. Er war unzertrennlich von Paul und ward sein bester Freund. Sie wälzten sich zusammen auf dem Boden und schliefen neben einander auf dem Teppich, bald sogar schlief Massacre an der Seite seines Spielkameraden im Bett.
Johanna war darüber außer sich, wegen der Flöhe, und Tante Lieschen war dem Hund böse, weil er einen so großen Teil des Liebebedürfnisses des Kleinen raubte. Die Zuneigung, die das Tier stahl, schien ihr die Liebe zu sein, die sie gern gehabt hätte.
Seltene Besuche wurden ausgetauscht mit den Briseville und Coutelier. Nur der Ortsvorstand und der Arzt unterbrachen durch regelmäßige Besuche die Einsamkeit des alten Schlosses. Johanna ging seit der Ermordung der Hündin und wegen des Verdachts, den ihr der Priester in Bezug auf den furchtbaren Tod der Gräfin und Julius' eingeflößt, nicht mehr zur Kirche: sie zürnte dem Gott, der solche Diener haben konnte.
Der Pfarrer Tolbiac griff ab und zu mit direkten Anspielungen das Schloß an, das beherrscht sei vom Geist des Bösen, dem Geiste ewiger Verneinung, dem Geiste des Irrtums und der Lüge, dem Geiste der Sünde, der Verderbnis und Unreinheit. Damit zielte er auf den Baron.
Seine Kirche war übrigens leer, und wenn er längs der Felder ging, auf denen die Landleute hinter dem Pfluge schritten, blieben die Bauern nicht stehen, um mit ihm zu sprechen, blickten, sich nicht um, ihn zu grüßen. Übrigens galt er für einen Hexenmeister, weil er den Teufel aus einer besessenen Frau ausgetrieben. Er wußte, wie man behauptete, geheimnisvolle Worte, um Unglück fern zu halten, das nach seiner Meinung immer eine Art Teufelswerk war. Den Kühen, die blaue Milch gaben oder den Schwanz gerollt trugen, legte er die Hände auf; und durch ein Paar fremdklingende Worte ließ er verlorene Gegenstände wieder erscheinen.
Sein enger, fanatischer Sinn führte ihn zum leidenschaftlichen Studium religiöser Bücher, die Geschichten von Teufelserscheinungen auf Erden enthielten, von der verschiedenen Art, wie der Böse seine Macht zeigte, seine vielen verschiedenen geheimen Einflüsse, alle Quellen, die er hatte und die gewöhnlichen Liste, die er anwandte. Da Tolbiac meinte, er sei besonders dazu berufen, jene geheimnisvolle, gefährliche Macht zu bekämpfen, hatte er alle Beschwörungsformeln, die in kirchlichen Büchern standen, auswendig gelernt.
Er meinte immer, daß der böse Geist im Schatten umgehe, und alle Augenblicke kamen ihm die lateinischen Worte auf die Lippen:
– Sicut leo rugiens circuit quaerens quem devoret.
Da verbreitete sich eine Furcht in der Gegend, eine Angst vor seinen geheimnisvollen Künsten. Sogar seine Amtsbrüder, unwissende Landgeistliche, für die Beelzebub Glaubensartikel ist, und die durch die genauen Vorschriften des Ritus für die Fälle, wo des Bösen Macht sich zeigen sollte, endlich dahin kommen, Religion und Magie zu verwechseln, betrachteten Pfarrer Tolbiac ein wenig wie einen Hexenmeister, und achteten ihn ebenso wegen der dunklen Macht, die sie ihm zuschoben, wie wegen seiner tadellosen Lebensführung.
Wenn er Johanna begegnete, grüßte er sie nicht.
Das beunruhigte und betrübte Tante Lieschen, die in ihrer ängstlichen Altjungfernseele nicht begreifen konnte, wie man nicht zur Kirche gehen könne. Sie war fromm, sie beichtete und kommunizierte ohne Zweifel, aber niemand fragte darnach und niemand wußte es.
Wenn sie allein war, ganz allein mit Paul, sprach sie ihm ganz leise vom lieben Gott. Er hörte ihr zu, wie wenn sie ihm Wundermären aus den ersten Tagen der Schöpfung erzählte. Aber wenn sie ihm sagte, daß man Gott sehr, sehr lieben müsse, fragte er oft:
– Wo ist er, Tante?
Da deutete sie wohl mit dem Finger zum Himmel:
– Da oben Pullchen, aber Du darfst nicht davon sprechen.
Sie hatte Angst vor dem Baron. Aber eines Tages erklärte ihr Pullchen, der liebe Gott sei überall, nur nicht in der Kirche. Er hatte seinem Großvater das geheimnisvolle Gespräch mit der Tante erzählt.
Das Kind wurde nun zehn Jahre alt, die Mutter sah wie vierzig aus. Der Knabe war kräftig, ausgelassen, keck, kletterte auf die Bäume, aber lernte nicht gerade viel.
Wenn die Stunden ihn langweilten, so wurden sie unterbrochen, und jedesmal, wenn ihn der Baron etwas lange bei den Büchern behielt, kam sofort Johanna und sagte:
– Laß ihn doch jetzt spielen, er darf nicht ermüdet werden, er ist noch so klein.
Für sie war er immer noch ein oder zwei Jahre alt.
Sie gab sich kaum Rechenschaft davon, daß er ging, lief und sprach wie ein kleiner Mann, sondern lebte in fortwährender Furcht, er möchte fallen, er möchte sich erkälten, er möchte sich erhitzen beim Laufen, er möchte zuviel essen für seinen Magen oder zu wenig für sein Wachstum.
Als er zwölf Jahre alt war, trat eine große Schwierigkeit ein: Die Firmelung.
Tante Lieschen sprach eines Morgens mit Johanna und stellte ihr vor, daß man den Kleinen nicht länger ohne Religionsunterricht lassen dürfe. Sie begründete das auf alle mögliche Weise, führte tausend Gründe an, vor allem aber den: was ihre Bekannten dazu sagen würden.
Die Mutter war unentschieden und erregt, zögerte und meinte, man könne noch warten.
Aber als sie einen Monat später einen Besuch der Brisevilles erwiderten, sagte diese zufällig:
– Dies Jahr wird Ihr Paul wohl gefirmelt?
Und Johanna, die darauf nicht gefaßt war, antwortete:
– Jawohl!
Dieses einfache Wort gab den Ausschlag, und ohne ihrem Vater etwas davon zu sagen, bat sie Tante Lieschen, das Kind zur Konfirmationsstunde zu bringen.
Vier Wochen lang ging alles gut, aber Pullchen kam eines Tages heiser nach Hause, und am andern hustete er. Seine Mutter forschte ihn verzweifelt aus und erfuhr, daß der Pfarrer ihn bis zum Schluß der Stunde hinaus geschickt hatte, wo er vor der Kirchenthür im Zuge stehen mußte, weil er sich schlecht betragen hatte.
Sie behielt ihn also zu Hause und brachte ihm selbst die Religionsbegriffe bei. Aber Pfarrer Tolbiac weigerte sich trotz Tante Lieschens Bitten, ihn unter die Konfirmanden aufzunehmen, da er nicht genügend vorbereitet sei.
Das nächste Jahr wiederholte sich die Sache. Da schwur der Baron wütend, daß das Kind es nicht nötig habe, an solche Dummheiten zu glauben, an das kindische Symbol der Transsubstantiation, um ein ordentlicher Mann zu werden, und es ward beschlossen, er sollte als Christ erzogen werden aber nicht als Katholik, und wenn er erwachsen wäre, könne er glauben was er wolle.
Aber Johanna, die kurz darauf den Brisevilles einen Besuch gemacht hatte, bekam keinen Gegenbesuch. Sie wunderte sich darüber, weil sie die peinliche Artigkeit ihrer Nachbarn kannte, und die Marquise von Coutelier teilte ihr von oben herab den Grund dieser Zurückhaltung mit.
Da die Marquise sich wegen der Stellung ihres Mannes, durch seine Titel und durch ihren großen Reichtum, wie eine Königin unter dem Adel der Normandie betrachtete, so herrschte sie auch wie eine Königin, sprach ganz offen und war liebenswürdig oder unangenehm, je nach dem Fall, ermahnte, führte auf den rechten Weg, beglückwünschte – bei jeder Gelegenheit. Als Johanna bei ihr erschien, sagte sie nach ein paar frostigen Worten in trockenem Ton:
– Es giebt zwei Klassen Menschen, solche die an Gott glauben und solche, die nicht an Gott glauben. Erstere, sogar die Niedrigsten, sind unsre Freunde, unsresgleichen, die andern existieren für uns nicht.
Johanna, welche die Spitze fühlte, antwortete:
– Kann man denn aber nicht an Gott glauben, auch ohne in die Kirche zu gehen?
Die Marquise antwortete:
– Nein, Gräfin. Die Gläubigen beten zu Gott in seiner Kirche, wie man die Menschen in ihrer Wohnung aufsucht.
Johanna antwortete verletzt:
– Gott ist überall. Ich aber, die im Grunde meines Herzens an seine Güte glaube, fühle seine Gegenwart nicht mehr, wenn gewisse Priester sich zwischen ihn und mich stellen.
Die Marquise erhob sich:
– Der Priester trägt das Banner der Kirche, wer diesem Banner nicht folgt, ist gegen ihn und gegen uns.
Nun stand auch Johanna bebend auf:
– Sie glauben an den Gott einer Partei, ich glaube an den Gott aller guten Menschen.
Sie grüßte und ging.
Aber auch die Bauern schimpften unter einander über sie, daß sie Pullchen nicht firmeln ließ. Sie gingen zwar auch nicht zur Kirche, näherten sich nicht dem Altar und empfingen die Sakramente nur nach den ausdrücklichen Vorschriften der Kirche zu Ostern. Aber bei den Kleinen war es etwas anderes, und nichts hätte sie bewegen können, ein Kind außerhalb dieser allgemeinen Gesetze zu erziehen. Denn Religion bleibt eben Religion.
Sie bemerkte bald diesen Tadel und war im stillen empört über solches Paktieren, solche Gewissensberuhigung über die allgemeine Furcht, vor allem aber über solch erbärmliche Feigheit, die in der Tiefe aller Herzen lag und wenn sie ans Licht trat, sich hinter soviel Masken der Ehrbarkeit verbarg.
Der Baron übernahm die Leitung von Pauls Unterricht und begann Lateinisch mit ihm. Die Mutter empfahl ihm immer:
– Ermüde ihn nur nicht und strenge ihn nicht an.
Sie irrte unruhig um das Schulzimmer herum, denn Papachen hatte ihr den Eintritt untersagt, weil sie den Unterricht fortwährend unterbrach, um zu fragen:
»Du hast doch keine kalten Füße, Pullchen,« oder, »Du hast doch nicht etwa Kopfweh, Pullchen,« oder um den Unterricht aufhören zu lassen: »Laß ihn doch nicht soviel sprechen, das strengt seine Kehle zu sehr an.«
Sobald der Kleine frei hatte, ging er mit Mutter und Tante in den Garten. Sie hatten jetzt eine große Vorliebe für Gartenkultur, und alle drei pflanzten im Frühjahr Bäumchen und säeten Samen aus, dessen Sprießen und Keimen sie leidenschaftlich verfolgten; sie beschnitten die Sträucher und wanden Blumensträuße.
Die Lieblingsbeschäftigung des angehenden jungen Mannes war, Salat zu ziehen.
Er pflegte vier große Beete im Gemüsegarten, auf denen er mit unendlicher Sorgfalt Lattich, Endivien, Cichorie und Kresse zog, alle bekannten Arten dieser eßbaren Blätter. Er hackte, begoß, jätete, pflanzte, von seinen beiden Müttern unterstützt, die er arbeiten ließ, wie Tagelöhnerinnen.
Stundenlang knieten sie in den Beeten, beschmutzten Kleider und Hände, beschäftigt, die Wurzeln der winzigen Pflänzchen einzusetzen in die kleinen Löcher, die sie mit dem Finger in die Erde gebohrt.
Pullchen wurde groß. Er war bald fünfzehn Jahr, und die Leiter im Salon zeigte ein Meter achtundfünfzig Centimeter an, in seiner Entwicklung aber blieb er ein Kind, unwissend, thöricht, begraben zwischen diesen beiden Frauen und dem alten, liebenswürdigen Manne, der aber doch schon zu alt und veraltet war.
Eines Abends sprach der Baron vom Gymnasium. Johanna fing sofort an zu weinen, Tante Lieschen blieb ganz erschrocken in einer dunklen Ecke; und die Mutter sagte:
– Er braucht doch nicht soviel zu lernen. Er wird Landmann, Landjunker. Er bebaut sein Feld, wie viele Adlige das thun; in diesem Hause wird er glücklich leben und alt werden, in diesem Hause, wo wir vor ihm gelebt haben und auch sterben werden. Was kann man mehr verlangen?
Aber der Baron schüttelte den Kopf:
– Was willst Du ihm antworten, wenn er Dir nun einmal sagte, wenn er fünfundzwanzig Jahre alt ist: ich bin nichts und ich weiß nichts durch Deine Schuld, wegen Deiner mütterlichen Selbstsucht. Ich kann nicht arbeiten, nicht vorwärts kommen, und bin doch nicht gemacht für das bescheidene Leben, das traurig ist zum Sterben und zu dem mich Deine kurzsichtige Zärtlichkeit verdammt hat.
Sie weinte noch immer und flehte ihren Sohn an:
– Pullchen, mein Pullchen, nicht wahr, Du wirst mir nie vorwerfen, daß ich Dich zu lieb gehabt habe? Nicht wahr?
Und das große Kind versprach es erstaunt:
– Nein, Mama!
– Schwörst Du es mir?
– Ja, Mama!
– Du willst doch hier bleiben, nicht wahr?
– Ja, Mama!
Da sagte der Baron fest und laut:
– Johanna Du hast kein Recht, über dieses Leben zu verfügen. Was Du da thust, ist feige, beinahe sträflich; Du opferst Dein Kind Deinem eignen Glück.
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, stieß ein plötzliches Schluchzen aus und stammelte in Thränen:
– Ich bin so unglücklich gewesen, so unglücklich und nun, wo ich Ruhe habe mit ihm, nimmt man ihn mir fort. Was soll jetzt aus mir werden ganz allein?
Ihr Vater erhob sich, setzte sich an ihre Seite und nahm sie in die Arme:
– Und ich, Johanna?
Sie fiel ihm plötzlich um den Hals, küßte ihn stürmisch, und sagte atemholend mit halberstickter Stimme:
– Ja, Du hast recht, Papachen, vielleicht war ich von Sinnen, aber ich habe ihn so lieb und habe so viel gelitten. Ich will ja zugeben, daß er in die Schule geht.
Und nun fing Pullchen, ohne zu wissen, um was es sich handelte, fürchterlich an zu heulen.
Da umarmten ihn die drei Mütter, streichelten ihn, redeten ihm Mut ein, und als sie zu Bett gingen, war allen das Herz schwer, und alle weinten in ihrem Bett, sogar der Baron, der sich bis dahin noch zusammengenommen hatte.
Es ward festgesetzt, daß sie den Jungen in Havre auf das Gymnasium schicken wollten, und nun wurde er mehr verhätschelt wie je zuvor.
Seine Mutter stöhnte oft bei dem Gedanken an die Trennung, sie bereitete seine Ausstattung vor, als sollte er eine Reise auf zehn Jahre unternehmen. Dann an einem Oktobermorgen, nachdem sie die Nacht nicht geschlafen, stiegen die beiden Damen mit ihm und dem Baron in den Wagen, der im Trabe davon fuhr.
Man hatte schon bei einer früheren Fahrt seinen Platz in der Klasse und im Schlafzimmer bestellt. Johanna ordnete unter Tante Lieschens Beihilfe den ganzen Tag die Sachen in die kleine Kommode. Aber da das Möbel nicht ein Viertel von dem fassen konnte, was man mitgeschleppt, gingen sie zum Vorsteher und baten um eine zweite Kommode. Der Ökonom wurde gerufen, aber er machte darauf aufmerksam, daß soviel Wäsche und Kleider nur im Wege wären und gar nichts nützten; und auf Grund der Schulordnung weigerte er sich, eine andere Kommode herzugeben. Da entschloß sich die trostlose Mutter in einem kleinen, benachbarten Hotel ein Zimmer zu mieten, und machte mit dem Hotelbesitzer aus, es sollte Pullchen alles gebracht werden, was er brauchen würde.
Dann wurde ein Spaziergang an den Strand unternommen, um die Schiffe ein- und auslaufen zu sehen. Ein trauriger Abend sank auf die Stadt nieder, in der sich allmählich die Lichter entzündeten. Zum Essen gingen sie in ein Restaurant; keiner von ihnen hatte Hunger, und sie blickten sich mit nassen Augen an, während die Schüsseln herum gereicht wurden und fast unberührt wieder verschwanden.
Dann gingen sie langsam zum Gymnasium zurück. Von allen Seiten kamen Kinder jeden Alters an, durch ihre Angehörigen oder Dienstboten gebracht. Viele weinten. In dem großen, kaum erhellten Hof hörte man das Geräusch des Abschieds.
Johanna und Pullchen umarmten sich lange, Tante Lieschen blieb im Hintergründe ganz vergessen stehen und verbarg das Gesicht im Taschentuch. Aber der Baron, der auch weich wurde, kürzte den Abschied ab und nahm seine Tochter mit. Vor der Thür wartete der Wagen, sie stiegen alle drei ein und fuhren im Dunkel Les Peuples zu.
Ab und zu klang ein lautes Schluchzen in der Dunkelheit.
Am nächsten Tage weinte Johanna bis zum Abend, den folgenden Tag ließ sie anspannen und fuhr nach Havre. Pullchen schien sich bereits mit der Trennung abgefunden zu haben, zum ersten Male in seinem Leben hatte er Spielkameraden, und der Wunsch, spielen zu gehen machte ihn ungeduldig auf seinem Stuhl im Sprechzimmer.
So kam Johanna alle zwei Tage und Sonntags zum Ausgang. Da sie nicht wußte, was sie während der Schulstunden zwischen den Erholungspausen machen sollte, blieb sie im Sprechzimmer sitzen, denn sie hatte weder den Mut, noch die Kraft, die Anstalt zu verlassen. Der Vorsteher ließ sie zu sich bitten und bat sie, weniger häufig zu kommen, aber sie kehrte sich nicht daran. Da sagte er ihr, daß, wenn sie fortfahren würde, ihren Sohn zu hindern, während der Freistunden zu spielen, und zu arbeiten, indem sie ihn unausgesetzt in Beschlag nahm, man genötigt sein würde, ihr das Kind zurück zu geben. Der Baron wurde davon verständigt. Sie ward also in Les Peuples unter Augen behalten, wie eine Gefangene.
Eine unausgesetzte Unruhe quälte sie. Sie begann umher zu irren und ging ganze Tage lang allein mit dem Hund Massacre spazieren, träumend, in Gedanken verloren. Manchmal blieb sie an den Klippen einen ganzen Nachmittag sitzen und starrte ins Meer hinaus.
Ab und zu ging sie in den Wald bis Yport die alten Wege, deren Erinnerungen sie quälten. Wie weit, weit zurück lag die Zeit, wo sie als junges Mädchen, trunken in Träumen, diesen Weg geschritten!
Jedesmal, wenn sie ihren Sohn wiedersah, war es ihr, als wären sie zehn Jahre getrennt gewesen. Von Monat zu Monat wurde er männlicher, von Monat zu Monat wurde sie älter; ihr Vater sah wie ihr Bruder aus, und Tante Lieschen, die nicht alterte, sondern verwelkt geblieben war seit ihrem fünfundzwanzigsten Jahr, konnte man für eine ältere Schwester halten.
Pullchen arbeitete nicht viel, in der vierten Klasse blieb er sitzen, in der dritten ging es so lala, in der zweiten blieb er wieder sitzen, und als er in die Prima aufrückte, war er schon bald zwanzig Jahre. Er war ein großer, blonder junger Mann geworden, mit schon ganz buschigem Backenbart, und einem Anflug von Schnurrbart. Nun kam er jeden Sonntag nach Les Peuples; da er seit langer Zeit Reitstunde nahm, mietete er einfach ein Pferd und ritt in zwei Stunden hin.
Schon am Morgen fuhren ihm Johanna, Tante Lieschen und der Baron entgegen, der allmählich immer krummer ward und wie ein kleiner Alter ging, die Hände auf dem Rücken, als wollte er dadurch verhindern, daß er auf die Nase fiel. Sie gingen langsam den Weg hin, setzten sich ab und zu in den Graben und blickten aus, ob sie den Reiter noch nicht sahen, und sobald er als schwarzer Punkt auf der weißen Linie erschien, winkten sie alle drei mit den Taschentüchern.
Er setzte sein Pferd in Galopp und kam angebraust wie das Donnerwetter, sodaß Johanna und Lieschen vor Furcht zitterten und der Großvater ganz begeistert mit dem Enthusiasmus eines, der es nicht mehr kann, »bravo« rief.
Obgleich Paul einen Kopf größer war als seine Mutter, behandelte sie ihn immer noch wie ein kleines Kind und fragte noch:
– Hast Du keine kalten Füße, Pullchen?
Wenn er auf der Terrasse eine Cigarette rauchend spazieren ging, öffnete sie das Fenster, um ihm zuzurufen:
– Geh doch nicht ohne Hut, ich bitte Dich, Du wirst Dich furchtbar erkälten.
Sie zitterte vor Besorgnis, wenn er nachts wieder fortritt:
– Reite nur nicht zu schnell, mein liebes Pullchen, sei vorsichtig, denke an Deine arme Mutter, die verzweifelt sein würde, wenn Dir etwas geschähe.
An einem Sonnabend morgen bekam sie einen Brief von Paul, der ihr anzeigte, daß er am nächsten Tage nicht kommen würde, weil ein Paar Freunde eine Landpartie verabredet und ihn eingeladen hätten.
Sie litt Qualen während des ganzen Sonntags, als könnte ein Unglück geschehen, dann hielt sie es am Donnerstag nicht mehr aus und fuhr nach Havre. Er schien verändert zu sein, obgleich sie nicht wußte worin. Er war angeregt, sprach mit männlicherer Stimme, und plötzlich sagte er ihr, wie etwas ganz Natürliches:
– Weißt Du, Mama, da Du heute gekommen bist, werde ich nächsten Sonntag nicht nach Les Peuples kommen, denn wir machen wieder eine Partie.
Sie war ganz erschrocken, niedergeschmettert, als hätte er ihr angekündigt, er ginge nach Amerika.
Darum sagte sie, als sie endlich die Sprache wiedergewonnen:
– Aber Pullchen, was hast Du denn, sag mir nur, was geht denn vor?
Er begann zu lachen und küßte sie:
– Aber nichts Mama, ich will mich mit meinen Freunden amüsieren. Ich bin doch mal jung.
Sie fand keine Antwort, und als sie allein im Wagen saß, bedrängten sie allerlei seltsame Gedanken. Sie hatte ihr Pullchen nicht wieder erkannt, ihr Pullchen von früher. Sie sah zum ersten Male, daß er groß war, daß er ihr nicht mehr gehörte, daß er nun für sich leben würde, ohne sich um die Alten zu kümmern. Es war ihr, als hätte er sich in einem Tage verändert. Was? Das war ihr Sohn, das kleine Jüngelchen, dem sie früher den Salat pflanzen mußte, dieser kräftige, bärtige junge Mann, der seinen Willen zeigte?
Drei Monate hindurch kam Paul nur von Zeit zu Zeit zu seinen Verwandten, immer wie es schien von dem geheimen Wunsche getrieben, so schnell als möglich wieder fort zu kommen. Jeden Abend suchte er noch eine Stunde abzuknappsen.
Johanna war erschrocken, und der Baron wiederholte oft, um sie zu trösten:
– Laß ihn doch, der Junge ist zwanzig Jahre alt.
Eines Morgens erschien ein alter, schlecht gekleideter Mann und fragte, in einem französisch mit deutscher Aussprache, nach der Frau Gräfin.
Nachdem er sich mehrmals verbeugt, zog er eine schmierige Brieftasche hervor und sagte:
– Ich habe ein kleines Papierchen für Sie!
Damit reichte er ihr ein fettiges Stück Papier, das er auseinander faltete. Sie las, las wieder, blickte den Juden an, las nochmals und fragte:
– Was soll denn das heißen?
Der Mann erklärte:
– Das will ich Ihnen sagen. Ihr Sohn brauchte ein bißchen Geld, und da ich wußte, daß Sie eine gute Mutter sind, habe ich ihm geborgt, was er brauchte.
Sie zitterte:
– Aber, warum hat er mich denn nicht darum gebeten?
Der Jude erklärte lang und breit, es handele sich um eine Spielschuld, die am nächsten Tage vor zwölf Uhr hätte bezahlt werden müssen, daß Paul, da er noch nicht majorenn sei, von niemandem etwas geborgt erhalten hätte, und daß seine Ehre in Gefahr gewesen, ohne den kleinen Dienst, den er dem jungen Mann geleistet hatte.
Johanna wollte den Baron rufen, aber sie konnte sich nicht erheben, sie war vor Schreck wie gelähmt.
Endlich sagte sie zu dem Wucherer:
– Wollen Sie so gut sein, zu klingeln.
Er zögerte, eine Falle vermutend, und stammelte:
– Wenn ich Sie störe, komme ich wieder.
Sie schüttelte den Kopf. Er klingelte. Stumm warteten sie, einander gegenüber.
Als der Baron erschien, begriff er sofort, um was es sich handelte. Das Papier lautete auf eintausendfünfhundert Franken. Er zahlte eintausend Franken und blickte den Mann scharf an:
– Daß Sie mir aber nicht wieder kommen!
Der andere dankte, grüßte und verschwand.
Der Großvater und die Mutter fuhren sofort nach Havre, aber im Gymnasium erfuhren sie, daß Paul seit einem Monat nicht erschienen sei. Der Direktor hatte vier Briefe bekommen, von Johanna unterzeichnet, die ein Unwohlsein des Schülers anzeigten und Nachrichten über das Befinden gaben. Jeder Brief war von einem ärztlichen Zeugnis begleitet. Alle Schriftstücke natürlich falsch.
Sie waren wie niedergedonnert und blickten sich an. Der Direktor war ganz verzweifelt und begleitete sie zum Polizeikommissar. Die beiden blieben die Nacht im Hotel. Am nächsten Tage fand man den jungen Mann bei einer Dirne in der Stadt. Der Großvater und die Mutter brachten ihn nach Les Peuples, ohne daß während des ganzen Weges ein Wort gesprochen wurde. Johanna weinte und preßte das Taschentuch vor die Augen, Paul blickte gleichmütig zum Fenster hinaus.
Nach acht Tagen hatten sie entdeckt, daß er während der drei letzten Monate fünfzehntausend Franken Schulden gemacht hatte. Die Gläubiger hatten sich zuerst nicht gemeldet, weil sie wußten, daß er bald volljährig würde.
Es wurde ihm keine Szene gemacht, man wollte ihn durch Güte gewinnen. Man gab ihm seine Lieblingsspeisen zu essen, man liebkoste, man verzog ihn. Es war Frühjahr und trotz Johannas Angst, mieteten sie ihm ein Boot in Yport, damit er zu seinem Vergnügen spazieren fahren könnte.
Aus Furcht, er möchte nach Havre gehen, bekam er kein Pferd. Er benahm sich aufgeregt und manchmal roh. Der Baron ängstigte sich wegen der Unterbrechung seiner Studien, aber Johanna fragte sich entsetzt bei dem Gedanken einer Trennung, was aus ihm werden sollte. Eines Abends kehrte er nicht heim. Man erfuhr, daß er mit zwei Matrosen mit dem Boote fortgefahren. Barhäuptig lief die verzweifelte Mutter in der Nacht nach Yport. Ein paar Menschen erwarteten am Strande die Rückkehr des Bootes. In der Ferne erschien ein Licht. Sie wankte hin, aber ihr Sohn Paul war nicht mehr an Bord. Er hatte sich nach Havre fahren lassen. Die Polizei wurde beauftragt, sie fand ihn nicht wieder, das Mädchen, das ihn zuerst versteckt, war auch spurlos verschwunden und hatte ihre Möbel verkauft.
In Pauls Zimmer in Les Peuples entdeckte man zwei Briefe von diesem Geschöpf, das ganz wahnsinnig in ihn verliebt zu sein schien. Sie schrieb von einer Reise nach England, sie habe das nötige Geld dazu aufgebracht, wie sie sagte.
Und schweigend und traurig lebten die drei Einwohner des Schlosses in furchbaren Höllenqualen. Johannas Haar, das schon ergraut gewesen, war weiß geworden. Sie fragte sich, warum das Schicksal sie so traf. Eines Morgens erhielt sie einen Brief vom Pfarrer Tolbiac:
»Frau Gräfin! Die Hand Gottes ruht schwer auf Ihnen. Sie haben ihm Ihr Kind verweigert, nun hat er es Ihnen genommen, um es einer Dirne in die Arme zu führen.
Öffnen sich Ihnen bei diesen Zeichen des Himmels nicht die Augen? Gottes Gnade ist ohne Grenzen, vielleicht verzeiht er Ihnen, wenn Sie kommen, um vor ihm zu knieen. Ich bin sein bescheidener Diener und werde Ihnen die Thür seines Hauses öffnen, wenn Sie anklopfen.«
Lang blieb sie sitzen mit diesem Brief auf den Knieen. Vielleicht war es wahr, was der Priester sagte, und alle religiösen Zweifel zerrissen ihr Herz. Konnte Gott rachsüchtig und eifersüchtig sein, wie die Menschen? Aber wenn er sich nicht rachsüchtig und eifersüchtig zeigte, würde ihn niemand fürchten und niemand mehr zu ihm beten. Er zeigte sich den Menschen wohl, um ihnen klarer zu werden, in ihren eignen Empfindungen. Und sie packte der feige Zweifel, der die Zaudernden zur Kirche treibt. Eines Abends lief sie eilig bei sinkender Nacht zum Pfarrhaus, kniete vor dem mageren Priester nieder und bat um Absolution.
Er versprach ihr eine halbe Verzeihung, da Gott seine ganze Gnade nicht ausschütten könne auf ein Dach, unter dem ein Mann lebe, wie der Baron: – Sie werden bald ein Zeichen von Gottes Langmut erhalten.
In der That bekam sie zwei Tage darauf einen Brief von ihrem Sohn, und sie betrachtete ihn in ihrer Verzweiflung wie einen Anfang zu der ihr vom Pfarrer verheißenen Seelenerleichterung:
»Liebe Mama! Beunruhige Dich nicht. Ich bin in London, bin gesund und brauche notwendig Geld. Wir haben keinen Groschen mehr, nicht einmal täglich mehr zu essen.
Die, die bei mir ist und die ich mit allen Fasern meines Herzens liebe, hat alles geopfert was sie besaß, um mich nicht zu verlassen: fünftausend Franken; und Du verstehst, daß meine Ehre es erfordert, ihr diese Summe wieder zu erstatten. Sei also so gut und gieb mir einen Vorschuß von fünftausend Franken auf Papas Erbschaft, da ich bald volljährig bin. Du würdest mich dadurch aus großer Verlegenheit befreien. Adieu liebe Mama. Ich küße Dich von Herzen, ebenso Großpapa und Tante Lieschen. Ich hoffe Dich bald wieder zu sehen.
Dein Sohn
Vicomte Paul von Lamare.«
Er hatte ihr geschrieben! Er vergaß sie also nicht. Sie dachte nicht daran, daß er Geld forderte. Da er keins mehr hatte, sollte er es bekommen. Was war Geld! Er hatte ihr geschrieben!
Weinend brachte sie den Brief dem Baron. Tante Lieschen wurde herbeigerufen, und Zeile um Zeile lasen sie den Brief von seiner Hand, und jedes einzelne Wort ward besprochen.
Johanna fiel aus vollkommener Verzweiflung in eine Art Hoffnungsrausch und verteidigte Paul:
– Er wird wiederkommen, denn er schreibt es.
Der Baron sagte ruhig:
– Das ist ganz gleich, er hat uns um dieses Geschöpfes willen verlassen, er liebt sie also mehr als uns alle, da er nicht gezögert hat zu wählen.
Ein fürchterlicher Schmerz traf jäh Johannas Herz, und plötzlich stieg in ihr ein Haß auf gegen diese Geliebte, die ihr den Sohn raubte, ein unauslöschlicher, wütender Haß, der Haß der eifersüchtigen Mutter. Bis dahin hatte sie nur an Paul gedacht, kaum ward sie sich klar, daß eine Dirne die Ursache seiner Entfernung war; aber plötzlich hatten die Worte des Barons ihr die Rivalin vor die Seele geführt, deren bösen Einfluß klar gemacht, und sie fühlte, daß zwischen dieser Frau und ihr ein verzweifelter Kampf begann, und sie fühlte auch, daß sie lieber ihren Sohn verlieren, als ihn mit der andern teilen würde.
Und alle ihre Freude war dahin.
Sie schickten fünfzehntausend Franken und bekamen fünf Monate keine Antwort darauf.
Dann erschien ein Beamter, um die Einzelheiten von Julius' Erbschaft zu ordnen. Johanna und der Baron legten ohne weiteres Rechnung ab und überließen ihm sogar die Nutznießung, die eigentlich der Mutter zustand.
Paul war nach Paris zurückgekehrt und erhielt hundertzwanzigtausend Franken.
Dann schrieb er im Laufe des nächsten halben Jahres noch viermal und gab in kurzen Worten Nachricht von sich, indem er mit kühlen Versicherungen der Anhänglichkeit schloß. Er versicherte darin: »Ich arbeite, ich habe eine Stellung an der Börse gefunden, ich hoffe, euch einmal ein paar Tage in Les Peuples besuchen zu können.«
Er sprach kein Wort von seiner Geliebten, und dieses Stillschweigen redete mehr, als seitenlange Briefe. Johanna fühlte hinter diesen eisigen Zeilen den Einfluß des Weibes, das immer Feindin der Mütter sein wird, der Dirne.
Die drei einsamen Leute überlegten, was man thun könnte, um Paul zu retten, und fanden nichts.
Nach Paris fahren? Wozu?
Der Baron sagte: – Wir müssen warten, bis seine Leidenschaft nachläßt, er wird ganz von selbst wiederkommen.
Ihr Dasein war traurig. Johanna und Lieschen gingen zusammen zur Kirche, aber sie verheimlichten es vor dem Baron. Es verging eine ziemlich lange Zeit, ohne daß eine Nachricht eingetroffen wäre, dann bekamen sie eines Morgens einen verzweifelten Brief, den sie mit Entsetzen lasen:
»Liebes Mamachen! Ich bin verloren; wenn Du mir nicht hilfst, muß ich mir eine Kugel vor den Kopf schießen. Eine Spekulation, die alle möglichen Sicherheiten bot, ist gescheitert. Ich bin fünfundachtzigtausend Franken schuldig geworden. Wenn ich nicht zahle, bin ich entehrt, ruiniert und kann nie wieder in die Höhe kommen. Ich bin verloren, ich wiederhole Dir, daß ich mir eher eine Kugel vor den Kopf schieße, als diese Schmach zu überleben. Vielleicht hätte ich es schon gethan, wenn mir nicht eine Frau immer wieder Mut zugesprochen, von der ich Dir nicht rede, die aber mein guter Stern geworden ist.
Ich küsse Dich von Herzen liebe Mama! Vielleicht das letzte Mal! Leb wohl!
Paul.«
Ein Paar Stöße von Bankabrechnungen waren dem Briefe beigelegt, aus denen man das Nähere über den Zusammenbruch ersehen konnte.
Der Baron antwortete postwendend, sie würden helfen. Dann fuhr er nach Havre, um sich über die Sache zu unterrichten.
Er nahm Hypotheken auf den Grundbesitz auf, um Geld flüssig zu machen und Paul zu schicken. Der junge Mann antwortete in drei überschwänglichen Dankbriefen, voll leidenschaftlicher Zärtlichkeit, in denen er ankündigte, er werde sofort kommen, die geliebten Verwandten zu sehen und in seine Arme zu schließen.
Er kam nicht.
Ein Jahr verstrich.
Johanna und der Baron wollten endlich nach Paris fahren, um ihn zu besuchen und einen letzten Versuch zu machen, als ein Brief von ihm eintraf, aus dem sie ersahen, daß er wieder in London war, wegen einer neuen Dampfschiffunternehmung unter der Firma: Paul de Lamare & Co. Er schrieb: »Jetzt habe ich ein sicheres Glück in Händen, vielleicht den Reichtum. Ich riskiere nichts. Ihr seht, welcher Vorteil sich mir bietet. Wenn ich euch wiedersehe, werde ich mir eine schöne Stellung in der Welt geschaffen haben. Heutzutage kann man nur als Geschäftsmann vorwärtskommen.«
Drei Monate darauf war die Dampfschifffahrtsgesellschaft bankrott, und der Direktor wurde wegen allerlei Unregelmäßigkeiten in der Buchführung steckbrieflich verfolgt.
Johanna bekam einen Nervenanfall, der mehrere Tage dauerte, dann ward sie bettlägerig.
Der Baron reiste nach Havre, zog Erkundigungen ein, besprach sich mit Advokaten, Geschäftsleuten, und Sachwaltern und stellte fest, daß das Defizit der Firma Lamare sich auf zweihundertfünfunddreißigtausend Franken belief, und wieder nahm er Hypotheken auf. Das Schloß Les Peuples und die beiden Pachthöfe, die dazu gehörten, wurden mit einer Riesensumme belastet.
Eines Abends, als er im Bureau eines Geschäftsmannes die letzten Formalitäten erledigte, fiel er plötzlich von einem Schlaganfall getroffen zu Boden.
Durch einen reitenden Boten wurde Johanna benachrichtigt. Als sie eintraf, war er tot.
Sie brachte die Leiche nach Les Peuples und war so vernichtet, daß sie in ihrem Schmerz mehr stumpf vor sich hin brütete als verzweifelt war.
Der Pfarrer Tolbiac verweigerte die Einsegnung der Leiche in der Kirche, trotz verzweifelter Bitten der beiden Frauen. Bei Einbruch der Nacht wurde der Baron ohne jede Feierlichkeit begraben.
Paul erfuhr den Tod durch einen der Liquidatoren seines Bankrotts. Er war noch in England versteckt. Er schrieb und entschuldigte sich, daß er nicht gekommen, er habe die Nachricht zu spät erhalten. »Übrigens werde ich jetzt, liebe Mama, wo Du mir geholfen hast, nach Frankreich zurückkehren und Dich bald besuchen.«
Johanna war so vernichtet daß nichts mehr auf sie Eindruck machte.
Und gegen Ende des Winters bekam Tante Lieschen, die jetzt achtundsechzig Jahre alt war, einen Bronchialkatarrh, aus dem sich eine Lungenentzündung entwickelte, und sie entschlief sanft mit den Worten:
– Meine arme, kleine Johanna, ich will Gott bitten, daß er Erbarmen mit Dir hat.
Johanna folgte ihrem Sarge. Sie sah die Schollen darauf fallen, und als sie zusammenbrach, hatte sie im Innern ihres Herzens den Wunsch, auch zu sterben, um nicht mehr zu leiden, nichts mehr denken zu müssen. Eine kräftige Bauernfrau nahm sie in die Arme und trug sie davon, wie ein kleines Kind.
Im Schloß ließ sich Johanna, die fünf Nächte am Bett der alten Jungfer gewacht, ohne Widerstand von der ihr unbekannten Bäuerin, die sie mild, aber doch mit Entschiedenheit pflegte, zu Bett bringen; und von Müdigkeit und Leid überwältigt, verfiel sie in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung.
Mitten in der Nacht erwachte sie. Auf dem Kamin brannte ein Nachtlicht, in einem Stuhl saß eine Frau und schlief. Wer war es? Sie erkannte sie nicht, sie beugte sich über den Bettrand, um sie beim zitternden Schein des Nachtlichts, das auf einer Ölschicht in einem Wasserglase brannte, zu erkennen. Es schien ihr, als hätte sie dieses Gesicht schon gesehen. Aber wann? Wo? Die Frau schlief ganz ruhig, den Kopf auf die Schultern gesenkt, die Mütze war zu Boden gefallen. Sie mochte vierzig bis fünfzig Jahre alt sein, war kräftig, stark, von gesunder Gesichtsfarbe. Ihre Hände hingen zu beiden Seiten des Stuhls herab, ihr Haar war ergraut. In jener Verwirrung des Geistes nach fieberhaftem Schlaf, wie er schweren Schicksals-Schlägen folgt, blickte Johanna die Frau unverwandt an. Sie hatte das Gesicht ja schon gesehen. Früher, oder vor kurzem? Sie wußte es nicht, und das peinigte sie, machte sie nervös. Um die Schlafende näher zu betrachten, schlich sie auf den Fußspitzen heran. Das war die Frau, die sie auf dem Kirchhof aufgehoben und dann zu Bett gebracht hatte; davon hatte sie eine unbestimmte Erinnerung.
Aber war sie ihr anderwärts schon begegnet, zu einer andern Zeit ihres Lebens? Oder meinte sie, sie bloß in der dunklen Erinnerung des letzten Tages zu erkennen? Und dann, wie kam sie in dieses Zimmer? Warum?
Die Frau schlug die Augen auf, erblickte Johanna und richtete sich schnell auf. Nun standen sie einander gegenüber, so nahe, daß sie sich fast berührten.
Die Unbekannte brummte:
– Was? Sie sind auf? Sie werden sich ja wieder Schaden thun. Werden Sie sich gleich wieder zu Bett legen.
Johanna fragte:
– Wer sind Sie?
Aber das Weib öffnete die Arme, packte sie, hob sie auf und trug sie mit der Kraft eines Mannes aufs Bett, und als sie sie langsam auf das Lager niederließ und sich dabei über Johanna beugte, sodaß sie beinahe auf ihr lag, begann sie zu weinen und küßte ihre Wangen, ihr Haar und ihre Augen, netzte sie mit Thränen und stammelte:
– Meine arme Herrin, Fräulein Johanna! Meine arme Herrin! Erkennen Sie mich denn nicht?
Und Johanna rief:
– Rosalie! – umarmte sie und küßte sie. Sie schluchzten beide, eng umschlungen, weinten zusammen und konnten sich aus ihrer Umarmung nicht mehr lassen. Rosalie beruhigte sich zuerst:
– Nun, Sie müssen vernünftig sein und sich nicht erkälten. Sie ordnete Decken und Bett, schob das Kopfkissen wieder unter den Kopf ihrer ehemaligen Herrin, die tiefatmend dalag, ganz erregt von all den alten Erinnerungen, die in ihrer Seele wach wurden.
Endlich fragte sie:
– Wie bist Du denn wieder hergekommen, meine arme Rosalie?
Rosalie antwortete:
– Meiner Treu, sollte ich Sie denn jetzt ganz allein lassen?
Johanna sagte:
– Mach doch Licht, daß ich Dich sehe.
Und als Rosalie das Licht auf den Nachttisch stellte, betrachteten sie sich lange, ohne ein Wort zu reden.
Dann streckte Johanna ihre alten Dienerin die Hand entgegen und flüsterte:
– Ich hätte Dich ja nie wieder erkannt, liebe Rosalie. Du hast Dich sehr verändert! Weißt Du? Aber doch nicht so wie ich!
Und Rosalie betrachtete diese magere verwelkte Frau mit dem weißen Haar, die sie einst jung, schön und frisch verlassen hatte, und antwortete:
– Ja, Frau Johanna, Sie haben sich verändert und mehr, als sein dürfte; aber denken Sie auch, wir haben uns jetzt vierundzwanzig Jahre nicht gesehen.
Sie schwiegen und überließen sich wieder ihren Gedanken. Endlich stammelte Johanna:
– Bist Du wenigstens glücklich gewesen?
Rosalie, die sehr schmerzliche Erinnerungen zu erwecken fürchtete, stammelte:
– Ja, o ja, Frau Gräfin! Ich kann mich nicht gerade beklagen. Jedenfalls ist es mir besser ergangen, wie Ihnen. Nur eins habe ich nie vergessen, daß ich hier fort gemußt habe.
Dann schwieg sie, da sie doch ohne es zu wollen an die Vergangenheit gerührt. Doch Johanna sagte mild:
– Weißt Du Rosalie, es geht nicht immer, wie man will. Du bist wohl auch Witwe, nicht wahr?
Dann kam eine Befürchtung über sie, sodaß ihre Stimme zitterte, und sie fuhr fort:
– Hast Du noch andere – andere Kinder?
– Nein, Frau Gräfin!
– Und er . . . Dein Sohn? Was ist denn aus ihm geworden? Bist Du zufrieden mit ihm?
– Ja, Frau Gräfin! Er ist ein guter Junge, der sich vor keiner Arbeit scheut. Vor sechs Monaten hat er sich verheiratet, er übernimmt meinen Hof, weil ich doch nun wieder zu Ihnen komme.
Johanna zitterte vor Bewegung und flüsterte:
– Da willst Du also bei mir bleiben?
Rosalie antwortete kurz:
– Das will ich meinen, ich habe mich schon darauf eingerichtet.
Dann sprachen sie einige Zeit nicht mehr.
Johanna konnte nicht anders, als ihr und Rosaliens Leben zu vergleichen, aber ohne Bitterkeit im Herzen, jetzt ganz abgefunden mit der ungerechten, grausamen Fügung des Schicksals.
Sie fragte:
– Wie ist denn Dein Mann mit Dir gewesen?
– O, er war ein braver Kerl, Frau Gräfin, und nicht faul, der hat was vor sich gebracht. Er ist an der Schwindsucht gestorben.
Da setzte sich Johanna im Bett auf, denn sie fühlte das Bedürfnis alles genau zu erfahren:
– Rosalie, jetzt mußt Du mir aber alles erzählen, Dein ganzes Leben, das wird mir heute wohlthun.
Und Rosalie rückte einen Stuhl heran und begann, vor ihr zu erzählen von ihrem Haus, von ihrer Familie, indem sie von allerhand Kleinigkeiten sprach, die die Landleute interessieren. Sie beschrieb ihren Hof, lachte manchmal über Dinge, die früher geschehen und die ihr schöne Stunden ins Gedächtnis riefen, und allmählich ward ihr Ton lauter, wie sie als Bauerfrau, die zu Haus befehlen mußte, gewohnt war zu sprechen. Endlich sagte sie:
– O ich bin zu was gekommen, mir geht nichts ab!
Dann wurde sie wieder verlegen und fügte leiser hinzu:
– Ich habe ja das alles Ihnen zu verdanken, ich will auch keinen Lohn haben. Nein, nein, auf keinen Fall, und wenn Sie es nicht wollen, gehe ich wieder fort.
Johanna sagte:
– Du willst mir doch nicht etwa umsonst dienen?
– Ach was, Geld? Sie wollen mir Geld geben! Aber ich habe vielleicht ebenso viel wie Sie. Wissen Sie wirklich, was Ihnen übrig bleibt nach all der Hypothekenschmiererei und den Zinsen und dem Erborgten, was nicht bezahlt ist und zu jedem Termin dicker wird? Wissen Sie's? Nun, ich versichere Sie, Sie haben nicht mehr zehntausend Franken Einkommen, nicht zehntausend Franken hören Sie. Aber ich werde Ihnen das alles in Ordnung bringen und zwar schnell.
Sie hatte wieder laut gesprochen, ward bös und war außer sich über alles, was da verfehlt worden war, über den drohenden Zusammenbruch. Da ein unbestimmtes Lächeln der Rührung über das Antlitz ihrer Herrin glitt, rief sie empört:
– Sie müssen nicht darüber lachen, Frau Gräfin, denn ohne Geld ist man nichts!
Johanna ergriff ihre Hände und behielt sie in den ihren. Dann sagte sie langsam, immer von dem Gedanken verfolgt, der sie beherrschte:
– Ach, ich habe kein Glück gehabt, bei mir ist alles schief gegangen. Das Unglück hat auf meinem Leben gelastet.
Aber Rosalie hob den Kopf:
– Das müssen Sie nicht sagen, Frau Gräfin, das müssen Sie nicht sagen. Sie sind unglücklich verheiratet gewesen, weiter ist es nichts, aber man macht das auch nicht so, so heiratet man nicht, ohne seinen Zukünftigen genau zu kennen.
Und sie sprachen weiter von ihren Angelegenheiten wie zwei alte Freundinnen.
Als die Sonne aufging redeten sie noch immer.