Guy de Maupassant
Ein Menschenleben
Guy de Maupassant

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IX

Als Johanna sich nach dem Wochenbett wieder ganz erholt hatte, beschloß man den Besuch der Fourvilles zu erwidern und auch zum Marquis Coutelier zu gehen. Julius hatte eben auf einer Auktion einen neuen Wagen erstanden, ein Phaëton, zu dem nur ein Pferd notwendig war; so daß er nun zweimal monatlich fahren konnte.

An einem hellen Septembertage wurde der Wagen angespannt, und nachdem sie zwei Stunden durch die normannische Ebene gefahren, bogen sie in eine kleine Thalsenkung ein, deren Hänge bewaldet waren, während sich die Mitte unter dem Pfluge befand.

Dann wurden die Äcker von Wiesen abgelöst, und die Wiesen wieder durch einen Sumpf voll hohen, in dieser Jahreszeit trockenen Röhrichts, dessen lange Blätter wie goldene Bänder im Winde wehten.

Plötzlich, nachdem die Thalmulde eine Biegung gemacht, erschien das Schloß La Brillette, auf der einen Seite an die bewaldeten Hänge gelehnt, mit der anderen ganzen Front an einem großen Teiche stehend, den gegenüber am entgegengesetzten Hang ein Wald hoher Tannen abschloß.

Um in den Herrenhof des Schlosses zu gelangen, mußte man über eine alte Zugbrücke und durch ein großes Portal im Stil Ludwigs XIII., das sich vor einem eleganten Schloß aus derselben Zeit erhob, einem Ziegelbau mit zwei schiefergedeckten Türmen rechts und links.

Julius machte Johanna auf alle Einzelheiten des Schlosses aufmerksam, wie jemand, der es genau kennt, und war ganz begeistert über seine Schönheit:

– Sieh nur dieses Portal, das ist doch großartig. Die ganze andere Front geht nach dem Teich mit einer geradezu fürstlichen Terrasse am Wasser. Am Fuße der Stufen liegen vier Boote, zwei für den Grafen, zwei für die Gräfin. Da drüben, wo Du die Pappelreihe siehst, rechts, ist der Teich zu Ende, und da beginnt der Fluß, der bis Fécamp läuft. Die ganze Gegend ist sehr reich an Wassergeflügel, es ist des Grafen höchste Passion, hier zu jagen. Das ist ein richtiger Herrschaftssitz!

Die Eingangsthür hatte sich geöffnet, und die bleiche Gräfin erschien, ihrem Besuch lächelnd entgegen eilend, in einem Schleppkleide, wie die Schloßfrauen früherer Zeit.

Sie hatte etwas gleich der Frau vom See und schien geboren für dieses gräfliche Schloß.

Von den acht Fenstern des Salons gingen vier auf das Wasser und den finsteren Tannenwald, der sich gegenüber die Anhöhe hinauf zog.

Die dunklen Bäume gaben dem Teiche etwas Tiefes, Düsteres, Strenges, und wenn der Wind blies, hatte das Ächzen der Bäume etwas wie die Stimmen der Sümpfe.

Die Gräfin nahm Johannas beide Hände, als ob sie Freundinnen wären von Kindheit an. Dann ließ sie sie niedersitzen und nahm an ihrer Seite Platz auf einem niedrigen Stuhl, während Julius, in dem die einstige längst vergessene Eleganz seit fünf Monaten wieder erwacht war, freundschaftlich und liebenswürdig schwatzte und lächelte.

Die Gräfin und er sprachen von ihren Ausflügen zu Pferde. Sie lachte ein wenig über seine Art zu Pferde zu sitzen. Sie nannte ihn den »Ritter von der traurigen Gestalt« und er sie »die Amazonen-Königin.«

Da klang plötzlich unter den Fenstern ein Schuß, und Johanna stieß einen kleinen Schrei aus. Es war der Graf, der eine Kropfente gestreckt hatte. Seine Frau rief ihn sofort. Man hörte das Anlaufen eines Bootes und er erschien in hohen Stiefeln, von zwei wassertriefenden Hunden gefolgt, die rot waren, wie er, und die sich auf den Abtreter vor der Thür legten.

Er schien sich in seinen vier Pfählen sicherer zu fühlen und freute sich über seine Gäste. Er ließ im Kamin Feuer nachlegen, Madeira und Bisquit bringen, und plötzlich rief er:

– Aber Sie bleiben natürlich zu Tisch, das ist selbstverständlich.

Johanna, die nie ihr Kind vergaß, lehnte ab. Er bat noch einmal, als sie aber dabei blieb, nicht annehmen zu wollen, machte Julius eine ungeduldige, Bewegung. Da fürchtete sie, seine böse Laune und Streitsucht zu erwecken, und obgleich ihr der Gedanke, Paul erst am andern Tage wieder zu sehen, Qualen verursachte, nahm sie die Einladung an.

Der Nachmittag war reizend. Zuerst wurden die Quellen besucht. Sie ergossen sich am Fuß eines bemoosten Felsens in ein klares Bassin, in dem es immer brodelte und zischte, wie wenn das Wasser kochte. Dann wurde eine Bootfahrt unternommen auf richtigen Wasserstraßen, die in einen Wald trockenen Schilfes eingeschnitten waren. Der Graf saß zwischen seinen beiden Hunden, die immer in der Luft herumschnupperten. Jeder Stoß seiner Ruder hob das große Boot und drückte es vorwärts. Ab und zu ließ Johanna ihre Hand in das kalte Wasser hängen und freute sich über die eisige Kühle, die ihr von den Fingern bis ans Herz lief. Ganz hinten im Boot saßen Julius und die Gräfin in Shawles eingewickelt, jenes stehende Lächeln auf den Lippen wie glückliche Menschen, die in ihrem Glück keine Worte finden.

Es war dunkel, ein langer, kalter Hauch fuhr daher, der Nordwind, der über das trockene Röhricht blies. Die Sonne war hinter den Tannen untergetaucht und allein schon beim Anblick des roten, mit kleinen scharlachenen Wölkchen übersäeten Himmels ward einem kalt.

Sie kehrten in den großen Salon zurück, in dem ein gewaltiges Feuer brannte. Das gab gleich beim Eintritt ein Gefühl von Wärme und Molligkeit. Da nahm der Graf, der aufgeräumt war und guter Laune, seine Frau in seine Athletenarme, hob sie wie ein Kind bis an seinen Mund und gab ihr zwei kräftige Küsse auf die Wangen, wie ein braver, zufriedener Mann.

Und Johanna betrachtete lächelnd diesen gutmütigen Riesen, den man, schon wenn man seinen gewaltigen struppigen Bart sah, für einen Menschenfresser gehalten hätte, und dachte: »Es ist doch sonderbar, wie man sich immer in den Menschen täuscht.« Als sie fast unwillkürlich die Blicke zu Julius wendete, gewahrte sie ihn, wie er in der Thür stand, totenbleich, starr die Augen auf den Grafen gerichtet. Sie näherte sich ängstlich ihrem Mann und fragte mit leiser Stimme:

– Bist Du krank? Was fehlt Dir denn?

Er antwortete erbost:

– Nichts, laß mich zufrieden. Mir war kalt.

Als sie ins Eßzimmer gingen, bat der Graf um die Erlaubnis, seine Hunde mitnehmen zu dürfen. Sie kamen sofort und setzten sich bellend rechts und links neben ihren Herrn. Alle Augenblicke gab er ihnen einen Bissen und streichelte ihre langen Behänge. Die Tiere streckten den Kopf, wedelten mit dem Schwanz, zitternd vor Befriedigung.

Als Johanna und Julius nach dem Essen aufbrechen wollten, hielt sie der Graf noch zurück, um ihnen einen Fischfang bei Fackelbeleuchtung zu zeigen.

Sie mußten mit der Gräfin auf der Terrasse, die zum Teich hinunterführte, Platz nehmen, und er stieg mit einem Diener, der ein Fischnetz und eine brennende Fackel trug, ins Boot.

Die Nacht war hell und kalt, und darüber flimmerte der sternenbesäete Himmel.

Die Fackel warf auf das Wasser seltsame, hin- und herzitternde Feuerstreifen, tanzende Lichter auf das Schilf und beleuchtete die dunklen Reihen Tannen. Als plötzlich das Boot gewendet hatte, erschien ein riesiger, fantastischer Schatten, der Schatten eines Mannes auf dem erhellten Waldessaum. Der Kopf ragte über die Bäume hinaus und verlor sich am Himmel, die Füße tauchten in den Teich. Dann erhob die Riesengestalt die Arme, als wollte sie zu den Sternen langen. Die Riesenarme sanken wieder herab, und sofort hörte man leise etwas im Wasser plätschern.

Nachdem dann das Boot behutsam hin und her gekreuzt, schien das wundersame Gespenst am Walde hinzulaufen, den das Licht bei der Wendung nun erhellte, dann stieg es in den unsichtbaren Horizont, erschien plötzlich wieder, weniger groß, aber deutlicher mit seinen fantastischen Bewegungen auf der Fassade des Schlosses. Und die gewaltige Stimme des Grafen tönte:

– Gilbert, ich habe acht Stück.

Die Ruder trafen das Wasser. Jetzt blieb der Riesenschatten stehen, unbeweglich an der Mauer. Allmählich verlor er an Höhe und Breite, der Kopf schien zu sinken, der Körper schmaler zu werden, und als der Graf die Stufen der Terrasse heraufkam, vom Diener gefolgt, der die Fackel trug, war der Schatten zur wirklichen Größe seiner Figur zusammengeschrumpft.

Er hatte acht große, zappelnde Fische im Netz.

Als Johanna und Julius wieder auf dem Rückweg waren, in Mäntel und Decken eingepackt, die man ihnen geborgt, sagte Johanna fast unwillkürlich:

– Dieser Riese ist doch ein guter Mensch!

Und Julius, der kutschierte, antwortete:

– Ja, aber er hat nicht immer gute Manieren.

Am Tage darauf besuchten sie die Couteliers, die für die erste Adels-Familie der Provinz galten. Ihr Besitz Reminil stieß an den Ort Cany. Das neue Schloß, das unter Ludwig XIV. gebaut worden war, lag in einem wundervollen Park versteckt, der von Mauern umgeben war. Auf einer Anhöhe erblickte man die Ruine des alten Schlosses. Diener in großer Livree führten die Besucher in einen mächtigen, imposanten Raum. In der Mitte trug eine Art Säule eine Riesen-Porzellanschale aus der Manufaktur von Sèvres, und am Sockel war unter einer Glasplatte ein eigenhändiger Brief des Königs eingelassen, der den Marquis Leopold Hervé Josef Germer von Varnéville von Rollebosc von Coutelier bat, dieses Andenken seines Souverains entgegen zu nehmen.

Johanna und Julius betrachteten gerade das königliche Geschenk, als der Marquis und die Marquise eintraten. Die Marquise war gepudert, liebenswürdig aus Gewohnheit und etwas geziert in dem Wunsch, herablassend zu scheinen. Der Mann, eine bedeutende Persönlichkeit mit weißem Haar, das auf dem Kopfe wie eine Bürste stand, hatte in seinen Bewegungen, in seiner Art zu sprechen, in seinem ganzen Benehmen eine Großartigkeit, die seine Bedeutung anzeigte.

Sie waren förmliche Leute, von jener Art Menschen, deren Geist, Gefühl und Worte immer auf Stelzen zu gehen scheinen. Nur sie sprachen, sie warteten gar keine Antwort ab, sie lächelten nichtssagend und schienen nie zu vergessen, daß ihnen durch ihre Geburt auferlegt war, mit Artigkeit den kleinen Adel der Gegend zu empfangen.

Johanna und Julius fühlten sich wie gelähmt. Sie gaben sich Mühe zu gefallen, fürchteten zu lange zu bleiben, aber wußten nicht, wie sie es anfangen sollten zu gehen. Doch die Marquise beendete ganz von selbst den Besuch auf natürliche, einfache Weise, indem sie ihre Unterhaltung abbrach, wie eine höfliche Königin, die Audienz erteilt hat.

Als sie nach Hause zurückkehrten, sagte Julius:

– Wenn es Dir recht ist, machen wir nun keine Besuche weiter; mir sind die Fourvilles am liebsten. – Und Johanna stimmte bei.

 

Der Dezember ging langsam dahin, dieser schwarze Monat, dieser dunkle Punkt im Jahr. Das eintönige Leben wie früher begann von neuem. Aber Johanna langweilte sich nicht, immer mit Paul beschäftigt, den Julius mit unzufriedenem, unruhigem Blick von der Seite ansah.

Oft hielt ihn die Mutter, wenn sie ihn auf den Armen hatte und mit nicht endender Zärtlichkeit überschüttete, wie es Mütter mit ihren Kindern thun, dem Vater hin und sagte:

– Aber so küsse ihn doch! Es ist ja, als liebtest Du ihn nicht.

Er berührte kaum mit den Lippen, mit einem Ausdruck des Ekels, die glatte Stirn des kleinen Wurms, indem er um den Körper einen Bogen machte, als möchte er nicht von den zappeligen, unruhigen kleinen Händen berührt werden. Dann ging er schnell davon, als triebe ihn ein Widerwille fort.

Ortsvorstand, Arzt und Pfarrer kamen von Zeit zu Zeit zum Essen. Ab und zu auch die Fourvilles, denen sie sich mehr und mehr näherten. Der Graf schien den kleinen Paul geradezu zu lieben. Er hielt ihn, wenn sie zu Besuch da waren, lange auf den Knieen, oft sogar den ganzen Nachmittag hindurch. Er faßte ihn vorsichtig mit seinen Riesenhänden an und kitzelte ihn mit den Spitzen seines langen Schnurrbarts. Dann küßte er ihn leidenschaftlich wie eine Mutter. Es war sein steter Kummer daß seine Ehe kinderlos blieb.

Der März war klar, trocken, fast mild. Die Gräfin sprach wieder von den Spazierritten, die sie miteinander unternehmen wollten. Johanna war müde von den langen Abenden, den langen Nächten, den langen, ewiggleichen, eintönigen Tagen, und sie willigte ein, glückselig über diese Pläne. Eine Woche lang unterhielt sie sich damit, sich ein Reitkleid zurechtzumachen. Dann begannen sie die Ausflüge zu Pferde. Sie ritten immer zwei und zwei, voran die Gräfin mit Julius, hundert Schritte hinter ihnen der Graf und Johanna.

Die beiden sprachen ruhig miteinander wie zwei Freunde, denn sie waren Freunde geworden: ihre ehrlichen Seelen, ihre einfachen Herzen hatten sich gefunden. Die beiden voran flüsterten oft, lachten manchmal heftig und laut und blickten sich plötzlich an, als ob ihre Augen sich Dinge gesagt hätten, die nicht über ihre Lippen gekommen. Plötzlich eilten sie im Galopp davon, wie im Wunsch zu fliehen, fortzueilen, weit, weit fort!

Dann war es, als wäre Gilberta erregt, ein Windstoß trug oft ihre lebhafte Stimme zu den Ohren der beiden zurück gebliebenen Reiter, dann lächelte der Graf und sagte zu Johanna:

– Meine Frau ist nicht etwa immer guter Laune.

Eines Abends, als sie heimkehrten und die Gräfin ihre Stute unnütz aufregte, ihr die Sporen gebend und sie dann plötzlich mit jäher Parade zurückhaltend, hörte man, wie Julius manchmal sagte:

– Nehmen Sie sich in Acht, nehmen Sie sich in Acht, der Gaul geht noch mal durch!

Sie antwortete: »Ach was, das geht Sie ja nichts an«, in so klarem und hartem Ton, daß die Worte über das Feld klangen, als ob sie in der Luft hängen geblieben wären.

Das Tier bäumte sich, schlug aus und schäumte ins Gebiß. Plötzlich rief der Graf, der ungeduldig geworden war, mit vollen Lungen:

– Paß doch auf, Gilberta!

Sie schlug in einem Augenblick jener weiblichen Nervosität, die nichts beruhigen kann, auf rohe Weise mit ihrer Reitpeitsche das Tier zwischen die Ohren, sodaß es stieg, wütend mit den Vorderbeinen in der Luft herumfuchtelte, dann wieder fußte, mit einem mächtigen Satze davonflog und über die ganze Ebene hin in rasendem Laufe abging.

Zuerst jagte sie über flache Wiesen, dann kam sie auf Äcker und die nasse, fette Erde spritzte nur so hinter ihr her. Sie schoß so schnell dahin, daß man Roß und Reiterin kaum erkennen konnte.

Julius blieb ganz verstört halten und rief verzweifelt:

– Gräfin! Gräfin!

Der Graf brummte etwas, beugte sich auf das Widerrist seines mächtigen Pferdes, warf es mit einem Stoß des ganzen Körpers vorwärts und trieb es dermaßen an, durch Stimme, Bewegung, mit dem Gesäß, mit den Sporen, daß es den Eindruck machte, als ob der Riesenreiter das schwere Tier zwischen den Beinen aufhöbe, davontrüge, und mit ihm fortflöge. Sie schossen in wahnsinniger Hast dahin, geradeaus, vorwärts. Und Johanna sah in der Ferne die beiden Gestalten der Reiter, Frau und Mann, fliehen und fliehen und immer kleiner werden, verlöschen und verschwinden, wie man zwei Vögel, die sich verfolgen, sich in der Ferne verlieren und endlich am Horizont verschwinden sieht.

Da näherte sich Julius immer noch im Schritt und brummte:

– Ich glaube, heute ist sie verrückt.

Und beide folgten ihren Freunden, die nun hinter einer Bodenwelle verschwunden waren.

Nach einer Viertelstunde sahen sie die beiden zurückkommen und hatten sie bald erreicht.

Der Graf war rot, in Schweiß gebadet. Er lachte zufrieden, triumphierend und hielt mit eiserner Faust die Zügel des zitternden Pferdes seiner Frau. Sie war bleich und hatte einen schmerzvollen, verzerrten Ausdruck, und mit einer Hand hielt sie sich an der Schulter ihres Mannes, als fürchte sie, ohnmächtig zu werden.

An diesem Tage ward es Johanna klar, daß der Graf unsäglich in seine Frau verliebt war.

Dann war die Gräfin während des folgenden Monats so lustig, wie sie es nie gewesen. Sie kam häufig nach Les Peuples, lachte unaufhörlich und küßte Johanna in Anfällen plötzlicher Zärtlichkeit. Es war, als ob eine wundersame Freude ihr plötzlich begegnet wäre. Ihr Mann, der selbst glückselig war, ließ sie nicht aus den Augen, suchte alle Augenblicke ihre Hand zu berühren oder ihr Kleid im neuen Ansturm der Leidenschaft.

Eines Abends sagte er zu Johanna:

– Wir sind in glücklicher Stimmung jetzt, Gilberta ist nie so nett gewesen wie jetzt. Sie ist nicht mehr schlechter Laune, nicht mehr wütend, ich fühle, daß sie mich liebt, während ich es bis jetzt doch noch nicht bestimmt wußte.

Auch Julius schien verändert. Er war heiter, weniger ungeduldig, als ob die gegenseitige Freundschaft der Familien beiden Friede und Freude gebracht.

Das Frühjahr kam besonders zeitig und war auffallend warm. Vom milden Morgen bis zum milden, lauen Abend ließ die Sonne es auf der ganzen Oberfläche der Erde sprossen. Es war ein gewaltiges Blühen und Erwachen aller Keime zu gleicher Zeit, jenes unwiderstehliche Aufschießen, jene brünstige Wiedergeburt, die die Natur manchmal in besonderen Jahren zeigt, sodaß man an die Verjüngung der Welt glauben könnte.

Johanna fühlte sich durch diese Fruchtbarkeit der Natur seltsam bewegt. Vor irgend einer kleinen Blume im Grase ward sie plötzlich schwach und matt, und eine köstliche Melancholie kam über sie in solchen Stunden träumerischer Weichheit. Dann kamen zärtliche Erinnerungen an die ersten Stunden ihrer Liebe; nicht eine neue Leidenschaft für Julius, denn das war aus für immer, aber ihr ganzer Körper, den die Winde umspielten, den die Lenzdüfte umwehten, ward wie ergriffen von einem unsichtbaren, zarten Gefühl.

Sie war gern allein, ließ sich von der warmen Sonne bescheinen und dann kamen Empfindungen über sie, ein unbestimmtes, reines Glück, daß ihr Denken verlöschte.

Eines Morgens, als sie so träumte, hatte sie eine Vision. Sie sah plötzlich jene von der Sonne bestrahlte Stelle mitten im dunklen Laubwerk vor sich in dem kleinen Gehölz bei Etretat. Da war ihr zum ersten Mal an der Seite dieses jungen Mannes, der sie damals liebte, ein Schauer über den Leib gelaufen, da hatte er zum ersten Mal die schüchternen Wünsche seines Herzens gestanden, und auch da war plötzlich der Glaube über sie gekommen an alles strahlende Glück der Zukunft.

Und dieses Wäldchen wollte sie wiedersehen, dorthin eine Art sentimentalen, abergläubischen Pilgerzugs unternehmen, als ob die Rückkehr an diesen Ort etwas im Gange ihres Lebens ändern könne.

Julius war schon bei Tagesanbruch fort, sie wußte nicht wohin. Sie ließ also den kleinen Schimmel von Martins satteln, den sie jetzt manchmal ritt, und machte sich auf den Weg.

Es war einer jener stillen Morgen, wo sich nirgends etwas bewegt, kein Grashalm, kein Blatt, alles scheint für immer unbeweglich, als ob der Wind gestorben sei. Es war, als wären selbst die Insekten verschwunden.

Die Sonne strömte glühenden erhabenen Frieden herab, und Johanna ritt glücklich, von ihrem Pferde gewiegt, dahin.

Ab und zu blickte sie auf zu einer kleinen, weißen Wolke, die wie eine Flocke, so groß wie ein Stück Watte, dort oben hing und ganz allein dort vergessen schien, mitten im blauen Himmel.

Sie ritt in das Thal hinab, das nach dem Meer führt, zwischen jenen beiden, großen Klippenbögen, die man die Pforten von Etretat nennt, und ganz allmählich lenkte sie nach dem Walde zu ein. Durch das noch dünne Laub stiebte das Licht wie Regen, und sie suchte nach der Stelle, ohne sie zu finden, und irrte die kleinen Wege hin und her.

Da sah sie plötzlich, als sie eine lange Allee querte, am Ende zwei Reitpferde an einen Baum gebunden, die sie sofort erkannte. Es waren die von Gilberta und Julius. Die Einsamkeit lastete auf ihr, und so war sie glücklich über diese unvermutete Begegnung und setzte ihren Gaul in Trab.

Als sie die beiden, geduldigen Tiere erreicht hatte, die da standen, als wären sie an langen Aufenthalt schon gewöhnt, rief Johanna, ohne irgend eine Antwort zu erhalten.

Ein Damenhandschuh und die beiden Reitpeitschen lagen auf dem zertretenen Rasen. Dort hatten sie also gesessen, dann sich ein Stück entfernt und ihre Pferde hier stehen gelassen.

Sie wartete eine Viertelstunde, zwanzig Minuten, erstaunt, denn sie wußte nicht, was die beiden treiben könnten. Sie war abgesessen, und blieb so regungslos gegen einen Baumstamm gelehnt. Da ließen sich zwei kleine Vögel, ohne sie zu bemerken, in ihrer Nähe ins Gras fallen. Der eine von beiden hüpfte um den andern herum, mit flatternden, zuckenden Flügeln, piepend und mit dem Kopfe nickend, und plötzlich schnäbelten sie sich.

Johanna war erstaunt als hätte sie so etwas nie gekannt, bis sie sich sagte:

– Es ist wahr, es ist ja Frühling.

Dann kam ihr ein anderer Gedanke, ein Verdacht. Sie blickte von weitem den Handschuh, die Reitpeitsche und die beiden verlassenen Pferde an und saß schnell wieder auf, mit nur einem unbezähmbaren Gedanken: zu entfliehen.

Nun galoppierte sie davon, Les Peuples zu. In ihrem Kopf arbeitete es, sie überlegte, stellte die Thatsachen zusammen. Wie war es nur möglich gewesen, daß sie das nicht früher gemerkt hatte, daß sie gar nichts gesehen hatte? Wie hatte sie nur gar nicht verstanden, was die Abwesenheit Julius' bedeute, die Wiederkehr seiner früheren Eleganz und seiner besseren Laune?

Sie dachte auch wieder an die nervöse Schroffheit von Gilberta, ihre übertriebene Zärtlichkeit und diese glückliche Stimmung, in der sie sich seit einiger Zeit befand und über die sich der Graf so freute.

Sie ließ ihr Pferd wieder in Schritt fallen, denn sie mußte ernst nachsinnen, und die schnelle Bewegung störte sie in ihren Gedanken.

Nachdem die erste Erregung vorüber war, wurde ihr Herz fast wieder ruhig. Sie fühlte keine Eifersucht, keinen Haß, nur Verachtung. Sie dachte kaum an Julius, es wunderte sie gar nichts mehr von ihm, aber der doppelte Verrat der Gräfin, ihrer Freundin, empörte sie.

Alle Menschen waren also niederträchtig, lügnerisch und falsch! Und Thränen traten ihr in die Augen. Verlorene Illusionen beweint man oft so sehr, wie einen Toten.

Aber sie nahm sich trotzdem vor, so zu thun, als wüßte sie von nichts und ihr Herz aller Liebe zu verschließen, niemanden zu lieben als Paul und ihre Eltern, und der andern Menschen Gegenwart mit ruhiger Miene zu ertragen.

Sobald sie heimgekehrt war, warf sie sich auf ihren Sohn, trug ihn in sein Zimmer und küßte ihn wütend eine Stunde lang ohne Aufhören.

Julius kehrte zum Essen heim, lächelnd, reizend, liebenswürdig und fragte:

– Kommen denn Papa und Mutting dieses Jahr nicht?

Sie war ihm für diese Aufmerksamkeit so dankbar, daß sie ihm fast die Entdeckung im Walde verzieh, und der heftige Wunsch überkam sie plötzlich, so schnell als möglich die beiden Menschen wiederzusehen, die sie nächst Paul am meisten liebte. Sie brachte den ganzen Abend damit zu, ihnen zu schreiben, damit sie nur schneller kommen sollten.

Sie zeigten ihre Ankunft für den 20. Mai an. Es war erst der siebente des Monats, und mit immer steigender Ungeduld erwartete sie die Eltern, als ob sie außer ihrer kindlichen Zuneigung noch das Bedürfnis empfunden hätte, mit ehrlichen Seelen in Berührung zu sein, mit offenen, reinen Menschen, denen alle Niedrigkeit fern lag, deren Leben, Handlungen, Gedanken und Wünsche immer gerade und ehrlich gewesen.

Sie fühlte sich wie vereinsamt in ihrer Anständigkeit unter all diesen angefressenen Naturen, obgleich sie schnell gelernt hatte zu heucheln. Obgleich sie der Gräfin die Hand entgegenstreckte und lächelnd die Lippen bot, fühlte sie in sich die Leere, die Menschenverachtung wachsen und sich entwickeln, und täglich senkten ihr die Neuigkeiten der Gegend einen größeren Ekel, eine größere Verachtung ihrer Umgebung ins Herz.

Die Tochter der Couillards hatte ein Kind gehabt und die Hochzeit sollte stattfinden.

Die Magd von Martins – eine Waise – war in andern Umständen; eine kleine Nachbarin, nur fünfzehn Jahre alt, desgleichen; eine Witwe, ein unglückliches, schmutziges, hinkendes, schmieriges Geschöpf, das nur »Dreckschwein« genannt wurde, war sogar trotz ihrer Verkommenheit ebenso.

Alle Augenblicke hörte man von einem neuen Vorfall dieser Art oder von irgend einem leichtsinnigen Streich, den ein Mädchen begangen, eine verheiratete Bäuerin, Familienmutter oder irgendein reicher, angesehener Bauer.

Dies wonnige Frühjahr schien die Säfte emporzutreiben, in den Menschen wie in den Pflanzen, und Johanna, deren erloschene Sinne schwiegen, deren gepeinigtes Herz, deren sentimentale Seele nur durch die warmen, fruchtbaren Düfte bewegt ward, die da träumte, wunschlos begeistert, die das Sehnen liebte, aber der Sinnlichkeit fremd geworden war, wunderte sich voll Widerwillen, der zum Haß wurde, über diesen tierischen Schmutz.

Die Liebe zweier Wesen empörte sie jetzt, wie etwas Unnatürliches; wenn sie Gilberta zürnte, so war es nicht, weil sie ihr den Mann genommen, sondern weil auch sie in diesen allgemeinen Sumpf geraten war.

Sie war doch nicht aus demselben Blut wie diese Bauern, bei denen die niedrigen Triebe herrschen, wie hatte sie sich ebenso gehen lassen können wie dieses Gesindel?

Am Tage, als ihre Eltern ankommen sollten, fachte Julius ihren Widerwillen noch einmal an, indem er ihr lächelnd erzählte, als etwas ganz Natürliches und Komisches, daß der Bäcker am Tage vorher Lärm in seinem Backofen gehört, obgleich es nicht Backcktag gewesen sei; er hatte gemeint, eine herumwandernde Ratte darin zu finden, und entdeckte seine Frau, die nicht gerade Brot hineinthat.

Er schloß:

– Der Bäcker hat die Öffnung zugestopft, und sie wären beinahe darin erstickt, wenn nicht der kleine Sohn der Bäckersfrau die Nachbarn alarmiert hätte, da der Junge die Mutter mit dem Schmied hatte hineinkriechen sehen.

Und Julius lachte, indem er sagte:

– Die Witzbolde geben uns jetzt Liebesbrode zu essen. Das ist wie eine Fabel von Lafontaine.

Johanna mochte kein Brod mehr anrühren.

Als die Extrapost an der Rampe hielt und das glücklich lächelnde Gesicht des Barons an der Scheibe erschien, war die junge Frau tief bewegt, und ein Durst nach Liebe kam über sie, wie sie ihn noch nie empfunden.

Sie war erregt und erschrocken und konnte sich fast nicht mehr auf den Beinen halten, als sie Mutting erblickte.

Die Baronin war in diesen sechs Wintermonaten um zehn Jahre älter geworden. Ihre gedunsenen, schlaffen, hängenden Backen hatten sich gerötet, wie mit Blut gefüllt, ihr Auge sah erloschen aus, und sie konnte sich nur noch bewegen, wenn man sie unter beide Armen faßte. Ihr kurzer Atem war pfeifend geworden und ging so schwer, daß man an ihrer Seite fast ein schmerzliches, peinliches Gefühl empfand.

Der Baron, der sie täglich sah, hatte von diesem Verfall nichts bemerkt, und wenn sie sich über ihre Atemlosigkeit beschwerte und darüber, daß sie immer unbeweglicher würde, sagte er:

– Aber liebes Kind, ich habe Dich ja nie anders gekannt.

Nachdem Johanna sie auf ihr Zimmer begleitet hatte, zog sie sich auf das ihrige zurück und weinte bitterlich. Dann suchte sie ihren Vater wieder auf, warf sich an seine Brust, noch Thränen in den Augen und sagte:

– Aber wie Mama verändert ist! Sag nur mal, was hat sie denn?

Er war sehr erstaunt:

– Findest Du, ich finde nicht. Weißt Du, ich habe sie doch nie verlassen, und ich finde, daß es ihr gar nicht schlechter geht, sie ist doch wie immer.

Abends sagte Julius zu seiner Frau:

– Hör mal, Deiner Mutter geht es aber schlecht, ich glaube, mit ihr sieht's sehr bös aus.

Als Johanna nun anfing zu schluchzen, ward er ungeduldig:

– Na, sei doch gut, ich sage doch nicht, daß sie verloren ist, Du schüttest immer das Kind mit dem Bade aus. Sie hat sich eben verändert! Das Alter macht sich bemerklich.

Nach acht Tagen dachte sie nicht mehr daran, sie war an das veränderte Aussehen der Mutter gewöhnt, und vielleicht drängte sie ihre Besorgnis zurück, wie man immer aus instinktivem Egoismus, im natürlichen Wunsch seine Seelenruhe zu bewahren, Vorahnungen und drohendes Leid zurückzudrängen sucht.

Die Baronin, die nicht mehr gehen konnte, schöpfte täglich nur eine halbe Stunde Luft. Ihren Weg, den sie nur ein einziges Mal halb hinunter gegangen war, war sie nicht mehr fähig abzuschreiten; sie verlangte sofort, sich auf ihre Bank zu setzen, und wenn sie sich nicht imstande fühlte, den Weg auch nur bis dahin zurückzulegen, sagte sie:

– Wir wollen anhalten, heute zerbricht mir meine Hypertrophie die Beine.

Sie lachte kaum mehr und lächelte nur bei Dingen, wobei sie sich noch vor einem Jahr geschüttelt hätte.

Da aber ihre Augen vorzüglich geblieben waren, so las sie den ganzen Tag »Corinna« oder Lamartines »Betrachtungen«, oder man mußte ihr die Schublade mit den Andenken bringen. Wenn sie dann die alten Briefe, die ihr lieb waren, auf den Schoß geschüttet hatte, ließ sie das Fach neben sich auf einen Stuhl stellen, und legte dann ihre Reliquien, eine nach der andern, nachdem sie sie lange betrachtet, wieder in das Fach zurück; wenn sie allein war, ganz allein, küßte sie einzelne davon, wie man heimlich das Haar der Toten küßt, die man geliebt hat.

Manchmal kam Johanna unerwartet herein, und dann fand sie sie in Thränen, in Thränen der Trauer. Da rief Johanna:

– Was hast Du denn Mutting?

Und die Baronin antwortete nach langem Seufzen:

– Daran sind meine Reliquien schuld. Man denkt da immer wieder an Dinge, die so schön gewesen und nun vorbei sind. Und dann tauchen Menschen auf, an die man nie wieder gedacht hat und die plötzlich vor einem stehen, man meint sie zu sehen, sie zu hören, und das ist gräßlich, das wirst Du später kennenlernen.

Wenn der Baron in solchen Augenblicken der Melancholie dazu kam, sagte er:

– Johanna liebes Kind, glaube mir, verbrenne Deine Briefe, alle Deine Briefe, die von Mama, die von mir. Alle! Es giebt nichts Schrecklicheres, als wenn man alt ist, an die Jugend zurückzudenken.

Aber auch Johanna hob ihre Briefe auf und bereitete ihr Reliquienkästchen vor, trotzdem sie doch ganz anders war wie ihre Mutter, in den sentimentalen Träumen aber einer Art ererbten Instinkt gehorchend.

Nach ein paar Tagen mußte der Baron fort in einer Geschäftsangelegenheit.

Das Wetter war wundervoll. Die Nächte, mild und sternenflimmernd, folgten milden Abenden, die klaren Abende hellen Tagen und die hellen Tage einem strahlenden Morgen. Mutting ging es bald besser, und Johanna vergaß Julius' Abwege und Gilbertas Niedertracht und fühlte sich fast ganz glücklich. Alles blühte und duftete, und das immer ruhige Meer glänzte von früh bis abend unter dem kristallnen Himmel.

Johanna nahm eines Nachmittags Paul auf den Arm und ging spazieren über Feld. Ab und zu blickte sie ihren Sohn an, dann sah sie auf das Blumen-übersäete Gras längs des Weges und fühlte sich feierlich glücklich gestimmt. Alle Augenblicke küßte sie das Kind und drückte es leidenschaftlich an sich, dann traf sie irgend ein kräftiger ländlicher Duft, und sie fühlte sich ganz ermattet in unendlichem Wohlsein. Dann träumte sie von seiner Zukunft. Was sollte er werden? Manchmal wollte sie, daß er ein großer Mann würde, berühmt, mächtig, dann meinte sie wieder, es wäre besser, er würde ein bescheidenes Menschlein, bliebe bei ihr, immer zärtlich, immer an der Mutter Seite.

Wenn sie nur ihr selbstsüchtiges Mutterherz sprechen ließ, wünschte sie, er möchte ihr Sohn bleiben, nur ihr Sohn; aber wenn die Vernunft die Oberhand gewann, hatte sie Ehrgeiz für ihn, daß er etwas werden sollte in der Welt.

Sie setzte sich an den Rand eines Grabens und betrachtete ihn, es schien ihr, als hätte sie ihn noch nie gesehen, und sie war plötzlich erstaunt in dem Gedanken, daß dieses kleine Wesen einmal groß werden sollte, daß er mit festem Schritt dahingehen, einen Bart tragen und mit männlicher Stimme reden würde.

In der Ferne rief sie jemand, sie blickte auf. Marius kam gelaufen; da dachte sie, Besuch wäre gekommen, und erhob sich ärgerlich, gestört zu werden. Aber der Bengel lief, so schnell er konnte, und rief, sobald er nahe genug war:

– Frau Gräfin, es geht der Frau Baronin schlecht!

Es war ihr, als liefe ihr ein eiskalter Tropfen über den Rücken, und ganz verstört eilte sie mit großen Schritten davon.

Schon von weitem gewahrte sie eine Menge Menschen unter der Platane. Sie stürzte herbei, die Leute traten zur Seite, und sie sah die Mutter am Boden liegen, zwei Kissen unter dem Kopf. Ihr Gesicht war ganz schwarz, die Augen hatte sie geschlossen und die Brust, die seit zwanzig Jahren nach Luft rang, bewegte sich nicht mehr. Die Amme nahm der jungen Frau das Kind ab und trug es davon.

Johanna starrte vor sich hin und fragte:

– Was ist denn geschehen? Ist sie denn gefallen? Man soll sofort den Arzt holen.

Und wie sie sich umdrehte, sah sie den Pfarrer, der, man wußte nicht wie, in Kenntnis gesetzt worden war.

Er bot seine Hilfe an und bemühte sich, indem er die Ärmel seines Priesterrockes zurückschlug. Aber die Essig- und Eau de Cologne-Einreibungen blieben wirkungslos.

– Man müßte sie entkleiden und sie zu Bett bringen, sagte der Priester.

Der Pächter Josef Couillard war da, ebenso der alte Simon und Ludwine. Mit Hilfe des Pfarrers Picot wollten sie die Baronin forttragen, aber als sie sie aufhoben, fiel der Kopf zurück und das Kleid, an dem sie anfaßten, zerriß, so schwer und unbeweglich war ihr mächtiger Leib.

Da kreischte Johanna vor Entsetzen laut auf und sie ließen den unförmlichen, schwammigen Leib zu Boden sinken.

Sie mußten einen Stuhl aus dem Salon holen, und nachdem man sie hineingesetzt, konnte man sie endlich forttragen. Schritt für Schritt ging es die Stufen hinauf, dann die Treppe, und in ihrem Zimmer wurde sie aufs Bett gelegt. Als die Köchin nicht mit dem Ausziehen zurecht kommen konnte, fand sich gerade die Witwe Dentu hinzu, die eben gekommen war, ebenso wie der Priester, als hätten sie, wie die Dienstboten sagten, »den Tod gerochen.«

Josef Couillard stürzte Hals über Kopf zum Doktor, und als der Priester sich anschickte, die heiligen Gefäße für die letzte Ölung zu holen, flüsterte ihm die Witwe Dentu ins Ohr:

– Geben Sie sich keine Mühe, Herr Pfarrer, ich verstehe mich darauf. Sie ist weg.

Johanna betete in ihrer Verzweiflung, sie wußte nicht, was thun, was versuchen, welches Mittel anwenden.

Der Pfarrer gab ihr für alle Fälle die Absolution. Zwei Stunden warteten sie neben diesem violetten, leblosen Körper. Johanna, die jetzt in die Kniee gesunken war, schluchzte vor schmerzlicher Verzweiflung. Als die Thür aufging und der Arzt erschien, war es ihr, als träte die Rettung herein, der Trost, die Hoffnung. Sie ging auf ihn zu und sagte stammelnd alles, was sie wußte:

– Sie ging wie immer spazieren. Sie war ganz wohl, war sehr wohl sogar . . . . . . sie hatte zum Frühstück Bouillon und zwei Eier zu sich genommen . . . . . . sie ist umgefallen . . . . sie ist gleich so schwarz geworden, wie Sie sie jetzt sehen . . . . sie hat sich nicht mehr bewegt . . . . . . wir haben alles versucht, sie wieder ins Leben zu bringen . . . . . alles . . . . .

Sie schwieg, weil die Wärterin dem Arzte ein heimliches Zeichen gegeben hatte, daß alles aus wäre, wirklich aus; aber sie wollte nicht verstehen und fragte ängstlich:

– Ist es ernst? Glauben Sie, daß es ernst ist?

Er sagte endlich:

– Ich fürchte, es ist ernst. Ich fürchte, doch haben Sie Mut! Haben Sie Mut!

Johanna warf sich mit geöffneten Armen über die Mutter.

Julius trat wieder ein. Er war ganz erstarrt, sehr bewegt, aber ohne einen Laut des Schmerzes oder der Verzweiflung, denn ihm war die Nachricht zu plötzlich gekommen, als daß er die passende Miene und Haltung hätte annehmen können, wie sie die Situation erforderte. Er flüsterte:

– Das dachte ich, ich fühlte, daß es so kommen würde.

Dann zog er sein Taschentuch, wischte die Augen, kniete nieder, bekreuzte sich, murmelte etwas und wollte, nachdem er aufgestanden war, auch seine Frau aufrichten. Aber sie hielt die im Bett liegende Leiche umarmt und küßte sie. Man mußte sie fortbringen, denn sie schien wie von Sinnen.

Nach Ablauf einer Stunde ließ man sie wiederkommen, es war keine Hoffnung mehr. Das Zimmer war schon als Totengemach hergerichtet. Julius und der Priester standen am Fenster und sprachen leise miteinander, die Witwe Dentu saß nach ihrer Art in einem Stuhl, wie eine Frau, die an die Totenwache gewöhnt ist und sich heimisch fühlt in einem Hause, wo der Tod Einzug gehalten.

Es ward Nacht, der Pfarrer ging auf Johanna zu, nahm ihre Hand, redete ihr zu, indem er auf das untröstliche Herz die salbungsvolle Flut der Tröstungen der Kirche ergoß.

Er sprach von der Verblichenen, feierte sie in priesterlichen Worten und traurig, mit jener falschen, berufsmäßigen Trauermiene des Priesters, erbot er sich, die Nacht betend bei der Leiche zuzubringen.

Doch Johanna lehnte unter heftigem Schluchzen ab. Sie wollte allein sein, ganz allein in dieser letzten Nacht. Julius trat zu ihr:

– Das geht nicht, wir wollen beide wachen.

Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen. Endlich brachte sie heraus:

– Sie ist meine Mutter, meine Mutter, ich will allein bei ihr wachen.

Der Arzt flüsterte:

– Lassen Sie ihr den Willen, die Wärterin kann im Nebenzimmer bleiben.

Der Priester und Julius traten gedankenvoll an das Bett der Toten, dann kniete der Pfarrer Picot auch nieder, betete, erhob sich wieder und ging mit den Worten:

»Sie war eine Heilige«, in demselben Ton, in dem er sagte: Dominus vobiscum.

Dann fragte der Vicomte in gewöhnlichem Ton:

– Willst Du nicht etwas essen?

Johanna antwortete nicht, sie wußte nicht, daß er mit ihr sprach. Er wiederholte: – Es wäre vielleicht ganz gut, wenn Du etwas äßest, um Dich aufrecht zu erhalten. Sie antwortete verstört:

– Laß sofort Papa rufen!

Und er ging, um einen reitenden Boten nach Rouen zu schicken.

Sie blieb in einer Art erstarrten Schmerz versunken, als ob sie nur auf das letzte Alleinsein mit der Toten gewartet hätte, um sich ganz ihrer Verzweiflung zu überlassen.

Es war dunkel geworden im Zimmer, die Dämmerung hüllte die Leiche ein. Die Witwe Dentu begann mit ihrem leisen Schritt hin und her zu gehen, unsichtbare Gegenstände suchend und hin und her legend, mit den lautlosen Bewegungen der Krankenwärterin.

Dann zündete sie zwei Lichter an, die sie leise auf den mit einer weißen Serviette bedeckten Nachttisch am Kopfende des Bettes stellte.

Johanna schien nichts zu sehen, nichts zu fühlen, nichts zu verstehen. Sie wartete darauf, allein zu sein. Julius trat wieder ein, er hatte gegessen und fragte noch einmal:

– Willst Du nichts zu Dir nehmen?

Seine Frau schüttelte den Kopf. Er setzte sich nun mit ergebener Miene zu ihr und schwieg, als wäre er traurig. So blieben sie alle drei bewegungslos, ab und zu schlief die Wärterin ein, schnarchte ein wenig und schreckte dann plötzlich wieder empor.

Endlich stand Julius auf, mit den Worten:

– Willst Du jetzt wirklich allein bleiben?

Sie nahm in unwillkürlichem Antrieb seine Hand und sagte:

– Ja, ja, laß mich allein!

Er küßte sie auf die Stirn und flüsterte:

– Ich werde von Zeit zu Zeit nach Dir sehen!

Und er ging mit der Witwe Dentu hinaus, die ihren Stuhl ins Nebenzimmer rollte.

Johanna schloß die Thür, dann öffnete sie weit die beiden Fenster, und der laue Abendhauch, mit dem von den Wiesen der Heuduft hereinströmte, schlug ihr entgegen, denn das Heu, das zwei Tage vorher gemäht worden, lag da drüben im Mondschein.

Diese milde Luft war ihr unangenehm und traf sie wie ein Hohn. Sie trat wieder ans Bett, nahm eine der kalten, leblosen Hände und begann, ihre Mutter zu betrachten.

Sie war nicht mehr geschwollen, wie bei dem Anfall. Jetzt schien sie ruhig zu schlafen, wie sonst, und durch die bleiche Flamme der Lichter, die der Windhauch bewegte, änderten sich jeden Augenblick die Schatten auf ihrem Gesicht und belebten sie, als bewegte sie sich.

Johanna blickte sie starr an, und aus ferner Jugendzeit kamen ihr eine Menge Erinnerungen.

Sie entsann sich der Besuche Muttings im Sprechzimmer des Klosters, wo sie ihr die Düte mit Kuchen gegeben, einer Menge kleiner Einzelheiten, kleiner Zärtlichkeiten, Worte, Töne, Lieblingsbewegungen, der Falten um ihre Augen, wenn sie lachte, ihres tiefen Atemholens, wenn sie sich eben gesetzt, – alles, alles kam ihr wieder ins Gedächtnis, und sie blieb in Gedanken stehen und sagte vor sich hin, als hätte sie den Verstand verloren:

– Sie ist tot!

Und das ganze Furchtbare dieses Wortes ward ihr klar.

Die dort lag, ihre Mutter, ihr Mutting, Frau Adelaide war tot? Sie würde sich nie wieder bewegen, nie wieder sprechen, nie wieder lachen, nie wieder Papachen bei Tisch gegenüber sitzen und nie wieder sagen: »Guten Morgen, Hannele!« Sie war tot!

Man würde sie in den bretternen Kasten legen, ihn zunageln und ihn versenken, und alles wäre aus. Man würde sie nie wieder erblicken. War das möglich, daß sie keine Mutter mehr hatte? Dieses liebe, gewohnte Gesicht, das sie gesehen, seit sie zum ersten Mal die Augen aufgethan, das sie geliebt, seit sie zum ersten Male die Arme ausgestreckt. Dieser Brunnen, aus dem man alle seine Liebe schöpft, dieses einzige Wesen: die Mutter, die für das Menschenherz mehr bedeutet, als alle übrigen Wesen der Erde, war verschwunden, und nur noch ein paar Stunden lang konnte sie ihr Gesicht sehen, diese unbeweglichen Züge, hinter denen kein Gedanke mehr war. Und dann? Dann blieb nur die Erinnerung.

Und sie fiel in furchtbarer Verzweiflung auf die Kniee, die Hände krampften sich in das Betttuch, sie legte den Mund auf das Bett und rief mit herzzerreißender Summe, erstickt in die Decken hinein:

– Ach Mama! Meine arme Mama! Mutting!

Als sie dann fühlte, daß ihre Sinne sich verwirrten, wie damals in jener Nacht, als sie in den Schnee hinaus geflohen war, erhob sie sich und ging ans Fenster, um sich zu erfrischen, um neue Luft einzuatmen, die noch nicht das Lager dieser Toten umspielt.

Der gemähte Rasen, die Bäume, die Haide, dort drüben das Meer lagen in tiefem Frieden, schliefen im stillen Zauber der schimmernden Mondnacht. Etwas von jener ruhigen Milde drang in Johannas Herz und sie fing langsam an zu weinen.

Dann trat sie wieder ans Bett, setzte sich, nahm Muttings Hand, als wachte sie bei einer Kranken. Ein großes Insekt war, durch die Lichter angezogen, hereingeflogen. Es schlug wie ein Ball gegen die Mauer und summte von einem Ende des Zimmers zum andern. Johanna störte das Brummen auf, und sie sah nach ihm, aber sie erblickte nur immer den Schatten, der an der Decke hinhüpfte. Dann hörte sie nichts mehr. Dann achtete sie auf das leise Ticken der Kaminuhr und einen andern leisen Ton, ein kaum vernehmbares Geräusch. Es war Muttings Uhr, die weiter ging, die man in ihrem Kleide hatte stecken lassen, das auf einem Stuhl am Fußende des Bettes lag. Und plötzlich erneuerte sich der bittere Schmerz in Johannas Herzen, durch den unbestimmten Zusammenhang, zwischen der Toten und diesem Räderwerk, das noch immer weiter lief. Sie sah nach der Zeit, es war kaum halb elf Uhr; das Entsetzen packte sie, hier die ganze Nacht zubringen zu sollen.

Sie dachte an andere Dinge, an ihr eigenes Dasein, an Rosalie, Gilberta, an die bittern Enttäuschungen ihres Herzens. Es gab also nur Elend, Kummer und Tod, nur Betrug, nur Lüge, nur Leid und Thränen. Wo sollte man Ruhe und Frieden finden? Wohl in einem andern Leben, wenn die Seele befreit war von dem irdischen Gefährten. Die Seele? Sie begann zu träumen über dies unergründliche Rätsel, und plötzlich kamen ihr poetische Vorstellungen, die ebenso unbestimmte Hypothesen ablösten. Wo war jetzt die Seele ihrer Mutter? Die Seele dieses unbeweglichen, eisigen Körpers? Wahrscheinlich sehr weit, irgendwo im Weltenraume. Aber wo? Verflüchtigt wie der Duft einer vertrockneten Blume, oder herumflatternd, wie ein unsichtbarer Vogel, der seinem Käfig entschlüpft ist?

War sie zu Gott zurückgerufen oder irgendwo in neue Welten verweht, mit andern Keimen vermischt, die sich bald erschließen sollten?

Vielleicht sehr nahe, in diesem Zimmer, in der Nähe dieses leblosen Körpers, den sie verlassen! Und plötzlich war es Johanna, als träfe sie ein Hauch, als berühre sie ein Geist. Sie hatte Angst, eine fürchterliche, so wahnsinnige Angst kam über sie, daß sie nicht wagte, sich nur zu bewegen, noch zu atmen, noch sich umzublicken; ihr Herz schlug wie im Entsetzen.

Und plötzlich begann das unsichtbare Insekt seinen Flug von neuem und stieß wieder, das Zimmer umkreisend, an die Mauer. Sie schauerte zusammen von Kopf zu Fuß, dann, als sie plötzlich das flüchtige Tier erkannte, wurde sie ruhiger, stand auf und drehte sich um. Da fielen ihre Augen auf den Schreibtisch mit den Sphinxköpfen, worin das Reliquienfach war.

Ein seltsam zarter Gedanke überkam sie; sie wollte bei dieser letzten Totenwacht die alten Briefe, die der Toten teuer gewesen, lesen, wie ein heiliges Buch. Es war ihr, als erfülle sie damit eine pietätvolle, heilige Pflicht, eine wahrhaft kindliche Handlung, die drüben in der andern Welt ihr Mutting erfreuen würde.

Es war der Briefwechsel zwischen ihrem Großvater und ihrer Großmutter, die sie nicht gekannt. Sie wollte ihnen über den Körper ihrer Tochter hinweg die Hände reichen, in dieser traurigen Nacht zu ihnen gehen, als ob sie mit ihr litten und ein geheimnisvolles Band der Zärtlichkeit zwischen diesen Längstverstorbenen, der Ebendahingeschiedenen und ihr, der hier auf Erden Zurückgebliebenen, sich schlinge.

Sie erhob sich, ließ die Klappe vom Schreibtisch nieder und nahm aus dem untern Fach eins von den kleinen, gelben Paketen heraus, die sorgsam zusammen geknüpft und neben einander gelegt waren.

Sie legte sie alle aufs Bett, zwischen die Arme der Baronin, aus einer Art besonderen Zartgefühl.

Dann begann sie zu lesen.

Es waren jene alten Briefe, die man in den Familienschreibtischen findet, jene Briefe, die nach einem andern Jahrhundert riechen.

Der erste begann: »Meine Liebe!« Ein anderer: »Mein schönes Enkeltöchterchen!« dann: »Liebe Kleine!« »Mein süßes Kind!« »Geliebte Tochter!« endlich: »Mein liebes Kind!« »Meine liebe Adelaide!« »Meine liebe Tochter!« je nachdem sie gerichtet waren, an die Enkeltochter, an das junge Mädchen und später an die junge Frau.

Alle aber waren voll kindlicher, leidenschaftlicher Zärtlichkeit, tausend intime, kleine Dinge jener einfachen und doch so großen Ereignisse der Familie, die dem Fernstehenden so kleinlich erscheinen.

»Papa hat die Grippe. Die gute Hortensie hat sich die Hand verbrannt. Die Katze ist gestorben. Man hat den Tannenbaum, der gleich am Eingang steht, weißt Du, gefällt. Mutter hat ihr Gebetbuch, als sie aus der Kirche kam, verloren, sie glaubt, es ist ihr gestohlen worden.«

Es war auch darin von unbekannten Leuten die Rede, deren Namen Johanna aber früher in der Kindheit einmal gehört zu haben meinte.

Bei allen diesen Kleinigkeiten, die ihr wie Entdeckungen vorkamen, ward sie weich, als ob sie plötzlich in ein heimlich vorüber gerauschtes Leben, in das Herzensleben Muttings hineingeblickt. Sie sah den Körper an, der dort lag, und plötzlich fing sie an, ganz laut zu lesen, der Toten vorzulesen, als wollte sie sie zerstreuen, sie trösten.

Und der unbewegliche Leichnam schien glücklich zu sein.

Sie warf die Briefe einen nach dem andern auf das Fußende des Bettes und dachte, man sollte sie ihr in den Sarg legen wie Blumen.

Sie knüpfte ein anderes Paket auf, es war eine neue Handschrift, sie begann:

»Ich kann nicht mehr leben ohne Deine Liebe, ich liebe Dich bis zum Wahnsinn.«

Nichts mehr, kein Name.

Sie drehte das Papier in den Händen und begriff nicht, auf der Adresse stand: »Frau Baronin Le Perthuis des Vauds.«

Da öffnete sie den folgenden:

»Komme heute, sobald er fort ist, daß wir ein Stündchen zusammen sind. Ich bete Dich an.«

In einem andern las sie: »Ich habe Dich diese Nacht verzweifelt begehrt, es war mir, als hätte ich Deinen Leib in den Armen, Deinen Mund auf meinen Lippen, als sähen wir uns an, Auge in Auge, und dann packte mich die Verzweiflung, daß ich mich hätte aus dem Fenster stürzen mögen, denn ich dachte daran, daß in dieser Stunde Du selbst an seiner Seite ruhtest, dem Du gehören mußtest, wie er wollte.«

Johanna war erschrocken, sie begriff nicht. Was bedeutete das? An wen, für wen, von wem kamen diese Liebesworte? Sie fuhr fort zu lesen und fand weiter Worte der höchsten Leidenschaft, Festsetzung eines Stelldicheins, dann und wann Mahnungen zur Vorsicht, und immer standen am Schluß diese vier Worte:

»Verbrenne diesen Brief sofort!«

Endlich entfaltete sie ein gleichgiltiges Billet, die Annahme einer Einladung zum Diner, doch von derselben Hand geschrieben und unterzeichnet: »Paul von Ennemare«, der, den der Baron immer, wenn er von ihm sprach, »mein armer, alter Paul« nannte und dessen Frau die beste Freundin der Baronin gewesen war.

Da kam Johanna plötzlich eine Vermutung, die sofort zur Gewißheit ward: dieser Mann war der Liebhaber ihrer Mutter gewesen.

Und da warf sie, außer sich, mit einem Stoß jene ekelhaften Papiere von sich, als ob sie ein giftiges Tier abgeschüttelt hätte. Sie lief ans Fenster und fing herzbrechend an zu weinen, mit lautem Schluchzen, das ihr die Kehle zerriß. Dann konnte sie nicht mehr, brach an der Mauer zusammen und versteckte ihr Gesicht in den Vorhängen, daß man ihr Stöhnen nicht hören sollte. So schluchzte sie, in bodenlose Verzweiflung versunken.

Sie wäre die ganze Nacht so dort geblieben, aber das Geräusch von Schritten im Nebenzimmer schreckte sie auf. Es war vielleicht ihr Vater, und alle die Briefe lagen auf dem Bett und auf dem Boden. Er brauchte nur einen zu öffnen und er wußte alles. Sie lief hin und packte eine Handvoll der alten, vergilbten Papiere, die der Großeltern und die des Liebhabers, die, welche sie noch gar nicht geöffnet und solche, die noch zusammengeschnürt in den Fächern gelegen, alle warf sie auf einen Haufen in den Kamin. Dann nahm sie eines der Lichter, die auf dem Nachttisch standen und steckte den Stoß Briefe an. Eine hohe Flamme schoß empor, die Zimmer, Bett, Leichnam mit hellem, zitterndem Licht überstrahlte, auf dem weißen Vorhang des Bettes in Schwarz die Linien des starren Gesichts und des Riesenleibes dort unter der Decke abzeichnend.

Als nur noch ein Haufen Asche auf der Feuerstelle lag, kehrte sie zurück und setzte sich ans offne Fenster, als ob sie nicht mehr wagte, bei der Toten zu bleiben. Und nun fing sie wieder an zu weinen, das Gesicht in den Händen und stöhnte mit erstickter Stimme, mit verzweifelter Klage:

– Ach meine arme Mama, meine arme Mama!

Dann kam ihr ein entsetzlicher Gedanke: wenn nun aber Mama nicht tot war, wenn sie nur in lethargischem Schlaf läge, wenn sie sich jetzt plötzlich aufrichtete und spräche, würde die Mitwisserschaft des schrecklichen Geheimnisses sie nicht um die Liebe der Mutter bringen? Würde sie sie küssen, mit demselben, frohen Gefühl? Würde sie sie lieben mit derselben geheiligten Zuneigung? Nein, das war unmöglich! Dieser Gedanke zerriß ihr das Herz.

Die Nacht schwand, die Sterne verblichen. Es ward frisch wie immer gegen Morgen. Der tiefstehende Mond wollte ins Meer tauchen, das er mit Perlmutterglanz übergoß.

Und Johanna gedachte der ersten Nacht, die sie in Les Peuples zugebracht. Wie weit lag das hinter ihr, wie war alles anders geworden! Wie schien ihr die Zukunft so dunkel.

Dann färbte sich der Himmel rosa, er nahm ein fröhliches, reizendes, verliebtes Rot an. Erstaunt nun, wie vor einem Phänomen, blickte sie in diesen strahlenden Tagesanbruch hinaus und fragte sich, wie es denn nur möglich sei, daß es auf der Erde, wo die Sonne so schön aufging, keine Freude gäbe und kein Glück.

Das Knarren der Thür ließ sie zusammen fahren. Es war Julius, der fragte:

– Nun bist Du noch nicht müde?

Sie stammelte:

– Nein!

Sie war froh, nicht mehr allein zu sein.

– Nun ruhe Dich aber aus, sagte er.

Sie küßte langsam ihre Mutter mit einem schmerzlichen, verzweifelten, langen Kuß. Dann suchte sie ihr Zimmer auf.

Der Tag verging mit jenen traurigen Geschäften, die ein Todesfall erfordert. Der Baron kam gegen Abend an. Er weinte viel.

Das Begräbnis fand am nächsten Tage statt. Nachdem sie zum letzten Mal ihre Lippen auf die eisige Stirn gedrückt, nachdem die Tote angezogen und Johanna zugesehen, wie man den Sarg vernagelt, zog sie sich zurück. Die Trauerversammlung sollte kommen.

Gilberta erschien zuerst und warf sich schluchzend ihrer Freundin an die Brust.

Durchs Fenster sah man die Wagen am Gitter umwenden und im Trab fortfahren. Stimmen klangen im großen Vorsaal, Damen in schwarz, die Johanna gar nicht kannte, traten in das große Zimmer, das sich allmählich füllte. Die Marquise von Coutelier und die Vicomtesse von Briseville umarmten sie. Plötzlich bemerkte sie, daß Tante Lieschen hinter sie glitt, und sie umarmte sie zärtlich, daß die alte Jungfer beinahe ohnmächtig ward.

Julius trat ein in großer Trauer, elegant, geschäftig, sehr geschmeichelt über die Menge der Leidtragenden. Er fragte leise seine Frau etwas, wie sie es wünschte und fügte heimlich hinzu:

– Die ganze Aristokratie ist gekommen, das macht sich famos!

Und indem er ernst die Damen grüßte, ging er davon.

Tante Lieschen und Gräfin Gilberta blieben bei Johanna, wahrend die Handlung vor sich ging. Die Gräfin umarmte sie unausgesetzt und sagte:

– Meine arme Johanna! Meine Liebe!

Als Graf Fourville kam, um seine Frau abzuholen, weinte er, als ob er die eigene Mutter verloren hätte.

 


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