Guy de Maupassant
Ein Menschenleben
Guy de Maupassant

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Die folgenden Tage waren sehr traurig, jene öden Tage in einem Hause, das leer zu sein scheint durch die Abwesenheit eines Familien-Mitgliedes, das für immer verschwunden ist, jene Tage, in denen immerfort das Leid wiederkehrt, wo es wieder ausbricht beim Anblick jedes Gegenstandes, dessen sich der Tote bedient.

Immerfort kommt irgend eine Erinnerung wieder und peinigt und quält: hier der Stuhl, da der Sonnenschirm, der noch im Flur stehen geblieben, dort ihr Glas, das das Mädchen nicht weggeschlossen hat; in allen Zimmern findet man etwas wieder, ihren Schleier, einen Handschuh, ein Buch, dessen Blätter die Spuren ihrer schwerfälligen Finger tragen, tausend Kleinigkeiten, die eine schmerzliche Bedeutung gewinnen, weil sie an tausend kleine Ereignisse erinnern.

Ihre Stimme verfolgt uns, man glaubt sie zu hören; man möchte fliehen, irgendwohin, nur dem vertrauten Umgang in diesem Hause zu entgehen, und man muß bleiben, weil andere bleiben, die auch Leid tragen.

Und dann lastete immer noch unsäglich die Erinnerung dessen auf Johanna, was sie entdeckt hatte, dieser Gedanke bedrückte sie, und ihr gequältes Herz ward nicht gesund. Durch dieses furchtbare Geheimnis fühlte sie sich noch einsamer jetzt, mit ihrem letzten Glauben war ihr letztes Vertrauen geschwunden.

Nach einiger Zeit ging der Vater fort, es that ihm Not, den Platz zu wechseln, andere Luft zu atmen, von dem ewigen Kummer sich zu befreien, in den er immer mehr versank.

Und das große Haus, das so nach und nach immer einen seiner Herren verschwinden sah, ward wieder ruhig, und alles ging den gewohnten Gang.

Dann ward Paul krank. Johanna verlor darüber fast den Verstand, zwölf Tage lang that sie kein Auge zu und nahm fast nichts zu sich.

Er ward wieder gesund, aber der Gedanke, daß er sterben könnte, war ihr entsetzlich. Was sollte sie anfangen, was sollte aus ihr werden, wenn sie ihn verlor? Und ganz langsam schlich in ihr Herz der dämmernde Wunsch, noch ein Kind zu bekommen. Bald träumte sie davon, und immer kam ihr alter Wunsch ihr zu Sinnen, zwei kleine Wesen um sich zu haben, einen Knaben und ein Mädchen, und das bedrückte sie schließlich förmlich.

Aber seit dem Fall mit Rosalie lebte sie von Julius getrennt, eine Annäherung schien, so wie die Dinge lagen, unmöglich. Julius liebte anderwärts, das wußte sie, und bei dem bloßen Gedanken, seine Zärtlichkeiten wieder über sich ergehen zu lassen, schüttelte sie sich vor Widerwillen.

Aber sie hätte sich doch überwunden, so quälte sie der Wunsch, wieder Mutter zu werden, nur fragte sie sich, wie sie das beginnen sollte, sie wäre vor Scham gestorben, hätte sie ihre Absicht merken lassen. Er schien nicht mehr an sie zu denken.

Sie würde vielleicht die Sache aufgegeben haben, hätte sie nicht jede Nacht geträumt, sie besäße ein Töchterchen. Sie sah es mit Paul unter der Platane spielen, und manchmal kribbelte es in ihr, aufzustehen und ohne ein Wort zu sagen, ihren Mann aufzusuchen. Zweimal schon war sie an seiner Thür, aber sie kehrte jedesmal schnell wieder um, und das Herz schlug ihr vor Scham.

Der Baron war fort. Mutting tot. Jetzt hatte Johanna keinen Menschen mehr, den sie hätte um Rat fragen, dem sie ihre intimsten Geheimnisse hätte anvertrauen können. So entschloß sie sich, Abbé Picot aufzusuchen und ihm unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses den schwierigen Plan mitzuteilen, den sie in sich bewegte.

Als sie kam, las er gerade in seinem kleinen Obstgarten sein Brevier.

Nachdem sie ein Paar Minuten von diesem und jenem gesprochen hatten, stotterte sie errötend:

– Herr Pfarrer, ich möchte beichten.

Er war erstaunt, hob die Brille, um sie zu betrachten, dann fing er an zu lachen:

– Na, Sie werden doch nicht so viel Sünden auf den Gewissen haben.

Jetzt ward sie ganz verlegen:

– Nein, aber ich möchte Sie um Rat bitten, um einen so peinlichen Rat, daß ich nicht wage, so mit Ihnen darüber zu sprechen.

Sofort verschwand sein gutmütiger Ausdruck und er nahm seine Amtsmiene an:

– Nun, meine Tochter, ich werde Sie im Beichtstuhl hören, kommen Sie!

Aber zögernd hielt sie ihn zurück, indem ihr plötzlich doch ein Bedenken kam, von diesen etwas unpassenden Dingen in der Stille der leeren Kirche zu sprechen:

– Oder . . . . nein, Herr Pfarrer . . . . ich kann . . . . wenn Sie wollen, Ihnen sagen, was mich herführt. Wir wollen uns da drüben in Ihre kleine Laube setzen.

Langsam gingen sie hin, sie suchte nach Worten.

Nachdem sie sich gesetzt, begann sie, als wollte sie beichten: »Ehrwürdiger Vater!« dann zögerte sie, dann wiederholte sie: »Ehrwürdiger Vater!« Nun schwieg sie in tötlicher Verlegenheit.

Er hatte die Hände über dem Bauche gekreuzt. Als er ihre Verlegenheit sah, machte er ihr Mut:

– Nun, meine Tochter, es ist ja, als wagten Sie es nicht; fassen Sie Mut.

Sie entschloß sich, wie ein Feigling, der sich in die Gefahr stürzt:

– Ehrwürdiger Vater, ich möchte ein zweites Kind.

Er sagte nichts, da er nicht verstand. Da erklärte sie sich näher und stotterte ganz verstört:

– Ich stehe jetzt allein auf der Welt. Mein Vater und mein Mann sind nicht gut mit einander, meine Mutter ist tot, und, und . . . – Nun zitterte sie und sagte ganz leise: – Und neulich hätte ich beinahe meinen Sohn verloren. Was sollte da aus mir werden?

Sie schwieg. Der Priester blickte sie verständnislos an und sagte:

– Nun, und die Thatsachen?

Da wiederholte sie:

– Ich möchte ein zweites Kind haben.

Er lächelte; denn er war an die groben Scherze der Bauern gewöhnt, die ihm gegenüber kein Blatt vor den Mund nahmen, und antwortete, indem er listig den Kopf erhob:

– Nun, ich denke, das liegt doch ganz bei Ihnen.

Sie blickte ihn offenherzig an, dann stammelte sie verlegen:

– Aber . . . . aber . . . . Sie werden begreifen . . . . daß, seitdem . . . . seitdem . . . . was Sie von dem Mädchen wissen, mein Mann und ich haben . . . . ganz getrennt gelebt . . . .

Er, der an den Mischmasch und die Sittenlosigkeit der Bauern gewöhnt war, war erstaunt über diese Entdeckung; dann glaubte er plötzlich, den wirklichen Wunsch der jungen Frau zu erraten. Er sah sie von der Seite an, voll Wohlwollen und Sympathie für ihre Verzweiflung:

– Ja, ich verstehe vollkommen, ich verstehe, daß Ihre . . . Ihre . . . Witwenschaft Sie bedrückt. Sie sind jung und gesund, es ist natürlich, ganz natürlich!

Er fing an zu lachen, indem seine derbe Art des Landpfarrers mit ihm durchging, und er tätschelte Johannas Hand:

– Es ist gestattet, durchaus gestattet durch die Gesetze. Sie sind doch verheiratet. Das ist doch nicht bloß, um Rüben zu stechen.

Sie hatte zuerst nicht verstanden, aber als sie dahinter kam, ward sie rot, und die Thränen traten ihr in die Augen:

– O Herr Pfarrer, was denken Sie denn? Ich schwöre, . . . ich schwöre . . . – und sie konnte vor Weinen nicht sprechen.

Sie wußte nicht mehr, was sie sagen sollte. Er war überrascht und tröstete sie:

– Na, ich habe Ihnen ja nicht weh thun wollen. Ich machte einen Spaß, wenn mans gut meint, ist das doch erlaubt. Zählen Sie nur auf mich, ich werde einmal mit Herrn Julius sprechen.

Jetzt wollte sie seine Hilfe ablehnen, die, wie sie meinte, gefährlich sein könnte und ungeschickt, aber sie wagte es nicht und ging davon, mit den Worten:

– Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer.

Acht Tage verstrichen, sie lebte in ungeduldiger Angst.

Da blickte Julius sie eines Abends bei Tisch lächelnd an, mit einem Lächeln auf den Lippen, das sie an ihm kannte, wenn er guter Laune war. Er hatte sogar eine gewisse, unmerkliche, ironische Galanterie gegen sie, und wie sie nachher in Muttings Allee spazieren gingen, flüsterte er ihr leise ins Ohr:

– Wir sind also versöhnt?

Sie antwortete nicht. An der Erde bemerkte sie eine sich gerade hinziehende Fußspur, die jetzt fast unsichtbar geworden, da das Gras nachgewachsen war. Es war die Spur des Fußes der Baronin, fast verblaßt wie eine Erinnerung verblaßt. Johanna fühlte, wie ihr Herz sich zusammenkrampfte in tiefster Traurigkeit. Sie fühlte sich wieder allein im Leben, von allen Menschen geschieden.

Julius begann:

– Mir soll es recht sein. Ich hatte Angst, Dir ungelegen zu kommen.

Die Sonne ging unter, die Luft war mild. Die Lust zu weinen bedrückte Johanna, in einem jener Momente, wo man das treue Herz eines Freundes ersehnt, das Bedürfnis fühlt, zu umarmen und sein Leid zu klagen. Ein Schluchzen kam aus ihrer Kehle, sie öffnete die Arme und sank an Julius' Brust.

Sie weinte, er blickte erstaunt nieder auf ihr Haar, denn ihr Gesicht konnte er nicht sehen, das sie an seiner Brust versteckt. Er dachte, sie liebte ihn noch und drückte einen nachsichtigen Kuß auf ihren Scheitel.

Dann gingen sie, ohne ein Wort zu sprechen ins Haus. Er folgte ihr in ihr Zimmer und blieb bei ihr.

Und ihre ehelichen Beziehungen begannen wieder, er erfüllte sie wie eine Pflicht, die ihm jedoch nicht unangenehm zu sein schien, und sie überwand es wie eine peinliche, entsetzliche Notwendigkeit, mit dem Entschluß, auf immer aufzuhören, sobald sie sich Mutter fühlen würde.

Aber sie bemerkte bald, daß die Zärtlichkeit ihres Mannes anders zu sein schien, als früher, vielleicht raffinierter aber weniger vollständig. Er behandelte sie wie ein diskreter Liebhaber und nicht wie ein ruhiger Gatte.

Sie war erstaunt, beobachtete und bemerkte, daß sie so ihren Zweck nicht erreichen könnte.

Da flüsterte sie ihm eines Nachts Mund auf Mund zu:

– Warum schenkst Du Dich mir nicht mehr wie früher?

Er lachte:

– Um Dich nicht Mutter werden zu lassen!

Sie zitterte:

– Warum willst Du denn kein Kind mehr?

Er war ganz erschrocken:

– Was, bist Du denn verrückt? Noch ein Kind? Fällt mir gar nicht ein! Ein Kind, das immer schreit und alle Welt in Anspruch nimmt und Geld kostet! Eins ist doch schon genug! Noch eins? Ich danke schön!

Da nahm sie ihn in die Arme küßte ihn und sagte:

– Ich bitte Dich, mach mich noch einmal Mutter!

Aber er ward böse, als ob sie ihn beleidigt hätte:

– Du hast wohl den Kopf verloren! Bitte schweig!

Sie schwieg und nahm sich vor, ihn durch List zu bewegen, ihr das Glück zu schenken, von dem sie träumte. Da suchte sie die Umarmungen zu verlängern und spielte eine Komödie voll verzweifelter Glut, preßte ihn an sich, gebrauchte alle Listen, aber er blieb Herr seiner selbst und vergaß sich nicht ein einziges Mal.

Doch ihr verzweifelter Wunsch ließ sie nicht in Ruhe, und, bereit alles zu wagen, alles zu versuchen, kehrte sie zum Pfarrer Picot zurück.

Er war eben beim Frühstück, aß und war dunkelrot, denn nach der Mahlzeit hatte er immer Herzklopfen.

Sobald er sie eintreten sah, rief er:

– Nun?

Er wollte gern den Erfolg seiner Vermittelung kennen lernen.

Jetzt war sie entschlossen, schämte sich nicht mehr und sagte:

– Mein Mann will kein Kind weiter.

Der Pfarrer drehte sich zu ihr um, ganz dabei und bereit, mit einer gewissen Priesterneugier in diesen ehelichen Geheimnissen herumzustöbern, die ihm sein Amt scherzhaft machten. Er fragte:

– Wie so denn? Kommt er nicht zu Ihnen?

Da sagte sie:

– Ja, aber er . . . er . . . weigert sich, mich Mutter zu machen.

Der Pfarrer begriff, er kannte diese Dinge, und er begann, wie ein Fastender nach den Leckerbissen verlangt, nach allen Einzelheiten genau zu fragen.

Dann dachte er ein paar Augenblicke nach und sagte ganz ruhig, als ob er von einer günstigen Ernte spräche, ihr alles feststellend und ihr einen Plan entwerfend, wie sie sich geschickt benehmen sollte:

– Liebe Tochter, für Sie giebt es nur ein Mittel, lassen Sie ihn glauben, daß Sie Mutter sind, dann hütet er sich nicht mehr und Sie werden es wirklich.

Sie ward dunkelrot, aber zu allem entschlossen, fragte sie: – Aber wenn er es nicht glaubt?

Der Pfarrer kannte das Mittel, die Männer dahin zu bringen, wo man sie haben will:

– Reden Sie einfach überall davon, erzählen Sie allen, daß Sie Mutter werden, da wird er es auch glauben.

Dann fügte er hinzu, als wollte er sich von einer Schuld frei sprechen:

– Das ist Ihr Recht, die Kirche duldet den Verkehr zwischen Mann und Frau nur, wenn er den Zweck hat, die Familie fortzupflanzen.

Sie befolgte seinen gerissenen Rat, und vierzehn Tage später sagte sie es Julius. Er erschrak:

– Das ist unmöglich, das ist nicht wahr!

Sie gab ihm sofort den Grund ihres Verdachtes an. Er beruhigte sich und sagte:

– Ach, wir wollen es mal abwarten, Du wirst sehen, Du irrst Dich.

Dann fragte er jeden Morgen:

– Nun?

Sie antwortete:

– Nein noch nicht! Es sollte mich sehr wundern, wenn es nicht so wäre.

Jetzt beunruhigte er sich, war wütend und verzweifelt und ebenso sehr überrascht. Er sagte:

– Ich kann das nicht verstehen. Ich begreife gar nicht, wie das möglich ist, ich lasse mich drauf hängen.

Nach vier Wochen verbreitete sie allerwärts die Nachricht, nur Gräfin Gilberts sagte sie es aus einer Art zarter Scham nicht.

Julius kam ihr in seiner ersten Wut nicht zu nahe, dann fand er sich ärgerlich damit ab, erklärte: »Das wird ein ungebetener Gast!« und suchte seine Frau wieder auf.

Was der Priester vorher gesehen, traf ein: Nun ward sie Mutter.

Da verriegelte sie alle Abende, überwältigt von ungestümer Freude, ihre Thür und gelobte sich in einem plötzlichen Gefühl der Dankbarkeit gegen die ungewisse Gottheit, die sie verehrte, ewige Keuschheit.

Sie fühlte sich wieder beinahe glücklich und wunderte sich, wie schnell der Schmerz um den Verlust der Mutter besänftigt worden. Sie hatte gemeint, untröstlich zu sein, nun schloß sich nach kaum zwei Monaten die offene Wunde, es blieb ihr nichts, als eine zärtliche Melancholie, wie ein Trauer-Schleier, der über ihr Leben gebreitet. Jetzt schien kein Unglück sie mehr treffen zu können, ihre Kinder würden groß werden und sie lieben, sie würde ruhig und zufrieden leben, ohne sich um ihren Mann zu kümmern.

Gegen Ende September machte der Pfarrer Picot einen förmlichen Besuch in einem neuen Priesterkleide, auf dem sich erst Flecken von acht Tagen befanden, und stellte seinen Nachfolger, den Pfarrer Tolbiac vor. Er war ein ganz junger, hagerer, kleiner Priester mit nachdrucksvoller Sprechweise, dessen schwarzumränderte, tiefliegende Augen von verborgenem Eifer sprachen.

Der alte Pfarrer war zum Decan von Goderville ernannt worden.

Johanna war wirklich traurig über sein Fortgehen. Die Gestalt dieses Mannes war mit allen ihren Frauenerlebnissen verknüpft. Er hatte sie verheiratet, hatte Paul getauft und die Baronin beerdigt. Sie konnte sich Etouvent ohne den dicken Wanst des Pfarrers Picot, wenn er längs der Höfe hinging, gar nicht denken, und sie liebte ihn, weil er heiter und natürlich war.

Trotz seiner Beförderung schien er nicht froh zu sein. Er sagte:

– Frau Gräfin, ach kommt mich das schwer an! Jetzt bin ich seit achtzehn Jahren hier. Die Pfarre bringt nicht viel ein, und es ist nicht viel los damit. Die Leute haben auch nicht mehr Religion, wie gerade nötig ist, und die Weiber, die Weiber, sehen Sie mal, haben ja keine Ehre im Leib. Und die Mädchen lassen sich nicht eher trauen, als bis sie ihren Pilgergang hinter sich haben! Sie wissen: die Myrte ist billig hier zu Lande! Aber das schadet nichts, ich hatte sie doch gern.

Der neue Pfarrer machte eine unwillige Bewegung. Er war rot geworden und sagte kurz:

– Bei mir wird sich das alles ändern!

Zart und mager in seinem schon abgeschabten, aber reinlichen Priesterrock sah er aus wie ein wütendes Kind.

Der Pfarrer Picot blickte ihn von der Seite an, wie er es zu thun pflegte, wenn er scherzte, und fuhr fort:

– Nun, lieber Amtsbruder, um solche Dinge zu verhindern, müßte man die ganze Gemeinde einsperren, und das würde doch nichts nützen.

Der neue Pfarrer antwortete in schneidigem Ton:

– Das werden wir ja sehen!

Der Alte nahm eine Prise und sagte:

– Herr Amtsbruder, das Alter wird Sie ruhig machen. Sie werden auf die Art nur noch die letzten Beter aus der Kirche jagen. Nehmen Sie sich in Acht, wahrhaftig. Wenn ich bei der Predigt ein Mädchen sehe, das mir etwas stark vorkommt, so sage ich mir, das giebt ein Gemeindeglied mehr, und ich suche sie zu verheiraten. Sehen Sie mal, Sie werden sie nicht hindern, zu sündigen, aber Sie können wohl zu dem Burschen gehen und ihn daran hindern, daß er das Mädchen sitzen läßt. Verheiraten Sie sie, Herr Amtsbruder, verheiraten Sie sie, aber kümmern Sie sich um weiter nichts.

Der neue Pfarrer antwortete kurz und bündig:

– Wir haben verschiedene Ansichten, da läßt sich nicht weiter streiten.

Und der Pfarrer Picot wiederholte, wie er bedauere, von dem Dorfe fortzugehen, von dem Meer, das er von den Fenstern des Pfarrhauses aus erblickt, von dem kleinen, trichterförmigen Thälchen, wo er sein Brevier gelesen und in der Ferne die Schiffe vorüber fahren gesehen.

Die beiden Priester empfahlen sich. Der alte umarmte Johanna, die fast weinte.

Acht Tage später kam Pfarrer Tolbiac wieder. Er sprach von den Reformen, die er einführte, wie etwa ein Kronprinz, der zur Regierung gelangt. Dann bat er die Gräfin, Sonntag in der Kirche nicht zu fehlen und zu allen Festtagen zu kommunizieren.

– Sie und ich, sagte er, sind das Haupt der Bevölkerung, wir müssen den Leuten immer ein gutes Beispiel geben. Um die Gewalt zu haben und geachtet zu sein, müssen wir einig sein. Wenn Kirche und Schloß sich die Hände reichen, wird die Hütte uns fürchten und uns gehorchen.

Johannas Religion war ganz Gefühl. Sie hatte jenen träumerischen Glauben, den jede Frau sich bewahrt, und wenn sie so ziemlich ihre kirchlichen Pflichten erfüllte, so war es hauptsächlich aus alter Gewohnheit vom Kloster her, denn die aufrührerische Philosophie des alten Barons hatte längst ihre religiöse Überzeugung erschüttert.

Der Pfarrer Picot begnügte sich mit dem wenigen, das sie ihm geben konnte, und schalt sie nicht, aber als sein Nachfolger sie am folgenden Sonntag nicht im Gotteshaus gesehen hatte, kam er unruhig mit ernster Miene herbei.

Sie wollte mit dem Pfarrhaus nicht brechen und versprach zu kommen, indem sie sich vornahm, nur aus Gefälligkeit während der ersten Wochen regelmäßig zur Kirche zu gehen.

Allmählich ward ihr das Kirchengehen zur Gewohnheit, und sie erlag dem Einfluß dieses zarten, kleinen, herrschsüchtigen und tadellosen Pfarrers.

Er gefiel ihr durch seine Exaltiertheit und seine Glaubensglut. Er berührte in ihr die Seite der religiösen Poesie, die alle Frauen in der Seele tragen. Seine unbeugsame Strenge, seine Verachtung der Welt und der Sinne, sein Ekel vor allem, was die Menschen treibt, sein Gottesglauben, seine wilde, jugendliche Unerfahrenheit, seine harten Worte, sein unbeugsamer Wille brachten bei Johanna den Eindruck hervor, als sei er von dem Holz der Märtyrer, und sie ließ sich verführen, sie, die leidende, schon oft enttäuschte Frau, durch den starren Fanatismus dieses Knaben, dieses Dieners des Herrn.

Er führte sie zum tröstenden Christus, zeigte ihr, wie die frommen Freuden der Religion all ihr Leid mildern würden, und sie kniete im Betstuhl, demütigte sich vor Gott, fühlte sich klein und schwach vor diesem Priester, der kaum fünfzehn Jahre alt zu sein schien.

Aber bald war er verhaßt in der ganzen Gemeinde.

Von unbeugsamer Strenge gegen sich selbst, war er gegen die andern von unerschütterlicher Unduldsamkeit. Eines vor allem erzürnte und empörte ihn: die Liebe.

In seinen Predigten sprach er häufig davon, in harten Worten, indem er nach Kirchenart über seine bäurischen Zuhörer donnernde Sätze losließ gegen die böse Lust. Er zitterte vor Wut, stampfte mit dem Fuße auf, ganz erfüllt von den Bildern, die er selbst in seiner Wut heraufbeschwor.

Die Burschen und Mädchen blickten sich in der Kirche heimlich an, und die alten Bauern, die gern einen Scherz über diese Dinge machen, mißbilligten die Unduldsamkeit des jungen Pfarrers, wenn sie aus der Kirche heimgingen, neben dem Sohn in der blauen Bluse und der Bäuerin in der schwarzen Haube. Die ganze Gegend kam in Aufregung.

Man erzählte sich leise sein strenges Vorgehen im Beichtstuhl, die schweren Strafen, die er auferlegte, und da er sich weigerte, einem Mädchen, deren Keuschheit der Versuchung erlegen war, die Absolution zu erteilen, fing man an, sich darüber lustig zu machen. Beim Hochamt an den großen Festen lachte man, wenn man sah, wie junge Leute auf ihrer Bank sitzen blieben, statt mit den andern zum Abendmahl zu gehen.

Bald belauschte er die Liebespaare, um zu verhindern, daß sie sich träfen, wie ein Wildhüter dem Wilddieb nachschleicht. Er jagte sie längs der Gräben hinter den Scheunen auf, an Mondscheinabenden, und in den Büscheln des Seegrases an den Hängen der Hügel. Einmal traf er ein Paar, das sich, als er sich näherte, nicht losließ, sie hielten sich umschlungen und gingen unter Küssen in einem steinigen Hohlweg hin.

Der Pfarrer rief:

– Wollt ihr euch gleich loslassen, Bauerngesindell

Der Bursche drehte sich um und antwortete:

– Kümmern Sie sich um Ihre Sachen, Herr Pfarrer, solche Geschichten gehen Sie nichts an.

Da hob der Pfarrer Steine vom Boden auf und warf nach ihnen wie nach Hunden. Lachend entflohen sie beide, und am folgenden Sonntag nannte er ihre Namen beim Gottesdienst von der Kanzel herab.

Alle jungen Leute der Gegend hörten auf in die Kirche zu gehen.

Jeden Donnerstag aß der Pfarrer im Schloß und kam auch sonst oft während der Woche, um mit seinem Beichtkind zu sprechen.

Sie begeisterte sich mit ihm, sprach über überirdische Dinge und brachte das ganze komplizierte alte Arsenal geistlicher Fragen zum Vorschein.

Sie gingen beide die Allee der Baronin entlang und sprachen von Christus und den Aposteln, von der heiligen Jungfrau und den Kirchenvätern, als hätten sie sie persönlich gekannt. Ab und zu blieben sie stehen und stellten sich tiefsinnige Fragen, die sie in Visionen auflöste, in poetische Worte, die wie Leuchtkugeln zum Himmel aufstiegen, er, philosophierend mit scharfen Beweisen, indem er disputierte, wie ein vollständig Übergeschnappter, der mathematisch die Quadratur des Zirkels beweisen will.

Julius behandelte den neuen Pfarrer mit großem Respekt und sagte öfters:

– Der gefällt mir ganz gut, der paktiert nicht.

Julius beichtete und kommunizierte, wie der Priester wollte, indem er großherzig das gute Beispiel gab.

Jetzt ging er fast täglich zu Fourvilles, jagte mit dem Mann, der gar nicht mehr ohne ihn sein konnte, und ritt mit der Gräfin aus, trotz Regen und schlechtem Wetter. Der Graf sagte: – Sie sind verrückt mit ihrer Reiterei, aber es bekommt meiner Frau gut.

Gegen Mitte November kehrte der Baron zurück. Er war verändert, gealtert, müde und in trauriger Stimmung, die ihn gar nicht mehr los ließ, und da war es, als ob die Liebe, die ihn mit seiner Tochter verknüpfte, gewachsen wäre, als ob ein paar Monate der Einsamkeit sein Bedürfnis nach Liebe, Zutrauen und Zärtlichkeit gesteigert hätten.

Johanna teilte ihm ihre neuen Ideen nicht mit, ihre Intimitäten mit dem Pfarrer Tolbiac und ihren religiösen Eifer. Aber als er das erste Mal den Priester sah, erwachte in ihm sofort eine heftige Feindschaft.

Und als die junge Frau ihn eines Abends fragte:

– Wie findest Du ihn? – antwortete er:

– Der Mann ist ein Inquisitor und muß sehr gefährlich sein.

Als er dann durch die Bauern, deren Freund er war, von der Strenge des jungen Priesters gehört, von seiner Heftigkeit und dem Verfolgungssystem, das er ausübte gegen die Naturgesetze und angeborenen Instinkte, brach geradezu der Haß in seinem Herzen aus.

Er selbst gehörte zu der alten philosophischen Schule der Naturanbetung. Wenn er zwei Tiere sich paaren sah, rührte ihn das, er kniete vor einer Art pantheistischer Gottheit, sträubte sich gegen die katholische Auffassung von einem Gott mit philiströsen Absichten, von jesuitischem Eifer, tyrannischer Rache, einem Gott, der ihm die Schöpfung wie sie einmal war, verballhornte, die Schöpfung so grenzenlos, so allmächtig, die ganze Welt, Licht, Erde, Gedanke, Pflanze, Fels, Mensch, Luft, Tier, Stern, Gott und der geringste Wurm, schaffend weil erschaffen durch etwas, das stärker wie ein Wille, weiter wie ein Gedanke, fortzeugend ohne Ziel, ohne Zweck, ohne Ende, in allen Arten, in allen Formen, im unendlichen Weltenraum, keinem anderen Zwange folgend als dem Zufall und der Wärme, die die Sonne über die Welten ausgießt.

Die Schöpfung enthält alle Keime, die Gedanken und das Leben entwickelten sich in ihr wie Blumen und Früchte auf den Bäumen. So war für ihn die Fortpflanzung das große allgemeine Gesetz, der Zeugungstrieb geheiligt, ein göttlicher Akt, der den geheimen immerwährenden Willen der Weltenseele erfüllt. Und er begann, die Bauern von Hof zu Hof bearbeitend, einen heftigen Kampf gegen den unbeugsamen Priester, der das Leben bekämpfte.

Johanna war verzweifelt, sie betete zu Gott, flehte ihren Vater an, aber er antwortete nur immer:

– Diese Art Menschen muß man bekämpfen, das ist unser Recht und unsere Pflicht! – Und er sagte öfters, indem er die langen, weißen Haare schüttelte:

– Sie sind nicht menschlich, sie kapieren nichts, aber auch nichts; sie handeln wie in einem bösen Traum, sie sind antiphysisch! – Und er schrie »antiphysisch«, als ob er einen Fluch ausgestoßen hätte.

Der Priester fühlte wohl, daß er sein Feind sei, aber da er Herr des Schlosses und der jungen Frau bleiben wollte, so wartete er ruhig seine Zeit ab, des endlichen Sieges gewiß.

Dann trieb ihn ein bestimmter Gedanke. Er hatte zufällig das Verhältnis zwischen Julius und Gilberta entdeckt und wollte dem um jeden Preis ein Ziel setzen. Eines Tages kam er zu Johanna und verlangte von ihr, nach einem langen, umschreibenden Gespräch, sie solle sich mit ihm zusammen thun, um mit ihm das Böse zu bekämpfen und zwei Seelen zu retten, die in Gefahr.

Sie verstand das nicht und wollte wissen, was er meinte.

Er antwortete:

– Die Stunde ist noch nicht gekommen, ich werde bald wieder mit Ihnen reden. – Und er lief davon.

Der Winter ging seinem Ende zu, ein fauler Winter, wie man auf dem Lande sagt, naß und lau!

Ein paar Tage später kam der Pfarrer wieder und redete in unbestimmten Ausdrücken von einer jener unwürdigen Verbindungen zwischen Leuten, die untadelig sein sollten. Er gehörte, behauptete er, zu denen, die von diesen Thatsachen wüßten und sie mit allen Mitteln bekämpfen würden. Dann stellte er Betrachtungen höherer Art an, und endlich nahm er Johannas Hand und beschwor sie, die Augen zu öffnen, zu verstehen und ihm zu helfen.

Diesmal hatte sie verstanden, aber sie schwieg, entsetzt beim Gedanken, welche Unannehmlichkeiten dadurch über ihr stilles Haus hereinbrechen würden, und sie that, als wüßte sie nicht, was der Pfarrer meinte.

Da hielt er nicht mehr zurück, sondern redete ganz offen:

– Ich habe eine peinliche Pflicht zu erfüllen, Frau Gräfin, aber ich kann nicht anders. Mein Amt befiehlt mir, vor Ihnen nicht verborgen zu halten, was Sie verhindern können. Wissen Sie also, daß Ihr Gatte eine sündhafte Verbindung unterhalt mit der Gräfin Fourville!

Sie senkte ergeben und kraftlos den Kopf. Der Priester begann von neuem:

– Was gedenken Sie jetzt zu thun?

Da stammelte sie:

– Was soll ich denn thun, Herr Abbé?

Er antwortete heftig:

– Sich zwischen diese beiden Sünder werfen.

Sie begann zu weinen und sagte mit thranenerstickter Stimme:

– Aber er hat mich schon mit einem Dienstmädchen betrogen. Er liebt mich nicht mehr, er mißhandelt mich, sobald ich einen Wunsch äußere, der ihm nicht paßt. Was soll ich dagegen thun?

Der Pfarrer rief, ohne geradezu zu antworten:

– Also Sie beugen sich, Sie ergeben sich darein, Sie stimmen bei? Der Ehebruch ist in Ihrem Haus, und Sie dulden ihn? Das Verbrechen geschieht unter Ihren Augen, und Sie wenden sich ab. Sie wollen eine christliche Ehefrau sein, eine Mutter?

Sie schluchzte:

– Was soll ich denn thun?

Er antwortete:

– Alles, nur nicht diese Sünde dulden! Alles, sage ich Ihnen. Verlassen Sie ihn. Fliehen Sie dieses befleckte Haus.

Sie sagte:

– Aber ich habe kein Geld, Herr Pfarrer, und dann habe ich jetzt keinen Mut, und wie soll ich ohne Beweise fort? Ich habe nicht einmal das Recht dazu.

Bebend stand der Priester auf:

– Die Feigheit spricht aus Ihnen. Ich hatte geglaubt, daß Sie anders wären. Sie sind Gottes Gnade nicht wert.

Sie sank in die Kniee:

– Ich bitte Sie, verlassen Sie mich nicht! Raten Sie mir doch!

Er antwortete kurz:

– Öffnen Sie Graf Fourville die Augen, ihm kommt es zu, dieses Verhältnis zu brechen.

Bei diesem Gedanken faßte sie das Entsetzen:

– Aber, Herr Abbé, er würde sie töten und ich würde eine Denunziation begehen; nein, niemals!

Da hob er wütend die Hand, als wollte er sie verfluchen:

– So bleiben Sie in Ihrer Schmach, in Ihrer Sünde, denn Sie sind schuldiger, wie jene, Sie, die Gattin, eine gefällige Kupplerin! Ich habe hier nichts mehr zu suchen.

Er ging so wütend davon, daß er am ganzen Leib zitterte.

Verzweifelt stürzte sie ihm nach, bereit nachzugeben und es ihm zu versprechen. Aber er bebte vor Empörung und eilte mit schnellen Schritten dahin, indem er in der Wut seinen großen, blauen Regenschirm schüttelte, der beinahe so hoch war, wie er.

Er gewahrte Julius am Eingangsthor, der dort Bäume abästen ließ; so wandte er sich nach links, um durch den Hof der Couillards zu gehen und wiederholte:

– Lassen Sie mich, ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Frau Gräfin.

Gerade auf seinem Weg, mitten im Hof, standen eine Menge Kinder, vom Hofe und aus der Nachbarschaft, um die Hütte der Hündin Mirza herum, indem sie neugierig mit stummer, eifriger Aufmerksamkeit etwas betrachteten. Mitten unter ihnen befand sich der Baron, die Hände auf dem Nacken, und blickte auch neugierig hin. Man konnte meinen, er sei der Schullehrer. Als er aber von weitem den Priester bemerkte, ging er davon, um ihn nicht grüßen und sprechen zu müssen.

Johanna rief ihm noch nach:

– Bitte lassen Sie mir doch ein Paar Tage Zeit, Herr Pfarrer, um zu überlegen, ich sage Ihnen dann, was ich mir ausgedacht habe, und wir werden sehen, was wir thun können.

Sie näherten sich der Kinderschar, und der Pfarrer trat hinzu, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit erregte.

Es war die Hündin, die Junge warf. Vor der Hütte krabbelten vier kleine um die Mutter herum, die sie zärtlich ableckte, während sie voller Schmerzen auf der Seite lag. Im Augenblicke, wo der Priester sich vorbeugte, streckte sich das Tier in Wehen, und ein sechstes kleines Hündchen erschien. Da klatschten die Bengels in die Hände und riefen:

– Da ist noch eins, ein neues!

Es war für sie ein Hauptvergnügen, ein ganz natürlicher Vorgang, und kein unreiner Gedanke dabei. Sie sahen dieser Geburt zu, wie sie Äpfel vom Baume hätten fallen sehen.

Der Pfarrer Tolbiac war zuerst ganz paff, dann packte ihn ein unwiderstehlicher Zorn: er hob seinen großen Regenschirm, und begann blindlings auf die Köpfe der Kinderschar mit aller Kraft loszuschlagen. Die Bengel stoben erschreckt auseinander, und er stand plötzlich vor der Hündin, die sich bemühte aufzustehen; aber er ließ sie nicht auf die Pfoten kommen, sondern, wie rasend, begann er, sie zu erwürgen. Den umklammernden Händen konnte sich das Tier nicht entziehen und stöhnte fürchterlich, indem es sich zu wehren suchte. Er zerschlug seinen Schirm auf ihm, und dann trat er, als er nichts mehr in der Hand hatte, das Tier mit Füßen, stampfte darauf und zerdrückte es, sodaß durch den Druck ein letztes Junges zur Welt kam, und nun trat er wie besessen mit dem Hacken den blutenden Körper, der noch inmitten der quiekenden, blinden, täppischen Tierchen, die schon Nahrung suchten, zuckte, tot. Johanna war fortgelaufen. Plötzlich fühlte der Priester, wie ihn jemand beim Hals packte. Er bekam eine fürchterliche Ohrfeige, sodaß sein Dreimaster davonflog, dann zerrte ihn der Baron mit Gewalt bis ans Thor und schmiß ihn auf die Straße.

Als der Baron zurückkehrte, sah er seine Tochter schluchzend zwischen den kleinen Hunden knieen, die sie in ihren Schoß zusammen las. Mit großen Schritten ging er auf sie zu, mit den Armen fuchtelnd, und rief empört:

– Das ist nun der Kerl im Priesterrock, das ist er! Hast Du ihn jetzt erkannt? Das ist er!

Die Pächtersleute waren herbeigelaufen. Alle betrachteten das Tier, dessen Leib aufgeschlitzt war, und die alte Couillard sagte:

– Ne, wie kann eener nor so wilde sein?

Johanna hatte die sieben Jungen aufgelesen und wollte sie großziehen.

Man bemühte sich, ihnen Milch einzuflößen. Drei starben am nächsten Tage. Da suchte der alte Simon die ganze Gegend ab, um eine Hündin zu finden, die sie nähren könnte. Er fand keine. Aber er brachte eine Katze mit, von der er behauptete, sie würde das eben so gut besorgen. Es wurden also noch drei der jungen Hunde getötet, und der letzte dieser Amme von einer ganz andern Tierart übergeben.

Die Katze nahm ihn sofort an, legte sich auf die Seite und ließ ihn trinken.

Damit die Adoptivmutter aber nicht erschöpft würde, entwöhnte man das Hündchen vierzehn Tage darauf, und Johanna übernahm es, dasselbe mit der Flasche großzuziehen.

Sie hatte es Toto genannt, aber der Baron veränderte den Namen und taufte es »Massacre.«

Der Priester kehrte nicht wieder, doch am folgenden Sonntag schleuderte er von der Kanzel herab fürchterliche Verwünschungen und Drohungen gegen das Schloß, indem er sagte, man müßte mit glühenden Eisen die schwärenden Wunden ausbrennen! Und er verfluchte den Baron – der sich darüber lustig machte – und ließ eine noch ganz leise Anspielung auf Julius' neues Verhältnis fallen.

Der Vicomte war empört, aber die Furcht vor einem großen Skandal dämpfte seinen Zorn. Da setzte der Priester von Predigt zu Predigt seine Rache-Drohungen fort, indem er verkündete, die Stunde des Gerichts sei nahe, Gott würde alle seine Feinde treffen. Julius schrieb an den Erzbischof einen respektvollen, aber energischen Brief. Pfarrer Tolbiac wurde mit Ungnade bedroht und schwieg.

Jetzt traf man ihn oft auf langen einsamen Spaziergängen, wie er eilig mit exaltiertem Ausdruck dahinschritt. Alle Augenblicke begegneten Gilberta und Julius bei ihren Spazierritten ihm, manchmal in der Ferne, als schwarzem Punkt auf der Ebene oder am Klippenrande, manchmal trafen sie ihn sein Brevier lesend in irgend einem kleinen Thälchen, in das sie sich zurückziehen wollten. Da machten sie kehrt, um nicht gesehen zu werden.

Der Frühling war gekommen, entzündete neu ihre Liebe und führte sie einander in die Arme, sei es hier, sei es dort, an einem jeden stillen Fleck, wohin sie auf ihren Ritten kamen.

Da das Laubwerk der Bäume noch dünn war und das Gras naß, und sie nicht wie im Sommer sich im Unterholz des Waldes verstecken konnten, hatten sie meistens, um ihre Liebesszenen zu verbergen, die fahrbare Hütte eines Hirten benutzt, die oben an der Küste von Vaucotte stand und seit dem Herbst verlassen war. Sie stand dort auf ihren hohen Rädern, fünf Meter vom Klippenrande entfernt, gerade an dem Punkte, wo das Thal sich jäh herabsenkte; dort konnten sie nicht überrascht werden, denn sie beherrschten die ganze Ebene. Und die Pferde, die an die Deichsel gebunden wurden, warteten, bis sich ihre Liebe erschöpft.

Da bemerkten sie eines Tages, als sie ihren Zufluchtsort verließen, den Pfarrer Tolbiac, der, im Seegras versteckt, las.

– Wir werden künftig unsre Pferde im Hohlweg lassen müssen, sagte Julius, sie könnten uns sonst verraten.

Und von nun an pflegten sie, die Tiere in einer buschreichen Senkung des Thälchens anzubinden.

Eines Abends, als sie beide nach La Vrillette zurückkehrten, um mit dem Grafen zu essen, sahen sie, wie der Pfarrer von Etouvent das Schloß verließ. Er machte ihnen Platz und grüßte, ohne sie anzublicken.

Eine Unruhe packte sie, aber sie beruhigten sich bald wieder.

* * *

Eines Tages saß Johanna in ihrem Zimmer und las. Es war Anfang Mai, draußen tobte der Sturm und heulte im Kamin. Da sah sie plötzlich Graf Fourville zu Fuß so schnell daherkommen, daß sie meinte, ein Unglück sei geschehen.

Sie eilte hinab, ihn zu empfangen, und als sie ihm gegenüber stand, meinte sie, er sei von Sinnen.

Er trug eine große Pelzmütze, die er nur zu Hause aufzusetzen pflegte, dazu seinen Jagdanzug, und war so bleich, daß sein roter Bart, der sonst von seiner rötlichen Gesichtsfarbe kaum abstach, aussah wie eine Flamme. Seine Augen waren starr und rollten hin und her.

– Nicht wahr, meine Frau ist hier? murmelte er.

Johanna verlor den Kopf und sagte:

– Nein, ich habe sie heute noch nicht gesehen!

Ihm waren die Beine wie gebrochen, und er mußte sich setzen. Er nahm die Mütze ab und wischte sich mehrmals mit dem Taschentuche die Stirn.

Dann erhob er sich mit Anstrengung, ging auf die junge Frau zu und streckte ihr beide Hände entgegen, mit offenem Mund, bereit zu sprechen, um ihr irgend etwas Entsetzliches einzugestehen. Doch er ließ es, sah sie verzweifelt an und sagte in einer Art Delirium:

– Aber es ist Ihr Mann! Sie auch . . . . . .

Und dann stürmte er nach dem Meere zu davon.

Johanna lief ihm nach, ihn zurückzuhalten, rief ihn, flehte ihn an, Grauen im Herzen; denn sie dachte: »Er weiß alles! Was wird er thun? Wenn er sie nur nicht findet!«

Doch sie konnte ihn nicht erreichen, und er hörte sie nicht. Ohne Zaudern stürmte er seinem Ziel entgegen. Er sprang über die Gräben, eilte mit Riesenschritten durch die Binsen den Klippen zu.

Johanna stand am Grabenrande, der mit Bäumen bepflanzt war, und blickte ihm lange nach, dann kehrte sie angstgequält, als sie ihn aus den Augen verloren, wieder heim.

Er war nach rechts zu abgebogen und hatte zu laufen angefangen. Das unruhige Meer wälzte seine Wogen heran, ganz schwarze Wolken zogen mit rasender Schnelligkeit dahin, und immer, immer folgten andere. Und jede peitschte die Küste mit einem Regenschauer. Der Wind pfiff und stöhnte, bog das Gras nieder, legte die junge Saat zu Boden und trieb Schaumflocken, wie große, weiße Vögel weit hinein ins Land.

Die Tropfen, die einander folgten, peitschten das Gesicht des Grafen, näßten ihm die Wangen und den Bart, an dem das Wasser herablief, brausten in seinen Ohren und rüttelten sein Herz auf.

Dort drüben öffnete sich vor ihm das tiefe Thal von Vaucatte. Dort stand eine Schäferhütte, und zwei Pferde waren an die Deichsel des rollenden Hauses gebunden. Bei diesem Wetter hatten die beiden nichts zu fürchten.

Sobald der Graf die Pferde entdeckte, duckte er sich zu Boden und schlich auf Händen und Füßen, wie ein Riesenungetüm, schmutzbedeckt, die Pelzmütze auf dem Kopf, heran.

Er kroch bis zur einsamen Hütte und versteckte sich darunter, damit jene ihn durch die Ritzen des Bretterbodens nicht sehen sollten.

Die Pferde, die sein Herankommen bemerkt, wurden unruhig. Langsam schnitt er mit seinem Messer, das er offen in der Hand hielt, die Zügel durch, und bei einem heftigen Windstoß entflohen die Tiere, gepeitscht vom Hagelschauer, der auf das schräge Dach des Holzhäuschens, das auf seinen Rädern erzitterte, niederprasselte. Da richtete sich der Graf auf, legte seine Augen unten an die Thürritze und lugte hinein. Er blieb unbeweglich, er schien, zu warten. Es verging einige Zeit, plötzlich stand er auf, bespritzt von oben bis unten. Mit aller Kraft schob er den Riegel zu, der von außen die Thür verschloß, dann packte er die Deichsel und begann das Häuschen zu schütteln als ob er es in Stücke brechen wollte. Darauf spannte er sich plötzlich davor, indem er seinen Riesenleib mit gewaltiger Anstrengung zusammenkrümmte und nun keuchend zog, wie ein Stier. Er zog das Haus, mit den beiden, die darin waren, bis an den Abhang. Drinnen brüllten sie und donnerten an die Wand, sie begriffen nicht, was mit ihnen geschah.

Als er an den Absturz gekommen war, ließ er das leichte Holzhaus los, das die steile Böschung hinunter zu rollen begann. Es beschleunigte seine Fahrt, raste dahin, immer schneller, stolperte wie ein Tier, da die Deichsel auf die Erde aufstieß.

Ein alter Bettler, der in einem Graben Unterschlupf gesucht hatte, sah es über seinen Kopf hinwegsausen und hörte ein markerschütterndes Geschrei in dem Holzkasten.

Da brach bei einem Aufstoß ein Rad, und die Hütte legte sich auf die Seite und begann zu rollen, wie ein herabstürzendes Haus vom Gipfel eines Berges herunter kollern würde. Als sie an den Rand des Hohlwegs kam, sprang sie in die Höhe, beschrieb einen Bogen, stürzte hinab, und zerbrach wie ein Ei.

Sobald sie unten auf den Felsen zerschlagen war, stieg der alte Bettler, an dem sie vorüber geschossen, langsam hinab. Doch mit Bauernpfiffigkeit wagte er sich nicht an das zerbrochene Haus heran, sondern ging zum nächsten Bauernhof, um das Unglück zu melden.

Man lief herbei, räumte die Trümmer bei Seite und fand zwei Körper. Sie waren zerschlagen, zerbrochen und mit Blut bedeckt. Der Mann hatte die Stirn gespalten und das Gesicht zerschmettert, der Unterkiefer der Frau hing herab, durch einen Aufschlag vom Gesicht abgetrennt, und ihre zerbrochenen Glieder waren weich, als wären keine Knochen darin.

Aber man erkannte sie und stellte lange Betrachtungen an über die Ursache des Unglücks.

– Was haben sie denn in der Hütte gemacht? fragte eine alte Frau. Da erzählte der Bettler, daß sie sich wahrscheinlich in die Hütte geflüchtet vor dem schrecklichen Unwetter, und daß der Wind das Häuschen ins Rollen gebracht. Und er erzählte, daß er sich selbst gern darin versteckt hätte, daß er aber die beiden Pferde die an der Deichsel angebunden waren, gesehen, und so gemerkt hätte, daß die Hütte besetzt sei. Er fügte mit zitternder Stimme hinzu:

– Wie gut, sonst wäre ich krepiert!

Jemand sagte:

– Nun, wäre das nicht besser gewesen?

Da bekam der gute Mann einen fürchterlichen Wutanfall:

– Warum soll das besser sein? Weil ich ein armes Luder bin und die reich sind?

Und zitternd, während ihm das Wasser herablief über den verwirrten Bart und die langen Haare, deutete er mit seinem Krückstock auf die beiden Leichen und sagte:

– Vor dem Tode sein mer alle gleich.

Aber andere Bauern waren dazu gekommen und blickten von der Seite unruhig, heimlich erschreckt und beängstigt zu. Dann wurde beraten, was man thun sollte, und sie kamen überem, die Körper in die Schlösser zu bringen, indem sie auf eine Belohnung hofften.

Es wurden also zwei Karren angespannt, aber eine neue Schwierigkeit trat ein. Die einen wollten einfach Stroh hinein legen, die andern meinten, es wäre schicklich, Matrazen zu nehmen. Die Frau, die vorhin gesprochen hatte, sagte:

– Aber die Matrazen würden ja ganz voll Blut und müßten doch wieder gewaschen werden.

Da antwortete ein dicker Bauer mit fröhlichem Schmunzeln:

– Die müssen se doch bezahlen. Je scheener wir'sch machen, desto teurer wird's.

Das entschied, und die beiden federlosen rumpeligen Karren mit ihren rohen Rädern, fuhren im Trabe davon, einer rechts und einer links, indem sie bei jedem Ruck in den tiefen Räderspuren der Wege die Überreste der Wesen, die sich umarmt hatten und nun nie wieder zu einander kommen würden, durcheinander schüttelten und warfen.

Sobald der Graf die Hütte den Abhang hatte hinabrollen sehen, war er, so schnell er konnte, durch Regen und Sturm entflohen. Ein paar Stunden lang lief er so dahin, Hecken und Gräben überspringend, und ohne zu wissen wie, war er bei einbrechender Dunkelheit zu Haus.

Die Dienerschaft erwartete ihn und kündete ihm an, daß die beiden Gäule eben ohne Reiter wiedergekommen, da Julius' Pferd dem andern nachgelaufen war.

Da verlor der Graf die Haltung und sagte mit abgehackter Stimme:

– Es wird ihnen bei dem furchtbaren Unwetter etwas zugestoßen sein! Geht alle suchen!

Er entfernte sich selbst wieder, aber sobald er außer Sehweite war, versteckte er sich unter einem Dornenbusch und spähte nach der Straße hinüber, auf der tot oder sterbend, verstümmelt oder auf immer entstellt, diejenige gebracht werden mußte, die er noch mit wütender Leidenschaft liebte.

Und bald kam ein Karren an ihm vorüber, der etwas Seltsames trug. Er hielt vor dem Schloß, fuhr dann hinein. Das war sie! Ja! Ja! Aber eine entsetzliche Angst bannte ihn auf den Fleck, die furchtbare Angst zu erfahren, was geschehen, ein Grauen vor der Wirklichkeit. Und er bewegte sich nicht, zusammengekauert wie ein Hase, zusammenzuckend beim geringsten Geräusch.

Er wartete eine Stunde, zwei Stunden vielleicht. Der Karren kam nicht wieder zurück, und er sagte sich, daß seine Frau gestorben. Aber der Gedanke sie zu sehen, ihrem starren Blicke zu begegnen, erfüllte ihn mit solchem Entsetzen, daß er plötzlich fürchtete, in seinem Versteck gefunden und gezwungen zu werden, diesem Todeskampf beizuwohnen. Und er floh noch tiefer in den Wald.

Da überlegte er sich, daß sie vielleicht Hilfe brauchte, daß niemand sie pflegen könnte, und spornstreichs rannte er ins Schloß zurück.

Als er heimkehrte, traf er den Gärtner. Sofort rief er ihn an:

– Nun? Der Mann wagte nicht zu antworten. Da hielt ihn der Graf Fourville fest:

– Ist sie tot? Und der Diener stammelte:

– Ja, Herr Graf!

Ein Gefühl der Erleichterung, eine plötzliche Ruhe kam über ihn und seine bebenden Nerven, und festen Schrittes stieg er die Treppe hinauf.

Die andere Karre war nach Les Peuples gefahren worden. Johanna sah sie von weitem, gewahrte die Matraze, erriet, daß ein Körper darauf liege, und begriff alles. Sie war so erschrocken, daß sie besinnungslos zusammenbrach.

Als sie wieder zur Besinnung kam, stützte ihr Vater ihr den Kopf und machte Essigumschläge auf die Schläfe. Er fragte zögernd:

– Weißt Du? Sie antwortete:

– Ja, Papa. Aber als sie aufstehen wollte, konnte sie nicht, so gebrochen war sie.

Und am selben Abend brachte sie ein totes Kind zur Welt. Ein Mädchen!

Von Julius' Begräbnis sah und erfuhr sie nichts.

Nach ein oder zwei Tagen bemerkte sie nur, daß Tante Lieschen wieder gekommen war, und in den Fieberträumen suchte sie beharrlich, sich zu erinnern, seit wann die alte Jungfer eigentlich von Les Peuples wieder fort gewesen, warum und unter welchen Umständen.

Sie konnte nicht damit ins Reine kommen, selbst wenn sie bei Besinnung war. Sie wußte nur, daß sie sie nach Muttings Tode noch gesehen.

 


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